»Was willst du denn da oben?«, fragte ich als er die Leiter zum Boden der Scheune hinaufstieg.
»Sagte ich doch. Gucken ob alles in Ordnung ist.«
»Aber was soll denn sein? Es ist doch nichts passiert außer dass wir keinen Strom haben.«
Mir war klar dass es einen anderen Hintergrund für seine Handlung geben musste.
»Warte, ich komm mit.«
Er sagte nichts und ich stieg die Leiter empor, während er mir von oben mit der Taschenlampe leuchtete.
Als ich oben ankam machte er plötzlich die Lampe aus und ließ sie einfach ins Stroh fallen. Ich konnte jetzt nur noch ahnen wo er stand, hörte sein leises Atmen. In diesem Augenblick ahnte ich was er hier wollte. Er musste gehofft haben dass ich ihm folge, denn er konnte nicht sicher sein dass ich es tat.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, lauschte in die Dunkelheit. Er kam langsam auf mich zu, sehr langsam, Stroh und Körner knirschten unter seinen Schritten. Noch hatte ich Zeit, einfach umzudrehen und zu gehen. Am besten Wortlos, dann hätte es später zu keiner unangenehmen Situation kommen können. Trotz der knisternden Erotik, die sich plötzlich breit machte, wunderte ich mich über die Dreistigkeit, mit der er mich hier oben in eine gewisse Bedrängnis brachte.
Ich rührte mich nicht, ich konnte nicht. Jan war eigentlich recht hübsch. Groß war er, ein paar Zentimeter größer als ich, strohblondes, kurzes Haar und diese markanten Gesichtszüge. Dreiundzwanzig, vier Jahre älter als ich.
Mein sexuelles Verlangen war schon seit langem auf dem Tiefstpunkt und ich hatte mich längst damit abgefunden hier alt und grau zu werden – ohne Chance auf Abenteuer oder gar eine nähere Beziehung. Und nun geschah dies.
Mir wurde schnell klar was passieren würde wenn ich einfach stehen blieb. Wenige Sekunden stellte ich mir die Frage ob ich das, was meiner Meinung nach passieren würde, überhaupt wollte. Aber diese Sekunden verstrichen ohne dass ich eine Antwort wusste. Ohne mich wirklich sehen zu können kam Jan immer näher, ich hörte seine Schritte nur wenige Zentimeter vor mir, spürte seinen Atem. Es war wie eine Lähmung gegen die ich nichts ausrichten konnte. Mein Körper spannte sich an, ich spürte jeden Muskel unter meiner Haut. Und ich begann leicht zu zittern. Es war die Erregung die meinen Körper in Aufruhr brachte. Fabian fiel mir ein, auch was zwischen uns passierte in jenen Nächten. Hatte ich das wirklich nicht vermisst? War ich schon so abgestumpft dass ich nicht mehr wusste was es heißt, jemanden zu begehren? Begehrte ich jetzt Jan? Letzte Zweifel ließen mich einen Schritt zurückweichen. Jan blieb stehen. Wie lange wir uns so gegenüberstanden – ich weiß es nicht mehr. Die schwüle Hitze unter dem Dach betäubte alle anderen Gedanken. Weit in der Ferne dann Donnergrollen, es verlieh der Situation etwas kitschiges und doch faszinierendes.
Sollte ich etwas sagen, etwas tun? Warum schwieg er und kam nicht näher? Er konnte ja nicht wissen dass ich schwul bin, aber ahnte oder spürte es gar? Mir ging es plötzlich nicht mehr darum dass er hinter mein kleines Geheimnis kam. Ich war mir ziemlich sicher dass es das auch nachher noch sein würde.
Plötzlich entfernten sich seine Schritte, wenig später leuchtete der Lichtkegel der Taschenlampe kurz in mein Gesicht.
Ohne einen Ton zu sagen stieg Jan die Leiter hinunter.
»Der Strom ist wieder da«, rief er zu mir hoch. Reichlich verdattert stand ich da, so als wäre das alles gar nicht passiert. Wie ein kurzer, aufregender Traum.
Ich blieb noch eine Weile da oben, setzte mich ins Stroh und dachte darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Vermutlich wartete er drauf, dass ich die Initiative ergriff. Logisch, diese Haltung, denn damit hatte er nichts zu verlieren.
Es gab keine weitere Begegnung dieser Art, wir gingen unserer Arbeit nach und verloren auch kein Wort über diese Nacht.
Zugegeben, ich ärgerte mich später mehr als einmal, nicht einfach den Anfang gemacht zu haben. Denn von da an betrachtete ich Jan mit anderen Augen. Wenn er mit nacktem Oberkörper über den Hof lief zum Beispiel oder seinem Muskelspiel zuzusehen wenn er sich elegant auf den Sitz des Traktors schwang. Ich grübelte oft darüber nach ob ich mich in ihn verlieben könnte, denn nicht nur körperlich hatte er etwas zu bieten. Er war intelligent und höflich, auch immer mal zu einem kleinen Witz bereit, was sich in seinem Deutsch-Polnischen Dialekt besonders lustig anhörte.
Aber es blieb bei diesen Gedanken. Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde – denn unaufhaltsam ging der Sommer zu Ende. Und mit diesem Ende kam auch der Abschied der vier Arbeiter. Sie waren mir allesamt irgendwie ans Herz gewachsen, schließlich waren wir jeden Tag zusammen. Unsere gemeinsamen Ausflüge in den Ochsen an manchen Samstagen oder die Grillpartys, davon besonders erwähnenswert mein Geburtstag. Das verbotene und deshalb Nachts stattfindende schwimmen im Dorfteich. Manchmal benahmen wir uns wie kleine Kinder und es machte trotz der sonst harten Arbeit unheimlich viel Spaß.
Auch Mutter jammerte schon lange vor dem Tag der Trennung wie einsam es dann sein würde in der dunklen Jahreszeit.
