Einleitung
„Hallo, lieber Leser. Ich bin Dorkas, hauptberuflich als Student und Überlebenskünstler tätig. Hier im Norden ist wieder dieses Schmuddelwetter, hier auch Schietwetter genannt, und niemand bekommt mich jetzt hinaus. Die Gelegenheit, um an meinen persönlichen Aufzeichnungen weiter zuarbeiten.
Hinweis: Die Geschichte beinhaltet brutale Gewalt. Wer damit nicht umgehen kann, sollte sich lieber anderen Geschichten zuwenden.
Wichtige Personen:
- Dorkas Hauptperson
- Oscar bester Freund
- Amir Mitschüler
- Abdul Aufpasser
- Jeremy Freund
Falls Du Interesse hast, ein Stück aus meiner Lebensgeschichte zu erfahren, bist Du hier genau richtig. Ich bin mit meinen 21 Jahren eigentlich noch nicht so alt, um bereits meine Memoiren zu schreiben – trotzdem habe ich schon eine Menge erleben können, und mir ist es wichtig, dass Du davon einiges erfährst. Ich gebe ja zu, dass das Geschriebene nicht immer unbedingt ganz der Wahrheit entspricht, denn ich habe mir aus Vorsicht eine gewisse „Verschleierung“ erlaubt, um verschiedene Personen zu schützen. Das Leben ist halt manchmal sehr gefährlich…
Also glaub mir oder auch nicht, doch im Kernbereich hat sich alles so zugetragen, wie von mir berichtet. Ich schenke mir nur noch ein wenig von dem heißen schwarzen Tee nach, dann werde ich den großen Flachbildschirm mit dem Notebook verbinden und diesen zu Dir hin drehen, damit Du hoffentlich gut mitlesen kannst. Viel Spaß dabei!“
Etwa vier Jahre zuvor
„Dorkas! Du bist spätestens um Sieben wieder zurück, dein Vater und Großvater möchten mit dir was Wichtiges besprechen! Hast Du das verstanden?!“
„Kein Problem, Mutti. Ich will nur noch mal kurz zu Oscar rüber.“
Oscar ist mein bester Freund, und für mich fast wie ein Bruder. Wo er ist, bin auch ich, in der Schule sitzen wir zusammen. Wir sind uns auch ziemlich ähnlich, was das Aussehen und die Interessen anbelangt. Na ja, so was Besonderes in der Erscheinung sind wir ja eher nicht, mehr so durchschnittlich: Er ist 1,77 groß, ich 1,76, und jeder bringt um die 70 Kilo auf die Waage. Beide haben wie braune, etwas längere Haare, auch unsere Augen erstrahlen in dem Farbton. Von Muskelpaketen und athletischer Figur ist an uns keine Spur, aber an diesen männlichen Attributen liegt uns ziemlich wenig. Wir halten anderes erstrebenswerter: Tolle Gitarrenriffs spielen können, schnelle Solos, packende Rhythmen.
Auch wenn Oskar bestimmt nicht der schönste Junge der Welt ist – für mich ist er der beste Gitarrist der ganzen Gegend. Und ich spiele den Bass. Welche Richtung wir eigentlich spielen wollen, darüber streiten wir oft. Klar ist aber, dass wir berühmt werden wollen. Wir, dazu zählt noch unserer Schlagzeuger, haben sogar schon einige Stücke selbst komponiert und diese in der Schule allen vorgetragen. Die positive Resonanz hat uns sehr überrascht und bewirkt, dass wir seitdem wie die Besessenen üben. Vernünftiger wäre es ja, die Zeit zum Lernen für die Schule zu verwenden, denn bald schon stehen abschließende Prüfungen an, nur so richtig Lust dazu haben wir nicht. Wozu auch für die Schule lernen – denn ob wir ein gutes oder schlechtes Zeugnis bekommen, Arbeit gibt es für uns soundso nicht. Und um weit entfernt zu einer Arbeit zu gelangen, dazu ist es viel zu gefährlich auf den Straßen, auch durch die ganzen Kontrollposten und Sperren nahezu unmöglich. Bliebe ja noch, an der örtlichen Universität zu studieren, aber das ist nicht umsonst und leider sieht es mit Geld bei uns nicht mehr so gut aus.
