Up and away – Teil 3

8.

Nachdem ich mich also endlich dazu durchgerungen hatte aufzustehen (schließlich wollte ich ja nicht schon zu meinem ersten Schultag zu spät kommen) und die übliche Prozedur im Badezimmer hinter mich gebracht hatte machte ich mich auf den Weg in die Küche wo Sven und meine Mutter schon auf mich warteten.

„Guten Morgen kleiner Bruder – na, schon aufgeregt?“

„Ich ? Ne eigentlich nicht“, log ich ihn an, schließlich musste ich mir ja die Nervosität nicht schon direkt am Frühstückstisch anmerken lassen.

„Na das kann ich eigentlich nicht so ganz glauben“, lachte meine Mutter „denn sonst hättest du dir dein T-Shirt wahrscheinlich richtig herum angezogen.“

Nach einem kurzen Blick auf das Etikett stellte ich mit einem ziemlich unangenehmen Gefühl in der Magengegend fest, dass meine Mutter mal wieder Recht hatte. Nur gut, dass ihr das aufgefallen war und ich mir das ganze nicht noch hinterher von irgendeinem in der Schule hätte sagen lassen müssen.

„Jetzt mach dir mal nicht so große Sorgen, so schlimm wird’s schon nicht werden“, sagte Sven und gab mir einen leichten Klaps auf die Schultern – na ja hoffentlich hatte er Recht.

Der Rest des Frühstücks verlief wie immer wenn man mal davon absieht, dass ich mich immer noch nicht so ganz an das amerikanische Frühstückfernsehen gewöhnt hatte. Das war schon etwas anderes als unsere deutsche billige RTL-Imitation. Nun gut das amerikanische TV war sowieso eine ganze Reihe professioneller hatte ich das Gefühl – obwohl das natürlich auch alles pure Einbildung gewesen sein kann.

„Also Ihr beiden dann macht euch mal langsam fertig ich habe da nämlich noch eine kleine Überraschung für euch bevor wir uns auf den Weg zur Schule machen“, meinte meine Mutter nach einer Weile.

Eine Überraschung? Ich hasse doch Überraschungen, nein das heisst eigentlich liebe ich sie ja aber ich kann es eben nicht abwarten bis ich endlich sehen kann, was mich da erwartet und wie immer ging es mir natürlich auch an diesem Morgen. Ich fing schon an meine Mutter mit Fragen zu durchlöchern was und wie und wo aber da sie ja dieses ganze Theater schon seit Jahren gewöhnt war lächelte sie nur und sagte ich werde mich jawohl noch fünf Minuten gedulden können.

Ich weiß zwar nicht wie aber irgendwie habe ich es tatsächlich geschafft mich im Zaum zu halten bis meine Mutter ihre Sachen beisammen hatte und wir uns endlich auf den Weg zum Auto machen konnten.

Wir standen also kurze Zeit später vor der zweiten großen Garage an unserer Hausfront und meine Mutter meinte irgendeiner von uns beiden könnte ihr doch auch eigentlich mal ein bisschen Arbeit abnehmen und die Garagentüre aufmachen. Sven wie immer ein Blitzschalter war schon bei der Arbeit ehe ich überhaupt begriffen hatte was los war und da war auch schon die Überraschung.

Ich konnte es ja selber kaum glauben aber in der Garage stand ein Nigelnagelneuer schwarzer Golf IV. Wow! Da hatten meine Eltern sich ja mal wieder was geleistet. Mein Vater hatte zwar schon seit Jahren einen etwas größeren Audi aber meine Mutter fuhr bis zu diesem Tag eigentlich immer mit ihrem alten Fiesta durch die Gegend und hatte auch eigentlich nie dran gedacht sich von ihrem doch so Heißgeliebten Auto zu trennen.

Das heisst sehr irgendwann hätte dieser Moment sowieso kommen müssen, denn das Auto stand kurz davon sich in seine Bestandteile aufzulösen. Wie meine Mutter es immer wieder geschafft hatte die Leute vom TÜV davon zu überzeugen ihr immer wieder die Plakette zu geben ist mir heute noch ein Rätsel – wahrscheinlich hatten die eben auch nur Mitleid mit dem lieben kleinen Auto.

„Na, was ist? Wollt ihr nicht mal langsam in euer Auto einsteigen?“, lachte sie und Sven und ich ließen uns das natürlich nicht zweimal sagen.

Doch Halt – Moment – Stopp ! Hatte meine Mutter da gerade unser Auto gesagt? Nein bestimmt nicht. Doch Sven schien da auch irgendetwas aufgeschnappt zu haben denn sei Gesichtsausdruck war auch irgendwo zwischen „Ich glaub’s nicht“ und „Du spinnst doch.“

„UNSER Auto?“, fragte er.

