Die Vergangenheit holt ein
Dennis
Boah, Michael war blöd, wie konnte er so etwas nur behaupten. Nun saßen Michael, Sandra und Sven einfach nur da und grinsten mich an.
„Tut mir Leid, die Situation ist gerade… wie soll ich sagen…?“
„Krass?“, unterbrach mich Sven.
„Ähm… ja. Ich weiß immer noch nicht… ob es richtig war, herzukommen.“
Aus Svens Gesichtsausdruck zu schließen, war er mit der Antwort nicht zufrieden. Er beugte sich vor und griff nach meiner Hand.
„Hör mal, Dennis. Ich weiß ja nicht, wann du erfahren hast, dass du adoptiert wurdest. Aber ich kann mir schon denken, dass auf dich Tausende von Fragen eingestürzt sind.“
Ich nickte zur Bestätigung und Sandra legte die Hand auf die Schulter ihres Mannes. Dass ihm genau wie mir dieses Gespräch schwer fiel, merkte ich allerdings. Nur ich wusste nicht, wie ich mich gerade verhalten sollte.
„Ich habe deine Mutter damals kennen gelernt, da war sie gerade sechzehn Jahre alt. Wir hatten uns recht schnell ineinander verliebt. Na ja, was nennt man schon Liebe, damals wussten wir noch nicht viel darüber.“
Sven schaute kurz zu seiner Frau.
„Du musst wissen, ich habe meiner Frau auch noch nie viel darüber erzählt. Sie weiß eben nur, dass ich einen Sohn habe, der damals zur Adoption freigegeben wurde. Aber zurück, ich will dir die ganze Geschichte erzählen.“
„Das musst du nicht…“, warf ich ein, auch wenn es mich brennend interessierte.
„Doch, Dennis, du hast da wohl ein Recht darauf!“
Ich griff nach Michas Hand, weil ich spürte, wie der Kloß in meinem Hals wieder größer wurde und auch eine gewisse Flüssigkeit sich den Weg zu meinen Augen bahnte.
„Unsere Eltern waren gegen unsere Beziehung… ich war ja schon achtzehn und für ihre Eltern war ich ein Tu-nicht-gut. Sie setzten alles daran, uns wieder auseinander zu bringen. Doch je mehr sie ihre Bemühungen in die Tat umsetzten, desto mehr schweißte mich und Petra das zusammen.“
Michael legte seinen Arm um mich und zog mich etwas zu sich heran.
„Dann kam Petra die Idee mit dem Kind…, wenn wir ein gemeinsames Kind hätten, dann könnte uns niemand auseinander bringen. Ich war am Anfang nicht so begeistert davon, wollte ich doch studieren und wusste nicht, wie ich ein Kind ernähren könnte. Doch der Druck unserer beider Eltern wurde immer stärker, uns zu trennen, so kam es halt… Petra wurde schwanger.“
„Hast du ein Bild… von Petra?“, fragte ich leise.
Sven senkte den Kopf.
„Nein, leider nicht. Nach Petras Tod wurde mir der Umgang mit ihren Eltern komplett verboten, auch wünschte man nicht, dass ich mich dort nicht mehr blicken lassen sollte. Was dich betrifft, wurde bestimmt, dass du zur Adoption frei gegeben werden würdest.“
„Wer hat das bestimmt?“, fragte ich.
„Petras und meine Eltern… Das wollten sie von Anfang an schon, als bekannt wurde, dass du zur Welt kommst. Irgendwann haben Petra, sie war schon im neunten Monat schwanger, und ich uns dann eben entschlossen, uns einfach abzusetzen und den Intrigen unserer Eltern zu entziehen.“
„Wo wolltet ihr hin?“, hackte ich nach.
„Das kann ich dir heute nicht mehr sagen, einfach weg aus dem Kreis der Familie. An diesem Abend regnete es sehr.“
Ich merkte, wie es Sven immer schwerer fiel, weiter zu erzählen. Sandra hatte bereits ihren Arm um ihn gelegt.
