Boycamp IV – Teil 15

Beim Frühstück versuchte er sich mit guter Laune, was ihm alles andere als leicht fiel. Jonas kam mit den anderen hereinspaziert, als wäre nicht das Geringste passiert. Er sah nicht einmal zu Nico hin.

Leo legte dann auch gleich los: “Also unser Alarmsystem klappt ganz gut, die Lampen sind heute Nacht drei Mal angegangen. Zweimal irgendwie ohne Grund, einmal sind Nico und Jonas zu sehen.”

Falk nickte.

“Schön. Hoffen wir, dass das genug Abschreckung besitzt.”

Er ging daraufhin sachlich zur Tagesordnung über.

“Nico, wie sieht es aus mit der Wanderung?”

“Gut. Das Wetter bleibt heute noch so, die Tour habe ich vorbereitet. Wir werden erst mal nur fünf Kilometer laufen. Es gibt einen schönen Weg um den Berg, der ist wie geschaffen dafür. Es geht nicht sehr steil rauf oder runter. Die Jungs wissen Bescheid.”

“Prima. Rainer wird dich begleiten. Achtet drauf dass die mir nicht zu flick da draußen herumrennen, wir können uns keine Kranken leisten.”

Rainer Bode nickte.

“Sie haben Instruktion. Es sollte nichts passieren in der Richtung.”

“Gut. Ich werde weiter nach Rick suchen, er kann ja nicht vom Erdboden verschluckt worden sein”, gab Stein zurück.

Kurz vor neun Uhr trafen sich Nico und Rainer Bode vor dem Eingang.

“Wenn bloß Rick nichts zugestoßen ist. Das macht einem ganz krank«, sagte er leise.

Nico senkte den Kopf, ihm war zum heulen zumute.

“Frag mich mal.”

“Ich denke, irgendwann taucht der wieder auf, irgendwie. Oder wir finden ihn.”

Wenig später trafen sich auch Ruben, Sascha, Benjamin, Maik, Jonas und Timo an der Tür. Auf den ersten Blick waren sie vernünftig angezogen, was bei der trüben und recht kühlen Herbstwitterung angebracht war.

Endlich hatte Nico alle Jungs einmal beisammen und er freute sich trotz allem auf den kleinen Marsch. Die Sache mit Jonas beschäftigte ihn zwar, aber sie beunruhigte ihn nicht mehr. Kein Mensch würde je erfahren, was letzte Nacht da oben geschehen war.

“So, hier ist die Bestellung«, dröhnte des Kochs Stimme unter die Gruppe.

Dabei reichte er Bode einen Rucksack.

“Okay, dann haben wir alles. Los geht’s.”

Am Vorabend waren die Handynummern ausgetauscht worden, so dass niemand verloren gehen konnte. Nico schaltete das GPS-Gerät ein und schnurstracks marschierten sie die Straße in Richtung Dorf hinunter.

Kurz vor der ersten Linkskurve bogen sie dann einen Seitenweg rechts in den Wald hinein. Nico und Bode liefen der kleinen Gruppe hinterher. Jonas marschierte ganz vorne und Nico war froh, dass er sich nicht ihm anschloss.

Es hätte ihm zwar nichts ausgemacht, aber es musste nicht unbedingt sein. Immer wenn der Weg sich änderte, rief Nico die Richtung nach vorne. So kamen sie durch bunten Misch-, Eichen- und viel dichten Tannenwald.

Es roch nach Erde und Laub, vor allem auch nach Pilzen.

“Schön hier oben«, sagte Rainer Bode nach einer Weile und atmete hörbar durch, „ man könnte meinen, wir sind in Urlaub.”

“Ja. Schade dass Rick nicht dabei ist, der fehlt mir auf solchen Touren einfach.”

“Stimmt, er war ja immer und überall dabei.”

“Er wird wieder dabei sein, Rainer. Ich habe da keine Zweifel.”

Sie vermieden es dann, über den Rüden zu sprechen.

Je näher sie der Rückseite des Bergs kamen, desto schlechter wurde nun die Sicht.

“Nebel..«, sagte Bode leise vor sich hin.

“Nicht direkt. Der Wind bläst an diese Seite, das sind eigentlich eher tiefliegende Wolken. Aber uns kann nichts passieren. Selbst wenn die Sicht auf Armlänge zurückgehen würde.”

