Prolog:
Sommermärchen … und dann fängt das auch gleich noch mit Fußball an! Da es sicher einige Leute gibt, die dem Kampf ums runde Leder nichts abgewinnen können, sei vorsichtshalber gesagt, dass es sich um alles andere als eine reine Sportstory handelt. Wie auch bei meinen anderen Geschichten gilt, dass die Figuren alle einen realen Hintergrund haben. Das gleiche gilt für die geschilderten Erlebnisse – mal mehr, mal weniger mit Fantasie aufgebauscht oder verschönert. Über Resonanz würde ich mich freuen, weniger darüber, wenn diese Story ohne mein Einverständnis kopiert und anderswo veröffentlicht wird.
Anders als bei handelsüblichen Märchen beginnt dieses „Sommermärchen“ nicht mit den Worten „Es war einmal“, sondern mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006.
S O M M E R M Ä R C H E N
1. Marcel – Triumphe und Tränen, Sommer 2006
Die Welt zu Gast bei Freunden – das war das Motto der Fußballweltmeisterschaft 2006. Nur in meiner kleinen Gefühlswelt waren zuletzt irgendwie verdammt wenig Leute zu Gast. Aber so ein nationales und internationales Großereignis wie eine WM ist ja schließlich nicht nur dafür da, eine Mannschaft in den siebten Himmel zu heben und 31 andere ins Tal der Tränen zu stürzen. Aber auch am Rande so einer weltbedeutenden Veranstaltung spielen sich – vermutlich unzählige – kleine Geschichtchen ab, die im Normalfall kaum Beachtung finden. Geschichtchen, die das Leben halt schreibt. Oder vielmehr die WM….
„Wo schaust du eigentlich das Eröffnungsspiel?“ „Was denn für ein Eröffnungsspiel?“ Tobias sah mich mit einem Gesicht an, das tatsächlich den Schluss nah legte, er hätte nichts vom Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft mitbekommen. „Na, zufällig beginnt heute die WM“. Er zuckte mit den Schultern.
Wir beide spiegelten damit wohl perfekt die für den kommenden Monat herrschende Zweiklassengesellschaft wieder. Auf der einen Seite Fußball-Euphorie, auf der anderen Desinteresse am pulsierenden sportlichen Leben. Das war nicht nur in Deutschland, Italien oder Trinidad und Tobago so, sondern auch im Altmarker Seeschlösschen.
In dieser komfortablen Beherbergungsstätte mitten im Herzen einer wunderbaren Seenlandschaft hatte ich vor gut drei Jahren, mit süßen 16, eine Ausbildung zum Hotelkaufmann begonnen. Also stand ich kurz vor dem Abschluss und würde mit jenem fußballerischen Großereignis noch einmal beweisen müssen, was ich in den letzten Jahren gelernt hatte.
Während also die einen Kollegen emsig bestrebt waren, Dienst- und Spielplan fein säuberlich zu koordinieren und Überschneidungen um Gottes Willen zu vermeiden, erweckten andere den Eindruck, an diesem Jahrhundertereignis ähnlich interessiert zu sein wie an den Stadtteilmeisterschaften im Hütchen-Halma.
Einer, der gegen das grassierende Fußballfieber völlig immun zu sein schien, war mein Kollege Tobias. Er bewies am Tag des Eröffnungsspiels, das bei ihm Hopfen, Malz und Fußballinteresse völlig verloren war. „Bin heute Abend mit ´ner Freundin verabredet. Geht das wirklich heut schon los?“
Sagenhaft. Die Fußballwelt wartete seit vier Jahren auf diesen Moment. Und mit so jemandem wohnte ich unter einem Dach?
Gemeinsam mit Tobias und Kaufmannsazubi Carsten bewohnten wir eine WG im Südflügel des Schlösschens. Für Hotelchef Dr. Gast hatte das den angenehmen Nebeneffekt, dass eigentlich ständig irgendwer auf Bereitschaft war, um an der Rezeption nach dem Rechten oder den Gästen zu sehen.
Diese WG funktionierte nun schon seit drei Jahren ausgesprochen gut, und als Mitglied der „Zehnprozent-Fraktion“ hatte ich natürlich überhaupt nichts dagegen, mit zwei sehr netten und darüber hinaus gut aussehenden Jungs eine Wohnung zu teilen. An mehr allerdings war auch nicht zu denken. Carsten hatte eine feste Freundin, und auch Tobias zog regelmäßig mit weiblichen Begleiterinnen um die Häuser oder was auch immer sie sonst taten. Auf alle Fälle nicht Fußball schauen.
Es war also geklärt, dass die Begegnung Deutschland – Costa Rica ohne Tobias als Zuschauer auskommen musste. Carsten hatte sich übers Wochenende in den Schoß der Familie begeben, und ich hatte alles andere als Lust, dieses gigantische Fußballereignis allein im heimischen Fernsehsessel zu verfolgen. Dr. Gast hatte mit sensationellem Weitblick unsere WG am Eröffnungswochenende komplett vom Dienst frei gestellt, obwohl ich offenbar der Einzige war, der das wirklich zu schätzen wusste. Nun saß ich also allein in unserem Zimmer – voller Vorfreude, aber einsam. Das Geheimrezept dagegen: Public Viewing. Um daran teilzunehmen, musste ich das Schlösschen nicht mal verlassen.
Dr. Gast hatte den Biergarten unseres Hotels, der gleichzeitig auch als Ausflugslokal diente. zum fußballerischen Leinwandzentrum umfunktioniert. Dort erlebte ich den kollektiven frühen Jubel, als die deutsche Elf durch ein Traumtor von Lahm mit 1:0 in Führung ging. Minuten später der Absturz aus den Euphoriewolken, als der reichen Küste Kicker ausglichen. Der Zug drohte zu entgleisen, aber es war Miroslav Klose, der die Weichen auf Sieg stellte und letztendlich für das sichere Einlaufen im Zielbahnhof sorgte.
Noch besser wurde das für den Achtelfinaleinzug so wichtige Spiel der „Klinsmänner“ gegen Polen. Im Seeschlösschen-Biergarten war eine deutliche Steigerung der Zuschauerzahlen zu registrieren, und natürlich stieg auch die Stimmung entsprechend. Es wurde über 90 Minuten gezittert, so manches Stöhnen über so manche vergebene Chance lag über dem Altmarker See. Als alle angefangen hatten, sich mit einem 0:0 abzufinden und bereits über das Spiel gegen Ecuador zu diskutieren, wurde die alte Regel von Sepp Herberger („Ein Spiel dauert 90 Minuten“) außer Kraft gesetzt. In der 91. Minute erlöste Oliver Neuville die überaus jubelbereiten Massen in Schwarz-Rot-Gold, sorgte für die Erlösung und beförderte Deutschland ins Achtelfinale.