„Ja habe ich doch gesagt oder? EUER Auto“, grinste meine Mutter zurück

Nun gab es aber für uns beide kein Halten mehr und wir fielen meiner Mutter um den Hals – unser Auto. Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Gut, wir hatten zwar beide logischerweise noch keinen Führerschein aber schließlich war Amerika ja dafür bekannt, dass der Führerschein eigentlich nur eine Formsache ist.

„Hey, hey – ist ja gut ihr beiden Ihr dürft mich jetzt wieder loslassen, was sollen die Nachbarn denken, dass wir hier mit zwei Klammeraffen wohnen?“, lachte meine Mutter unter unserem Ansturm.

Nachdem Sven und ich wieder ausgestiegen waren und noch mindestens 23x um das Auto herumgegangen waren meinte Ich nur es wäre doch vielleicht auch mal Zeit loszufahren wenn wir denn noch pünktlich ankommen wollten. Diesem Argument waren meine Mutter und Sven dann auch recht aufgeschlossen und so machten wir uns dann endlich Fahrenderweise auf den Weg zur Schule.

„Sag mal Mum – ich möchte ja nicht neugierig sein aber wie kommen wir eigentlich dazu von euch ein Auto zu bekommen?“, fragte Sven „Ich meine es ist ja nicht so, dass man so was mal eben unter den Weihnachtsbaum legt und das erst recht nicht in dieser Jahreszeit“

„Na ja, euer Vater und ich haben uns gedacht, dass es für euch ja wohl mit die größte Umstellung ist von euren Freunden getrennt zu werden und damit ihr es ein bisschen leichter habt hier neue Freunde zu finden kann ein Auto nie schaden. Dann könnt ihr auch ein bisschen weiter wegfahren und müsst vor allem nicht nachts durch die dunklen Straßen laufen“

Meine Mutter, immer bedacht darauf, dass es uns gut geht. Das Argument war nachvollziehbar obwohl ich eigentlich in unserer Nachbarschaft nirgendwo einen Typen mit Pistole unter der Jacke vermutet hätte – aber wissen kann man es nie und bin bestimmt der letzt, der zu einem Auto nein sagt.

„Da haben wir ja wenigstens etwas hier, dass uns an Deutschland erinnern kann“, lachte Sven „Heer prasenteeren veer ihnen ainen newen Wolskwagen“, imitierte Sven den englisch Akzent und hatte meine Mutter und mich soweit, dass wir vor Lachen fast schon in Tränen ausbrachen. Als dann noch die schon fast obligatorische Frage, „Is ein Diesel oder?“ kam, war es endgültig um uns geschehen.

Erst als ich meinte Sven sollte doch mal langsam damit aufhören sonst fährt Mum noch unseren neuen Wagen zu Schrott scheint das Wirkung zu zeigen – der Rest der Fahrt verlief dann ohne weitere »Lachexzesse«.

So weit war es ja auch wieder nicht zu unserer neuen Schule und ehe wir uns versahen waren wir auch schon da gewesen und nach dem was da an Autos, Fahrrädern und Menschen durch die Gegend fuhr bzw. lief waren wir nicht die einzigen, die ihren Weg zur Schule gefunden hatten. ‚Na dann‘ dachte ich mir.

Als wir uns endlich ein bisschen orientiert hatten und einen Parkplatz gefunden hatten, ging ich mit meiner Familie (oder zumindestens einem großen Teil meiner Familie) und einem ziemlich flauen Gefühl in der Magengegend zum Schulgebäude und dort in Richtung des Verwaltungsgebäudes.

Dort angekommen orientierten wir uns in Richtung des Büros des Schulleiters oder wie es hier so schön heisst des »Prinzipal« und erstaunlicherweise hatten wir sein Büro auch in ziemlich kurzer Zeit gefunden.

Wir meldeten uns bei seiner Sekretärin an und nach ein paar Minuten konnten wir dann auch endlich in sein Büro um die Formalitäten zu regeln. Meine Mutter kannte ihn ja schon von irgendeiner Vorbesprechung und jetzt kannten Sven und ich ihn also auch. Was mich ein bisschen überraschte war die Tatsache, dass er für mich gar nicht nach Schulleiter aussah. Okay ich weiß das niemand so aussieht wie man ihn sich aus der Ferne vorstellt aber trotzdem. Ich hatte einen etwas älteren Herrn mit Bart und Krawatte erwartet aber diesen Mann suchte ich vergebens. Alles, was mit meinen Vorstellungen übereinstimmte war der Bart ansonsten war so ziemlich alles anderes. Erstmal muss der Prinzipal wohl frisch vom College gekommen sein denn dem Aussehen nach war er höchstens Mitte 30 und von der Kleidung her hätte man ihn wohl eher den Schülern als den Lehrer zugeordnet aber mir war er direkt auf den ersten Blick sympathisch. Ein einfach netter Mensch eben.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als wir mit ihm kurz die Formalitäten durchgingen und den Stundenplan durchsprachen. Er konnte sogar ein bisschen deutsch was er von seiner Großmutter gelernt hatte erzählte er uns. Aber so wie er sprach musste seine Großmutter wohl schon sehr alt gewesen sein – trotzdem es war schon lustig.