„Der Regen hatte zugenommen und an der nächsten Ampel, an die wir kamen, passierte es dann. Wir wurden übersehen… ein Auto krachte einfach in Petras Seite und quetschte sie ein…“
Tränen liefen über sein Gesicht.
„Danach ging alles sehr schnell. Wir wurden beide in ein Krankenhaus eingeliefert…, ich wusste nicht, wie es Petra ging… ich durfte nicht einmal zu ihr. Später erzählten mir dann meine Eltern, dass Petra gestorben sei.“
Er wischte sich die Tränen aus den Augen, während seine Frau ihm durch die Haare streichelte.
„Und was war mit mir?“, fragte ich fast nicht hörbar.
Svens Kopf ging nach oben und ich konnte in seine feuchten Augen schauen.
„Dich durfte ich nicht sehen…, ich wusste nur, dass du ein Junge warst, 52 Zentimeter groß wärst und 3549 Gramm gewogen hast.“
„Das weißt du noch?“, fragte Sandra verwundert.
„So etwas vergisst man nicht… Ich habe, nachdem meine Eltern stundenlang auf mich eingeredet hatten, der Adoption zugestimmt. Ich war müde, konnte nicht mehr, von der Trauer um Petra ganz abgesehen.“
„Es macht dir doch niemand einen Vorwurf“, sagte Sandra.
Sven schaute mich an. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff.
„Ich bestimmt nicht“, meinte ich und hob abwehrend die Hände.
„Ich habe noch eine Weile versucht, heraus zu bekommen, wo du gelandet bist. Das einzige, was ich herausgefunden habe, dass du mit Vornamen Dennis heißt, mehr nicht. Ich bekam keinen weiteren Einblick in deine Unterlagen. Na ja und dann hast du angerufen…“
Nun war für einen Augenblick Funkstille. Jeder ließ das eben Gehörte auf sich wirken.
„Habt ihr Kinder?“, fragte plötzlich Micha.
„Ähm…, nein… ich kann keine bekommen…“, sagte Sandra leise.
„Oh… entschuldigt…“, kam es von Micha.
„Kein Problem. Unsere Kinder sind die Tiere“, erzählte Sven, „Sandra habe ich damals beim Studium zum Tierarzt kennen gelernt und nach ein paar Jahren haben wir dann diese Tierarztpraxis eröffnet, Spezialgebiet – Exoten.“
Michael begann zu lachen. Verwundert schauten die beiden ihn an.
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, meinte Micha.
Immer noch konnte man bei den beiden ein großes Fragezeichen auf der Stirn entdecken.
„Ich mach gerade hier im Zoo eine Ausbildung zum Tierpfleger…“, erklärte ich.
„Echt?“, fragte Sven.
„Ja und er hat schon die Bärenaufzuchtstation unter sich“, verkündete Micha stolz.
„Bären?“, fragte Sandra.
„Ja, am Anfang meiner Lehre hat eine Malaienbärin ihr Junges nicht angenommen und ich habe mich bereit erklärt, es aufzuziehen. Mittlerweile sind noch zwei Braunbären dazugekommen.“
„Süß!“, meinte Sandra, „ähm… Jungs wollte ihr etwas trinken… Bier … Wein?“
„Eine Cola würde reichen“, meinte ich.
Micha nickte zustimmend und Sandra verschwand. Ich musste zugeben, einige Partien meines Vaters kamen mir bekannt vor… die selben Augen und auch das breite Lachen… waren bei mir genauso.
„Und wie kamst du dazu, Tierpfleger zu werden?“
„Ich weiß auch nicht, ich habe schon immer gern mit Tieren zu tun gehabt. Und dann habe ich mich im Zoo einfach beworben und wurde genommen.“
„Und heute würden wir ihn nicht mehr hergeben, er hat es wirklich drauf“, setzte Micha noch drauf.