Zum ersten Mal bei dieser WM war ein Zusammengehörigkeitsgefühl spürbar, wie sonst im Alltag eigentlich nicht vorhanden. Jedenfalls ist es sonst äußerst selten zu erleben, dass einem wildfremde junge Männer um den Hals fallen und „Mann, ist das geil!!“ brüllen. Ohne dabei ohne irgendwelchen absonderlichen Gedanken zu haben. Lebensfreude pur. Sport verbindet.
Am nächsten Tag tauchten auch in der Altmark die ersten schwarz-rot-goldenen Fähnchen an den Autos auf. Zum Spiel gegen Ecuador hieß das Motto: „England verhindern“. Nur mit einem Sieg würde Deutschland als Gruppensieger feststehen und damit den Gegnern von der Insel aus dem Weg gehen. Vorerst jedenfalls. Eine Konstellation, die sogar meinen Mitbewohner Tobias an die Leinwand lockte. Wenn auch nur deshalb, weil er von Dr. Gast dazu eingeteilt war, den immer größer werdenden Fanscharen Herr und koordinationstechnisch tätig zu werden.
Immerhin rang er sich später ein „Ganz nett“ auf die Frage ab, wie es ihm denn gefallen habe. Das Team um Michael Ballack siegte 3:0, löste das erste altmärkische Autokorso aus und zog souverän in die KO-Runde (das Team, nicht das Korso) ein, wo als Achtelfinale die blau-gelben Skandinavier warteten.
Immerhin hatte ich in Felix doch noch einen Kollegen gefunden, der ähnlich fußballbegeistert war wie ich – vermutlich noch einen Tick schlimmer vom WM-Wahnsinn befallen als ich selbst. Gut verständlich, denn er war in den ersten beiden WM-Wochen deutlich näher dran am Geschehen: Zum Eröffnungsspiel war er auf der Fanmeile in Berlin, später live in Leipzig beim Duell Spanien gegen Ukraine, wo er am Abend dann auch den Triumph Deutschlands gegen Polen miterlebte. Und auch gegen Ecuador fehlte er wegen eines Kurzurlaubs in München, wo er natürlich auch ganz dicht dran war an der Welt, die zu Gast bei Freunden war.
„Alter Schwede – jetzt wird’s ernst!“, das war das Motto, mit dem das Altmarker Seeschlösschen einlud. Dr. Gast jedenfalls kalkulierte das Personen- und Personalaufkommen so, als ob der Biergarten des Schlösschens bis zum letzten Platz besetzt werden würde. In Realität wurde es dann allerdings deutlich voller. Eine Stunde vor Spielbeginn waren alle verfügbaren und nicht verfügbaren Plätze besetzt.
Bei mir selbst hatte längst die Nervosität Einzug gehalten. Und die Angst. Angst, dass alles vorbei sein könnte. Das dieses wichtigste Fußballturnier der Welt ohne den Gastgeber weiter gehen würde. Das es nicht nur mir so ging, war spürbar. Aber auch, dass der Optimismus regierte. Niemand, aber auch niemand glaubte an ein Scheitern Deutschlands. Zurecht: Deutschland enterte das Viertelfinale – 2:0 gegen Schweden. Und das Becken der schwarz-rot-goldenen Euphorie drohte überzuschwappen.
Viertelfinalgegner Argentinien. Und der Nationalmannschaft war es seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gelungen, ein Team aus dem illustren Kreis der ganz Großen zu bezwingen. Und dazu gehörten die Südamerikaner definitiv. Mehr noch: Alle Experten und noch viel mehr die, die sich als solche bezeichneten, kristallisierten den Weltmeister von 1978 und 1986 als haushohen WM-Favoriten heraus. Der Schlösschen-Garten platzte aus allen Nähten. Vielmehr passierte genau das nicht – weil die bewussten Nähte gar keinen Freiraum zum Platzen hatten, sie mussten ganz einfach halten.
Halten musste auch das 0:0, tat es aber nur bis zur 49. Minute. Tor Ayala für Argentinien. Deutschland nah dran, im Tränenmeer zu ertrinken. Die kommende halbe Stunde bestand aus einer Mischung Zweckoptimismus, vorgezogener Trauer und verfrühter Turnierauswertung.
Neben mir saß Felix, der endlich auch mal den Weg ins Public-Viewing-Zentrum der Region gefunden hatte und es mir somit ersparte, die ausgegebenen Bierrunden vom Chef allein in Angriff nehmen zu müssen. Nervosität macht ausgesprochen durstig. Die allgemeine Stimmungslage der Nation veränderte sich in Minute 80: Miroslavs Kloses Kopf löste eine Begeisterungswelle sondergleichen aus. Plötzlich hatte ich Felix im Arm, der mir vor Freude die Luft abdrücken wollte, zu Gunsten zweier Freudensprünge darauf verzichtete und mir damit das Leben rettete, Auch das DFB-Team war durch dieses Tor gerettet – wenigstens erstmal bis in die Verlängerung. Die blieb torlos, und am Altmarker Seeschlösschen und überall in Deutschland und Argentinien hieß es, sämtliche Herztropfen auszupacken. Elfmeterschießen.
Knisternde Spannung. Neben mir bei Felix. Dem die Schweißperlen auf der Stirn standen. Oder waren das noch Reste vom eben niedergegangenen Wolkenbruch? Egal, wir waren alle schweinenass. Neben mir auch Dr. Gast, der vorsichtshalber die nächsten Runde Kümmerlinge hatte auffahren lassen. Bitter macht lustig. Aber was nun? Bitter oder lustig?
Neuville, Cruz und Ballack trafen. Dann Ayala. Dem Schützen des argentinischen Führungstreffers versagten die Nerven. Lehmann hielt, und ich hielt auch. Mit Dr. Gast und Felix gleich zwei Nervenbündel in meinen Armen. Ich war das dritte – und beide hielten mich.
Weiter im Text. Podolski sicher. Maxi Rodiguez verwandelt, obwohl Lehmann wieder im richtigen Eck war. Irre. Auf dem Tisch die Kümmerlinge… waren alle. Borowski kümmerte das wenig, der zum 4:2 verwandelte. Das Halbfinale jetzt greifbar. Cambiasso für Argentinien scheiterte an Lehmann für Deutschland. Und von den nächsten Sekunden fehlt mir jegliche Erinnerung. Momente unsagbaren Glücks. Halbfinale – Deutschland ist dabei. Der Chef, Felix und ich – zu dritt tanzten wir am Biergartentisch. Wie Hunderte neben, mit, aber wenigstens nicht auf uns.
Was folgte, war wieder eine Welle der Begeisterung. Hupkonzert, Autokorso und das kurzfristige Lahmlegen einer Straßenkreuzung: Friedliche Freudenfeuer in Schwarz-Rot-Gold. An diesem Abend trugen Polizisten im Dienst Basecaps in Nationalfarben.