So nahm ich allen Mut zusammen und fragte Jan, ob er nicht einfach hier bleiben könnte, es gäbe auch im Winter genug Arbeit für ihn. Aber er lehnte ab, wenn auch nicht überzeugend.
»Du bist doch alleine, was zieht dich da rüber?« Damit spielte ich auf die doch ärmlichen Verhältnisse an, die er mir einmal kurz geschildert hatte.
»Es ist meine Heimat, trotz allem«, sagte er nur.
Das musste ich akzeptieren, auch wenn ich ihm nicht so recht glauben wollte.
Am Tag vor Ihrer Abreise stand ein Abschiedsfest auf dem Programm. Dazu lud ich auch die Breitsteiners ein, denn ohne ihre Vermittlung wäre der Sommer zu einer Katastrophe geworden.
Ausgerechnet einen Tag vorher rief Michael an. Es war schön seine Stimme zu hören, ich hätte ihm stundenlang zuhören können. »Hallo Stefan, wie geht’s?«
Die Distanz durch das Telefon sorgte dafür, dass ich nicht zugeknöpft antwortete. »Danke, und dir?«
»Kann nicht klagen. Hast du Lust morgen Abend mit mir auf die Jagd zu gehen? Ich bin einem kapitalen Rehbock auf der Spur.«
Damals, bei der Feier in seinem Haus, hatte er mich unverbindlich zu einem Jagdausflug eingeladen. Nun wollte er dieses Versprechen scheinbar einlösen. Ausgerechnet. Ich malte mir aus wie es mit ihm wäre, nur er und ich da draußen in der Wildnis. Die Nacht in einer Kanzel..
»Der Bursche wechselt zur Zeit in deinem Wald«, fügte Michael noch hinzu. Ich wusste sofort was er mit „deinem Wald“ meinte. Aber ein Tier in meinem Zauberwald schießen? Das kam niemals in Frage. Sicher gehörte dieses Gelände zu seinem Revier und ich konnte es ihm nicht verbieten, aber wenn, dann wollte ich wenigstens nicht dabei sein.
»Eher nicht, die Polen fahren nach Hause und ich gebe eine kleine Feier. Wenn dein Bock noch Zeit hat – möchtest du nicht auch kommen?«, war dann meine spontane Gegenfrage. Damit schaffte ich das Problem natürlich nicht aus der Welt, aber ich hatte nun Zeit, mir für seine nächste Einladung zur Jagd etwas anderes einfallen zu lassen.
Ich wusste nicht warum ich ihn einlud, aber meine Einsamkeit begann seltsame Blüten zu treiben. Ich konnte nichts mit ihm anfangen, aber ich sehnte mich plötzlich nach seiner Nähe.
»Naja, einen Tag kann er noch warten. Ok, ich komme gerne.«
Mein Herz machte kleine Luftsprünge. Ja, ich wollte ihm aus dem Weg, ihn so selten sehen wie möglich, meiner Gefühle willen. Aber es war zu spät, mein Mund war in dem Moment schneller als das Gehirn.
»Lisa ist eh zwei Tage nicht da, und kochen ist nicht so meins«, schien er ins Telefon zu lächeln.
»Du kriegst so viel zu essen, dass es zwei Tage reichen wird«, sagte ich leise zurück. Möglich dass er meinen Ton in alle Himmelsrichtungen hinein interpretieren konnte, aber das war mir gleich. Er kam und das war plötzlich wichtig für mich. Der Anflug von Trauer wegen Jans Abschied verflog auf der Stelle.
Mit ihm im Schlepptau fuhr ich am anderen Tag zum einkaufen in die Stadt, während die anderen drei ihren Transporter mit allem möglichen Dingen des Lebens beluden. Zum größten Teil alte Möbel, die im Keller und auf dem Dachboden dem Wurmtod entgegensahen.
Merkwürdig war nur, dass sie alle richtig fröhlich waren, so, als würden die sich auf zu Hause freuen.
»Und da wartet wirklich niemand auf dich?«, fragte ich Jan deswegen, während wir den Einkaufswagen durch den Markt schoben.
»Schon, aber nicht so wichtig«, bekam ich als Antwort. Sie genügte, um nicht weiter nachzufragen.
Er wollte unbedingt einiges zu dem Abend beisteuern und zu meinem Erstaunen handelte es sich dabei nicht nur um Hochprozentiges, er wollte selbst etwas kochen.
Es ist einfach toll wenn ein Mann kochen kann, dachte ich. Mutter hatte mir viel in der Richtung beigebracht und irgendwann würde ich meine Kochkünste auch jemanden vorführen können. Nicht bloß den Kommilitonen, die eh am liebsten nur Pasta verdrückten und bei anderen Sachen die Nase rümpften. Jemandem, den ich um mich haben konnte. Trotz allem was ich an Erfahrung darin bis dahin gesammelt hatte gab ich diesen Wunschtraum nicht ganz auf.
Als wir so durch die Regale liefen fiel mir auf, dass ich es für nichts besonderes hielt mit einem Mann an meiner Seite einzukaufen. Und dass Jan doch ein bisschen mehr war als nur ein Vorarbeiter auf dem Hof. In diesem halben Jahr waren wir sicher so etwas ähnliches wie Freunde geworden, nur blieb dieses Wort unausgesprochen, aber es schien zwischen uns zu schweben. Ich konnte mir sehr gut vorstellen ihn immer auf dem Hof zu haben. Sekunden dachte ich an diesen Abend in der Scheune. Sicher würde es, wenn er wirklich dabliebe, zu einer Wiederholung kommen.. Ich zerstreute den Gedanken daran aber recht schnell.
»Jan, wenn es dir in deiner Heimat mal zu eng wird im Winter – du bist immer herzlich willkommen bei uns.«
Er blieb mit drei Flaschen Wodka in den Händen stehen und sah mich an. »Danke, ich werde es nicht vergessen.«
Ja, Jan war nicht der Mann der großen Worte. Knapp, aber deutlich. Anders als Fabian, der mich an manchen Abenden doch schon nerven konnte mit seinem Geplapper.
