Bittere Tränen
Eigentlich ist es ja nicht gerade die feine englische Art, sich am Kummer eines anderen erfreuen zu wollen, aber ich denke mal, es ist eher die Anteilnahme an Marvins Schicksal, die euch zu den vielen Antworten inspiriert hat. Der alte Satz, dass geteiltes Leid halbes Leid ist, scheint sich wieder einmal zu bewahrheiten. Von daher berichte ich euch, wenn auch nur ungern und mit einem flauen Gefühl im Magen, von den wohl schwersten Tagen im Leben meines Neffen.
Tja, Marvins schwarze Tage begannen eigentlich mit einer Verspätung seines Liebsten. Nach dem Bowling hatte Marvin Sebastian eine SMS mit der Bitte geschickt, ihn um viertel vor sieben abzuholen. Das der Kleine den Abend nicht mit seinem Stufenleiter verbringen wollte, konnte man nachvollziehen: Welcher Schüler ist schon freiwillig gerne mit seinem Lehrer zusammen? Ich hatte auch, ehrlich gesagt, nichts dagegen, denn meine Jugendsünden mussten ja nicht unbedingt beim gemeinsamen Abendessen mit Lars breitgetreten werden, das Nacktschwimmen in Münsters Aasee war noch einer der harmlosesten Episoden aus meinem sexuell ziemlich bewegten Studentenleben. Wie auch immer, hätte Sebastian sich nicht verspätet, wäre die Lawine, die Marvins Gefühlswelt unter sich begraben sollte, nicht so schnell und so heftig ausgelöst worden. Vielleicht hätte man noch etwas retten können, auch wenn das meiner Ansicht nach eher unwahrscheinlich gewesen wäre, aber egal.
Ehe ich mich verzettel, alles lieber der Reihe nach: Es ist viertel vor sieben und kein Sebastian da! Das Telefon klingelt Marvin nimmt den Hörer ab! Mein Neffe glaubte wohl, seinen Liebsten am Rohr zu haben, aber leider trügte die Hoffnung. Er hauchte mir nur „Oma!“ entgegen und verdrehte die Augen. Das Gespräch würde dauern. Tja, da musst du durch, dachte ich und grinste. Karin Tillenbach, Claudius Mutter, ist zwar eine äußerst liebe und nette Person und für ihre 76 Jahre noch unheimlich fit und agil, aber leider auch etwas schwerhörig, was die Kommunikation mit ihr nicht gerade einfach macht. Sie kann zwar unheimlich gut von den Lippen ablesen (Was sie aber nie zugeben würde!), aber Gespräche mit ihr am Fernsprecher gestallten sich eher schwierig, denn über ein Bildtelefon verfügen wir leider nicht. Fünf Minuten später klingelte es an der Tür, ich drücke auf und Sebastian stand im Hausflur. Hochgehen wollte er anscheinend nicht, er rief nur: „Marvin!“
„Komm rauf Sebastian, Marv telefoniert noch mit seiner Oma! Das kann dauern. Du kannst hier oben auf ihn warten!“ Er kam hoch, begrüßte mich und verschwand in Marvins Zimmer.
Weitere fünf Minuten später klingelte es erneut. Ich betätigte den Öffner und rief in den Hausflur: „Lars?“
„Ja!“
„Komm rauf! Erster Stock!“
Er kam die Treppe herauf und wir begrüßten uns an diesem Tag zum zweiten Mal, diesmal allerdings mit Kuss. Während ich ihm die Garderobe abnahm, öffnete sich Marvins Zimmertür und die beiden traten heraus in den Flur. Marvin stellte das Telefon auf die Station und reichte seinem Lehrer die Hand. „Guten Abend, Herr Kaltenbach!“
„Hallo Marvin! Guten Abend äh …“
Er erstarrte, auch Sebastians Gesicht veränderte sich, aber so genau bekam ich das ich mit, denn in diesem Moment drückte mir Marvin einen Kuss auf die Wange. „Wir sind dann mal in der Eishalle! Viel Spaß beim Essen!“
Die beiden verschwanden und ich griff nach der Hand von Lars und führte ihn ins Wohnzimmer. „Was zu trinken?“
„Gerne! Am liebsten einen Rotwein, wenn du hast!“
„Aber immer doch!“ Ich ging in die Küche, öffnete einen Bordeaux und kam mit Flasche, Gläsern und der Karte des Pizzaservices zurück ins Wohnzimmer. Mein alter Freund aus Studientagen hatte sich bereits gesetzt.