Als wir mit der kurzen Besprechung fertig waren führte er uns noch einmal durch die ganze Schule (wo inzwischen die erste Stunde schon angefangen hatte) und zeigt uns die wichtigsten Punkte. Da war der ziemlich große Chemie- und Physik-Trakt, die angeschlossene Turnhalle, die wohl obligatorisch für jede amerikanische Schule ist und dann natürlich das Wichtigste: Die Cafeteria also der Ort für das körperliche Wohlbefinden.

Ich war mir zwar nicht ganz so sicher, ob ich mich jemals in diesem Gewirr von Gängen, Räumen und Wegkreuzungen zurechtfinden würde aber da das ja scheinbar hunderte von anderen Kids auch keine Schwierigkeiten machte würde ich das wohl auch noch hinbekommen.

Pünktlich zum Klingeln, das das Ende der ersten Stunde einläutete waren wir mit dem Rundgang und den ganzen Formalitäten fertig und sollten nun „endlich auch einmal am Unterricht teilnehmen“ wie meine Mutter so nett anmerkte.

Mr. Schneider, so hieß der Schulleiter dessen Name mir irgendwoher bekannt vorkam, ach ja – seine deutsche Großmutter, führte uns zuerst zu Svens Klasse, der mir noch ein leichtes Lächeln und einen hochgehaltenen Daumen präsentierte und darauf mitten im Gewühl der ganzen anderen Jungs und Mädchen verschwand. Der Direktor sprach noch ein paar Worte mit Svens Lehrer und danach machten wir uns auf den Weg zu meiner Klasse. Mit leicht verschwitzten Händen verabschiedete ich mich von Mr. Schneider und meiner Mutter und machte anschließend direkt Bekanntschaft mit meiner neuen Mathelehrerin Mrs. Smith. Aha, endlich mal ein Name, der mich daran erinnerte in welchem Land ich mich doch eigentlich befand. Zumindestens dachte ich das, doch auch hier mal wieder Fehlanzeige denn Mrs. Smith hatte einen scharf britischen Akzent und langsam begann ich mich zu wundern ob an dieser Schule überhaupt »richtige« Amerikaner zu finden seien.

Auf jeden Fall machte die Dame – wie schon ihr Chef zuvor – einen supernetten Eindruck und ich fühlte mich direkt eine ganze Ecke besser wo ich zumindestens schon mal wusste, dass der Lehrer bzw. in diesem Falle die Lehrerin eine nette Person war.

Die anderen Schüler trudelten auch so nach und nach ein und begannen mich natürlich interessiert anzusehen und sich scheinbar zu wundern, was ich da vorne bei der Lehrerin so ganz alleine wohl machen würde. Ich merkte schon, wie mir das Blut in den kopf schoss aber da kam auch schon die rettende Erlösung als mich Mrs. Smith an einen noch freien Tisch setzte.

Es dauerte auch gar nicht lange und das wohl unvermeidliche nahm seinen Lauf. Ein scheinbar mitten auf dem Girly-Trip schwebendes Mädchen kam auf meinen Tisch zu und meinte nur was ich denn an ihrem Tisch machen würde. Ich musste erstmal schlucken und versuchte auf die schnelle die beste Antwort auf diese Frage zu finden doch das ganze erübrigte von selber denn so cool wie sie mir im ersten Moment entgegen getreten war, so herzlich fing sie jetzt an zu lächeln.

„Hey Quatsch ist schon Okay – du bist der neue aus Deutschland richtig?“

Ups – da eilte mir mein Ruf wohl schon wieder voraus was? Aber auf jeden Fall war sie nicht voller Wut über mich hergefallen und das war schon mal das Wichtigste. Immer noch überrascht von der Offenheit mit der sie auf mich zugekommen war brachte ich ein leises „Ja genau – Steffen ist mein Name“ heraus und rückte ein Stück um ihr Platz zu machen.

„Hi Steffen ich bin Sherly und die anderen werden dir demnächst noch eine ganze Menge über mich erzählen, von dem aber wahrscheinlich nur ein Viertel – wenn überhaupt – stimmt also glaub nicht alles was du hörst.“

„Na das glaubst du doch wohl selber nicht oder?“

Das kam von hinten.

„Du weißt doch, dass man mit deinen Skandalgeschichten schon fast ein ganzes Buch füllen könnte:“

Sherly warf einen scharfen Blick nach hinten und wollte dem Jungen hinter uns schon eine kleine Ohrfeige geben, da er dies aber scheinbar schon voraus gesehen hatte ging das ganze ins Leere.