Mutter und Jan machten sich später in der Küche zu schaffen, ich zündete mit den anderen drei das Grillfeuer an und deckte den Tisch unter der großen Eiche, die auf der Rückseite des Hofes zum Grundstück hin stand. Mild schien die Sonne vom blassblauen Himmel, einige Vögel zwitscherten im Geäst der alten Obstbäume, Insekten schwirrten um die wilden Sträucher. Viel zu selten hatten wir Zeit um uns an diesem urwüchsigen, gemütlichen Ort aufzuhalten.
Szymon hatte fachmännisch das Fass Bier angezapft und ich genehmigte mir das erste Glas in großen Schlucken.
Währenddessen trafen die Eheleute Breitsteiner ein und es gab ein großes Hallo. Die vier Polen kannten das Paar von früheren Einsätzen her und man spürte auch da dieses eher familiäre Verhältnis.
Es dauerte nicht lange, bis ich die Wirkung des Alkohols spürte und beschloss, langsam zu machen. Sollte Michael wirklich kommen – und bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, er würde doch noch absagen – dann musste ich nüchtern bleiben. Fabian war mir eine Warnung gewesen.
Aber es kam keine Absage. Statt dessen hörte ich den starken Motor brummen als Michael auf den Hof fuhr. Ich strich mit der Hand durch meine Haare, zupfte an meinem Hemd das ich lässig über der Jeans trug und kontrollierte ob alles okay bei mir war. Äußerlich fand ich schon, aber innerlich war die Hölle los. Von einer Sekunde auf die andere wurde ich nervös. Ich hatte Michael lange nicht gesehen, die Sitzungen im Ochsen waren wegen der Sommerpause ausgesetzt.
Arcos kam wie ein Blitz um das Gebäude gerannt und sprang wie schon immer vor Freude an mir hoch. Ich kniete mich zu ihm hinunter und kraulte sein struppiges Fell.
»Arcos, nicht so stürmisch. Wir brauchen unseren jungen Freund doch noch«, hörte ich die angenehme Stimme. Langsam sah ich hoch, als Michael vor mir stand. Wie schaffte er es nur, mit jedem Mal hübscher auszusehen?
»Hallo Michael«, sagte ich mehr Kleinlaut, stand langsam auf und reichte ihm die Hand.
Etwas zu lange für meine Begriffe sah er mich an, schien wieder mal herausfinden zu wollen was ich gerade dachte.
»Siehst gut aus«, hörte ich ihn wie durch einen Wattebausch sagen.
»Danke, das kann man von dir auch behaupten.«
Einfach und doch elegant gekleidet war er. Diese Jägerkluft für besondere Anlässe. Sicher waren diese Klamotten für Michael erfunden worden. Vor allem die engen, aber nicht zu engen Hosen..
Plötzlich war er da, dieser Kloß im Hals. Die ganze Zeit war außer der leichten Nervosität alles so wunderbar, bis Michael vor mir stand. Was wollte ich sagen? Wollte ich das überhaupt? Warum brachte ich jetzt keinen Ton heraus?
»Na, was gibt’s denn Feines«, rettete mich Michael aus der Misere.
»Wird nicht verraten. Ein Bier?«
Er nickte und sah sich um. »Schön ist’s hier. Hätte ich gar nicht gedacht.«
»Ja, wir kommen selbst kaum dazu es zu nutzen. Das holen wir heute mal nach. Übrigens, darf ich dir vorstellen? Pavel, Adrian und Szymon. Jan ist noch in der Küche. Und die Familie Breitsteiner kennst du ja.«
Sie gaben sich die Hand, wobei Michael jedes Mal seinen grünen Jägerhut zog. Eine schöne Geste wie ich fand und mal wieder äußerst passend zu diesem reizenden Mann. Ja, genau das dachte ich. Wohlwissend dass ich nichts mit ihm würde anfangen können versuchte ich mich so nah wir möglich bei ihm aufzuhalten. Ich brauchte seine Nähe an dem Abend einfach. Und ein Zufall, dass seine Frau nicht dabei war. Ich hätte sie ebenfalls eingeladen, keine Frage, aber nun war das alles etwas einfacher.
Natürlich achtete ich darauf, nicht nur beim essen neben ihm sitzen zu können und das so eng wie möglich. So, dass ich auch sein dezentes Rasierwasser riechen konnte. Es war einfach herrlich neben ihm und sich um nichts kümmern zu müssen. Die Polen grillten und tischten auf, machten Botengänge ins Haus und bedienten uns förmlich.
Soviel wie an diesen Abend hatten meine Arbeiter noch nie am Stück geredet und Mutters Deutschunterricht hatte volle Wirkung gezeigt. Ich sah ihr an dass sie stolz darauf war und auch, dass sie sich verändert hatte seit die Arbeiter bei uns waren. Diese Aufgabe gefiel ihr und lenkte ab, sie schien glücklich. Natürlich vermissten wir Papa an diesem Abend auch, aber Zeit, näher darüber nachzudenken, blieb mir nicht.
Nach dem Essen kam der unvermeidliche Wodka auf den Tisch, aber meine Versuche dieses Teufelszeug vorsichtig zu dosieren schlugen erbärmlich fehl. Immer wieder musste ich anstoßen und kaum war das Glas leer kippte jemand erneut nach. Auch Michael konnte sich nicht wehren und alsbald zeigte sich die Wirkung.
Ich beobachtete eigentlich mehr mich selbst als ihn, denn ich versuchte krampfhaft keine Dummheiten zu machen. Es war einfach zu gefährlich so nah neben ihm. Dabei hätte mir schon genügt meinen Arm um ihn zu legen.