Wir bestellten und während der nächsten zwei Stunden schlossen wir einige Lücken, wir hatten uns ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen und somit viel zu bereden. Er berichtete über sein Leben, ich über meins. Ein besonderer Abschnitt nahm natürlicherweise meine Rückkehr in die Heimat ein – Lars kannte die Probleme, die ich mit meinem Vater hatte. Das letzte Kapitel beschäftigte sich – selbstverständlich – mit Marvin, meinen kleinen großen Neffen.
„Stefan, kann ich dich mal was fragen?“
„Natürlich! Schieß los! Was willst du wissen?“
„Kann es sein, dass Marvin schwul ist?“
Er wusste, dass ich Zwangsoutings hasste wie die Pest! „Was wäre, wenn er es wäre?“
„Er wäre weiterhin ein liebenswerter, strebsamer und intelligenter Junge, der seine Situation ziemlich gut meistert, aber das meine ich nicht.“
„Wie meinst du es dann?“
„Wenn er es wäre und dieser Claudio wäre sein Freund, dann würde ich ihm zur äußersten Vorsicht raten!“
Ich war sprachlos, mir fiel die Szene vorhin im Flur wieder ein. Irgendetwas war im Busch! Lars musste mehr wissen! „Wieso meinst du, dass sein Bekannter Claudio heißt?“
„Der Name wird, wie bei jedem Stricher, wohl falsch sein, aber … so hat er sich mir vorgestellt!“
„Sebastian ein Stricher? Lars! Was ist los?“
„Sebastian heißt er also! Aber Namen sind Schall und Rausch! Erinnerst du dich an Kai Bauer?“
Kai Bauer! Ich grinste innerlich. Wenn man ihn einmal erlebt hat, kann man ihn nie mehr vergessen! Kai, Sohn eines Busunternehmers aus Dortmund, organisierte die besten Partys und war, trotz all seiner Kohle, kein eingebildeter, neureicher Bengel, eher der Kumpel von nebenan. Aber auch der beste Kumpel hat so seine Eigenarten und einen Charakterzug an ihm fand ich wirklich etwas extrem: Er war der Meinung, richtigen Sex könne man nur gegen Geld haben und handelte entsprechend! Als er nach seinem Studium Münster verließ (Die Abschiedsparty war gigantisch!), sollen einige Stricher Tränen ob ihrer versiegten Einnahmequelle vergossen haben. Die einzigen Anforderungen an seine käuflichen Bettgenossen waren jung und dunkelhaarig, alles andere war egal, ob aktiv oder passiv, ob groß oder klein, ob behaart oder rasiert.
„Wie kann man diesen Bengel vergessen? Aber was hat er mit Sebastian zu tun? Und woher weißt du das?“
„Nicht so schnell, Stefan. Du bist wie früher, du willst immer alles sofort wissen! In der Ruhe liegt die Kraft! Kai hat vor drei Jahren die Firma seines alten Herrn übernommen ist, seitdem sehen wir uns ab und an, wenn wir haben das gleiche Konzert-Abo für die Städtischen Bühnen hier. Letzten Samstag wurde Lohengrin gegeben! War wirklich grausam, der Chor …“
„Lars, bitte keine Opernkritik! Was war los?“
„Ist ja gut! Also: wir trafen uns in der Pause. Er fand es auch schrecklich und beim Prosecco beschlossen wir, zu gehen, um noch etwas Spaß zu haben. Ich dachte erst, wir gehen noch raus, aber wir fuhren zu ihm, er ist umgezogen. Sein Haus ist wirklich erste Sahne. Dürfte eine Stange Geld gekostet haben! Allein das Bad, echter Marmor aus Carrara, ich sage dir, …“
„Larsimaus, komm bitte zur Sache!“
„Plötzlich meinte er, hätte Bock auf …“
„Sex?“
„Ja, er brauchte Abwechslung. Und du kennst ja seine Vorlieben!“
„Ihr seid also ab in die Blaumaise? Oder wie heißt der Stricherschuppen noch einmal?“
„Blaumeise stimmt schon! Aber wir gingen nicht aus, sondern nur in sein Arbeitszimmer. Seit Kurzem bestellt er sich seine Stricher aus dem Internet, quasi Versandhaussex!“ Er grinste.