Dabei zeigte er auf das GPS-Gerät.

“Mensch Nico, so was hätten wir früher brauchen können.”

“Schon, aber vielleicht wäre da manches auch ganz anders ausgegangen. Es hat alles Vor- und Nachteile.”

Tatsächlich verschlechterte sich die Sicht dermaßen, dass Nico Jonas nur noch schemenhaft erkennen konnte. Dabei wurde der Wind empfindlich kalt.

“Wie wird eigentlich das Wetter, Nico? Du weißt das doch immer schon so genau.”

“Wenn wir Pech haben, kommt bereits morgen wieder Schnee. Aber sicher ist das noch nicht ganz, kann ich erst heute Abend sagen.”

Sie marschierten nun auf der anderen Seite des Bergs. Die Sicht war auf knapp zehn Meter zurückgegangen und es schien immer noch kälter zu werden. Nico war froh um seinen elektronischen Pfadfinder. Ohne den hätten sie längst umkehren müssen.

Der Wind trieb Nebelfetzen durch die hohen Bäume, was einmal unheimlich, dann aber auch wieder faszinierend aussah. Zuerst ganz fein, dann etwas intensiver kitzelte Nico plötzlich ein bekannter Geruch in der Nase.

“Rainer, riechst du das auch?”

Er schnupperte in die Luft.

“Klar, da brennt was.”

Nico blieb ruhig. Ein Waldbrand war nicht zu befürchten, dieses Feuer musste anderen Ursprungs sein.

“Gut, ihr bleibt hier. Ich versuche herauszufinden, was da los ist.”

Rainer Bode schien das nicht zu schmecken.

“Müssen wir eigentlich immer wissen, was da los ist, Nico? Ich meine, es kann uns ja im Prinzip egal sein.”

“Schon, aber ich habe ein dummes Gefühl, keine Ahnung warum. Es wäre mir sicher egal, wenn nicht diese Sache mit dem Heizwerk gewesen wäre. Und da ist noch Rick.”

Bode konnte ihn nicht überreden, es sein zu lassen. Nico war einfach zu neugierig und in solchen Sachen eher widerspenstig.

“Ihr könnt ja hier eine Pause machen, Holzmann hat extra ein Vesper zusammengestellt. Ich bin sicher gleich wieder hier.”

Wenig später erklomm er alleine den Hochwald. Es ging steil nach oben, immer wieder musste er sich am Gesträuch festhalten, um nicht abzurutschen. Aber dem Wind nach kam der Geruch von oben aus dem Wald.

Zu seiner Beruhigung wurde der Nebel immer dichter, er musste somit kaum Deckung ausnutzen. Er war aus Gewohnheit vorsichtig, denn man konnte nicht wissen, was sich hinter dem Brandgeruch verbarg.

Insgeheim dachte er auch an Wilderer, die hier oben im Wald campierten. Man musste ihnen nicht mutwillig in den Weg laufen. Trotz seiner Anstrengung wurde ihm kalt, er bewegte sich langsam auf die Null-Grad-Grenze zu.

Aber der immer intensivere Geruch nach verbranntem Holz trieb ihn weiter. Vielleicht waren hier oben Waldarbeiter zugange? Alles eigene Ausreden, denn wer sagte ihm, dass es nicht ein Gesindel gab, das es auf das Camp abgesehen hatte?

Aber das würde er bald wissen. Langsam wurde es jetzt flacher, die Tannen standen hier nicht mehr so dicht beisammen und erlaubten Nico ein schnelleres vorankommen. Aber er ließ seine Umgebung keinen Zentimeter aus den Augen, blieb immer wieder stehen.

Rauch würde er in dem Nebel nicht sehen können, das war eine ziemlich dumme Angelegenheit. Immer wieder musste er dann Büschen und Sträuchern und auch großen Findlingen aus dem Weg, bis er plötzlich glaubte, kurz Stimmen gehört zu haben.

Sofort ging er in die Hocke und beobachtete mit Luchsaugen die Gegend. Dort wo die leisen Stimmen hergekommen waren, stand eine Reihe mächtiger Findlinge zusammen. Es gab keinen Zweifel, dass dort Personen waren und dass die ein Feuer gemacht hatten.