Die Polen kappten inzwischen die dritte Flasche, aber es gelang mir endlich standhaft zu bleiben. Mit Hinweis auf ein frühes Aufstehen und über tausend Engelszungen gelang es mir, mein Glas einige Runden leer zu lassen. Auch Michael bremste sich, obwohl man ihm schon deutlich die Schlagseite ansehen konnte. Allerdings hinderte dies nicht die regsame Unterhaltung am Tisch, in die sogar Mutter einfiel. Es ging meistens um seltsame Begebenheiten, kleine Missgeschicke und Unfälle während des Sommers. Und da war wirklich nicht wenig passiert.
Breitsteiners gingen schon früh nach Hause, Mutter legte sich anschließend auch gleich schlafen.
Anschließend schlugen meine Männer und auch Michael erst richtig zu.
»So kannst du aber nicht mehr fahren«, sagte ich irgendwann zu ihm.
Er beugte sich gefährlich nah zu mir herüber und sah in meine Augen. »Ich hab’s auch nicht vor«, hob sein Glas, stieß mit uns an und lachte. Er lachte viel und herzlich. Ob er zu Hause auch so war? Eigentlich kaum denkbar, aber das war nicht meine Sache. Ich beneidete Lisa in jeder Minute mehr.
Inzwischen waren die Partyfackeln heruntergebrannt, im Grill glimmte nur noch eine leichte Glut und es war leiser geworden. Die Polen hatten irgendwann ein Heimatlied angestimmt und von Abschiedsstimmung war noch immer nichts zu merken.
Ich beobachtete Michael wie er sich angeregt mit Jan unterhielt. Sie schwatzten schon ziemlich angeheitert und lachten über fast jeden Satz. Jans Augen glänzten und um ein Uhr in der Nacht war auch der letzte Wodka alle. Jetzt gingen sie zum Wein über.. Ich konnte nichts mehr trinken, mir würde mit Sicherheit schlecht und zudem wurde ich unheimlich müde.
»Wo willst du schlafen?«, fragte ich Michael in einer Redepause.
Er sah mich an und ich war mir fast sicher dass er bereits zwei Stefan vor sich hatte.
»Im Auto«, lallte er schon sehr deutlich.
Ich nickte. Natürlich im Auto, da drin gab’s genug Platz. Was hatte ich eigentlich als Antwort erwartet? In meinem Bett?
»Wir haben ja noch das Gästezimmer«, versuchte ich dann noch einmal.
»Ne ne, lass mal.«
Warum er dort nicht übernachten wollte – ich fragte ihn nicht. Wahrscheinlich wollte er sicher gehen dass ich ihm nicht zu nahe war. Und vor allem nicht zu nahe kommen konnte.
»Okay, ich geh dann mal in die Falle.«
»Oh, schon? Der Abend fängt doch erst an«, sagte Michael, ohne seinen Blick von Jan zu nehmen.
»Für euch vielleicht, ich jedenfalls bin müde.«
Dass ich auch ein bisschen enttäuscht war ließ ich mir nicht anmerken. Michael hatte sich kaum mit mir unterhalten, zumindest die letzten Stunden nicht. Wahrscheinlich bin ich doch viel zu langweilig. Aber das störte mich in dieser Nacht nicht wirklich. Zumal – ich hatte von Michael ja auch nichts zu erwarten.
Ich stand auf und legte meine Hand auf Michaels Schulter. Schön, ihn berühren zu können, wenn auch nur um ihm Gute Nacht zu sagen.
Er sah mich kurz an, nickte und schon redete er wieder auf Jan ein. Mich interessierte das Gespräch nicht, winkte auch Jan kurz zu.
»Bis morgen früh.«
»Gute Nacht, Stefan«, hörte ich.
Jan hatte mich bis dahin noch nie Geduzt, das fiel mir in diesem Moment auf. Ich akzeptierte es, auch wenn ich mir dafür einen schöneren Rahmen gewünscht hätte.
»Nacht Jan«, erwiderte ich dann und ging ins Haus, ich sehnte mich nur noch nach meinem Bett.
Da lag ich dann und starrte an die Decke. So schön dieser Abend auch war, es hatte etwas gefehlt. Mir zumindest. Im Grunde schimpfte ich mich dann aber als unverbesserlichen Illusionisten. „Stefan, du bist ein Depp.“
Nach diesen Worten und anderen diversen Gedanken schlief ich irgendwann auch ein.
Stimmen und Geräusche weckten mich früh am Morgen auf. Rasch machte ich eine Katzenwäsche, zog mich an und eilte nach unten. Meine innige Hoffnung, Michael noch zu sehen bevor er wegfuhr, erfüllte sich nicht, das Auto stand nicht mehr da. Ob ich richtig Enttäuscht war.. ich weiß es nicht.
Mutter und die Polen standen in der Küche und schwatzten. Ich mischte mich unter sie, nahm mir einen Kaffee und sah mir meine Helferlein nacheinander an; Mutter machte währenddessen den Arbeitern Brote für die Reise. Ja, nun kam doch so etwas wie Abschiedsschmerz auf. Ich hätte sie am liebsten hier behalten, vor allem Jan. Er stand da mit seiner Tasse in der Hand, kaute auf einem Stück Schinken herum und ich hatte den Eindruck dass er meinen Blicken auswich.
Es half nichts, sie brachen auf. Ich folgte ihnen hinaus zum Wagen und zu allem Überfluss hatte es in der Nacht angefangen zu regnen. Trüb und kühl war es, wie meine Gedanken.
Nacheinander gaben wir uns die Hand, dann folgte eine Umarmung. Jan kam zum Schluss. Nun sah er mir doch in die Augen, aber ich konnte den Blick nicht deuten. Wir umarmten uns, länger als die anderen. Worte fielen nicht, irgendwie waren sie auch nicht notwendig. Ich musste mich zusammenreißen, es ging mir viel mehr nach als ich mir hätte träumen lassen.
Sie stiegen dann in den Wagen, winkten uns durch die beschlagenen Scheiben zu und machten dazu richtig fröhliche Gesichter. Klar, es ging ja nach Hause, wie immer das dort auch aussehen würde.