„Und dann kam Sebastian?“
„Ja, oder Claudio, wie immer du willst! Ich sollte mir auch einen aussuchen, aber ich wollte lieber gehen, denn so junges Gemüse ist ja nicht mein Fall, du kennst mich ja! Es dauerte keine Viertelstunde, da klingelte es auch schon und wir waren noch beim Rotwein. Kai meinte, ich bräuchte mich nicht zu beeilen, es würde ihn sogar besonders anmachen, wenn ich ihn dabei beobachten würde. Ist wohl sein neuster Spleen!“
„Und? Hast du sie bespannt?“
Er wurde leicht verlegen. „Naja, was heißt Spannen? Der Stricher legte einen Strip hin und als er den anfing, Kai einen zu blasen, bin ich gegangen. Ich wollte einfach nicht!“
„Und du bist dir sicher, dass es tatsächlich Sebastian war, der da … mit Kai?“
„Sicher? Sicher kann man nie sein, aber die Größe passt, die Statur, die Haare, die Nase, das Auftreten. Stimmt einfach alles! Wenn er jetzt noch einen Frosch auf seiner linken Hüfte eintätowiert hat, dann ist er es!“
Ich sackte zusammen. Wenn das wirklich wahr wäre, was Lars mir da gerade mitgeteilt hatte, dann wäre Marv wohl der Gelackmeierte! Oder wusste er es? Kaum glaubhaft! Ich wollte gar nicht daran denken, wenn es so wäre! Es könnte immerhin ja auch eine Verwechslung sein, aber weshalb sollte mein Freund aus Studientagen einen solchen Vorwurf in den Raum stellen? Lars stand eher auf dem leichtbehaarten Bärentypen, also Eifersucht konnte es nicht sein, Marvin entsprach ganz und gar nicht seinem Beuteraster, außerdem war er sein Stufenleiter, Marvin war also tabu für ihn! Lars hatte immer schon Angst vor Konsequenzen, gerade wenn er … Ich müsste mir wohl selbst ein Bild machen, ob die behauptete Tatsache der Wahrheit entsprach oder sich alles in Wohlgefallen auflösen würde. Aber wie? Wie sollte ich die Wahrheit herausfinden? Ich konnte Sebastian ja schlecht selber fragen, denn beweisen konnte ich ihm nichts. Gut, da war die Aussage von Lars, aber das war ja nur Hören-Sagen, auch wenn ich nicht daran zweifelte, dass er mir reinen Wein eingeschenkt hatte, dazu kannten wir uns zu lange! Was würde Marvin denken, wenn ich diesen Vorwurf vor ihm wiederholen würde? Wie würde er reagieren? Ich mache mir halt Sorgen um den Kleinen, ich will, dass es ihm gutgeht, dass er glücklich ist! Kann er das mit einem Stricher? Gut, man sagt zwar, dass ehemalige Nutten die besten Ehefrauen würden, aber kann man diesen Satz auch auf die männlichen Vertreter des horizontalen Gewerbes übertragen? Ich war ratlos. Ich war verzweifelt!
„Wie hieß in die Webseite?“
„Auf die Adresse hab ich, ehrlich gesagt, gar nicht geachtet. Tut mir leid, aber ich kann Kai morgen ja mal anrufen und ihn fragen, wenn dir das wichtig ist! Aber so, wie du mich gerade anschaust, ist es dir sogar sehr wichtig!“
„Ist es auch!“
Dass nach einer solchen Mitteilung kein vernünftiges Gespräch mehr zustande kam, kann man sicher denken. Ich war froh, als Lars um kurz vor zehn aufbrach, er musste ja noch mindestens eine halbe Stunde fahren. Wortlos verabschiedeten wir uns und umarmten uns nur. Lars wusste einfach, wann man besser den Mund halten und seine Gefühle nur in Gesten ausdrücken sollte. Er handelte dementsprechend!
