04. Türchen – Samtpfote und Engelshaar

Er kam mit den anderen den gleichen Weg herunter, den ich zuvor mit den anderen gekommen war. Umringt von anderen Schülern, befand er sich in reger Unterhaltung.

„Ich habe Hunger“, meinte Claire, „lasst uns endlich ans Buffet.“

„Irgendwann bekomm ich das noch heraus, Claire“, meldete sich Nadine zu Wort, „wie du so viel essen kannst und trotzdem so schlank bleibst.“

Tilly grinste.

„Du bist ja nur neidisch“, kam es von Claire und lief modelartig zu den anderen hinunter.

„Vorsicht…, Mister ach-bin-ich-heute-schön ist im Anflug“, sagte Fine und setzte sich ebenso in Bewegung.

Ein kurzer Blick der anderen und auch sie folgten Fine. Wen meinte sie jetzt? Nadine hängte sich bei mir ein.

„Komm Jens, du musst unbedingt die köstlichen Salate von Frau Kirschen probieren“, sagte sie und zog mich mit sich.

„Hallo Jens, wie sehe, hast du schon einige kennen gelernt“, meinte Jonas, „Frau Kirschen, dass ist Jens Marek, wohnt auf vierundzwanzig und ab heute neuer Schüler hier im Internat.

„Hallo Jens…“

Sie hob mir die Hand entgegen und schüttelte meine.

„Muss ich bei dir etwas beachten?“

„Bitte?“, fragte ich verwundert.

„Sie meint, ob du Vegetarier bist oder eine Allergie hast“, erklärte mir Jonas.

„Ach so, nein, ich esse eigentlich alles…“, erwiderte ich.

„Gut, denn Extrasüppchen, werden hier schon genug gekocht“, sagte Frau Kirschen und wandte sich wieder ihrem Buffet zu.

Nadine zog mich einfach weiter und ich konnte die ganzen Salate bestaunen, die da auf dem Tisch ausgebreitet standen.

„Wunder dich nicht über ihren Ton, Jens. Frau Kirschen ist immer etwas strof, wirkt ab und zu etwas abweisend, aber sie ist eigentlich eine herzensgute Dame“, flüsterte Nadine mir zu.

„So alle mal her hören“, meldete sich Herr Sönker zu Wort, um sich gehör zu verschaffen.

Augenblick wurde alles still und drehte sich zum Direx.

„Ich freue mich, dass ihr alle wieder wohlbehalten zurück gekehrt seid, ab Montag beginnt die Schule wieder.“

Ein leises Raunen ging durch die Menge.

„Aber morgen… Sonntag habt ihr alle noch frei. Wer in den Gottesdienst möchte, trägt sich bei Jonas später in die Liste ein. Ansonsten wünsch ich euch noch einen schönen Abend und einen guten Appetit.

Es wurde geklatscht, gepfiffen und gejohlt.

*-*-*

„Um hier ungestört herum zu laufen und alles anzuschauen“, antwortete…, ich wusste nicht mal wie sie hieß.

 

„Mein Name ist Mika und wie heißt du?“, fragte ich höflich.

 

„Cleo werde ich gerufen.“

 

„Und was willst du mir zeigen?“

 

„Das interessanteste… wo es Futter gibt.“

 

„Aber Herrchen gibt mir doch Futter.“

 

„Ach der, wenn du mal sonst Hunger hast, zeige ich dir, wo du etwas zu Essen bekommst.“

 

„Hört sich gut an“, meinte ich und folgte Cleo durch die Klappe auf den Flur.

*-*-*

Ich musste Frau Kirschen unbedingt nach den Rezepten fragen, die Salate schmecken einfach köstlich.

„Greif ruhig zu Junge, das etwas aus dir wird!“, sagte die Kirschen.

„Nichts bin ich schon…, kenne ich schon, dass hat mein Erzeuger auch immer gesagt“, erwiderte ich und schaufelte mir noch einen Löffel Nudelsalat auf den Teller.

„Oh, entschuldige. So war das nicht gemeint“, sagte Frau Kirschen.

Neben mir wurde es ruhig und ich zog viele Blicke auf mich.

„Kein Problem. Meine Mutter hat sich von meinem Erzeuger scheiden lassen, seitdem habe ich keinen Kontakt mit ihm… und den Spruch von ihnen habe ich auch nicht so aufgefasst. Übrigens, ihre Salate schmecken super!“

„… hm… danke.“

Ich lief mit meinem Teller wieder zu meinem Platz. Fine und die anderen starrten mich an.

„Eins zu null für dich.“

Verwundert setzte ich mich.

„Was ist denn?“

„Du bist der erste, der es fertig gebracht hat, Frau Kirschen sprachlos zu machen“, erklärte Tilly.

Wie meinst du das?“, fragte ich.

„Ganz einfach“, mischte sich Claire ein, „Frau Kirschen weiß auf alles eine Antwort… sie hat immer das letzte Wort.“

„Wieso, das hatte sie doch jetzt auch“, erwiderte ich und schob mir eine Gabel Salat in den Mund.

„Aber doch nicht so…“, meinte Fine.

„Habe ich etwas Falsch gemacht?“

„Nein sicher nicht, mach dir keine Sorgen“, kam es von Nadine, „aber ich denke du hast jetzt schon bei ihr ein Stein im Brett.“

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

„Will noch jemand ein Würstchen?“, fragte Jonas, der an unseren Tisch trat.

„Nein, ich bin pappsatt“, meinte Tilly und rieb seinen nicht vorhandenen Bauch.

„Geht mir nicht anders“, kam es von den Mädels.