Deutschland blühte im Glanze dieses Glückes. Die Altmark und die Nation wurden nun immer sicherer: Deutschland wird Weltmeister. Zwei siegreiche Spiele fehlten noch bis auf den Fußball-Thron. Der nächste Gegner im Halbfinale: Italien.
Pizza gegen Bratwurst, Nudeln gegen Sauerkraut. Umsatzeinbußen bei den entsprechenden Restaurants südeuropäischem Flairs in den Tagen vor dem großen Spiel. Über solche Dinge musste sich der Betreiber des Altmarker Seeschlösschens natürlich keinerlei Sorgen machen. Schon gar nicht am Dienstag des großen Spiels.
Bereits zwei Stunden vor Anpfiff waren die letzten Sitzplätze im Biergarten besetzt, die Stimmung war fabelhaft. Die Welthits der letzten Tagen wurden zu Gehör gebracht: „Fußball ist unser Leben“, „54, 74, 90, 2006“ und „Schwarz und Weiß“ heizten die Atmosphäre auf. Passend zum vorherrschenden Klima von 30 Grad im Schatten. Felix, Dr. Gast und unzählige Gäste lauerten auf den Anpfiff und die folgenden 90 Minuten.
Es wurde wieder ein Krimi. 0:0 nach der regulären Spielzeit, und es hatten sich alle aufs Elfmeterschießen eingestellt. Dirk (mittlerweile durften Felix und ich unseren Chef duzen – die WM verbindet auch firmenintern) hatte bereits für eine neue Getränkerunde gesorgt, um fürs Elfmeterschießen fit zu sein. Ich schrie – eine andere Verständigungsmöglichkeit war nicht möglich – den beiden zu: „Deutschland hat noch nie ein entscheidendes Elfmeterschießen verloren. Und Italien noch nie eins gewonnen.“ „Dann müssen sie heute auch nicht damit anfangen“, lachte Felix.
Es war sein letztes Lachen dieser WM, denn die Italiener gewannen das Elfmeterschießen nicht. Weil es dazu nicht kam. Grosso beendete die Elfmeter- und Finalträume der Gastgeber-Elf, und das Ganze nicht mal 120 Sekunden vor dem Ende der Verlängerung. Was auf dem Stiefel im südlichen Europa für unbändige Freude sorgte, stürzte die Gastgeber in eine unglaubliche Gefühlshölle. Rückstand so kurz vorm Elfmeterschießen. Hoffen auf ein Fußballwunder. Konter Italien. 0:2. Aus. Der Traum vom WM-Titel im eigenen Land geplatzt. Abpfiff. Neben mir hatte Felix den Kopf auf der Tischplatte und befeuchtete diese mit Tränen. Dirk war weg. Ich selbst fühlte mich einfach nur leer. Ich legte meinen Arm um Felix und streichelte ihm übers Haar, er reagierte kaum, legte seinen Kopf irgendwann an meine Schulter und versank dann komplett in meinen Armen.
Das Ende eines Traums. Während Felix uns noch eine Runde organisierte, um den Frust und die Trauer irgendwie runterzuspülen. Es entstand unbedingt der Eindruck, dass der Altmarker See in akuter Hochwassergefahr war. Hunderte von Fußballfans vergossen ihre Tränen in das beliebte Badegewässer. Felix und ich gehörten dazu, nachdem wir aus dem Altmark-Schloss geflüchtet waren und auf einer Bank am See uns gegenseitig unser Fußballherz ausschütteten und äußerst spendenbereit in Sachen Trost für den Nebenmann waren. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so ausharrten und im schwarz-rot-goldenen Mitleid versanken. Irgendwann standen wir auf, reichlich angeschlagen. Irgendwie fiel mir mein Azubi-Kollege noch mal in die Arme, lallte irgendwas unverständliches in die Richtung „Nie wieder Pizza“ und musste dann alle noch verfügbare Kraft daran setzen, sein hin und her schwankendes Fahrrad nach Hause zu transportieren – denn er verfügte nicht über den Luxus, in einer WG direkt im Schlösschen zu wohnen.
Nachdem ich mich ganz ohne zwei- oder vierrädrige Hilfsmittel erfolgreich nach Hause transportiert und mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier geangelt hatte, musste ich feststellen, dass Carsten schon schlief und Tobias nicht im heimischen Gefilden anzutreffen war. Na toll, wenn mal jemanden zum Reden braucht. Aber gut … mit beiden hätte ich mich weder über Fußball unterhalten wollen noch über die Tatsache, dass meine Gefühle für Felix ähnlich Sturm liefen wie Italien in den letzten zwei Minuten dieser unsäglichen Verlängerung.
Da ich den unbedingten Drang spürte, mit anderen Menschen Kontakt zu haben, ohne dabei die sicheren heimischen vier Wände verlassen zu müssen, blieb nur der Gang in die Weiten des World-Wide-Web – und mein Weg führte mich direkt in den Chat einer szenebekannten Community, wo weit nach Mitternacht natürlich kein allzu großes Treiben mehr herrschte. Es entspann sich folgende Unterhaltung, die zumindest von einer Seite her betrachtet sehr alkohollastig geführt wurde.
AltMARC: Hi?!
Splash: hi
„Hervorragend … hier war ich ja mittendrin in einer gesprächigen Runde gelandet. Huhu! Warum redet hier keiner mit mir?
AltMARC: Nun ja, da hier der Bär tobt…
Splash: whh 🙂 – dafür bist Du ein bisschen spät.
AltMARC: …scheint es an der Zeit zu sein, gute Nacht zu sagen
„Hervorragend… wenn schon keiner mehr reden will, dann kann ich ja noch ein bisschen Frust abbauen. Prost, Computer!“
AltMARC: Wenigstens sind keine idiotischen Italiener hier,.
Splash: Keine was?
…
Splash: Achso, Fußballfrust. Da heute Fußball war, nehme ich deine Aussage mal nicht so ernst.
„Hervorragend…. keiner will mir reden, und der eine, der noch da ist, nimmt mich nicht ernst.“
AltMARC: „Was nimmst du nicht ernst?“
Splash: Das mit den idiotischen Italienern. Wen bezeichnest Du überhaupt damit? Die Mannschaft? Das Volk? Die Fifa?
Rico_Linz: Dem entnehme ich, das Italien gewonnen hat?
In diesem Moment irgendwie machte irgendwas in meinem Kopf Klick. Der Frust des Abends gepaart mit einer kleinen Portion Liebeskummer und jeder Menge anti-nichtalkoholischer Getränke hatten das Fass bedrohlich gefüllt, und diese letzte Äußerung hatte es zum Überlaufen gebracht und meinen Verstand kurzzeitig weggespült, was in meinen kommenden Reaktionen sehr deutlich zu Tage trat.
AltMARC: Auf diese Nummer habe ich keinen Bock… eine ganze Nation weint, und ein einzelner fängt so eine Diskussion an… Und Österreich blamiert sich grade als Mitausrichter der nächsten EM. Gute Nacht.