Ich lief in der Wohnung wie ein Tiger im Käfig umher, vom Wohnzimmer in die Küche und über mein Arbeitszimmer wieder zurück zum Ausgangspunkt. Meine Gedanken rasten. Was war zu tun? Was sollte ich machen? Um viertel nach zehn öffnete sich die Tür und Marvin stand im Flur. „Sorry! Ich weiß, ich bin zu spät, aber ich musste noch Krankenschwester spielen!“
Ich ging auf meinen Neffen zu, umarmte ihn. „Was ist denn passiert? Hat sich jemand was getan?“
„Nein! Sebastian lebt noch, aber du hättest dich echt totlachen können, sein Bagger war wirklich sehenswert! Mindestens 7.8 Punkte in der künstlerischen Wertung!“ Er lachte.
„Verletzt?“
„Höchstens sein Stolz! Kurz vor Ende der Laufzeit bremste er mit dem Arsch. Er schrie wie am Spieß, als ob er sich was gebrochen hätte, aber außer ein paar blauen Flecken an seinem süßen Hintern ist nichts passiert. Er wird wohl ein, zwei Tage nicht sitzen können, aber mehr ist nicht.“
Wenn die Behauptung von Lars stimmen würde, würde er zwei Tage nicht arbeiten können, denn sein Hintern ist ja sein Kapital. „Hauptsache ist, es ist nichts passiert!“
„Nein, es ist alles noch an ihm dran, ich hab’s kontrolliert. Wir sind ins Klo gegangen und ich habe es persönlich inspiziert. Nur ein paar blaue Flecken, mehr nicht! Aber sein Frosch sieht ramponierter aus als er! Grün und blau kommt nicht gut in der Farbmischung! Sieht jetzt schon ziemlich violett aus, wenn du mich fragst.“ Er grinste immer noch.
„Frosch?“
„Ach, er hat einen kleinen Kermit auf seiner linken Hüfte, sieht echt süß aus! So eine Tätowierung hätte ich auch gerne!“
Um Gottes Willen! Kermit muss der Frosch! Es stimmte also doch! Holland war in Not! „Später vielleicht!“
„Ich geh dann jetzt mal schlafen!“ Er drückte mir noch einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange und verschwand in seinem Zimmer. Bei einem Cognac und eine Zigarette versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen, aber leider gelang mir das nicht. Mit Kopfschmerzen ging ins Bett.
Am späten Nachmittag rief mich Lars an. Neben schönen Grüßen von Kai teilte er mir die Seite und Sebastians Pseudonym in dem Katalog der erotischen Gelüste mit. Ich dankte ihm und machte mich sofort an die Recherche. Sein Profil samt Bildern druckte ich aus und verstaute es den Schreibtisch. Ich habe es immer und immer wieder gelesen, aber verstehen und nachvollziehen konnte ich es beim besten Willen nicht. Ich wusste immer noch nicht, was ich machen sollte. In meine Verzweiflung rief ich Kai an und erzählte ihm von meinen Sorgen. Er wusste zwar auch keinen Rat, der das Rätsel löst, aber er meinte, ich solle ihn jederzeit anrufen, wenn ich Hilfe brauchen würden. Er würde Gewehr bei Fuß stehen. Das wäre er mir als Freund und meinem Neffen, den er überhaupt nicht kannte, einfache schuldig. Typisch Kai, er hatte sich nicht verändert!
Beim Abendessen am Freitag schlug Marvin einen DVD-Abend vor. „Wie komme ich denn zu der Ehre?“
„Red doch keinen Quatsch. Ich unternehm halt gerne was mit dir, denn du bist der einzige, der immer für mich da ist. Die Betonung liegt auf Immer! Alle machen ihr Ding, ziehen ihr eigenes Ding durch, ob Freunde oder Freundin! Nur auf dich ist Verlass. Wenn ich dich brauche, bist du da! Egal wann und wo und wie!“
„Das hört sich ja fast noch eine Sinnkrise an, mein Engel! Was ist denn los? Muss sich jemand würgen oder vierteilen?“ Ich versuchte, ironisch zu sein.