Er überlegte kurz, ob er einfach umkehren sollte. Mit Sicherheit war das alles völlig harmlos. Wäre da nicht seine innere Stimme gewesen, die ihn aufforderte, weiterzugehen.

Die Sicht war hier oben noch schlechter, nur ab und zu fegte der Wind den Nebel einen Moment auseinander.

In so einem Augenblick konnte Nico Umrisse von Menschen erkennen. Sie schienen dort direkt zwischen den mächtigen Felsen im Windschatten zu sitzen. Schon Sekunden später jedoch versperrte der Nebel wieder die Sicht.

Diesen Moment nutzte Nico, um zur nächsten kleinen Felsgruppe weiter vorn zu sprinten. Die dichten Tannennadeln erlaubten ihm, fast lautlos voran zu kommen, das knacken kleiner Ästchen ging im Rauschen der Tannen im Wind unter.

An der Deckung angekommen, legte er sich auf den Bauch. Er wollte nur so nah herankommen, dass er verstehen konnte, was dort gesprochen wurde. Aber der Wind war lauter als ihm lieb war.

Es drangen immer nur Wortfetzen zu ihm herüber, auch mal ein kurzes Gelächter. Zweifellos fest stand jedoch bereits, dass es junge Stimmen waren. Was könnten diese Leute hier oben zu suchen haben?

Pilze? Dann kam ihm in den Sinn, dass es sich ja auch um Personen handeln könnte, die sich aus gutem Grund hier oben versteckten. Das war eine völlig unwegsame Gegend, in die sich normale Menschen sicher nicht freiwillig begeben würden.

Eine Deckung bis zu ihnen gab es noch, aber es war riskant. Würde der Nebel gerade dann aufreißen, wenn er auf der Strecke dahin war, würden sie ihn sehen. Er erschrak fast zu Tode. Zeitgleich mit einem schweren Stiefeltritt auf seinen Rücken hörte eine unangenehme Stimme.

“Na, Freundchen, ein bisschen spionieren? Haben wir aber nicht so gerne. Komm, aufstehen.”

Diese Stimme ließ wohl eher keinen Widerspruch zu. Nico drehte sich langsam um und sah an dem Kerl hoch.

Der schwang einen Holzprügel und Nico hatte nichts, um sich zu verteidigen. Langsam stand er auf.

“Soso, du bist sicher einer von denen da unten, richtig? Egal, wissen wir auch so.”

Der Typ, der einen halben Kopf größer als Nico und sehr stark gebaut war, steckte in einer recht ausgeleierten Kleidung, wie sie Stallbuschen trugen. Auch eine solche Peitschenkappe zierte seinen Kopf und aus einem runden, uninteressanten Allerweltsgesicht blitzen ihn kleine Schweinsaugen an.

Nico schätzte ihn auf Mitte Zwanzig, vielleicht sogar älter.

“So, und nun komm mal mit, wir freuen uns nämlich immer über Besuch hier oben. Ist sonst nicht viel los, weißt du.”

Er begann, Nico mit dem Knüppel in die Richtung zu traktieren. Nicos Herz klopfte wilder als je zuvor. Er ahnte, dass mit denen da drüben kein Spaß zu machen war und dass er hier auf keinerlei Hilfe hoffen konnte. Geistesgegenwärtig drückte er in seiner Hosentasche auf seinem Handy die Kurzwahltaste, die er Falks Nummer zugewiesen hatte.

Er kannte sein Handy gut genug, um diese Taste im Schlaf zu finden.

Und nun musste er Zeit herausschinden. Der Typ war offenbar sicher, keine Hilfe zu brauchen und meldete sich bei den anderen nicht. Nicos Kurzgebet schien auch erhört zu werden.

Der Wind nahm noch zu und der Nebel wurde zu einer fast undurchdringlichen Suppe. Selbst die Felsformation war plötzlich nicht mehr zu sehen. Das war gut für ihn, schlecht für die Hilfe. Man würde ihn so in Tagen hier nicht finden.

“Was wollt ihr von uns? Treibt euch hier auf dem Gipfel des Bergs im Hochwald in einer Felsengruppe herum. Was macht ihr eigentlich hier?”

Nico hatte Glück, der Kerl ließ sich belabern.