Die 50m die Straße am Tigris entlang gelaufen, dann kann ich bereits das Eingangstor vom Grundstück meines Freundes sehen. Und auch den Militärposten an der Tigrisbrücke. … Ich erzähle Dir jetzt mal was (aber bitte ja nicht weiter sagen, sonst gibt es für uns mächtigen Ärger). Bei einer Hausdurchsuchung hat einer von den Soldaten hoch interessiert unsere Instrumente gesehen. Und seitdem kommt der uns immer mal wieder „kontrollieren“. Jeremy, so heißt er, spielt selbst in einer Band, und sehnst sich sehr nach seinen Freunden, fern daheim. Dass er die Gelegenheit hat, bei uns ab und zu mal reinschauen zu können, versüßt ihn seine ungeliebte Aufgabe hier etwas. Und Oscar hat schon viel von ihm gelernt. Ist schon sehr schade, dass wir irgendwie auf anderen Seiten stehen, denn gern wären wir richtige Freunde, so mit allem drum und dran, und nicht nur ganz heimlich. … Als ich eben am Tor klopfen will, höre ich ziemlich laut und aufgebracht die Stimme von Oskar. „Nein! Das könnt ihr total vergessen! Niemals werde ich…“ Dann folgt ein lautes Klatschen, und das wütende Geschimpfe von Oskars Vater. Und ich höre Oskar weinen.
Niemals hat irgendjemand aus unseren Familien Oskar oder mich geschlagen! Aufgeregt klopfe und rüttle ich am Tor, rufe, immer lauter werdend, doch niemand öffnet. Was ist denn hier los? Mir bleibt nichts weiter übrig, als umzukehren. Nun doch sehr schlecht gelaunt und auch reichlich durcheinander, nehme ich den Weg unten direkt am Flussufer entlang und setze mich, vor Blicken gut geschützt, an die Böschung. Hierher gehe ich immer dann, wenn ich nachdenken muss, und auch, um mal alleine zu sein. Einfach nur großer Mist, das alles. Wieso nur musste dieser verdammte Krieg kommen und mein Leben so durcheinander bringen…
Seit etwa einem Jahr gibt es täglich mehr Stress. Eigentlich ging es uns vorher recht gut, wirkliche Sorgen kannte ich keine, und für Politik und diesen ganzen Kram habe ich mich bisher nicht interessiert. Ich war mir sicher, dass ich später auf die Uni gehen werde, und alles danach lag noch ganz außerhalb meiner Vorstellungen, und jetzt… bestimmt viele Lichtjahre entfernt. Was nur mit Oskar ist, hoffentlich können wir morgen wieder wie gewohnt proben. Die Knie hochgezogen, den Rücken an die Böschung gelehnt, beobachte ich den spärlichen Bootsverkehr. Auffallend sind die vielen halb versunkenen Schiffswracks. Auch der alte Lastkahn meines Onkels liegt dort, nachdem er von einer Granate getroffen wurde.
Nun ist er nur noch gut geeignet als Plattform zum Baden und ins Wasser Springen, aber die dadurch fehlenden Einkünfte belasten unsere Familie sehr, auch wenn meine Eltern wirklich alles tun, damit es mir und meinen vier Geschwistern an nichts fehlt. Mein Vater hat sich in letzter Zeit sehr verändert, redet kaum noch, und seine Stirn zeigt Sorgenfalten im Dauerzustand. Haben wir über Jahre abends immer gut und reichlich zusammen essen können, wobei es oft sehr lustig zuging, bitten jetzt meine kleinen Geschwister meist vergebens um Nachschlag nach dem kargen Hauptgericht.
Meinen Kopf auf die verschränkten Arme über den Knien gesenkt, die Augen geschlossen, lasse ich die Umgebungsgeräusche auf mich wirken. Das Plätschern des Wassers und die ansonsten stille und friedliche Atmosphäre hier beruhigt mich, und ich genieße es. Ist ja auch schon eher selten, dass nicht zu mindestens aus der Ferne keine nervenden Schüsse oder Explosionen zu hören sind. Nach wohl einer halben Stunde verlasse ich den Ort, um rechtzeitig zuhause zu sein.