„Nein lass dich mal nicht beunruhigen“, grinste mich der Junge von hinten an, „Sherly ist zwar eine etwas merkwürdige aber eine wirklich nette merkwürdige Person. Ich bin übrigens Matthew, Matthew Bush.“

Er streckte mir die Hand aus und es folgte das obligatorische Händeschütteln, „wobei ich noch anmerken möchte, dass ich weder verwandt, noch verschwägert noch in irgendwelchem Kontakt zu unserem Präsidenten stehe – aber das glaubt mir ja wahrscheinlich eh wieder niemand ODER RICHARDSON ??“, sagte er zum Schluss etwas lauter als sein Tischnachbar sich gerade auf seinen Stuhl gesetzt hatte.

„Hmmm … was ? Ja, ja Mr. Präsident.“

„Siehst du, was habe ich dir gesagt“, sagte Matthew zu mir und wendete sich anschließend wieder seinem Nachbarn zu, „das ist übrigens Steffen …“ – „Reder“, warf ich ein nachdem ich gecheckt hatte, dass Matthew nach meinem Nachnamen suchte.

„Ja also das ist Steffen Reder aus good old Germany“, fuhr Matthew fort.

„Hi Steffen nett dich kennenzulernen. Ich bin Andrew Richardson aber eigentlich nennen mich alle nur Andy oder wie du wahrscheinlich schon mitbekommen hast Richardson. Ich sehe du hast Sherly schon kennengelernt? Dann hast du ja schon einen Einblick bekommen, wie es bei uns zugeht“, grinste er mich an doch Andrew hatte diesmal nicht damit gerechnet, dass Sherly auf ihn abgezielt hatte und so saß die Ohrfeige diesmal – wenn auch nicht wirklich feste.

„Hey, hey – ich sage ja sie ist verrückt“, lachte er.

„Wenn die Herrschaften da hinten jetzt langsam fertig sind würde ich gerne mit dem Unterricht beginnen“, rief unsere Lehrerin von vorne und wir stimmten alle zu, dass wir ausnahmsweise mal genau das tun würden, was Mrs. Smith uns gerade gesagt hatte.

„Also für die, die es noch nicht mitbekommen habe, wir haben einen neuen Mitschüler: Steffen Reder aus Deutschland wird wohl die nächsten Jahre bei uns im Kurs verbringen also benehmt euch dementsprechend – zumindestens am Anfang denn ich kenne euch ja langsam und weiß, dass ihr das wohl nicht lange durchhalten werdet“ Ein leichtes Lachen ging durch die Klasse „und damit jetzt hier nicht direkt die große Hektik ausbricht, ihr könnt ihm gerne jeder persönlich noch Hallo sagen aber das bitte nach der Stunde, einverstanden ? Jetzt machen wir erstmal mit dem Unterricht weiter.“

Es gab keine Widerworte und das war mir auch ganz recht, denn was ich eigentlich nicht wollte war vorne wie in der 5. Klasse sozusagen auf dem Präsentierteller zu stehen und von allen Seiten her interessiert angesehen und befragt zu werden.

„Hallo, mein Name ist Steffen ich komme aus Deutschland und …“ nein, nein, alleine schon die Idee einer solchen Vorstellung trieb mir den Schweiß auf die Stirn.

Der Unterricht lief dann nicht anders ab, als ich es schon aus Deutschland gewöhnt war – Schule ist eben überall derselbe Stress ganz egal ob ich nun in Europa oder in Amerika war – na ja vielleicht mit dem kleinen Unterschied, dass ich mich hier erst noch ein bisschen an die Sprache gewöhnen musste denn wie jeder der schon einmal einen »richtigen« Engländer oder Amerikaner gehört hat wird bestätigen können, dass das ganze dann nur noch relativ wenig mit dem klassischen Schulenglisch zu tun.

Nachdem wir also einiges zum Sinus und Kosinus erfahren hatten und ich mich zu meiner eigenen Überraschung sogar das ein oder andere Mal gemeldet hatte war die Stunde auch schon zu Ende und ich sah auf meinen Stundenplan um zu sehen, was als nächstes dran war oder besser gesagt ich wollte auf meinen Stundenplan sehen kam aber gar nicht erst dazu weil Sherly ihn mir direkt aus der Hand nahm und sich interessiert ansah wo und mit wem ich denn welche Fächer hatte.

Als ich dann auch endlich mal einen Blick auf das gelbe Blatt Papier erhaschen konnte stellte ich ziemlich zufrieden fest, dass die nächste Stunde eines meiner Lieblingsfächer war, nämlich Geschichte. Nun war mir schon ziemlich klar gewesen, dass ich mit meiner Vorbildung in Sachen europäische (und dort speziell deutsche) Geschichte hier nicht sehr weit kommen würde aber das störte mich nicht besonders.

