„… es ist alles noch so neu…, ich war bisher immer auf mich alleine gestellt… ich muss mich erst daran gewöhnen, … dass da jemand…“
„…ist, der dich liebt und dir zur Seite steht!“, beendete ich seinen Satz.
Sein Kopf nickt fast unerkennbar. Ich drückte sein Kinn leicht nach oben, aber sein Blick wanderte abermals von mir weg. Ich gab ihm einen Kuss.
„Levi, es verlangt niemand von dir, dass du dich veränderst…, aber du hast jetzt mich an deiner Seite und du solltest versuchen, mich mit einzubeziehen… in deine Welt… in dein Leben.“
Immer noch liefen Tränen ungehindert über seine Wangen. Vorsichtig versuchte ich sie wegzuwischen.
„Du willst mich… wirklich nicht verlassen…?“
Ich sagte nichts darauf und gab ihm einfach noch einen Kuss.
„Ich liebe dich Levi Scott! Wie könnte ich dich da verlassen?“
„Ich liebe dich auch Marcus…!“
Erneut fanden sich unsere Münder zu einem Kuss. Sein Zittern war zwar noch da, aber er schien wieder im Stande zu sein, alleine zu stehen. Ich entließ ihn, aus meiner Umarmung und griff nach seiner Hand.
„Warum hast du mich gerade hier her gebracht?“
Er schaute sich um, dann wieder zu mir.
„Ich… ich weiß nicht recht, vielleicht, weil früher Mum oft mir hier her gegangen ist.“
„Du vermisst sie…!“
„Unsagbar…! Gerade jetzt. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht am sie denke.“
Ohne etwas zu sagen, zog ich ihn auf den Weg, der in den Park führte. Ich hörte ihm einfach zu. Er hob die Hand und schloss den Wagen, der dies mit einem Blinken quittierte.
„Sie war nicht einfach nur Mum für mich…, sondern auch eine gute Freundin, mit der ich mich über alles unterhalten konnte.“
Das erinnerte mich an meine Zeit mit Mum, bei ihr war es genauso.
„… mit deinem Dad auch?“
„Dad hat viel gearbeitet… und wenig Zeit. Abends, oder an den Wochenenden, nahm er sich Zeit für mich.“
„Das fehlt dir…“,
„Naja… schon irgendwie, aber nach dem die Zwillinge auf die Welt kamen, hat sich unser Leben eh verändert. Nicht das die beiden sich weniger um mich kümmerten, sie hatten einfach weniger Zeit.“
„Warst du auf die Zwillinge neidisch?“
„Nein!“
„Bist du dir sicher?“
„Schon, denn Mum und Dad bezogen mich von Anfang an mit ein. Sogar Windeln musste ich wechseln.“
Ich lächelte, weil sich mein Kopfkino verselbstständigte.
„Wir waren eine große tolle Familie, bis zu dem… Unfall…“
Levi schwieg kurz und starrte dabei auf den Weg vor uns.
„… ich kann mich noch gut daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Die Zwillinge schliefen schon und ich lag in meinem Bett und lernte noch fürs Studium. Es klopfte an meiner Zimmertür und ich dachte eigentlich, Mum kommt noch gute Nacht sagen, aber es war Tante Vanessa, die mein Zimmer betrat.“
Noch immer hielt ich seine Hand und strich sanft mit dem Daumen über seinen Handrücken.
„Bevor ich sie noch etwas sagen konnte, sah ich an ihren Augen, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste…“
Wie alt warst du da?“
„Achtzehn… die Zwillinge acht.“
Also war der Unfall acht Jahre her.
„… und deine Großeltern…, waren sie auch da?“, fragte ich leise.
Er schaute kurz zu mir.
„Granny Grace, Mums Mutter, war mit Tante Vanessa gekommen…“
So hatte er nur noch Vanessa als Verbündete. Eigentlich hatte ich nach den anderen Großeltern gefragt, aber ich wollte nicht weiter fragen. Schon jetzt fiel ihm das Sprechen schwer.
„… Vaters Eltern ließen sich erst am nächsten Morgen blicken.“
Na sauber! Dieser Mann wurde mir immer unsympathischer. Levi drückte meine Hand etwas fester und hatte so wieder meine volle Aufmerksamkeit. Er war stehen geblieben und schaute mich an.
„Ich denke, ich weiß was du denkst. Leider muss ich sagen, dass dort mein Großvater zum ersten Mal sein wahres Gesicht gezeigt hatte.“
„Wie meinst du das?“
Wir liefen weiter.
„Ich kann mich nicht erinnern, wer da alles da war, hauptsächlich Leute auf der Firma und Freunde meiner Eltern, die irgendwie helfen wollten… naja, auf alle Fälle standen da plötzlich Großvater und Granny im Zimmer.“
„Wie haben das Ella und Noah aufgenommen?“
„Ich denke wie ich, konnten sie gar nicht richtig erfassen, was da geschehen war. Richtig schlimm wurde es, als Großvater anfing, die Leute anzuherrschen, sie hätten hier nichts verloren und sollen gehen.