In gespannter Erwartung des angekündigten Gespräches gehe ich eilig durch den begrünten Innenhof auf unserem Grundstück. Schon aus dieser Entfernung ist ein angenehmer Duft aus der Küche wahrzunehmen, der mir verrät, dass das Abendessen heute bestimmt sehr lecker wird. Prima, so mitten in der Woche ist das eher selten, und überhaupt… Mir neugierig alle Gesichter anschauend, betrete ich unser großes Wohnzimmer, begrüße alle Anwesenden ordentlich nach der Sitte, also aufmerksam und nicht nur so schnell und unpersönlich, mit jedem einige Worte austauschend. Fast alle Verwandten aus der Stadt und näheren Umgebung sind gekommen, und sie haben sich viel zu erzählen.
Mir fällt auf, dass mir viel Aufmerksamkeit entgegen gebracht wird, die sich in einer Unzahl von zusätzlichen Wangenküssen, Schulterklopfungen und Umarmungen äußert, aber auch in Blicken, die mir immer mal wieder gewidmet werden. Leute, ist ja gut, womit habe ich das denn jetzt verdient? Schnell habe ich mich auf meine angestammte Sitzgelegenheit verdrückt, und muss mich mal wieder mächtig zusammen reißen, um nicht blitzartig über das bereit stehende Essen herzufallen. Mir entgehen aber nicht die Kontrollblicke meiner Mutter, auch nicht die meiner kleinen Geschwister, die sofort auch zu essen anfangen würden… Nach mir unendlich vorkommenden Minuten haben endlich alle ihre Plätze an der Tafel eingenommen, die einleitenden Worte für das Mahl überhöre ich wie immer. Ein Räuspern meines Großvaters fordert schon nach kurzer Zeit unsere Aufmerksamkeit und unterbricht das Essen. Gut, mein gröbster Hunger ist gestillt, so lehne ich mich entspannt und zufrieden zurück, schaue auf seinen grauen Bart, der aufgeregt hin und her wippt. Mit langsam gesetzten Worten beginnt die schon gewohnte obligatorische Rede zum allgemeinen Zustand der Familie, ihren Freuden und auch ihren Sorgen und Problemen.
„Liebe Familie… Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid. Warum ich euch heute her gebeten habe, nun ja, entschuldigt, aber mir fallen die Worte jetzt sehr schwer, und ich habe lange überlegt, ob das, was ich euch jetzt erzähle, wirklich so sein muss, nur dieser verdammte Krieg mit all seinen Auswirkungen lässt uns keine andere Wahl. Ich möchte ja nur, dass es euch gut geht und ihr nicht zu Schaden kommt, und es ist auch meine Pflicht, für euer Wohl alles Notwendige einzuleiten. Nun, leider wird die Schule von Dorkas vorläufig geschlossen, es sind ja kaum noch Lehrer nach geblieben, nur die Grundschule kann fortbestehen. Das ist schon schlimm genug, aber ich wurde bereits mehrfach und bisher recht freundlich darauf hingewiesen, dass auch unsere Familie ihren Beitrag zum Widerstand bringen muss…
Kurz gesagt, sie wollen Dorkas, und wenn nötig, holen sie ihn mit Gewalt! Und ich kann mich nicht mehr rausreden, dass er doch noch erst noch seinen Abschluss fertig machen muss! Ich möchte aber nicht, dass mein Enkel als lebende Bombe oder sonst wie benutzt wird, um sinnlos geopfert zu werden in einen Kampf, der nicht unser ist. Er soll Leben und vielleicht später mal meine Stelle einnehmen können… Wir haben nun einen Weg gefunden, der uns aus der Misere helfen könnte. Dorkas muss uns für eine gewisse Zeit verlassen, bis die Lage für ihn hier wieder günstiger wird.