Schließlich hängt und hing ja die gesamt Weltpolitik und Geschichte immer schon irgendwie zusammen also machte ich mir da keine großen Sorgen drum.

Ganz anders sah es da mit ziemlich aktuellen Problemen aus nämlich wie ich meinen Raum finden würde. Irgendwie hatte ich zwar im Kopf, dass der Direktor mir gesagt hatte, dass die Räume alle nach einem bestimmten System durchnummeriert waren und das alles daher ganz einfach war doch irgendwie war ich durch das System noch nicht durchgestiegen und so stand ich also relativ verzweifelt da – ziemlich dumme Sache.

Ziemlich dumme Sache, wenn da nicht Sherly gewesen wäre, die scheinbar die Funktion meiner Mutter übernehmen wollte, was mir aber in dem Moment eigentlich ganz Recht gewesen war. Nachdem sie also meinen Stundenplan lange und ausführlich analysiert hatte rief sie nur der Gruppe von gerade auswandernden Jungs und Mädels nur ein ziemlich lautes „Halt“ hinterher.

Sie schien sich bei den anderen einen gehörigen Respekt verschafft hatte, denn kaum hatte sie ihren Ruf ausgesprochen als die anderen auch schon wie vom Blitz getroffen stehen blieben und sich zu uns umdrehten.

„Thomas? … Hey Tom kannst du gerade mal zurückkommen?“

Und es folgte eine Szene, die genau so in einem HighSchool-Film hätte vorkommen können. Ein Junge versucht sich gegen 20 andere durchzusetzen, die gerade aus der Klasse rausstürmen. Als guter Schüler hat man mit sowas natürlich Erfahrung und weiß, wie man durch solche Situationen im wahrsten Sinne des Wortes durchkommt.

Thomas kam gar nicht dazu Sherly zu fragen was eigentlich los war, denn die plapperte schon wieder munter drauf los.

„Hör mal, du hast doch Geschichte beim Archiv oder?“

Er grinste nur, verdrehte die Augen und nickte.

„Na das ist doch super“, lachte Sherly, „dann kannst du doch unserem Steffen zeigen wo er lang muss oder?“

„Sehe ich aus wie ein Babysitter?“

 Thomas schien meinen etwas zurückgewiesenen Gesichtsausdruck zu bemerken denn kaum hatte er das gesagt gab er mir auch schon einen Klaps auf die Schulter und lachte.

„Hey Quatsch nimm das jetzt bloß nicht ernst. Natürlich zeige ich dir wo du lang muss ich weiß ja noch, als ich hier neu ankam und diese Geschichte möchte Ich niemanden zumuten also lass uns gehen.“

Sherly kam nun aus dem Lachen kaum noch raus und ich sah wohl ziemlich desorientiert aus. Dies war wohl einer von diesen Insider-Witzen gewesen, von denen ich (logischerweise) keine Ahnung hatte. Tom meinte nur er würde es mir irgendwann erklären und wir sollten uns jetzt doch endlich auf den Weg machen.

Ich sagte Sherly kurz Tschüss, lief hinter Tom her und versuchte mir möglichst gut zu merken, wo es denn lang ging.

„Sag mal wieso eigentlich ‚Das Archiv’?“, fragte ich Tom auf dem Weg.

Der fing darauf wieder leicht an zu schmunzeln und meinte, dass ich mich da am besten überraschen lassen sollte und er würde da jetzt erstmal nichts zu sagen. Ich würde schon merken was es mit dem Archiv auf sich hat.

Nach einem Marsch quer durch das halbe Schulgebäude, was für deutsche Verhältnisse zwar unheimlich groß wirkte aber wie Tom mir versicherte hier in Amerika eher zu den kleinen gehörte hatten wir ganz eindeutig den Geschichtsraum gefunden denn nachdem was da an Karten und Bildern an der Wand hing musste es einfach so sein. Ich warf einen kurzen Blick durch den Raum und sah, dass erst ein paar einzelne Schüler an den Tischen saßen. Der Rest würde wohl so nach und nach eintrudeln – das war ich ja aus Deutschland auch nicht anders gewöhnt.

Tom meinte ich könne mich gerne neben ihn setzen weil da sowieso frei wäre und da ich mir dachte es ist ja schon mal gut, wenn ich zumindestens einen kenne, nahm ich sein Angebot dankend entgegen und ließ mich häuslich nieder – na ja vielleicht nicht ganz so extrem.

Kaum hatte ich mich gesetzt kam auch schon mein neuer Geschichtslehrer in den Raum und in dem Moment, wo er zur Tür hereinkam wusste ich auch was Tom mit ‚Dem Archiv‘ gemeint hatte.