Pitschnass ging ich zurück ins Haus, nachdem der Wagen im Regenschleier verschwunden war.
»Jetzt sind sie weg. Schade, es war schön mit ihnen.«
Ich nickte, gab meiner Mutter aber keine Antwort. Wieso überkam mich mit einem Mal so eine ekelhafte Leere? Es war sicher nicht nur wegen Jan. Das Haus war plötzlich so still.
Zwei Tage später rief Michael wieder an, bedankte sich noch einmal für den Abend und lud mich erneut zur Jagd ein. Und diesmal sagte ich zu. Sollte er wirklich zum Schuss kommen könnte ich ja wegsehen. Ich brauchte jemanden um mich herum, egal unter welchen Umständen auch immer. Und Michael war mir am liebsten.
Trotzdem ließ mich der Gedanke nicht los, dass da draußen ein Tier herumlief, ahnungslos gegenüber dem was ihm am nächsten frühen Morgen passieren würde. Ich schnappte mir an dem Nachmittag Sammy und fuhr mit ihm zum Zauberwald.
Es war noch dunkel als Michael mich abholte am frühen Morgen, und es war kalt. Ich zog zwei paar Hosen an, die dicke Winterjacke- und Stiefel, Handschuhe, Schal und Wollmütze. Wenigstens musste man keine Furcht vor einer Stechmückenplage haben, das kannte ich nur allzu gut. Mutter hatte am Vorabend eine Thermoskanne mit Tee und Rum sowie ein paar Stullen vorbereitet.
Wir redeten lange nichts als wir zum Zauberwald fuhren, vermutlich ahnte Michael meine Gefühle die ich für den Rehbock hatte.
»Du weißt dass es zu viele Rehe in dem Revier gibt«, sagte er nach einer ganzen Weile, so, als könne er Gedanken lesen.
»Ja, ist mir bekannt.«
Tatsächlich war der Wildverbiss an den jungen Bäumen teilweise sehr frappant und nicht zu übersehen. Allerdings änderte das meine Meinung dazu nicht.
Wir parkten den Wagen am Nordrand des Waldes und gingen ein ganzes Stück zu Fuß. Anfangs leuchtete Michael den Weg mit einer Taschenlampe bis wir den schmalen Weg erreicht hatten, dann gingen wir in die Dunkelheit des Waldes. Arcos lief brav neben uns her und es war bis auf unsere Schritte praktisch Totenstill. So hatte ich „meinen“ Wald noch nie erlebt. Ich hörte Michael atmen, konnte ihn selbst nur schemenhaft erkennen, es war eine wolken- und mondlose Nacht.
Zielsicher fand Michael die Kanzel. Er band Arcos an der unteren Sprosse an und dann bestiegen wir den Hochsitz. Er war fast neu, Michael hatte ihn erst im Sommer hier errichtet. Und er war geräumig. Ringsum hatte man Sicht durch schmale Schlitze, die aber groß genug waren um mit angelegten Gewehr ohne Mühe hindurchzielen zu können. Nur nach vorne, mit Blick auf die kleine Lichtung, war die Schießscharte durch eine klappbare Kunststoffscheibe gegen den Wind geschützt. Eine breite Bank bot uns beiden Platz und eine mitgebrachte Decke sorgte für einen warmen Hintern. Wir machten es uns so bequem wie möglich, saßen auch ziemlich dicht beisammen. Das linderte etwas meine Befürchtung, bald würde hier ein schrecklicher Mord passieren.
Wir saßen da und warteten, horchten hinein in die Dunkelheit. Verstummt war um diese Jahreszeit schon das zirpen der Grillen, nur ein Waldkauz rief irgendwo.
Allmählich begann es zu dämmern. Auf der Lichtung waberten dichte Nebelschwaden und von den Blättern tropfte es ab und an in das Laub. Manchmal hörte sich das an wie Schritte, dauernd wurden die Sinne getäuscht. Eine irgendwie unheimliche und dennoch heimliche Atmosphäre. Sie entstand nur in dieser kurzen Zeit, bevor es richtig hell wurde.
Ich wusste dass wir nicht reden durften, selbst ein Flüstern würde der Bock vernehmen. Dennoch beugte ich mich nach einer Weile ganz nah zu Michael hinüber.
»Meinst du er kommt?«
Michael drehte sich zu mir und lächelte. »Keine Ahnung. Aber die letzte Zeit war er oft hier, seiner Fährte nach jedenfalls.«
Ich roch kein Rasierwasser wie sonst bei ihm, sicher eine Maßnahme dass uns der Bock nicht vorzeitig wittern konnte.
Ich schmiegte mich eng an Michael, immer ein paar Millimeter weiter. Er wich mir nicht aus, starrte nur angespannt hinunter auf die Lichtung. Ein Hase hoppelte aus dem Wald, prüfte Männchen machend die Gegend und begann dann an dem Grünzeug zu knabbern. Ein Eichelhäher krächzte kurz, schien uns aber nicht erspäht zu haben. Ich wusste dass das fatal sein konnte, denn als Polizist des Waldes war der Rabenvogel bei Jägern nicht gerne gesehen. Arcos lag da unten in dem hohen Gras und muckste sich nicht, wurde deswegen von dem Häher auch nicht gesehen.
Wieso wollte mich Michael eigentlich bei der Jagd dabeihaben? Sicher nicht um mir seine Schiesskünste vorzuführen. Es konnte nur darum gehen dass er mit mir alleine sein wollte. Nur, wozu? Sollte ich ihn fragen? Vielleicht sieht er dich als guten Freund, sagte ich zu mir.
Insgeheim war mir klar dass der Bock nicht auftauchen würde, aber Michael hätte bestimmt kein Verständnis gehabt wenn ich ein Gespräch anfing.