Splash: Geh und denk drüber nach, Fußballfan. Komm morgen wieder und denke drüber nach. Ach ja, und denke dran: Hier ist WM-freie Zone.
AltMARC: Wie gesagt: Gute Nacht. Fuck you.
Hier hatte ich dann wohl auch nicht gekriegt, was ich noch brauchte: Ein paar tröstende Worte. Log out und weg … genau betrachtet hatte ich es wohl auch falsch angefangen in diesem Chatroom. Ich spülte mein Bier weg und beschloss, den Tag zu beenden. Im Bett, wo ich noch die ein oder andere Träne vergoss. Deutschland hatte das Finale verpasst… Felix würde nie wieder in meinen Armen liegen und sich streicheln lassen… ich hatte mich im Chat grade unmöglich gemacht… Hallo, geht’s noch eine Nummer schlechter? Was war das für ein beschissener Abend…
2. Tobias – Eine anstrengende Nacht
Was war das für ein angenehmer Abend … und so leer war es im San Lorenzo schon lange nicht mehr gewesen. Gemeinsam mit meiner Schwester und meiner besten Freundin hatten wir bis in die Nacht hinein gefeiert. Meine liebste Verwandte Iris hatte einen frisch unterzeichneten Lehrstellenvertrag in der Tasche – und das wurde mit Pizza und Wein gefeiert. Am späteren Abend schienen dann auch die beiden Köche der gastronomischen Einrichtung die Tragweite unserer Feierlichkeit begriffen zu haben, als sie aus der Küche stürmten und mit einem mehrfach-stimmgewaltigen „Forza Italia“ an unserem Tisch vorbeitanzten, nicht ohne jede einzelne anwesende Person zu küssen.
„Zelebrieren die ihren Feierabend immer so stürmisch?“, erkundigte ich mich bei unserem Kellner Paolo. „Nein, eigentlich nur, wenn Italien kommt in die WM-Finale.“
Ich grinste kurz. „Dann hoffe ich, dass Marcel schon schläft.“ Da ich von einer offenbar männlichen Person sprach, wurde Iris hellhörig. „Wer ist Marcel? Hast Du einen neuen Schwarm?“ Meine Schwester war einst die einzige Zuschauerin meiner Outing-Premiere, und seitdem der wandelnde Atlas meiner Gefühlswelt.
„Iris, bitte. Marcel ist Rezeptions-Schichtleiter mit tollen Übernahmechancen. Zwar ganz niedlich, aber mehr auch nicht. Ich möchte nur nicht, dass mich heute noch irgendwer mit Fußballproblemen behelligt.“
Ich hatte Glück. Nachdem ich mich von den beiden Mädels getrennt hatte und unsere WG erreicht hatte, nicht ohne zahlreich zerknirscht wirkende Menschen zu treffen, die alle schwarz-rot-gold bemustert waren, stellte ich fest, dass Marcel bereits zu Bett gegangen war und auch Carsten bereits im Reich der Träume weilte. Ich konnte also unbehelligt noch an den Schreibtisch sitzen und einen meiner favorisierten Chatrooms aufsuchen. Auch zu sehr später bzw. früher Stunde stand die Chance nicht schlecht, hier einige unterhaltungswillige Menschen zu treffen, die nicht unbedingt über die akuten Probleme der Fußball-Nation sprechen wollten.
Da der Rechner sogar noch nicht runtergefahren war – über Stromkosten machte sich Marcel offenbar wenig Gedanken – dauerte es nicht lange, bis den Chatraum geentert hatte und mich mit meinem herrlich kitschigen Nickname „Blueboy“ eingeloggt hatte.
Blueboy: Hallo.
Splash: Hallo
Ich war grade dabei, mich nach den aktuellen Gesprächsthemen zu erkundigen, als mir die aufflackernde Nachricht einen virtuellen Hammer über den Kopf zog.
Rico_Linz: Ach ja. Blueboy…. Selber fuck you.
Ich versuchte meine aufkommenden Gefühle, die weniger freundlicher Natur waren, zu unterdrücken und versuchte, sehr sensibel zu formulieren:
Blueboy: Was hast Du für ein Problem? Ich hab’s net so gern, mit fuck you begrüßt zu werden.
Rico_Linz: Wieso – du verabschiedest dich doch auch gern damit.
Splash: Bevor jetzt was falsches passiert… bist du zufällig grade online gekommen und benutzt *zensierter internetanbieter*
Blueboy: Ja, nutze ich. ???
Ich war mir noch nicht ganz im Klaren, was hier grade passierte. Aber die Chatgemeinschaft betrieb weiterhin intensive und mir völlig unverständliche Nachforschungen.
Splash: Und du wohnst nicht zufällig mit AltMARC zusammen oder hast einen Gemeinschaftsanschluss?
Blueboy: Wer ist AltMARC? Allerdings hab ich hier ne WG mit Gemeinschaftsanschluss, ja.
Splash: Jemand, der bis grade eben hier gechattet hat, hat einen lustigen Kommentar abgegeben – und du hast leider die gleiche IP zugewiesen bekommen.
Rico sendete daraufhin eine IP-Identifizierung, die sich nur durch den Nutzernamen am Anfang unterschied. Wie auch immer das zu Stande kam…Immerhin begann zu begreifen, dass sich hier offenbar jemand daneben benommen hatte – und zwar mit der selben IP-Adresse. Ich begann, mir ein paar Gedanken zu machen.
Blueboy: Also, ich hab hier einen Rechner, der mehreren Leuten zugänglich ist. Aber es wäre ein immens großer Zufall, wenn irgendjemand mit diesem Rechner diesen Chat hier benutzt hat. Wenn ihr versteht, worauf ich hinaus will. Und Rico? Was sollte dieses Fuck you?
Rico_Linz: Frag den, der vorher an deinem Rechner gesessen hat.
Blueboy: Es ist nicht mein Rechner… aber das lässt sich sehr schnell rauskriegen.
Rico_Linz: Ja, mach das mal.
Splash: Und wenn du es rausgefunden hast, nimm ihm den Schnaps weg und gib ihm Bier.
Offenbar fanden einige das hier entstandene Gespräch äußert interessant – aus unserem Dreiergespräch entwickelte sich eine größere Talkrunde. Für alle, die nicht von Beginn an dabei waren, gab es noch mal eine sehr kurze, aber prägnante Zusammenfassung:
Splash: Es hat sich jemand mit deinem Ident mit fuck you verabschiedet.
Das erklärte mir zumindest mal die etwas ungewöhnliche Begrüßung.
Blueboy: Das ist böse.
GTO: Ja… aber fuck you war eigentlich fast noch harmlos.
Blueboy: Ich weiß nur nicht, ob ich nun Carsten oder Marcel wecken muss.
Rubito: Das lässt sich sicher rausfinden.
GTO: Weck den größeren Fußballfan.