Dieser Mann war tatsächlich ein lebendes Archiv oder zumindestens kam er dem ganzen sehr nahe. Vom Aussehen her hätte ich ihn für mindestens 65 getippt wahrscheinlich noch älter – eigentlich ja schon scheintot und seine Klamotten schienen auch noch aus der englischen Kolonialzeit zu stammen. Alles in allem ein ziemlich seltsamer Mensch. Tom musste wohl bemerkt haben, dass ich ziemlich interessiert in Richtung Lehrertisch sah denn er grinste mich nur breit an und fragt ob ich jetzt wüsste, was es mit dem Archiv auf sich hat. Ich konnte nur zurückgrinsen und musste mich doch ziemlich beherrschen um nicht laut loszulachen.

„Wie alt ist der Mann?“ flüsterte ich zu Tom rüber.

72 Jahre“, antwortete er

„Zweiundsiebzig Jahre ?“

Ich konnte es kaum glauben, dass jemand in dem Alter noch unterrichten durfte.

„Aber jetzt halt dich fest“, fuhr Tom fort, „er ist Vorsitzender des Computer-Clubs“

„Was?“, das konnte ich mir ja eigentlich kaum vorstellen.

Ich meine welcher Typ in diesem Alter beschäftigt sich schon noch mit einem Computer? Da sind ja normalerweise die private Münzsammlung und was weiß ich alles viel interessanter.

„Und versuch bloß nicht ihm irgendwas beibringen zu wollen – der Mann ist wirklich ein Genie auf dem Gebiet, weiß der Himmel wie der das gemacht hat aber ich glaube der könnte selbst Bill Gates noch was beibringen.“

„Wow“ war alles was ich darauf sagen konnte.

Inzwischen waren auch die anderen Schüler soweit eingetroffen und Mr. Hanklin wie ‚Das Archiv‘ mit Namen hieß begann seinen Unterricht meinte aber vorher noch kurz ich sollte mich nach der Stunde noch mal bei ihm melden.

Das aktuelle Thema war mir – entgegen meiner Mutmaßungen – doch einigermaßen bekannt, es drehte sich nämlich um den Parlamentarismus im England während der Industrialisierung – also doch europäische Geschichte, na ja wer keine eigene hat muss eben die anderer Staaten klauen, so kann man das natürlich auch machen.

Nach dem Unterricht kam ich wie gewünscht zu Mr. Hanklin nach vorne und bekam von ihm die übliche aber trotzdem nette Einführungsrede zu hören. Er freute sich mich bei sich zu haben, hoffte dass ich meinen Weg gut gehen werde und bot mir an, dass ich bei irgendwelchen Problemen gerne zu ihm kommen könnte.

Die nächsten paar Stunden verliefen ohne irgendwelche Höhepunkte sieht man mal davon ab, dass ich noch einige andere meiner Mitschüler zumindestens vom Namen her kennen lernte. Was mich wirklich überraschte war, dass eigentlich alle unheimlich nett und offen zu mir waren – eigentlich gar nicht so als wenn ich neu wäre sondern mehr so als ob sie einen alten Freund wieder gesehen hätten – meine Befürchtungen hatten sich also zum Glück als vollkommener Schwachsinn rausgestellt und Sven schien doch recht gehabt zu haben.

Der ein oder andere Junge den ich den Tag über kennengelernt hatte machte sogar so einen guten Eindruck auf mich, dass ich mich schon im ein oder anderen Moment gefragt hätte was denn wohl wäre, wenn vielleicht einer von ihnen schwul wäre – aber das war ja eigentlich zu schön um wahr zu sein, obwohl … wer weiß ?

Gegen Mittag machte ich mich dann auf den Weg um in der Schulcafeteria ein bisschen was Essbares zu bekommen und mit Sven ein bisschen über den Tag zu sprechen.

Nachdem ich ein bisschen verloren in der Gegend herumgeguckt hatte fand ich ihn tatsächlich in dem ganzen Gedränge und stellte mich zu ihm in die Reihe an der Essensausgabe.

„Na, kleiner Bruder wie war’s?“, fragte er.

„Super – wenn ich das gewusst hätte dann hätte ich mir gar nicht so große Sorgen zu machen brauchen.“

„Na also hab ich’s dir nicht direkt gesagt?“, grinste er mich an.

„Ja, ja ich weiß. Beim nächsten Mal höre ich auf dich – hochheiliges Indianer-Versprechen“

Wir redeten noch ein bisschen über dieses und jenes und machten uns dann auf den Weg einen freien Tisch zu suchen. Auf dem Weg quer durch die Cafeteria rief plötzlich irgendjemand von hinten meinen Namen und da ich mir nicht denken konnte, dass es so viele Steffens in einer amerikanischen Schule gab drehte ich mich um und tatsächlich, da saßen Sherly, Matthew und noch ein paar andere Leute, die ich den Tag über kennengelernt hatte.