Er wird ins Ausland arbeiten gehen, kann so auch die Familie mit Geld unterstützen, welches wir dringend brauchen, damit die Kleinen weiterhin in die Schule gehen können und was zu essen haben. Also, man hat uns ein sehr gutes Angebot gemacht, und bereits einen großen Vorschuss auf seinen Lohn gezahlt. Dorkas wird diese Schulden abarbeiten und sich sein Brot selbst verdienen müssen. Vielleicht kann er ja später mal studieren… Dorkas, es tut mir wirklich sehr leid, aber Du musst schon morgen früh aufbrechen, sonst wird man dich holen und du bist für immer verloren! Und ich würde dann nicht mehr leben wollen… Dorkas, ich habe dich doch so lieb!“ Meine kleinen Brüder sind mittlerweile alle unter dem Tisch zu mir gekrochen, haben sich an meine Beine geklammert. Auch wenn sie noch nicht alles voll verstehen können, haben sie die Gefahr für mich schon gespürt. Das zu schnell eingenommene Essen möchte wieder hinaus, mir wird schlecht. Darüber hinaus habe ich Mühe, die Worte meines Großvaters richtig zu verarbeiten. Mir klingt nur in den Ohren, „…schon morgen früh!“
„Dorkas! Dorkas, komm bitte wieder zu dir! Du bist doch sonst nicht so schwach…“, höre ich meine Mutter wie durch einen Schleier rufen. Ich kapiere, dass ich wohl etwas weggetreten sein muß, aber die Schwäche legt sich schnell, und als ich meine Eltern und Großvater um mich herum sehe, wird mir alles wieder klar. „Ihr habt mich verkauft…“, gebe ich leise und vorwurfsvoll von mir. Tief getroffen senkt Großvater seinen Blick und schwer atmend lässt er sich auf einen Stuhl fallen.
„Bitte, Dorkas, mach es uns allen nicht so schwer… Glaub mir, ich würde dich viel lieber hier behalten wollen, aber lebend! Wir wollen dich nicht an deinem Grab besuchen müssen, wenn denn von dir noch was zu beerdigen sein wird nach den Aktionen… Ach, was weißt du schon, wie sich Eltern bei so was fühlen, du bist ja noch so jung! Dorkas, du wirst auch nicht allein gehen müssen, dein bester Freund Oskar wird dich begleiten, und auch Amir. Nun verabschiede dich bitte von den Verwandten, denn die müssen noch vor der Sperrstunde nachhause“, sagt Vater, und ich merke, wie er Mühe hat, nicht die Fassung zu verlieren
Mit einem Gefühl, als ob ich einen bösen Alptraum erlebe, verabschiede ich mich jeweils mit einer herzlichen Umarmung, bekomme viele gute Wünsche mit auf meinem Weg. Wer weiß, ob und wann ich meine Verwandten noch mal wieder sehe… Mir wird auch klar, was vorhin bei Oskar abgelaufen ist, aber anders als er würde ich meiner Familie niemals widersprechen können.
Aufbruch
Nach einer viel zu kurzen, unruhigen und letzten Nacht in meinem Bett werde ich recht früh von meiner Mutter geweckt. Vorsichtig stehe ich auf, damit ich nicht zwei meiner kleinen Brüder wecke, die unbedingt noch mal mit mir zusammen schlafen wollten. Die Morgentoilette im Bad kann mich nicht recht erfrischen, ich fühle mich hundeelend, würde viel lieber wieder in meinem warmen Bett verschwinden. Wehmütig verpacke ich nach einigen letzten, leise gezupften Tönen auf meiner Bassgitarre diese in ihr Futteral und schiebe sie vorsichtig unter das Bett.
Dann verabschiede ich mich liebevoll von meinen Brüdern, die davon aber nicht so recht was mitbekommen, da sie um diese Zeit für gewöhnlich noch fest schlafen. Mein Gepäck wird nur spärlich sein können, damit ich keinen Hinweis auf mein Vorhaben gebe, meinte Vater am Abend, so sind es nur wenige Dinge, die in meinen Schulbeutel Platz finden müssen, eben nur mehr so was wie Unterwäsche und Socken.