„Was passierte dann?“
„Es gab natürlich einen großen Krach. Granny Frida und Tante Vanessa stellten sich auf die Seite der anderen und es fielen unschöne Worte. Das war auch der Zeitpunkt, wo Noah plötzlich durchdrehte und wild um sich schlug und trat. Ich höre heute noch seine Schreie.“
Oh Gott, was hatte Levi alles durchmachen müssen?
„Seit dem hat er Angst vor Fremden und redet auch nicht mehr mit ihnen.“
„… und da komm ich daher und Noah redet plötzlich…!“
Ich wollte die Stimmung etwas auflockern und es gelang mir auch, denn auf Levis Gesicht machte sich ein Lächeln breit.
„Stimmt! Als du an mir vorbei in die Küche liefst, wollte ich dich schon hinaus schmeißen, aber als ich hörte, das Noah von sich aus mit dir sprach… und den Rest weißt du ja selbst.“
Ich zog ihn zu mir heran und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„… entschuldige, ich habe dich einfach unterbrochen… möchtest du noch weiter erzählen?“
Levi nickte.
„Was danach geschah, habe ich nur noch halb mitbekommen, weil ich Noah versuchte festzuhalten und zu beruhigen. Anscheinend haben Vaters Mitarbeiter Großvater vor die Tür gesetzt.“
„Sie haben ihn rausgeworfen?“, fragte ich erstaunt.
„Nachdem er ihnen angedroht hatte, ihnen alle zu kündigen, waren sie wohl richtig sauer.“
„Und deine Großmutter…?“
„Ich habe gesehen, wie sie Granny Frida und meine weinende Großmutter sich die Hände schüttelten, danach ist sie ebenso gegangen, ohne etwas zu mir gesprochen zu haben.“
Die Bäume um uns herum lichteten sich und nun konnte ich auch wieder die Brooklyn Bridge sehen. Levi zog mich Richtung Rasen.
„Danach habe ich Großvater erst wieder vor Gericht gesehen…“, sprach Levi plötzlich weiter.
„Was? Er hat sich nicht einmal blicken lassen?“
Levi schüttelte den Kopf.
„… und wäre Tante Vanessa mir nicht zur Seite gestanden, ich wäre ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Sie kümmerte sich um alles, um einen Anwalt, der mich vertrat…“
„Dich?“
„Ja, nachdem das Testament bekannt war, bekam ich eine Vorladung vom Gericht. Wie du ja schon weißt, wollte er das Sorgerecht für Ella und die Firma…“
Ich schüttelte den Kopf, weil ich nichts darauf sagen konnte. Wie konnte man nur so herzlos sein? Levi stoppte plötzlich und ließ sich einfach auf der Wiese nieder. Ich folgte seinem Beispiel und setzte mich ihm gegenüber.
„Aber Gott sei Dank, ist er damit nicht durchgekommen, aber aufgegeben hat er wohl nie, wie du selbst schon gemerkt hast.“
„Wie hast du das alles ertragen? Erst deine Eltern verloren und dann dieser Streit mit deinem Großvater?“
„Kann ich dir nicht sagen…, ich funktionierte einfach. Ich versuchte mich mit Granny Frida um die Zwillinge zu kümmern und nebenbei versuchte ich mich, als neuer Chef in der Firma einzuarbeiten.“
„… ähm… du warst erst achtzehn und was war mit deinem Studium?“
„… unterbrochen, die Firma und meine Geschwister waren mir da wichtiger! Und bevor du fragst, ich habe mein Diplom in Betriebswirtschaft in einem Abendstudium nachgeholt.“
Wieder schüttelte ich fassungslos meinen Kopf.
„Seit dem kämpfe ich mich so einigermaßen durch, alles unter einen Hut zu kriegen…, naja, bis du aufgetaucht bist…“
Ich musste grinsen.
„Das hört sich gerade so an, als hätte ich deine gesamte Welt über den Haufen geworfen.“
Levi grinste nun auch.
„Hast du ja auch! Da kommt dieser große, sympathische und gutaussehende Mann da her und stellt mein Leben auf den Kopf!“
„Jetzt übertreib nicht!“
„Wieso übertreiben, du siehst gut aus!“, lächelte er mich an.
Mir trieb es tatsächlich Röte in mein Gesicht. Levi fing an zu lachen und ließ sich nach hinten fallen. Ich krabbelte neben ihn und legte mich dazu. So lagen wir eine ganze Zeit einfach nur da. Händchen haltend schauten wir in den Himmel.
„Du weißt schon, dass das alles ein Ende haben muss!“
Während ich das sagte, drehte sich mein Kopf zu ihm.
„Schon, aber wie?“
Auch er drehte den Kopf und schaute mich an.