„Kommst du zu uns an den Tisch?“

Hups – was war denn heute los gewesen? Da hatte ich am Morgen noch befürchtet den Rest des Schuljahres irgendwo alleine in der Gegend herumzusitzen und jetzt fragten die mich schon am ersten Tag ob ich mich zu ihnen setzen wollte – also wirklich nicht schlecht kann ich da nur sagen.

Ich sah Sven kurz an doch der deutete mir mit einer Handbewegung nur an, dass ich mich doch endlich auf den Weg machen sollte und sagte er würde sich schon einen Platz suchen.

Gesagt getan ich drehte mich also um 180° und setze mich zu Shirley und den anderen an den Tisch.

„Sag mal, wer war denn dieser süße Typ mit dem du da durch die Gegend gelaufen bist?“, fragte Sherly und wirkte dabei neugieriger als sie es wohl geplant hatte denn Julian (einer dieser mega-süßen Jungs) gab ihr einen kleinen Stups in die Magengegend und flüsterte „Sherly“, die wiederum schien sich keiner „Schuld“ bewusst zu sein und fauchte nur zurück.

„Was denn ? Darf ich nicht mal fragen?“

Ich schaltete mich ein und erklärte ihr, dass ‚der süße Typ‘ mein Bruder Sven war. Anschließend kam dann von Sherly die irgendwie von mir schon erwartete und ziemlich offensichtlich klingende Frage „Ist der schon vergeben?“

Das war mal wieder Grund für alle anderen am Tisch leicht loszulachen und mit diversen Kommentaren wieder einmal deutlich zu machen, dass sie wohl alle der Meinung waren, dass Sherly eine ziemlich ausgeflippte Person war.

In der Tat, ich kannte sie zwar auch erst seit einem halben Tag aber hatte auch schon das Gefühl, dass sie zumindestens nicht in der Einheitssuppe der HighSchool-Girls untertauchen wollte und dies bestimmt auch nicht tat.

Während des nun folgenden Essens gab es einen kleinen Smalltalk und ich erfuhr ein bisschen was über die Leute, die mit mir am Tisch saßen und im Gegenzug erfuhren sie auch etwas mehr über mich. Wobei ich eher denke, dass die anderen wesentlich mehr über mich erfuhren als andersrum – aber das störte mich eigentlich nicht besonders. Ich hatte scheinbar neue Freunde gefunden und das war ein sehr gutes Zeichen.

Als wir alle mit dem Essen mehr oder weniger fertig waren meinte Matthew ziemlich eindringlich: „Also ich weiß ja nicht wie’s mit euch ist Leute aber ich muss mir jetzt erstmal eine Spritze setzen gehen. Jeffrey kommst du mit?“

„Klar schließlich hab ich auch mal wieder eine nötig“, sagte er und die beiden verschwanden.

Mir war das ganze dann doch ein bisschen seltsam – in was war ich denn da rein geraten?

Die anderen schienen meinen ziemlich perplexen Blick auch zu bemerken und fingen reihum an zu grinsen.

„Um deine Frage direkt zu beantworten“, lachte mich Julian an, „nein, die beiden sind nicht nach irgendwelchem Zeug süchtig sondern haben schlicht und ergreifend Diabetes.“

„Ach so sieht die Sache aus“, jetzt musste ich auch anfangen zu lachen.

Das Gespräch drehte sich dann noch um einige andere mehr oder weniger wichtige Dinge und irgendwann meinte jemand es sei doch mal langsam Zeit um sich wieder auf den Weg zu machen. Die anderen stimmten zu und so machte ich mich auch wieder mit auf den Weg. Deutsch Fortgeschrittenenkurs stand nun auf meinem Programm – die einzige Sache bei der ich mir nun wirklich sicher war endlich mal 100% mitmachen zu können, was ja auch eigentlich nicht sehr verwunderlich war. Ich schnappte mir also meine Tasche und machte mich auf den Weg.

Den Raum zu finden sollte diesmal auch nicht schwer sein, denn ich musste schlicht und ergreifend in den Raum direkt neben meinem Mathe-Raum und da ich mir den Weg dahin ziemlich gut gemerkt hatte sollte sich das also auch nicht als so schwierig herausstellen – dachte ich zumindestens. Einmal verlief ich mich trotzdem ein bisschen aber bemerkte es noch rechtzeitig um nicht zu spät zu kommen.