Rico_Linz: Wecken sicher noch nicht, das ganze war fünf Minuten, bevor du hierher gekommen bist. *schmunzel*
Ich begann langsam zu begreifen, dass ich wohl zehn Minuten zu lange oder zehn Minuten zu wenig mit Iris verbracht hatte. Zehn Minuten eher, und ich hätte dieses Dummheit verhindert. Zehn Minuten später, und ich wäre statt in diesem Chat wohl eher im Bett gelandet. Aber so beschloss ich, noch ein bisschen wach zu bleiben.
Blueboy: Es ging also um Fußball, ja?
Rubito: Mal ne Kontextfrage…. Wo ist denn die WG mit Marcel. Carsten und Blueboy? Und ja, es ging um Fußball.
Blueboy: Okay… dann hab ich ihn glaub ich. Und die WG befindet sich in der Nähe von Stendal am Altmarker See.
Rubito: Passt …. und AltMARC hat die Altmark ja schon im Namen… das ist der Nick deines Vorgängers. Marc würde zu Marcel passen, assoziiere ich einfach mal.
Das fand ich treffend analysiert. Ich beschloss wieder etwas – diesmal, mir noch etwas Gesellschaft an den Rechner zu holen.
Blueboy: Wartet mal.
Rubito: Wir warten mal.
Splash: Das wird spannend.
Ich ging in Richtung Schlafzimmer Marcel, klopfte, wartete gar nicht erst auf Antwort und stürmte den Raum „Guten Morgen – wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du erstens vor zehn Minuten noch am Rechner gesessen hast und zweitens besoffen und frustriert genug bist, um irgendwelchen Leuten irgendwelche Pöbeleien an den Kopf zu hauen?
Marcel knipste das Licht an – ein reichlich verwirrter Wuschelkopf starrte mich an: „Ey, ich weiß zwar net, was du von mir willlst – aber können wir das eventuell auf Morgen verschieben?“ „Nein, das hat nun wirklich keinen Aufschub mehr verdient. Du musst das Ausnüchtern noch ein paar Minuten vertagen.“ Die ersten dieser vermutlich doch mehr als nur ein paar Minuten verbrachte ich damit, ihn mit dem Sachverhalt zu konfrontieren und ihm den Kopf zu waschen. Rein sprichwörtlich betrachtet. Er schaute mich mit großen Augen an, schüttelte den Kopf und fragte mich nur: „Verdammt, so schlimm?“ „Lies dir durch, womit ich mich in den letzten Minuten beschäftigen durfte. Oder musste.“
Der Riesen-Fußballfan setzte sich vor den Rechner, las sich den Chatlog durch und fragte mich dann: „Verdammt, bin ich ein Rindvieh. Kannst du mir ein Bier holen?“ „Musst du morgen arbeiten?“ Marcel schüttelte den Kopf, und ich kam zu dem Schluss, dass ihm ein abschließendes Getränk in den bevorstehenden Momenten nicht zu stark schaden würde. Ich setzte mich also in Bewegung zum Kühlschrank, und als ich zurückkam, hatte Marcel Tränen in den Augen. „Ich weiß nicht, was hier mit mir durchgegangen ist“. Ich nickte und sah ihm an, wie aufrichtig er das meinte. „Das sag den Jungs selber.“ Eh ich ihn an die Tasten ließ, hämmerte ich noch mal ein paar Gedanken aufs Keyboard und in den Chat.
Blueboy: Also AltMARC ist bekannt?
Splash: Ja…
Rico_Linz: Wie ein bunter Hund.
Blueboy: Schlecht?
Splash: Nö nur verspielt.
Blueboy: Okay, also neben mir heult jemand.
Rubito: Huch… aber wie auch immer – Blueboy, dann kläre mal die Situation. Es würde mich schon mal interessieren, wieso zwei Leute unabhängig voneinander im gleichen Chat chatten und dann plötzlich jemand heult. Und vermutlich kein Hund ist, der den Vollmond gesehen hat.
Splash: Und warum jemand Fußball zu solchen Ausdrücken verleiten kann.
Marcel bat mich leise: „Lass mich noch mal“ und übernahm die Tastatur:
Blueboy: Hier ist AltMARC. Es tut mir leid, ich wollte hier niemanden beleidigen. Ich hab so einen blöden Abend hinter mir, net nur wegen Fußball.
Sorry, ich bin jetzt zu aufgewühlt um noch mehr zu schreiben oder zu erklären.
Rubito: Dann denk ich mir meinen Teil mal.
Rico_Linz unterstützt Rubito beim Gedankenmachen
Splash: Redet net mehr solange.
Ich dachte mir schon, dass zumindest die nächste Stunde noch fest für mehr oder weniger emotionale Gespräche einzuplanen war und dankte dem Herren des Dienstplans, das bei beiden am kommenden Tag ein „F“ für Frei eingetaktet war.
Marcel formulierte bereits die Verabschiedung.
Blueboy: AltMARC: Ich geh wieder ins Bett. Und sorry noch mal!
Rico_Linz: Um es mal in den Worten des italienischen Nationaltrainers zu sagen: Arrivederci Ragazzo.
Blueboy: Ich glaub, ich geh gleich hinterher.
GTO: Ins gleiche Bett?
Blueboy: Nein, es sind zwei verschiedene Zimmer. Aber jetzt werd ich wohl doch ERSTMAL zu ihm gehen. Gut, wenn er das noch nie gemacht habt, vielleicht könnt ihr es einfach vergessen. Da kam wohl ein bisschen viel zusammen und gelernt hat er glaub ich auch.
Marcel steckte sein Kopf noch mal aus seiner Schlafzimmertür: „Und frag mal, ob Carsten da auch bekannt ist.“ Ich grinste und reichte diese Frage 1:1 an den Chat weiter.
Rubito: Gibt es Märchen?
GTO: Träumen die nicht alle vom Sommermärchen?
Kevin_Linz; lol – da der Fußballtraum jetzt beendet ist, vielleicht wird ja wenigstens bei euch ein ganz eigenes Sommermärchen draus.
Blueboy: Schauen wir mal, wir halten euch auf dem Laufenden. Schlaft gut!
GTO: Euch auch ne’ lange Nacht, wie auch immer.