Nachdem wir zwei Stullen gegessen hatten schraubte Michael die Thermoskanne auf, während ich zwei Becher auspackte und sie ihm hinhielt. Das Ganze geschah so leise dass selbst wir es kaum hören konnten. Der Tee tat gut, der Rum wärmte auf und beflügelte schon nach kurzer Zeit meine Gedanken. Ich hatte noch nie im Leben einen kleinen Schwips um diese Uhrzeit und irgendwie wurde machte mich das fast schon euphorisch. Die Gefahr, Michael jetzt einfach zu küssen, wurde immer größer. Es passte halt alles zusammen und meine Hemmschwelle wurde bedrohlich niedrig.
Frech legte ich meinen Arm um seine Schulter, schließlich wusste er wie ich zu ihm stand und ich war mir sicher er würde es nicht ablehnen. Und zudem musste er mit so etwas einfach rechnen.
Er hielt ganz still als ich ihn berührte, sah immer noch hinunter in die Lichtung, wo die Nebelschwaden geisterhaft vom Boden abhoben und sich allmählich in lichten Fetzen aufzulösen begannen. Wunderliche Gestalten formten sich daraus, die meine Fantasie beflügelten.
Sollte ich ihn küssen? Einfach so? Mein Herz schlug wild und ich nahm noch einen gefährlich großen Schluck aus dem Becher.
Merkwürdig wie ruhig Michael da saß, so, als wäre ich gar nicht da. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter.
»Es ist schön mit dir hier draußen«, flüsterte ich, wohl dem bewusst was ich tat und sagte.
Endlich rührte er sich. »Ich könnte Tagelang so dasitzen«, bekam ich als Antwort.
„Mit mir?“ hätte ich beinahe gefragt. Aber das war Unsinn. Alles war Unsinn. Es ärgerte mich als plötzlich Erinnerungen in diese Minuten einfielen. Sie ließen mich nicht los, auch da nicht. Ich versuchte sie zu verscheuchen, aber es gelang mir nur schwer. Lisa war da, soviel ich wusste wollten sie Kinder, eine ganze Horde. Es tat weh daran zu denken.
Trotz der Kälte, die nun allmählich Besitz von mir ergriff, fühlte ich mich dennoch irgendwie geborgen und sicher. Ich konnte mir in dem Augenblick keinen schöneren Ort vorstellen als diesen.
In diesem Moment wurde die Gelegenheit günstig, Michael hatte sich zu mir gedreht, sicher um mir etwas zu sagen.
»Sag jetzt nichts«, hauchte ich mehr oder weniger und dann trafen sich unsere Lippen. Ich schloss die Augen, saugte dieses unendlich schöne Gefühl tief in mir auf. Vergessen die Sehnsucht, vergessen die Kälte die mein Körper zu vereinnahmen drohte. Ich verdrängte das Wissen, dass dies hier nur wenige Sekunden dauern konnte. Nur der Moment zählte noch, sonst nichts. Aber ich musste akzeptieren dass mir nicht die erhoffte Leidenschaft entgegenkam.
Nachdem wir uns gelöst hatten bekam ich das Bedürfnis etwas zu sagen, aber mir fiel nichts ein. Wir sahen uns lange in die Augen und dann wieder hinaus in die Natur. Hatte ich endgültig alles kaputt gemacht? War es das letzte Mal, dass wir uns sahen? Würde er mich jetzt hassen? Und sich mit?
Das Gefühl seiner Zunge in meinem Mund ließ nicht nach, ich wollte auch nicht dass das passiert. Noch immer suchte ich nach Worten, aber ich blieb stumm.
Stattdessen beobachtete ich wie die Baumkronen nach und nach von der aufgehenden Sonne goldfarben angestrahlt wurden, wie die Vögel immer zahlreicher ihre Stimmen erhoben und auch das andere Getier allmählich lebendig wurde. Mir kam es vor, als wäre das der Abspann eines Filmes, denn damit endete unser Ansitz. Und vielleicht endete damit alles, eine ganze Ära.
»Tja«, räusperte sich Michael dann auch, »er scheint gewittert zu haben dass es ihm an den Kragen soll.«
Kein Wort über das gerade geschehene. So, als wäre nichts passiert.
Ich tat als würde mir das Leid tun, innerlich war ich heilfroh dass mein Plan aufgegangen war. »Er wird sicher mal wiederkommen«, sagte ich.
Michael grinste daraufhin so komisch. »Ja, sicher. Komm, lass uns gehen, das wird heute nichts mehr.«
Was verdammt noch mal hatte das alles zu bedeuten? Es kam mir plötzlich so vor als hätte er damit gerechnet dass der Rehbock gar nicht kommen würde. Und wenn dem so war, weshalb waren wir dann hier draußen?
Auf der Rückfahrt musste ich es wissen. »Du warst dir sicher dass er nicht kommen würde, stimmts?«
Er grinste. »Er konnte ja gar nicht kommen.«
Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Er hatte mich durchschaut, wie auch immer. »Und was veranlasst dich zu diesem Wissen?«, fragte ich, obwohl mir die Antwort schon klar war.
»Du hast mit Sammy denselben Weg genommen. Ich nehme mal an gestern Mittag oder so. Der Bock sollte eure Spuren wittern, stimmts?«
In seinen Worten lag kein Vorwurf. Er musste es gesehen haben als er den Weg mit der Lampe ausleuchtete. Dass wir es waren, daran konnte er nicht zweifeln, denn sonst kam nie jemand in den Zauberwald. Tatsächlich war ich mit Sammy kreuz und quer durch den Wald gelaufen, hatte gezielt nach den Wildwechseln gesucht und bin mit ihm durchs dichteste Gestrüpp geschlüpft. Unter diesen Umständen musste der Bock einfach sein Heil in der Flucht suchen, was er offenbar auch getan hatte.
Ich rutschte in meinem Sitz immer tiefer. »Bist du jetzt böse?«
Er grinste. »Nein, warum auch. Ich kann dich ja verstehen.«
»Und warum sind wir nicht gleich wieder umgekehrt, als du es bemerkt hast?«
Er sah zum mir und lächelte. »Keine Ahnung.«
Nachdem mich er zu Hause abgesetzt und verabschiedet hatte fiel ich ein tiefes, dunkles Loch. Er würde mich bestimmt nie wieder mitnehmen, vielleicht war er mir doch böse und wollte es nur nicht zeigen.