Ich gab ihm einen zärtlichen Knuffer in die Seite, weil er wieder maßlos übertrieb.
„Und so wie ich das heraus höre, habt ihr zwei euch im Zoo kennen gelernt…?“, fragte Sven.
„Ja, mehr oder weniger… am Anfang konnte er mich nicht mal leiden…“, sagte Michael kleinlaut.
So erzählte Michael die ganze Geschichte unseres Kennenlernens, natürlich auch ausgemalt mit verschieden Anekdoten. Sandra, die mittlerweile mit den Getränken wieder gekommen war, und Sven hingen an seinen Lippen.
Sebastian
Irgendwer rannte die Flurtreppe herauf und wenig später klopfte es an der Tür.
„Ja?“, rief ich und die Tür öffnete sich.
Dennis’ Vater streckte den Kopf herein.
„Du Sebastian, komm bitte ans Telefon. Der Zoo ist dran, mit den Delfinen stimmt was nicht.“
Erschrocken fuhr ich aus meinem Bett.
„Das Telefon unten…“, meinte er noch.
Ich düste an ihm vorbei, jagte die Treppe hinunter, wo Dennis’ Mutter mich schon mit dem Telefon in der Hand empfing.
„Hier, Sebastian“, rief ich ins Telefon, völlig außer Atem.
„Hallo Sebastian, hier ist Robert. Ich kann Heike nicht erreichen… mit Danas Baby stimmt irgendwas nicht… ich bräuchte dich…“
„Hast du schon Doc Reinhard gerufen?“
„Auf dessen Handy geht im Augenblick nur die Mailbox dran.“
„Mist, okay ich komme, muss mir nur noch eine Fahrgelegenheit suchen, bis gleich.“
„Danke, Sebastian… bis gleich.“
Ich drückte das Gespräch weg.
„Ist etwas passiert?“, fragte Dennis’ Mutter.
„Ja, mit dem Delfinbaby stimmt etwas nicht, ich muss in den Zoo.“
„Soll dich mein Mann fahren?“
„Das wäre toll.“
In diesem Augenblick wurde die Haustür aufgeschlossen und Micha und Dennis kamen herein, recht gut gelaunt.
„Hallo, wir sind wieder da“, meinte Dennis fröhlich, doch bemerkte er unsere Blicke, „ist etwas passiert?“
„Robert hat grad angerufen, mit Danas Baby stimmt etwas nicht…“
„Sollen wir dich hinfahren… ist Doc Reinhard schon informiert?“, fragte Michael.
„Hinfahren wäre gut und nein, Doc Reinhard wurde noch nicht gefunden.“
Dennis schaute zu Michael und beide nickten sich zu.
„Hol deine Jacke, wir warten im Wagen“, meinte Micha und öffnete bereits die Haustür.
Als ich die Treppe hinauf rannte, sah ich aus dem Augenwinkel heraus, wie Dennis seine Mutter umarmte.
*-*-*
„Hallo Sven… entschuldige, wenn ich euch heute Abend noch einmal störe…“
„Dennis, du störst doch nicht… du kannst hier immer anrufen.“
„Kennst du dich mit Delfinen aus?“
„Bitte?“
„Ob du dich mit Delfinen auskennst?“
„Öhm, ich weniger, aber Sandra hat da einige Kurse für belegt… warum fragst du?“
„Michael und ich sind gerade auf dem Weg zum Zoo. Das Neugeborene unserer Delfinin Dana hat Schwierigkeiten, aber wir erreichen den Zooarzt nicht…“
„Gib uns 15 Minuten, dann sind wir am Zoo, okay?“
„Danke Sven, wir warten am Tor auf dich. Bye!“
Ich drückte das Gespräch weg.
„Sie kommen… Sandra kennt sich anscheinend etwas mit Delfinen aus“, erklärte ich Michael.