Rubito: N8
Splash: Bye
Nachdem ich den Rechner runtergefahren hatte, saß ich die ein oder andere Minute noch vorm Schreibtisch und starrte auf den leeren und dunklen Monitor – und entschied mich dann dafür, zu Marcel zu gehen. Der lag bereits wieder in seinem Bett, hatte ein paar Teelicht-Kerzen angezündet und deutete auf sein Bett: „Komm, setz dich. Und erklär mir, warum es erst so viel Zufall braucht, dass wir nach zwei Jahren erfahren, dass uns ein kleines Geheimnis miteinander verbindet.“ Ich stellte mich ein bisschen schwer von Begriff: „Was meinst du?“
„Tobi… du warst doch nicht in dem Chat da, weil da besonders nette Leute rumlaufen, oder? Oder hab ich einfach vergessen, auszuschalten“ Ich grinste: „Ja, das auch. Aber diesen Chatraum benutze ich auch schon ein ganzes Weilchen“ „Ja, ich auch.“
Es wurde eine sehr lange Nacht. Wir redeten, irgendwann lag ich dann neben ihm im Bett – wobei er noch vielfach über seinen Ausraster im Chat sinnierte und darüber, warum wir unsere besondere Gemeinsamkeit nicht eher entdeckt haben. „Keiner hat dem anderen ein Zeichen gegeben – und jetzt, kurz bevor wir mit der Ausbildung fertig sind, kommt’s dann doch noch raus. Wie selten idiotisch ist das denn bitte? “Wäre es dir denn lieber, es wäre nicht rausgekommen? Er schüttete den Kopf. „Na also, fuhr ich fort: „Es hat keinen Sinn, zu spekulieren, was gewesen wäre wenn.“ „Und was wird jetzt aus uns?“ Eine Frage, die ich mir im Laufe dieser Nacht auch schon oft gestellt hatte. Ich sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, wir lassen es auf uns zukommen, okay? Er nickte: „Okay.“ „So, und jetzt sollten wir vielleicht noch ein paar Mützchen Schlaf nehmen.“ Ich stand auf, drückte ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange und ging dann in mein Zimmer, wo es mich relativ rasch erst ins Bett und dann ins Reich der Träume zog.
3. Marcel – Abschied und Neuanfang
In der Nacht, als das deutsche Fußball-Sommermärchen abrupt endete, begann für mich eine neue Zeit. Ich hatte meine Lektion gelernt, wie schnell es geht, mit ein paar unbedachten Wörtern für ein Fiasko zu sorgen, mal mehr oder weniger groß. Im Chatroom hatte ich meine Entschuldigung noch mal wiederholt, die Geschichte war vergessen. Und das Italien Weltmeister geworden war, sorgte auch nicht dafür, dass ich Pizza von meinem Speisezettel entfernte.
Natürlich freute ich mich, dass Deutschland WM-Bronze eingesammelt hatte, aber noch mehr freute ich mich darüber, dass ich mit Tobias einen neuen wirklich guten Freund gewonnen hatte. Auch wenn wir uns beide noch nicht zu einer Beziehung durchringen konnten, wir verbrachten jede freie Minute zusammen. Aber soviel davon gab es nicht: Wir befanden uns im tiefsten Prüfungsstress und hatten sehr wenig Zeit, um ein gemeinsames Privatleben teenager-angemessen zu gestalten.
Ein weiteres Problem, dass jeden einzelnen Lehrling im Altmarker Seeschlösschen beherrschte: Wie würde es nach der Lehre weitergehen? Dirk, also Dr. Gast, hatte durchblicken lassen, dass er zwei oder drei Lehrlinge übernehmen wollte. Aber eine endgültige Entscheidung sollte es erst nach den Prüfungen geben – und somit sorgte unser Chef für ein gesundes Konkurrenzklima im Lehrlingspersonal.
Es dauerte nicht lange, und dann waren sie da – die Tage der Entscheidung. Die Prüfungen galt es erst mündlich, dann schriftlich zu absolvieren. Und natürlich stand „nebenbei“ ganz noch ein bisschen Hotelalltag auf dem Programm. Schließlich konnte man den vor der Tür stehenden Reisebus nicht wieder mit dem Hinweis nach Hause schicken, in zwei Wochen wiederzukommen, wenn der Prüfungsstress vorbei wäre.
Aber auch diese heiße Phase ging vorbei. Es kam der Tag der Auswertung. Aus unserem dritten Lehrjahr hatten alle die Prüfung bestanden – und es war niemand dabei, der einfach nur durchgerutscht war. Alle konnten auf ihr Prüfungsergebnis stolz sein und alle konnten sich somit berechtigte Hoffnungen machen, auch in Zukunft eine sichere Stelle im Altmark-Schlösschen zu besetzen.
Aber alles auf eine Karte zu setzen, kam für mich nicht in Frage. Natürlich hatte ich einige Bewerbungen geschrieben. Hotels aus ganz Deutschland hatten mir bereits mitgeteilt, dass meine Fähigkeiten zwar keinesfalls angezweifelt werden würden, wenn da die fehlende Berufserfahrung nicht wäre…. Hallo? Als Lehrling war ich drei Jahre lang zu den unmöglichsten Zeiten und Stellen für die unmöglichsten Job eingesetzt.
„Personalchefs scheinen eine eigene Gattung Arbeitnehmer zu sein. Theoretische Theoretiker, denen allein das Wort Praxis nur theoretisch bekannt ist“. Diese Feststellung von Tobi schien des Pudels Kern zu treffen, da es ihm nicht anders ging als mir. Auch er war bislang durch die Bank abgeblitzt, hatte aber bereits eine Alternative: „Dann mach ich eben Zivildienst – da hab ich ein dreiviertel Jahr mehr Zeit, Bewerbungen loszuschicken.“
Da die entsprechende Behörde bislang noch kein Interesse bekundet hatte, meine Dienste in Beschlag zu nehmen, intensivierte ich meine Bemühungen im Ausland und bewarb mich in diversen Hotels im alpinen Bereich. Immer in der Hoffnung, das Dirk sich auch für mich entscheiden würde. Ich mochte das Seeschlösschen und hatte wenige Ambitionen, es verlassen zu müssen.
Dr. Gast hob es sich aber wirklich bis zur letzten Sekunde auf, ehe er die Bombe platzen ließ. Die Entscheidung hatte er für den Lehrlingsabschied angekündigt. Dieser sollte im Schlösschen-Biergarten stattfinden und bildete für die ehemaligen Azubis den Abschied von ihrer Lehrlingszeit – und gipfelte meist in einer sehr langen und feucht-fröhlichen Nacht. Die sollte es diesmal natürlich auch werden, aber die Entscheidung der Übernahme stand zunächst im Vordergrund und sorgte vor allem bei denen für Nervosität, die bislang noch keine neue Stelle finden konnten.
Natürlich wollten Tobi und ich zusammenbleiben – also im Sinne von zusammenleben und zusammenarbeiten, zu mehr hatten wir uns immer noch nicht durchringen können. Und ich war auch nicht wirklich sicher, ob ich das wollte. Sicher, Tobi war ein ganz Lieber. Jemand, mit dem ich unglaublich gern redete – über alles Mögliche. Aber irgendwie waren wir doch zu verschieden für eine Beziehung. Aber dafür Freunde wie Pech und Schwefel.
Insgesamt zehn Lehrlinge waren es, die in den letzten drei Jahren das ABC oder vielleicht auch XYZ des Hotelwesens gelernt hatten. Und jeder machte sich mehr oder weniger berechtigte Hoffnungen, in der Gunst des Gastes hoch zu liegen.