“Was wir hier machen? Hehe, Kaffeekränzchen. Und grillen. Macht Spaß hier oben. Und wenn wir gleich drüben sind, gibt’s noch mehr Spaß. Wir halten nämlich nichts von irgendwelchen Typen, die da aus der Stadt kommen und sich hier wichtig machen wollen. Wir gehören hierher, und ihr in die Stadt. So einfach ist das. Deine Leute werden übrigens heute Nacht eine kleine, aber feine Überraschung erleben. Danach haben sie alle die Hosen und Schnauzen ganz arg voll und morgen schon ist Abreise. Verlass dich drauf. Und jetzt mach voran, meine Kumpels freuen sich bestimmt schon.”

Nico ging bewusst langsam, außerdem begann er jetzt zu zittern. Neben der Eiseskälte sorgte die Angst für diesen Zustand, den er sonst nicht kannte. Es war überhaupt nicht abzusehen, was jetzt auf ihn zukam. Ob Falk das Gespräch und damit die Ortsbeschreibung gehört hatte? Und wenn, konnte er ihn hier oben in diesem unwegsamen und praktisch unsichtbaren Wald finden? Er glaubte nicht so recht daran.

“Mach hin, wir haben nicht ewig Zeit«, drohte der Typ.

Sie näherten sich der Felsengruppe und nun konnte Nico die anderen um die Feuerstelle sitzen sehen. Zum Glück waren es nur drei. Es gelang ihm, das Handy unbemerkt ins Laub fallen zu lassen und mit dem Schuh ein paar Blätter darüber zu schieben.

Er merkte sich die Stelle jedoch ganz genau. Jetzt bemerken sie ihn und seinen unliebsamen Begleiter. Sofort standen sie auf und kamen auf die beiden zu. Nico brauchte nicht lange, um die Gesichter einzuordnen.

Es waren genau die, welche er zusammen mit Falk bei der Ankunft im Wald gesehen hatte. Er wusste, dass er sie nie vergessen würde.

“Schau mal, Mirka, was ich beim Pilze sammeln gefunden habe.”

Der Typ lachte höhnisch.

“Ach, wen haben wir denn da?”

Mitten in Frage gelangte ein Geräusch an Nicos Ohr, das er in Sekundenbruchteilen einordnen konnte. Er reagierte auf Ricks Winseln aber nicht, auch der Hund schwieg sofort wieder. Nico sah zwischen den drei Männern, dass Rick mit einer Kette an den Felsen angebunden war.

etwas zerzaust sah er aus, aber sonst schien ihm nichts zu fehlen. Für diese Gedanken zusammen brauchte er eine knappe Sekunde.

“Hallo? Taubstumm?”

Die Ohrfeige, die Nico traf, tat weh. Und sie war in blankem Irrsinn entstanden. Sie würden hier kurzen Prozess mit ihm machen, das war in dem Moment seine Befürchtung.

“Ich heiße Nico Hartmann und bin Betreuer im..”

“Schnauze. Wir wissen, wo du herkommst. Wie hast du uns gefunden, he?”

Die zweite Ohrfeige traf ihn, aber Nico behielt die Nerven.

“Ihr solltet darauf achten, wenn ihr Feuer macht. Der ganze Berg stinkt nach dem Qualm.”

Sie sahen sich an, offenbar waren sie über diese Antwort überrascht. Nico versuchte, seine Kontrahenten zu beurteilen. Vier Mann; allesamt keine Männer, mit denen man Kaffeekränzchen machen konnte. Verschrobene Typen, denen er alles zutrauen würde. Er sah ein, dass er kaum etwas gegen sie ausrichten konnte.

“Und, was nun?”

Die dritte Ohrfeige folgte. Ausgeführt wurden alle drei von diesem Mirka. Nico wusste noch ganz genau, dass es gerade dieses Gesicht war, was sich so in sein Gehirn eingebrannt hatte. Dieser bösartige, hinterlistige und gemeine Ausdruck war haften geblieben.

“Fragen stellen wir, verstanden? So, jetzt räum erst mal brav alle deine Taschen aus. Schön langsam und alles einfach auf den Boden fallen lassen.”

Nico tat, was man von ihm verlangte. Zum Glück hatte er nichts dabei, was für ihn von persönlichem Wert gewesen wäre.

“Das ist alles?«, fragte ihn Mirka, den er inzwischen als Führer der Gruppe sah.

“Alles.”

Es war ekelhaft, wie sich ihm Mirka dann näherte, sein Atem stank nach Alkohol und Tabak.