Die meisten Leute waren schon da und ich warf einen kurzen Blick in die Runde um erleichtert festzustellen, dass Matthew in einer Ecke saß und mich zu sich winkte. Wieder ein kleiner Bonuspunkt für mich dachte ich mir und setzte mich erleichtert zu ihm. Er meinte noch, dass er jetzt vielleicht endlich mal von seiner nur mäßigen Note herunterkommen würde worauf ich ihn nur angrinsen konnte – wer weiß, vielleicht würde er noch viel mehr von mir bekommen können, aber halt! Meine Phantasie ging wieder einmal mit mir durch.

Kaum hatte ich mich hingesetzt kam auch schon unser Lehrer in den Raum doch irgendwie passte dieser Mann auch wieder in das Bild was ich von einem Lehrer hatte – er war erstaunlich jung wahrscheinlich gerade frisch vom College (was man ja vom „Archiv“ nicht gerade behaupten konnte) und sah von der Kleidung fast schon aus wie einer von uns – nicht schlecht.

Er begrüßte kurz die ganze Klasse um dann zu verkünden, dass wir uns jetzt alle ziemlich anstrengen müssen da wir endlich mal jemanden unter uns hätten der für diesen Kurs wie gemacht war.

Ich ahnte schon, dass jetzt wieder irgendeine Anspielung auf mich kommen würde und so war es dann auch Herr Thomassen (auch wieder so ein interessanter deutscher Name) ging während dieser kleinen Rede ziemlich zielstrebig auf meinen Tisch zu und ende mit einem ziemlich durchdringenden „Nicht wahr Herr Reder?“.

So da stand ich nun mal wieder in einer kleinen Zwickmühle – was sollte ich denn nun tun? Vor allen anderen sagen, dass ich seine Anforderungen wahrscheinlich (nein sehr sicher sogar) noch überbieten könnte und mich damit direkt als Streber vor allen anderen stellen und mir direkt sämtlich eventuelle Freundschaften direkt zu Nichte machen?

Ich wollte gerade irgendetwas sagen doch da kam mir zum Glück mein neuer Lehrer zuvor und meinte nur ich sollte doch ab und zu auch mal den anderen eine Chance geben ihre »grottenschlechten« Leistungen zu zeigen. Das allgemeine raunen sagte mir, dass der Mann wohl doch einen ziemlich guten Ruf haben musste und in der Klasse sehr beliebt war. Puh, noch mal Glück gehabt.

Die Stunde selber verlief ziemlich interessant aber entgegen meiner Erwartungen stand ich zwar die ganze Zeit mehr oder weniger im Mittelpunkt aber das machte mir gar nichts da ich eigentlich mit allen meinen Mitschülern eine Menge Spaß während der Stunde hatte und ein paar auch richtig gut kennen lernte (na ja so gut es eben im Unterricht geht).

Am Ende meinten dann sogar ein paar Mädchen zu Herrn Thomassen, dass dies wohl das erste Mal sei, dass sie sich auf die nächste Stunde freuen würden – hups so kann das gehen.

Der restliche Schultag verlief nicht gerade weltbewegend – bis auf eine Tatsache: Ich bekam eine Einladung zu Matthew nach Hause. Eine Einladung! Am ersten Tag! Zu Matthew nach Hause – zu einem der beliebtesten Jungs in der Schule (diesen Eindruck bekam ich zumindestens).

Wow ich wusste zuerst gar nicht was ich sagen sollte aber um nicht ganz so blöd zu wirken stimmte ich dann doch schnell zu.

Mal wieder war ich so aufgeregt wie selten zuvor – in Deutschland war ich eigentlich wenn man mal von Nico absieht nie mit irgendwem nach Hause gegangen und jetzt fragt mich dieser Traum von einem Jungen direkt am ersten Tag – konnte es eigentlich überhaupt noch besser werden ?

Als die Schule endlich zu Ende war und mein Puls irgendwo jenseits der Schallgrenze lag wartete ich draußen vor dem Parkplatz am vereinbarten Treffpunkt auf Sven um ihm zu sagen, dass ich später nach Hause kommen würde.

Er schaute mich zuerst etwas ungläubig an und fing dann über das ganze Gesicht an zu grinsen : „Ja, ja, mein kleiner Bruder – heute Morgen noch Schiss, dass das alles sooo schlimm wird und jetzt erzählt er mir schon, dass er mit jemandem nach Hause fährt. Du bist mir ja einer“

Ich musste auch leicht grinsen denn er hatte ja Recht und ich hätte mir ja selber auch nicht träumen lassen, dass das alles schon am ersten Tag passieren würde aber hey – that’s life!

Sven verabschiedete sich also von mir und meinte nur er würde den Weg schließlich auch alleine finden.

Kaum war Sven weg sah ich auch schon Matthew schnellen Schrittes auf mich zukommen.

 „Na, wie sieht’s aus können wir?“

„Von mir aus immer“, antwortete ich.

„Dann mal los, mein Auto steht auf der anderen Seite der Schule.“

Und so machten wir uns auf den Weg.

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