An diesem schicksalsträchtigen Abend präsentierte sich der Altmarker See von seiner schönsten Seite – und vermutlich würde der Chef des dazugehörigen Schlösschens sich tierisch darüber ärgern, dass der Biergarten an diesem Tag ganz und gar seinen „alten“ Lehrlingen gehörte. Eine geschlossene Gesellschaft, die sehr gespannt auf die Ausführungen von Dr. Dirk Gast wartete.
Der dachte aber zunächst überhaupt nicht daran, für Klarheit zu sorgen, sondern suchte zunächst viele Einzelgespräche. Tobi raunte mir ins Ohr: „Kann es sein, dass der noch gar keine Ahnung hat?“ „Tja, da er vermutlich gleich bei uns sein wird, wart ab, was er will“. Tatsächlich dauerte es nicht lange, und Dirk setzte sich direkt zwischen uns. „Na meine Herren, bisschen wehmütig heute?“ „Na ja… das kommt auf das an, was heut noch passiert.“ „Hast Du schon was gefunden?“ Dirk wendete sich an mich, und es war das erste Mal, das er mich auch vor anderen Lehrlingen duzte. „Nein, ich hab zwar einiges laufen, aber ich warte, was heut passiert. Das Schlösschen ist meine absolute Nummer eins.“ Der Doktor nickte. „Und sie?“, wandte er sich an Tobi. „Ich werde wohl Zivildienst machen, wenn sie sich nicht für mich entscheiden können, Oder konnten.“ „Dann werd ich das Geheimnis wohl mal lüften, was?“
Dr. Gast stand auf und ging Richtung Buffet. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. 20 davon wollten wissen, welche berufliche Zukunft ihnen blühte, alle anderen hofften, dass nun endlich das Essen freigegeben werden würde. Denn natürlich waren auch Angehörige und Freunde willkommen.
„So – liebe Leute. Ich glaube ja, dass die einen hier schon richtig Hunger haben. Aber ich glaube auch, dass die anderen erst dann richtig und vor allem mit Appetit essen können, wenn sie wissen, wen von Ihnen das Altmarker Seeschlösschen weiter beschäftigen wird. Vornweg: Ich habe mich für zwei von Ihnen entschieden, und die endgültige Entscheidung ist auch grade eben erst gefallen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen allen danken. Danken für Ihren unglaublichen Einsatz in den zurückliegenden drei Jahren, mit dem sie dem Schlösschen unglaublich viele Dienste erwiesen haben. Jeder einzelne von Ihnen hat sich sehr verdient um dieses Haus gemacht, und ich bedauere es sehr, dass ich nicht jeden von Ihnen hier weiterbeschäftigen kann.“
„Bla bla bla… das übliche Gesülze.” Tobi schien ob dieser Ausführungen ein bisschen genervt. Ich empfand das aber anders: „Ich denke, er meint es ehrlich“ – und Dirk bestätigte mich darin. „Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ihr Jahrgang der mit Abstand Beste ist, der hier bei uns gelernt hat. Und das sage ich nicht nur so dahin, wenn sie sich die Mühe machen, in älteren Abschlussjahrgängen nachzufragen, werden sie die Auskunft bekommen, dass ich das nun wirklich noch nie gesagt habe. Ich möchte auch kurz noch erklären, warum ich sie solang habe warten lassen. Wie sicher mitbekommen haben, habe ich grade mit jedem Einzelnen noch mal gesprochen. Ich wollte sicher gehen, dass jeder einzelne von ihnen möglichst gut unterkommt. Ich selbst kann das leider nicht gewährleisten. Und deswegen habe ich bis zum Schluss gewartet. Ich werde einen Hotelkaufmann anstellen und einen, der sich im technischen Bereich ein bisschen auskennt und entsprechend in Zukunft als technischer Mitarbeiter tätig sein wird. Meine Entscheidung ist gefallen. Marcel und Felix – ihr beiden werdet in Zukunft hier im Altmarkschlösschen bleiben, wenn ihr das wollt. Allen anderen möchte ich von ganzem Herzen viel Glück für ihre berufliche Zukunft wünschen. Für weitere Fragen stehe ich den ganzen Abend zur Verfügung.“
Es brandete ein kurzer Applaus auf. Tobi umarmte mich und gratulierte: „Hey, super! Glückwunsch.“ Im Anschluss gab Dirk das Buffet frei, und der gemütliche Teil des Abends begann. Es wurde noch viel geredet, gelacht und einfach nur ausgelassen gefeiert, wobei natürlich viele Anekdoten aus den zurückliegenden drei Jahren offengelegt wurden.
Nachdem die Sonne längst untergegangen war, kam Felix an unseren Tisch. „Hey man, sieht so aus, als würden wir es noch ein paar Jährchen länger miteinander aushalten müssten.“ Er hob mir sein Glas entgegen, ich stieß mit ihm an und grinste: „Sieht so aus, ja.“ „Hast Du ne Sekunde für mich?“ „Ja klar, und da eine Sekunde sicher nicht reicht, auch gern ein paar mehr. Was gibt’s?“ „Können wir uns kurz ungestört unterhalten?“ „Ja sicher. Wollen wir runter zum Strand?“ „Ja, sicher. Tobi – entschuldigst du uns kurz?“ Der lächelte: „Wenn ihr euren Erfolg unter vier Augen begießen wollt, sicher.“ „Hey, gute Idee. Nehmen wir noch’n Bier mit“ „Gute Idee. Ich geh uns mal zwei holen. Wartest Du unten an der Bank?“ „Ja, klar.“
Es war schon ein komisches Gefühl. Da saß ich wieder an der Bank am See, auf der wir uns vor kurzem noch gegenseitig getröstet hatten, nachdem Deutschland denkwürdig bittere Minuten kurz vorm Elfmeterschießen erlebt hatten. Nur das diesmal für Felix kein Trost notwendig war. Schade eigentlich. Und als er kam und sich zu mir setzte, wusste ich plötzlich genau, warum ich mit Tobias keine Beziehung wollte: Weil Felix in Wirklichkeit der Mann meiner Träume war.