„Du musst niemanden auspeitschen. Es ist nur …“
„Was?“
„Jetzt kenn ich Sebastian fast zwei Monate. Eigentlich ist alles super, aber …“
„Und uneigentlich?“
„Wie unternehmen nur etwas unter der Woche! Wir sehen uns nur, wenn ich nicht beim Training bin oder mit Flori und Konsorten meinen Lernabend habe. Am Wochenende muss er immer arbeiten, aber auch da will ich auch mit ihm zusammen sein. Ich brauche ihn einfach! Aber wir führen eine umgekehrte Wochenendbeziehung, wenn du so willst, und das geht mir auf den Geist!“
„Ich dachte immer, er macht eine Ausbildung. Was arbeitet er denn dann noch am Wochenende?“
„Er jobbt in einer Disco in Bochum. Er will endlich seinen Führerschein machen und sich danach einen Gebrauchtwagen kaufen. Seine Mutter hat kein Geld, jedenfalls kriegt er von ihr keinerlei Unterstützung. Auch seine Leute kann man vergessen! Seine Mom lebt, wie er sagt, von der Stütze. Die muss regelmäßig zum Amt.“ Er klang ziemlich resigniert.
„Naja, er geht für seinen Wunsch arbeiten, um ihn sich zu erfüllen. Eigentlich keine schlechte Idee, denn er hat halt keine Oma, die ihm den Führerschein bezahlt wie bei dir.“
„Wenn es ja nur das wäre, das könnte ich ja verstehen, aber …“
„Aber was?“
„Er macht das Ganze jetzt seit über einem halben Jahr, wie er sagt, und als wir am Montag in der Eisdiele waren, hatte er drei 200 Euro Scheine in der Tasche. Was für einen Wagen will er sich denn holen? Einen Porsche vielleicht? Wenn ich mal seinen Verdienst hochrechne, dann kann er sich einen Neuwagen leisten! Ich dachte eigentlich, wir könnten morgen Abend, du weißt schon was, wenn du im Theater bist. Aber nein! Der Herr muss mal wieder arbeiten! Ich bin das so leid wie Steine-Tragen!“
„Ach Schnuffel, komm her!“ Ich legte meinen Arm um seine Schulter und zog ihn an mich. Er sank in meine Arme und wir hielten uns minutenlang fest. Ich konnte ihm in dieser Situation einfach nicht die Wahrheit sagen, dazu war ich nicht fähi. „Weißt du was? Wir machen uns einen Spaß!“
„Welchen?“
„Vorausgesetzt, du gehst mit deinem alten Onkel in eine Disco, dann fahren wir jetzt nach Bochum und schauen deinem Liebsten bei der Arbeit zu! Ich liebe es, wenn andere Leute arbeiten und ich sie beobachten kann.“
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich würde mit dir überall hingehen, dass weißt du! Aber ich weiß leider nicht, in welchem Schuppen er arbeitet.“
Er wusste es nicht? Das war zu viel. Ich konnte nicht anders, ich musste ihm einfach die Wahrheit sagen. „Schatz! Geh‘ mal ins Wohnzimmer. Ich komm gleich nach!“
Ich ging ins Arbeitszimmer, holte die Unterlagen und gab sie ihm zu lesen. Während er las stellte ich ihm einen Cognacschwenken samt Inhalt hin. „Ich glaube, den brauchst du gleich!“
„Das glaub ich nicht! Das kann nicht wahr sein! Das geht es nicht!“ Er war der Verzweiflung nahe.
„Das ist leider die Wahrheit! Dein Sebastian verdient sich seine Kohle als Stricher! Ich kann es auch nicht ändern!“
„Das muss eine Verwechslung sein! Das kann und darf nicht sein!“
„Die Wahrheit ist hart, aber sie bleibt die Wahrheit.“
„Woher weißt du das alles?“ Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, denn wenn ich Offenheit predige, dann musst och auch Offenheit (vor-)leben. Ich schuldete diese brutale Offenheit mir und meinem Neffen.
„Das glaube ich erst, wenn ich es selber sehe, mit eigenen Augen!“
Mir kam eine Idee. Ich ergriff das Telefon und wählte Kais Nummer, den Lautsprecher schaltete ich an, Marvin sollte alles mithören, was gesprochen würde. Nach dem Austausch der üblichen Begrüßungsfloskeln kam ich zum Pudels Kern: Sebastian als Stricher! Wir waren uns sofort einig, er würde Claudio respektive Sebastian postwendend buchen und uns sofort nach erfolgter Absprache binnen Minutenfrist informieren. Wie sollten uns dann sofort auf den Weg machen, um den vermeintlichen Freund in flagranti zu erwischen. Zwar warnte er vor den möglichen Folgen, besonders für Marvin, aber er war sofort bereit, uns aktive Unterstützung zu gewähren.