„Mit ihm zu reden, ist keine Option, du hast selbst gehört, dass wir uns immer wieder in die Haare kriegen. Nur wegen Geld uns Geschwister zu trennen und die Firma zu verscherbeln? Ich verstehe diese Denkweise nicht!“
„Ich denke, dass versteht niemand. Ich glaube, wenn du ihn auf Unzurechnungsfähigkeit untersuchen lassen würdest, würdest du Recht bekommen.“
„Glaubst du wirklich? Soll ich das machen?“
„Quatsch Levi! Dann wärst du nicht besser, als dein Großvater!“
Mein Blick wanderte wieder zum Himmel.
*-*-*
Es war später Mittag, als wir wieder am Haus eintrafen. Die Haustür stand offen und von oben konnte man leichten Baulärm hören. Der Flur war leer, so öffnete ich die Tür zur Küche, aber auch hier war niemand.
Das gleiche Spiel mit dem Wohnzimmer. Levi schaute zu mir und schüttelte den Kopf. Dann hörten wir Gelächter vom Garten. Beide liefen wir nach hinten und Levi öffnete die Tür. Der gleiche Ort, wie am Morgen, nur das Aussehen hatte sich geändert.
Verschwunden war das hohe Gras, die Büsche zurück geschnitten. Mittendrin auf einer Decke saßen Noah, Mum und Vanessa.
„Leviiii“, rief Noah, als er uns bemerkte.
Er sprang auf, lief zu Levi und fiel ihm um den Hals. Mum und Vanessa lächelten mich an.
„Komm!“, hörte ich Noah sagen und schon wurde Levi Richtung Decke gezogen. Ich folgte den beiden.
„Alles in Ordnung?“, fragte nun Vanessa.
Levi und ich nickten fast gleichzeitig.
„Ähm…, was ist hier geschehen?“, fragte mein Schatz verwundert.
Noah ließ sich wieder auf die Decke nieder.
„Eine Idee deines Bruders, er wollte dir eine Freude machen, weil du heute Morgen so traurig warst“, erklärte Vanessa.
„Noah?“
„Ja, er hat wohl Michael bekniet, ihm zu helfen, den Garten etwas in Ordnung zu bringen“, antwortete nun Mum, „und wie du siehst, Michael hat es möglich gemacht. Die Firma ist vor einer halben Stunde verschwunden.“
Levi ging neben seinem Bruder auf die Knie und wuschelte ihm durch die Haare.
„Danke mein Großer!“, meinte er und drückte Noah einen Kuss auf die Wange.
Auch ich ließ mich nieder, direkt neben meiner Mutter.
„Wolltet ihr nicht einkaufen gehen?“, fragte ich leise.
„Das haben wir verschoben, dies hier schien uns wichtiger“, antworte Mum ebenso leise.
Mein Blick wanderte durch den Garten. Ich war verwundert, was so ein Grundschnitt aller Dinge, die Dimensionen ändern konnte. Auf einmal wirkte alles größer. Die Wanderung meiner Augen endete an der Hütte. Sie wirkte wie ein Fremdkörper.
„Die können wir vergessen, die ist hinüber“, sagte Mum, die wohl meinem Blick gefolgt war.
„Eigentlich schade, einer schöner Platz um sich abends davor zu setzten.“
„Hast du das alles gemalt?“, hörte ich Levi fragen und lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Brüder.
Auf der Decke lagen verstreut verschiedene Zeichnungen vom Garten und der Hütte.
„Ja, Tante Vanessa und Tante Nora haben mir geholfen.“
Die Bilder erinnerten mich eher an einen Landschaftsarchitekten, als an einen behinderten fünfzehn Jährigen.
„… und so soll die neue Hütte aussehen?“, fragte Levi.
„… oder so, oder so, oder so!“, antworte Noah und zeigte dabei auf verschiedene Zeichnungen.
Fassungslos schüttelte Levi den Kopf.
„Wir dachten uns, wo doch Noah und Ella bald Geburtstag haben“, begann Vanessa zu reden, „hier hinten vielleicht eine kleine Grillfeier zu machen.“
„Eine tolle Idee, aber sollte der Garten nicht noch mehr hergerichtet werden?“, wollte Levi wissen.
„Das haben wir alles schon in die Wege gleitet“, kam es nun von Mum.
„Ähm…?“, fragend schaute ich sie an.
„Onkel Oliver hilft mir!“, sagte nun Noah.
„Oliver…, dir?“, entfleuchte es mir und Levi fast gleichzeitig.
Alle drei nickten uns grinsend zu.
„Du weißt gar nicht, wie überzeugend dein kleiner Bruder sein kann“, grinste Vanessa.
„Das muss ich jetzt nicht verstehen“, meinte ich leicht gefrustet.
„Michael hat deinen Bruder um Hilfe gebeten, als es um die Gartenfirma ging. Er hat ja mit dem Dachausbau genug um die Ohren. Da hat sich Noah einfach sich das Handy geschnappt und mit Oliver geredet.“
„Noah hat was?“, fragte Levi entsetzt.