Aber was meinte er mit „keine Ahnung?“. Ich suchte nach einer Antwort, fand sie aber nicht.
*_*_*
Die anschließende Zeit verbrachte ich mit den üblichen Arbeiten auf dem Hof, mit Instandsetzung der Maschinen. Meist war es schon spät bis ich in mein Bett kam, versuchte meine Einsamkeit durch Arbeit zu übertünchen. Natürlich gelang mir das nicht immer, besonders wenn ich übermüdet war, in meinem Bett lag und das Grübeln anfing. In diesen Zeiten versuchte ich mir einzureden dass es am besten war, alleine zu bleiben. Michael war eine Liebelei, meine Liebelei, sonst nichts. Ab und zu kam er vorbei, fragte wie es uns geht, brachte das bestellte Wildbret. Aber bei all diesen Begegnungen blieben wir auf einer gewissen Distanz, so wie eigentlich schon immer. Nur ging mir der Jagdausflug nicht aus dem Kopf.
Schon Ende November wurde es ungewöhnlich kalt in unseren Breiten und es begann die Zeit, in der etwas Ruhe einkehrte, auch in mein Seelenleben. Ich versuchte dann mit Erfolg, nicht mehr den Luftschlössern hinterher zu jagen. Ich redete mir ein dass es doch das beste für mich sein würde.
Zum Glück sah nach Abzug aller Abgaben unser Kontostand sehr viel besser aus als wir erwartet hatten, das ließ mir Freiraum für Anschaffungen die längst fällig waren. Vor allem ein neues Getriebe für den Traktor und Reparaturen am Kachelofen im Haus.
Kurzzeitig dachte ich sogar an einen Urlaub im Süden, was ich allerdings in Anbetracht der Umstände schnell wieder verwarf. Nicht ohne Wehmut wie ich zugeben muss.
Weihnachten war eigentlich nie so mein Ding, aber das änderte sich. Mir war nach einem schönen, großen Weihnachtsbaum und wer konnte mir den besser besorgen als Michael. Zum einen gab es einen Grund ihn anzurufen und zum anderen schwebte mir vor, ihn und Lisa an einem der Feiertage einzuladen. Mein Luftschloss war eingestürzt, das war mir klar, aber ich wollte wenigstens einen der ruhigen Tage nicht allein mit meiner Mutter sein.
Dann kam jener Nachmittag, drei Tage vor Heilig Abend. Ich war im Stall mit der Melkmaschine beschäftigt, als ich einen Schatten bemerkte. Jemand stand plötzlich hinter mir, aber da ich normalerweise nicht schreckhaft bin drehte ich mich auch nicht gleich um. Der Personenkreis, der üblicherweise auf dem Hof verkehrte, war in der Tat nicht besonders groß, Besuch erwarteten wir jedoch nicht.
»Hallo Stefan.«
Ich zuckte nun doch zusammen. Damit hatte ich niemals gerechnet und ein Irrtum war ausgeschlossen, diese Stimme würde ich nie vergessen. Aber was machte er hier, um diese Jahreszeit? Und vor allem ohne sich angekündigt zu haben? Das mühsam errichtete Mauerwerk um meine Gefühle herum begann plötzlich bedenklich zu wanken. Standhaft bleiben, redete ich mir ein. Vielleicht kam er nur kurz vorbei, auf dem Weg sonst wohin?
Ich holte tief Luft, bevor ich mich erhob und langsam umdrehte.
Da waren diese Augen, dieses schöne Gesicht, die strubbeligen Haare, die hübsche Nase und die sinnlichen Lippen. Er war noch hübscher, die Proportionen ausgeglichener und ein paar Zentimeter größer war er auch geworden. Ja, verdammt, er konnte einem den Verstand rauben. Ich bemühte mich, dass es soweit nicht kommen konnte, auch wenn es mich praktisch sämtliche Ressourcen kostete.
Er lächelte mich an und hielt mir seine Hand hin. Eilig wischte ich meine Hände an meiner Jacke ab, das leichte Zittern dabei versuchte ich zu verbergen.
Ich gab ihm die Hand. »Hallo Marcus, schön dich zu sehen. Was treibt dich denn hierher?«
»Ich konnte Papa überreden, einmal nach Tine zu sehen.«
»Aha. Hast wohl Heimweh nach ihr gehabt.. Ferien?«
»Eher nicht, ich geh ja jetzt in die Lehre.«
»Oh. Und was lernst du jetzt so?«
»Kaufmann, in der Firma meines Onkels.«
»Na denn.. Bleibt ihr länger?«, wollte ich verständlicherweise wissen, obwohl ich diese Frage Sekunden später wieder bereute, auch wenn sie sicher nicht unbedingt anzüglich klang.
»Ich.. ich könnte schon ein paar Tage bleiben, zumindest bis Heilig Abend. Und wenn es dir passt, natürlich.«
Mir blieben nur Sekunden für eine Antwort, und die musste ehrlich sein. Wollte ich überhaupt dass er blieb? Wozu sollte das gut sein? Meine Mauer bröselte, aber sie stürzte nicht ein. Plötzlich hatte ich viele Fragen an ihn, sehr viele Fragen.
Inzwischen bemerkte ich eine weitere Person im Stall. Zu fragen wer sie war konnte ich mir sparen, Marcus war seinem Vater fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich ging auf ihn zu und reichte auch ihm die Hand.
»Schön, Sie mal kennen zulernen«, sagte ich.
»Ja, mein Sohn hat sehr viel von Ihnen erzählt. Zwar war das anscheinend nicht ganz so seine Welt, aber gefallen hat es ihm offenbar doch recht gut. Er erwähnte bereits unterwegs dass er eventuell hier Station machen kann. Na und Tine muss ich schließlich auch mal kennen lernen.«
Er machte eine Kopfbewegung an mir vorbei und ich sah, dass Marcus Paulas Kopf tätschelte.