Nach fünf Minuten klingelte das Telefon und er sagte, die Sache wäre in trockene Tücher gepackt worden. Er gab uns seine Adresse und den Code für die Alarmanlage, damit wir lautlos ins Haus gelangen könnten. Den Weg zu seinem Schlafzimmer, wo er mit seinem Date beschäftigt wäre, beschrieb er auch noch.
Während der ganzen Fahrt nach Dortmund sagte Marvin kein Wort. Er war wie versteinert. Unschlüssig öffneten wir die Haustür und machten uns auf in die erste Etage. Erst als er dort „seinen“ Sebastian in Aktion sah, wie er sich von Kai bearbeiten ließ, schrie er nur: „Du Sau! Ich will ich nie, nie, nie wieder sehen! Du hast unsere Liebe verraten! Verschwinde aus meinem Leben!“ Er zog mich am Arm, wollte von dem Ort des Geschehens fliehen. Wir fuhren nach Hause, die Fahrt verlief schweigend. Mein Amer kleiner großer Neffe!
Der Samstag war ziemlich gespannt. Die Konversation beschränkte sich auf ein Minimum. Ich probiere zwar durch Gesten so eine Art Mitgefühl auszudrücken, aber außer einem stoischen Gesichtsausdruck war keine Reaktion von Seiten meines Kleinen zu vernehmen. Er war verbittert, geschockt. Seine seelischen Schmerzen schienen auf seinen Körper auszustrahlen.
Die ersten Worte wechselten wir wieder beim Frühstück am Sonntagmorgen. Er hatte schlecht geschlafen und sah entsprechend fertig aus. Er hielt sich den Bauch, war lustlos, abgespannt, er machte den Eindruck eines durchgefickten Eichhörnchens. Ich ließ ihn, sie so gut es ging, in Ruhe. AM liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, aber durch diese Erfahrung musste er einfach durch! Anders würde es nicht gehen!
Am Montagmorgen schrie er vor Schmerzen, als er im Bad war. Ohne Anzuklopfen öffnete ich die Tür und ging auf ihn zu. Er stand am Klo und versuchte wohl, Wasser zu lassen. Ohne auf sein Schamgefühl zu achten, ging ich vor ihm in die Knie, nahm den kleinen Marvin in die Hand und betrachte ihn genauer. Der Bonjourtropfen war sichtbar! Scheiße! „Schule fällt heute aus! Wir fahren erst einmal ins Krankenhaus!“
Die Diagnose des Arztes war niederschmetternd. Marvin hatte sich was eingefangen. Medizinisch nannte man die Krankheit, unter der er litt, einfach Gonorrhoe, besser bekannt als Tripper. Wer ihn angesteckt hatte, stand wohl außer Frage.
Tja, lieber Leser, das waren die schwärzesten Tage im Leben meines Neffen. Er hatte seinen ersten Liebhaber verloren, den Mann, dem er seine „Jungfräulichkeit“ schenken wollte. Das größte Geschenk, was man einem Menschen machen kann. Und dieser Typ war auch noch für seine erste Geschlechtskrankheit verantwortlich. In dieser düsteren Stimmung, in der sich Marvin nun einmal befand, sollten wir seinen 17. Geburtstag feiern? Das kann ja nicht gut gehen! An alle Leser eine Bitte: Achtet bei der Wahl unserer Bettgenossen auch auf deren Vorgeschichte, ich will nicht, dass ihr das gleiche erlebt!
Falls jemand wissen möchte, wie ich Marvin wieder ins normale Leben zurückgeführt habe, der soll sich bitte melden! Nach der schriftlichen Fixierung der schwarzen Tage werde ich mich erst einmal mit einer Flasche Rotwein zurückziehen. Es liegt an euch, ob ich weiterschreiben soll! Wenn ich an sein Leiden denke, könnte ich nur kotzen!