“Du erzählst mir doch nicht, dass du ohne Handy spazieren gehst, oder?”

Nico deutete auf das GPS.

“Ich habe kein Handy dabei, im Wald ist eh nie Empfang. Mein Lotse ist das da. Sonst brauche ich nichts.”

Das teuflische funkeln in den Augen des Chefs der Bande war nicht einzuordnen. Er schien nicht zu wissen, ob er Nico glauben sollte oder nicht. Er riss ihm das GPS aus der Hand und warf es achtlos in den Wald.

“Los, Steffen, durchsuch ihn. Ich glaub ihm kein Wort.”

Steffen war der, der ihn aufgestöbert hatte. Er durchsuchte Nico, wie man es in Filmen sieht und er hätte ihn ausgelacht, wenn es nicht so ernst gewesen wäre.

Unterdessen waren die anderen zum Feuer zurückgegangen, offenbar war ihnen zu kalt. Steffen tastete Nico ein zweites Mal ab, während dessen sah er zu Rick hinüber. Der Rüde ließ ihn keine Sekunde aus den Augen und wenn es auch nur einen Funken Hoffnung hier gab, dann musste sie von ihm kommen.

Aber so wie er angekettet war, gab es eine solche Hoffnung nicht. Nico war schleierhaft, wie das überhaupt passieren konnte. Rick würde sich doch nie ohne Gegenwehr von einem Fremden an die Kette legen lassen.

“Er hat tatsächlich kein Handy«, rief Steffen schließlich.

Allerdings hörte Nico so etwas wie Furcht heraus. Ja, er hatte riesigen Respekt vor seinem Chef. Das war gut, da passierten Fehler.

“Dann such das Gelände ab. Das gibt’s nicht.”

“Mirka, ich alleine? Das find ich doch nie.”

Mirka starrte ins Feuer, er schien genervt. So wie überhaupt eine gewisse Nervosität zu spüren war.

“Robert, hilf ihm.”

Ohne zu murren sprang dieser Robert auf. Nico hatte ihn schon vom Aussehen her als einer der Gefährlichen hier eingestuft. Sein muskulöser Körperbau, die Kleidung, der fast kahl geschorene Kopf ließen keinen anderen Schluss zu.

“Hinsetzen«, befahl Mirka und Nico gehorchte.

Doch was er dann sah, verschlug ihm den Atem. Mirka hatte eine Dose Hundefutter aufgemacht und sie in eine Aluschale gekippt. Damit ging er nun zu Rick hin, streichelte ihn und stellte ihm die Schüssel direkt unter den Kopf.

Nico fürchtete, seine Sinne spielen ihm einen Streich. Das war nicht mehr der Rick, nicht mehr der Husky, mit dem er so vieles erlebt und dem er sein Leben zu verdanken hatte. Er hätte heulen können. Mirka kraulte sogar Ricks Kopf, als er mit Heißhunger die Schüssel leer fraß. Dann kam er zurück.

“So, nun zu dir. Also, ich mach es kurz.”

Er setze eine durchsichtige Flasche ohne Etikett an den Mund und nahm zwei oder drei große Schlucke. Nico wehte ein Geruch nach Obstbranntwein in die Nase.

“Wir werden dich hier einfach zurücklassen. Da in den Felsen gibt’s ne schöne, enge Spalte, die führt in ein Brunnensystem. Haben wir entdeckt und das kennt keiner. Dort können du und der räudige Köter verrotten, verstehst du? Deine Leute werden sowieso heute Nacht ihr Fett abkriegen und mit dir verpassen wir noch den passenden Denkzettel.”

“Und ihr glaubt ernsthaft, das funktioniert?”

Nico hatte schon bemerkt, dass Mirka angetrunken war. Nach diesen Schlucken jetzt würde er nicht mehr in der Lage sein, koordiniert zu denken. Er musste noch mehr trinken.

“Das glaubst du aber. Die suchen sich hier zu Tode.”

Er grinste und starrte dabei ins Feuer.

“Oh, ich denke, mit Spürhunden geht das ganz fix.”

Nico versuchte, auf keinen Fall Rick ins Gespräch zu bringen.

“Bis wohl ein ganz schlauer, wie?“

“Nein, das ist Tatschache.”

“Mirka, schau mal, wir haben es gefunden.”