»Die mag er besonders«, fügte ich dem Anblick hinzu, »neben Tine meine ich. Er sagte, er könnte ein paar Tage bleiben. Ich hab nichts dagegen.«
»Wir sind eigentlich auf der Durchreise nach Leipzig, seine Tante besuchen. Allerdings wollte ich das mit einigen geschäftlichen Dingen in Hamburg verbinden. Wenn er bleiben kann, kein Problem, ich hole ihn Donnerstag wieder ab.«
Wir gingen zu Marcus hinüber.
»Ist sie.. ich meine hat sie inzwischen.. ein neues Kalb bekommen?«
Ich nickte und zeigte zu einer der Boxen. Marcus ging langsam darauf zu, als wolle er den Kleinen nicht erschrecken. Er streckte die Hand aus und streichelte seinem Namensvetter über den Kopf.
Lange starrte er auf das Namensschild an der Box, dann zu mir herüber. Ich hatte den Eindruck dass er Danke sagen wollte, aber er brachte offenbar kein Wort heraus.
»Nun, willst du bleiben?«
»Wenn du nichts dagegen hast?«
»Wieso sollte ich. Ist zwar kein Urlaubswetter da draußen, aber ich denke du kannst dich auch so beschäftigen.«
Marcus nickte.
»Schön. Dann komm, deine Sachen holen. Tine besuchen wir wenn ich dich abhole.«
Der Junge folgte seinem Vater nach draußen und ich stützte mich an einen Pfosten. Mir war völlig schleierhaft was ich drei Tage lang mit ihm anstellen soll, aber irgendwie würde mir etwas einfallen.
Von einer auf die andere Sekunde hatte sich wieder alles geändert, wie schon so oft in meinem Leben. Marcus war einfach zu süß um ihn gehen zu lassen, zudem musste ja nun bald Achtzehn werden was man ihm durchaus ansah. Er wirkte viel erwachsener und begann nun mächtig an meiner Mauer zu klopfen. Stein für Stein löste sich heraus und ich war demgegenüber völlig Machtlos.
Mutter freute sich unheimlich und ich staunte, als sie ihn regelrecht umarmte, fast so als gehöre er zur Familie. Sie fragte und fragte und ich ließ die beiden alleine um nach oben zu gehen und das Gästezimmer herzurichten. Es kam mir vor als wäre Marcus erst Gestern hier gewesen. Und nicht vergessen seine Worte, die in dem Zimmer gefallen waren. Die Fliegen, der Gestank. Aber Marcus, der wenig später auch nach oben kam, tat so, als hätte er nie Anstoß daran genommen. Er packte ein paar Kleidungsstücke in den Schrank und blickte ab und zu durchs Fenster auf die Felder.
»Schade dass kein Sommer ist«, sagte er mehr zu sich selbst.
Ich lehnte mich auf die Fensterbank und steckte mir eine Zigarette an. »Ich dachte ja auch dass du im Sommer kommen würdest.«
»Wirklich?«
»Naja, so irgendwie schon.« Warum ich es gehofft hatte sagte ich ihm nicht. Ich wollte auch gar nicht wissen ob er inzwischen eine Freundin gefunden hatte. Wenn er darüber reden wollte konnte er es tun, seine Nähe an sich genügte mir schon. Ich würde ihn nicht dazu drängen. Dennoch rührte mich die Frage, warum er gekommen war. Nur wegen Tine? Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Wegen mir? Eher nicht. Oder doch?
»Ich muss dann mal wieder in den Stall. Wenn du Lust hast kannst du ja runterkommen, deine alten Klamotten hängen in der Kammer, du weißt ja wo.«
Er nickte und ich ließ ihn alleine. Eigentlich war ich nicht bei der Arbeit, eher in Gedanken. Ständig sah ich zur Stalltür, hoffte dass er kommen würde. Aber er kam nicht.
Kurz vor dem Abendessen ging ich hoch in sein Zimmer, wo er in einem Jogginganzug auf dem Bett lag und an die Decke starrte.
»Ist etwas mit dir?«
Er sah mich an, mit etwas traurigen Augen wie mir schien. »Nein, soweit alles in Ordnung. Ich weiß nur nicht…«
»Was weißt du nicht?«
»Ob es richtig war dass ich gekommen bin.«
»Warum sollte es das nicht sein? Ich sagte ja dass es mir nichts ausmacht. Wenn du möchtest kannst du die drei Tage hier im Zimmer bleiben. Vielleicht brauchst du ja ein bisschen Ruhe oder so. Du musst nichts tun was dir nicht gefällt.«
Er setzte sich auf. »Ich hab ja nichts mehr von mir hören lassen und jetzt bin ich hier so reingeschneit..«
»Ach, du meinst dass ich dir Böse bin deswegen?«
Er nickte vorsichtig.
»Wegen deiner E-Mail.. Vergiss es einfach. Ich freu mich dass du da bist, und das meine ich ehrlich. Komm mit runter, es gibt Abendessen«, bat ich ihn dann.
Nur langsam begann Marcus über sein jetziges Leben zu reden, wohl auch weil ihm Mutter Löcher in den Bauch fragte. Ich hatte eigentlich nur immer wieder einen heimlichen Blick zu ihm übrig. Er war ernster geworden, auch wenn seine Jungenhaftigkeit nicht darunter gelitten hatte.
Mutter nahm mir dann auch jene Frage ab, die mich ständig beschäftigte.
Marcus reagierte nur langsam. »Bis jetzt hab ich noch keine gefunden«.
»Oh, da lass dir Zeit. Weißt du, wenn du erst mal verheiratet bist..«
»Mutter, bitte«, mischte ich mich ein als ich merkte, dass Marcus diese Art des Aushorchens nicht mochte.
»Lass nur, ist schon okay«, beendete Marcus dann doch dieses Thema.