„Jens?“

Ich schüttelte den Kopf, weil ich gerade den Mund voll hatte. So lief Jonas weiter. Ich schaute mich um. Irgendetwas fehlte hier. Mir war es die ganze Zeit aufgefallen, aber jetzt, wo ich die vielen Schüler um mich herum sah…

„Wo sind eigentlich die Lehrer?“, fragte ich.

„Wieso? Hast du so Sehnsucht nach dem Unterricht?“, fragte Tilly.

„Nein, mir fällt nur gerade auf, dass ich noch keine Lehrer gesehen habe.“

„Das liegt daran, dass die nicht hier wohnen und nur von Montags bis Freitag im Haus sind“, erklärte Fine, „Direx Sönker, Frau Kirschen und Jonas wohnen hier, auch unsere Hausdame, Frau Köbel.“

„Hausdame?“, fragte ich.

„Ja, die sorgt mit Jonas dafür, dass der Laden läuft und ist eine gute Anlaufstelle für uns, denn sie hat wie Jonas immer ein offenes Ohr für uns“, antwortete Fine.

„Wird noch eine Weile dauern, bis ich hier alles verstehe.“

„Kein Problem, das ging uns hier alles so, als wir neu ankamen.“

Am Nachbartisch wurde laut gelacht und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ohne, dass ich es bemerkt hatte, saß dort der Junge, der mir schon auf dem Parkplatz aufgefallen war.

„Kai erzählt wieder Geschichten“, sagte Tilly abfällig.

„Lass ihn doch…, er kann nichts anderes“, entgegnete Nadine.

„Wer ist das?“, fragte ich und alle Blicke waren wieder bei mir.

„Kai Grüners“, erklärte Nadine, „von Beruf Sohn. Hat vor unserem Internat eine Modellschule besucht… na ja, weiter brauch ich wohl nicht zu erklären.“

„Sehr oberflächlich, vereinnahmend und höchst eingebildet! Hast du vergessen“, fügte Tilly hinzu.

„Tilly…, lass es bitte. Du weißt es gibt doch wieder nur Ärger.“

Tilly senkte den Blick. Ich verstand nicht, traute mich aber nicht weiter nachzufragen. Irgendwie war jetzt eine blöde Stimmung am Tisch. Jeder schaute betreten drein. Ich atmete tief durch.

„Auch… wenn ich mir jetzt keine Freunde mache… hm… könntet ihr mir etwas über die Schule erzählen?“, fragte ich vorsichtig.

Böse war irgendwie keiner, auch kam keine dumme Bemerkung. Nach einander erzählte jeder etwas über die Schule, den Lehrstoff. Auch die verschiedenen Lehrer, die ich noch kennen lernen sollte, wurde mir teilweise detailliert berichtet.

„Und welche Sonderkurs möchtest du belegen?“, fragte Nadine.

„Sonderkurs?“, fragte ich erstaunt.

„Ja, jeder hier hat ein Interessengebiet, in dem er einen Kurs belegt.“

„Und… und was gibt es da so?“

„Uffz…“, mischte sich Tilly ein, „eine ganze Menge. Ich habe zum Beispiel Sport… Nadine klar ihre Schülerzeitung Claire und Fine sind bei den Handwerkern.“

Verblüfft schaute ich die beiden an.

„Sag jetzt bloß nichts Falsches!“, zischte Claire, aber grinste gleich wieder.

Ich schüttelte abwehrend und gespielt die Hände vor mir.

„Und welche Interessen hast du?“, fragte Fine.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Also es muss doch etwas geben… Sport, Musik… Theater… etwas Handwerkliches.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Hast du zu Hause keine Hobbies, denen du nachgegangen bist?“, fragte Nadine verwundert.

Wieder atmete ich tief durch.

„Eigentlich… nein. Ich bin so… eher der Einzelgänger und war nur zu Hause“ sagte ich schweren Herzens.

„Nichts?“, hakte Fine nach.

„Na ja… aber… ach ich weiß auch nicht.“

„WAS?“, fragte Fine.

„Ich koche sehr gerne.“

Alles fing an zu lachen und ich bereute es schon, es erzählt zu haben. Mein Gesicht musste Bände erzählen.

„HE, keine Sorge, wir lachen dich nicht aus“, sagte Fine, „aber einen Koch hatten wir hier noch nicht. Da muss ich mal mit der Köbel reden, ob man da nicht einen Kurs neu erfinden könnte.“

„Sieht man dir gar nicht an“, sprach Tilly und piekte mir in die Seite.

Großer Fehler! Ich fuhr zusammen und ließ einen Schrei, so dass jeder am Tisch zusammen fuhr und die Nachbartische auf uns aufmerksam wurden. Nun ging erst recht das Gelächter an unserem Tisch los und ich konnte nicht anders und stimmte mit ein.

*-*-*

Später, als alles verräumt waren, sich alle auf ihr Zimmer zurück gezogen hatten, ging ich noch einmal nach draußen. Ich hatte den Kragen tief ins Gesicht gezogen und lief noch eine Runde um das Haus.

Die Stille hier draußen gefiel mir. Kein Autolärm, wie in der Stadt. Während ich da so lief und im Gedanken versunken war, hörte ich Geräusche. Erst konnte ich nicht ausmachen, was es war, aber stellte schnell fest, dass da jemand angelaufen war.

Die Dunkelheit tat ihr bestes um mir die Sicht zu verwehren. So konnte ich nur hören, wie die Laufschritte auf mich zu kamen. Im Schein der Parklampe, auf die ich mich zu bewegte, konnte ich dann erkennen, dass es Kai war, der hier alleine zu joggen schien.

Als er fast in meiner Höhe war, verringerte er das Tempo.

„Hi!“, sagte ich.

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