Strahlend hielt ihm Steffen das Handy entgegen. Der nahm es und fummelte daran herum.

“Aha. Hast kein Handy, wie?”

Er verpasste Nico erneut eine Ohrfeige. Dann sah er auf das Display.

“Oh, es ist ja ausgeschaltet.”

Nicos gelegentliche Schlampereien legten die Karten plötzlich anders. Das Handy hatte er nicht vollgeladen, dann war es jetzt eine Zeitlang an und zuletzt sorgten die tiefen Temperaturen dafür, dass der Akku leer wurde.

“Mach das an«, befahl Mirka und hielt Nico das Handy hin, “ich will deinen Leuten berichten, auf was sie sich gefasst machen können.”

Nico nahm es und dann setzte alles auf die Karten, die vor ihm lagen. Er hatte keine andere Chance und er betete, dass sein Plan aufgehen würde. Mit einem Schwung warf er das Handy direkt zwischen Ricks Beine. Mirka lief knallrot an.

“Hey du kleiner Scheißer, das wirst du büßen.”

Zornig stand er auf und ging zu Rick hin. In dem Augenblick wo er sich bückte, um das Handy aufzuheben, sprang ihm der Hund auf den Rücken und mit einem Biss in den Nacken zwang er Mirka in die Knie und hielt ihn so fest.

“Aufhören.. arhg..«, schrie er und fuchtelte wild mit seinen Händen, versuchte Rick am Fell zu packen.

Steffen eilte mit dem Knüppel in der Hand zu ihm hin.

“Stopp!«, schrie Nico und Steffen blieb sofort stehen.

Er war Befehlstöne gewohnt.

“Eurem Boss passiert erst mal nichts. Aber wenn der Hund sieht, dass du ausholst, bricht er ihm das Genick. Und das macht er ab sofort mit jedem, der sich ihm nähert. Ihr habt jetzt eine Chance: Entweder ihr macht, was ich sage, oder Mirka hört sein eigenes Genick brechen. Was euch lieber ist.”

Nico übertrieb maßlos, aber das konnten sie nicht wissen.

“Nimm den Köter..«. Viel mehr brachte Mirka nicht hervor, da Rick sofort fester zubiss und Mirka markerschütternd aufschrie.

Nico ging in aller Ruhe zu den beiden hin und kniete sich neben Mirka.

“Jetzt rede ich. Erbärmlich, nicht wahr? Weißt du, ich habe deine Ohrfeigen nicht vergessen und mein Hund mag die Bezeichnung Köter nicht. Nun sage ich dir, dass du ein armes, stinkendes Schwein bist und nicht die geringste Chance hast, aus diesem Griff zu entkommen. Und es ist erst mal nur ein Griff. Ein Biss sieht wesentlich anders aus.”

Er musste mit Mirkas Angst spielen, wenn er die Karten behalten wollte.

“Wenn deine jämmerlichen Figuren hier auch nur den Versuch starten, mir etwas anzutun, kannst du sofort nach oben. Ohne Rückfahrschein und ganz umsonst. Aber ich garantiere dir, dass du in den letzten Sekunden vor deinem Abgang Schmerzen haben wirst, wie du sie dir niemals vorstellen konntest. Mein Hund wird sich Zeit lassen, darauf kannst du gerne noch wetten. Er bricht dir erst einen Wirbel nach dem anderen, dann wirst du dich nicht mehr bewegen können. Das Nächste was du spürst, ist wie dein Blut aus der Schlagader dein Hals hinunterläuft. Aber da bist du immer noch ein bisschen am Leben. Grade so viel, dass dein Geschrei bis ins Dorf zu hören ist. Er wird dich nicht verbluten lassen. Am Ende hörst du es Knacken, wie dein Kopf vom Rumpf getrennt wird. Gnade Gott, dass du das dann nicht mehr mitbekommst. Es knirscht, als würde ein Rehbock sein Gehörn in Baumrinde bohren. Hast du das verstanden?”

Mirka wimmerte, er zitterte vor Angst.

“Ob du das verstanden hast?«, schrie Nico.

Mirka schwieg, nur sein hastiges atmen war zu hören.

Nico zog die Schultern hoch.

“Rick. Er antwortet mir einfach nicht.”

Als der Hund etwas fester zubiss, schrie Mirka erneut auf.