Von all diesen Gedanken wusste er natürlich nichts, als er unser Gespräch begann: „Hast Du damit gerechnet?“ „Ich hatte es gehofft, ja.“ „Ich hab heute die Zusage von einem Hotel aus Wien bekommen, und nach Dirks Ansprache ich bin so froh, dass ich ihm das vorhin nicht gesagt habe.“ Das war ich allerdings auch. „Wusstest du, dass er es von so was abhängig macht?“ „Nein, aber so oder so: Warum muss er das wissen? Ich wollte diesen Job, und jetzt hab ich ihn. Meinst du, er hat sich so entschieden, weil wir zur WM zusammen gefeiert und gelitten haben?“ Diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt. „Ich weiß es nicht, und ganz ehrlich, es ist mir auch egal.“ „Ja, mir auch. Aber Marci, auch wenn sich jetzt alles ändern sollte: Eins möchte ich dir noch sagen. Und es fällt mir verdammt noch mal alles andere als leicht. Aber du solltest es wissen, wenn wir zusammen arbeiten in Zukunft. Ich will ehrlich und fair sein, okay?“
Ich nickte und machte mir dabei natürlich auch meine eigenen Gedanken. Marci… auf diese Idee war auch noch niemand gekommen. Wenn er wüsste, auf welches dünne Eis sehr sich grade begab. Was würde jetzt kommen? „Ja, natürlich okay.“
„Als wir damals hier gesessen haben, nach dem Italien-Spiel: Das war einerseits so bitter. Aber andererseits… ich hab mich noch nie so geborgen gefühlt wie in diesem Moment. Und ich hab danach so oft daran zurückgedacht, wie du mich… wie du mich gestreichelt und in deinem Arm gehabt hast. Das war… alles so wunderschön. Und ich hab danach an fast nichts anderes mehr gedacht. Marci… auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt viel kaputt mache: Aber ich hab mich in dich verliebt.“
Was hatte er da grade gesagt? Meine Gefühle begannen, Achterbahn zu fahren. Meine kühnsten Träume wurden hier grade übertroffen. Er machte mir hier grade die Liebeserklärung, die ich ihm niemals gemacht hätte. Aber die ich ihm seit diesem Zeitpunkt so oft schon hatte machen wollen. Wow….
„Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll. Das ist irgendwie…. irgendwie… irgendwie wie im Märchen.“ Ich sah ihn an, er sah mich an. Mit so süßen blauen Augen, die mir nur eins verrieten: Seine Angst, dass gleich alles vorbei sein könnte.
Ich kam nicht dazu, zu überlegen, wie ich darauf jetzt am besten reagieren könne. Das kam alles automatisch irgendwie. „Ich sage überhaupt nichts dazu. Das ist alles wie im Traum.“ Ich nahm ihn in den Arm, er nahm mich in den Arm – und nach mir und vermutlich auch ihm endlos erscheinenden Sekunden fanden sich unsere Lippen zu einem ersten Kuss, der völlig von beidseitigen Gefühlen geleitet wurde. Hier wurde das Sommermärchen grade noch mal neu geschrieben.
Irgendwann schafften wir es dann aber doch, uns kurz voneinander zu lösen. „Das ist unglaublich, Felix. Genau so, wie du es beschrieben hast, hab ich es auch gefühlt. Genau so. Aber ich glaube nicht, das ich den Mut gehabt hätte, dir das auch alles so offen zu sagen.“ „Ich hätte das auch nie gedacht, dass ich das bringen würde. Aber du… du bist einfach so einzigartig. Warum soll ich meine Gefühle vor dir verstecken? Im schlimmsten aller Fälle hätte ich immer noch Wien als Fluchtpunkt gehabt.“ „Ich hoffe nicht, dass du irgendwann einen Fluchtpunkt vor mir brauchst. Ich liebe dich, Felix.“ „Ich dich auch, Marci.“ Und wieder versanken wir in einem so unglaublich romantischen und gefühlvollen Kuss.
„Meine Herren, wollt ihr nicht endlich noch mal nach oben kommen… Oh…“ Dr. Gast stand vor uns, starrte uns an und grinste verlegen. „Ähm… sorry. Aber bitte kommt noch mal nach oben, eh ihr hier total versinkt, ja?“ Sprachs und verschwand wieder Richtung Biergarten. Felix fand als erster seine Worte wieder: „Ich würde unglaublich gern mit dir die ganze Nacht hier am Stand verbringen …. und hoffen, dass sie nie endet. Aber ich glaube auch, dass wir noch mal hoch müssen.“ Ich nickte: „Ja, das sieht so wohl so aus. Gehen wir hoch.“ „Marci?“ „Ja?“ „Wollen wir es ihnen sagen?“ „Ja, ich mag hier auch nicht auf Dauer Versteck spielen. Lass uns mit offenen Karten spielen.“
Er nahm meine Hand, und so spazierten wir zurück in das sommernächtliche Partyareal des Altmark-Schlösschens. Wir spürten die Blicke, die auf uns lagen. Und sämtliche Unterhaltungen schienen für einen Moment zu verstummen. Nur die Musik klang leise durch die Nacht. Es wirkte total kitschig, wie in einer 1a-Liebeschnulze – aber war es nicht auch eine?
Felix ergriff die Initiative. „Eigentlich sollte man es ja nicht an die große Glocke hängen, wenn sich zwei Menschen finden. Aber es entstehen ja vielleicht doch einige Fragen.“ Ich fühlte mich gemüßigt, auch etwas loszuwerden: „Felix hat mir grade am Strand unten eine wunderschöne Liebeserklärung gemacht – und wir haben festgestellt, dass wir beide schon länger mehr füreinander empfinden. Manchmal braucht es eben erst so einen Abend, um die Gefühle offenzulegen. Ich hoffe, dass von euch niemand ernsthaft ein Problem damit hat, dass wir uns lieben, obwohl wir zwei Kerle sind.“
Um uns herum brandete Beifall auf – und nicht einer erweckte den Eindruck, missgünstig oder intolerant zu sein. Es wurde eine lange Nacht, in der viel geredet wurde. Tobi kam irgendwann zu mir, nahm mich in den Arm und sagte: „Hey, Glückwunsch. Schon zum zweiten Mal heute Abend. Ich hoffe nur, dass sich zwischen uns nichts ändert?“ „Nein“, antwortete ich, „dafür bedeutest du mir zu viel. Als Freund. Nicht als Freund.“ Er hatte verstanden, lächelte und sagte noch ganz nebenbei: „Hoffentlich macht er dich glücklich.“ „Wenn ich das nicht glauben würde, dann wären wir jetzt nicht zusammen.“
Den Rest der Nacht verbrachten wir alle im Schlösschen, Tobi und ich in unserer WG, Felix -leider- in einem der Zimmer, die Dr. Gast extra für den Lehrlingsabschied zur Verfügung gestellt hatte. Nach vier oder fünf Stunden hieß es schon wieder aufstehen, und für acht Menschen hieß es gleich, dass Altmarker Seeschlösschen für vermutlich immer zu verlassen. Felix und ich hatten gegen Mittag einen Termin beim Chef – schließlich galt es ja noch, unsere Arbeitsverträge zu unterzeichnen.
Wir klopften, und Dirk bat uns in sein Büro. „Meine Herren, setzt euch. Ich will es kurz machen. Ich hatte heute Morgen eine Sitzung mit dem Betriebsrat und den Gesellschaftern. Und wir sind übereingekommen, dass wir es uns aktuell doch nicht leisten können, zwei Lehrlinge zu übernehmen. Das tut mir leid für euch, aber ihr zwei werdet nicht im Schlösschen bleiben können.“