“Ja, verdammt noch mal.”

“Schön.”

Nach außen wirkte Nico sehr ruhig, aber innen tobten seine Nerven. Nico ließ die anderen nicht aus den Augen. So lange er direkt bei Rick stand, konnten sie ihm nichts tun. Er hatte richtig gelegen, sie waren von Mirka abhängig.

Sie würden nichts tun, was er nicht will. Steffen schien dabei mehr Angst zu haben als die anderen. Einer von ihnen hatte sich überhaupt noch nicht ins Geschehen eingemischt, es dürfte eher ein Mitläufer sein. Nico ging jetzt zielstrebig auf ihn zu.

“Macht euch keine Gedanken. Wenn ihr mich anfasst, braucht Rick keine Befehle mehr von mir. Außerdem war mein Handy lange genug an, um geortet zu werden. Ihr seid alle dran, so oder so.”

“Wie heißt du?«, fragte er den flapsigen Kerl barsch, vor dem er nun stand.

“Manni«, kam es mit einer hellen, fast piepsigen Stimme.

Das passte zu ihm. Er war nicht ganz so kräftig gebaut und wohl auch der Kleinste und jüngste unter ihnen. Mirka war offenbar sein Held, sein Vorbild. Doch jetzt war er seiner Führung beraubt.

“Gut, Manni. Du holst jetzt den Schlüssel und machst den Hund los. Ansonsten werde ich dafür sorgen, dass du Mirkas Tod mit zu verantworten hast. Und das willst du doch nicht?”

Mirka schrie plötzlich auf, es war ein Schrei, wie ihn Menschen nur in Todesangst vollbringen können. Nico fuhr herum und sah den Grund: Steffen war näher an die beiden herangekommen und hatte den Holzknüppel erhoben. Rick hatte darauf sofort reagiert und fester zugebissen.

“Steffen, du Arschloch, willst du mich umbringen?” schrie Mirka mit zittriger Stimme so laut er konnte.

“Mach den Köter los, sofort. Hörst du? Sofort!”

Steffen war die Sache entglitten. Er war offenbar von einer Sekunde auf die andere Handlungsunfähig geworden, nachdem ihn sein Meister so angebrüllt hatte. Nico ging zu ihm hin.

“Lass den Knüppel fallen. Und wenn du auch nur versuchst, ihn wieder aufzuheben oder mir zu nahe zu kommen, kann sich dein Chef im Himmel bei dir bedanken. Und dann viel Spaß, wenn ihr euch da oben wieder trefft.”

“Redet kein Scheiß, nimm den Köter weg“, jammerte Mirka.

Nico hatte noch immer die Karten in der Hand.

“Der sogenannte Köter kommt weg, wenn er losgebunden ist. Wir haben Zeit. Sehr viel Zeit.”

Manni ging schließlich zu dem Platz, an dem all ihre Sachen lagen. Er wühlte eine Weile, dann schien er den Schlüssel gefunden zu haben.

Nico winkte ihn zu sich.

“So. Du gehst jetzt hin und machst das Schloss am Halsband auf.”

“Ich? Nie! Ich geh da nicht hin.”

“Mach das verdammte Schloss auf«, schrie Mirka, der immer noch auf dem Boden kniete, den Kopf fast zwischen seinen Knien und Rick als Zange im Genick. Keinen Millimeter bewegte sich der Rüde und all seine Konzentration lag in seinem Umfeld. Mit seinen wachen Augen registrierte er jede noch so kleine Bewegung.

Manni schien jetzt zu schwitzen, trotz der eisigen Kälte. Langsam ging er zu Rick hinüber und als würde er auf Glas laufen, näherte er sich dem Schloss.

Entschlossen packte er Manni unsanft am Arm.

“Denk dran. Der Hund muss nur noch einmal ganz kurz zubeißen, dann liegt der Kopf deines Chefs zu deinen Füßen. Und du bist dann der nächste. Also, mach los.”

Er stieß Manni vor sich her.

Manni gehorchte. Mit zitternden Händen fummelte er das Schloss auf. Mühe hatten sie sich immerhin gegeben, das Halsband war aus Metall und sehr eng um Ricks Hals gelegt. Nico wurde jetzt ruhiger. Mit Rick könnte er die Situation in den Griff bekommen.

“Gut, komm weg da.”

“Nimm den Hund weg.”

Mirkas Stimme klang weinerlich und fast verzweifelt.

Nico rieb sich die Hände.

“Tja, wohl eher nicht. Wir warten, bis jemand kommt und euch Früchtchen auf die Finger klopft. Vorher kann ich da leider nichts machen.”

Er war sich nicht sicher, ob sich Steffen, Manni und Robert irgendwelche Zeichen geben konnten, aber wie auf Kommando spurteten sie los. Sie wurden innerhalb weniger Sekunden vom Nebel verschluckt.

“Na, das nenn ich mal echte Freunde«, rief ihnen Nico hinterher.

Er war froh, dass sie so entschieden hatten. Zusammen mit Rick war Mirka kein Problem mehr. Nico gelang es, Mirka mit der Kette an den Händen auf dem Rücken zu fesseln, er leistete mit dem Tod im Nacken nicht den geringsten Widerstand. Noch immer hielt Rick ihn fest.

“Weißt du, es ist jetzt gar nicht mal sicher, dass man mich hier sucht. Ich überlege grade wie das sein würde, eine ganze Zeitlang da an dem Felsen gekettet zu sein und kein Schwein kommt. Tagelang nicht. Kein Feuer, nichts zu essen und vor allem nichts zu saufen. Ob das eine gerechte Strafe für die Ohrfeigen wäre?”

Nico spürte den Triumpf. Er war kein Sadist, aber hier und jetzt wollte er sich über diese Rolle nicht allzu viele Gedanken machen. Mirka schien nicht zu wissen, wie er Nico jetzt einschätzen sollte.

“Das tust du nicht.”

Nico kniete sich neben ihn.

“So? Sagt wer?”

Mirka sah auf den Boden und erst danach befahl Nico dem Hund, ihn langsam loszulassen. Er wusste wie das ist, lange Zeit in so einer Stellung zu verharren. Man fühlte sich wie tot, alles war taub und schmerzte. Ganz besonders der Nacken, der sich automatisch versteifte.

Von Mirka ging keine Gefahr mehr aus. Der seufzte, kroch zum Felsen und lehnte sich dagegen. Speichel tropfte aus seinem Mund, seine Augen waren blutunterlaufen und er zitterte am ganzen Körper.

Erst jetzt konnte sich Nico so richtig freuen, dass Rick wieder da war. Er streichelte und kunddelte ihn und der Husky sprang an ihm hoch und schwänzelte wie wild. Gelassen setzte sich Nico dann ans Feuer, warf ein paar der Holzscheite hinein und hielt seine Hände an die prasselnden Flammen.

Er wandte sich Mirka zu.

“So, mein Lieber. Wenn du nicht möchtest, dass sich mein Hund nochmals mit dir beschäftigt, erzählst du mir, wie ihr ihn verschleppt habt. Und ich will alles hören, verstehst du?”

Mirka hatte die Augen fast geschlossen, er war absolut fertig. Er atmete schwer und es war sicher, dass er sehr lange an diesen Tag hier oben denken würde.

“Ich bin nicht dein Lieber. Und gar nichts werde ich sagen. Soll dich doch…”

Rick ging mit langsamen Schritten auf ihn zu. Er bleckte die Zähne und ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er es ernst meinte. Sein Blick war bösartig, feindselig, voller Wut und Hass.

Erschrocken drückte sich Mirka an den Felsen. Nico wollte seinen Triumpf auf den Höhepunkt treiben. Noch immer brannten die Ohrfeigen in seinem Gesicht.

“Du solltest aber lieber kooperieren. Ich muss ihm nämlich gar nichts sagen, er wird dir auch so die Nase aus dem Gesicht reißen. Das ist nicht schön, glaub mir. Wenn du den Mund aufmachst, wird er es bleiben lassen.”

Die Todesangst schien zurückzukehren. Mirka jammerte etwas vor sich hin und als Rick nur noch einen knappen Meter vor ihm stand, begann er zu reden.

“Wir haben ihn im Ort gesehen. Wir wussten ja, dass er euch gehört. Robert hat ein Netz besorgt und mit der Fine als Köder hat es dann auch geklappt.”

“Fine ist eine läufige Hündin, nehme ich an?”

Mirka nickte. Er ließ Rick keine Sekunde aus den Augen und es schien, als redete er mit ihm.

 

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