In meiner Ausweistasche stecken einige Bilder von meiner Familie. Das kleine Mahl zusammen mit meinen Eltern wird jäh unterbrochen, als draußen eine Autohupe ertönt. Signal zum Aufbruch. Nur jetzt schnell weg, damit es mich nicht zerreißt! Mutter gibt mir noch was in die Hand. Dollarscheine…
„Aber, ihr braucht das Geld doch selber dringend!“
„Bitte nimm es! Es ist von deinem Freund Jeremy. Du solltest es eigentlich nicht wissen, aber er hat uns in den letzten Wochen oft was zugesteckt. Er weiß Bescheid und wünscht dir viel Glück.“
Als das Signal erneut ertönt, umarme ich meine Eltern noch ganz kurz.
„Danke für alles, ich liebe euch!“, sind meine letzten Worte des Abschieds, dann drehe ich mich schnell um und renne auf die Straße, steige in den Kleinbus, der sofort losfährt, als ich gerade die Schiebetür betätige, so dass ich Mühe habe, mich fest zu halten.
Nur ganz kurz noch kann ich meine Mutter winken sehen, dann haben wir mein Wohnviertel schon verlassen, denn wir fahren mit hoher Geschwindigkeit. Im Fahrzeug blicken mich lauter übernächtige und traurige Gesichter an und es ist sehr still.
„Hallo, Dorkas, wir haben dir einen Platz frei gehalten.“
Oscar und Amir, die anderen Jungs kenne ich teilweise nur vom Sehen. Jeder ist dann mit seinen Gedanken und Gefühlen beschäftigt.
Eng zusammengerückt und an der Seite den beruhigenden Körper des vertrauten Freundes oder Mitschülers spürend, reden wir recht wenig. Unruhig ob der ungewissen Zukunft, die uns erwartet, legt sich meine Traurigkeit aber bald etwas und macht einem wachsenden Gefühl der Neugier Platz, habe ich doch noch nie die Gelegenheit gehabt, meine Heimat verlassen zu können, und jetzt gleich so weit weg in ein unbekanntes Land zu verreisen, um für meine Familie Geld zu verdienen – nun, darauf darf ich trotz allem wohl auch ganz klein wenig stolz und neugierig sein.
Nach dem Passieren etlicher Kontrollpunkte und der jeweiligen Auskunft durch den Fahrer, dass er uns zur Schule fährt, was man ja an den Schultaschen auch gut sehen könne, kommen wir gut voran und dürfen nach Stunden auf einem staubigen Platz neben der Landstraße endlich mal Pinkelpause machen. Nun lernen wir auch den Mann kennen, der wohl nicht nur so als Beifahrer vorn mitfährt und furchtbar riechende Zigarren qualmt, sondern mit seiner herrischen Art sich sogleich als unser Chef und Aufpasser erweist. Er ist von ziemlich athletischer Figur, trägt den Kopf kahl geschoren und einen dunklen, kurz gestutzten Vollbart. Wir sollen ihn Abdul nennen.
So wie er jetzt da steht, könnte er auch gut als Rekrutenschreck durchgehen. Wir müssen uns in einer Reihe vor ihm aufstellen. Mit einem durchdringenden unangenehmen Blick jeden genau abschätzend, nimmt er die Ausweise an sich, somit auch meine Fotos in der Ausweishülle. Besonders Amir mustert er lange und genau, und wie mir scheint, mit negativem Ergebnis, der verächtliche Gesichtsausdruck spricht Bände. Nun, Amir…, wir kennen uns zwar schon sehr lange, aber ich habe mit ihm bisher sehr wenig geredet, was eigentlich nur an mir liegt. Ich mag es nicht so recht hier aufschreiben und somit allgemein verkünden, aber in seiner Gegenwart werde ich sehr unsicher und gehemmt, eine normale Unterhaltung ist für mich unmöglich. Ja, ich mag ihn irgendwie sehr, hab ihn in der Schule oft ziemlich angestarrt,
Oscar hat mich deswegen schon verwundert angesprochen. Ich habe den Mut und schreibe jetzt auf, was ich nicht aussprechen könnte: Ich finde Amir sehr schön, den schönsten Jungen, den ich bisher gesehen habe! Er ist etwas größer als ich, sehr schlank, dabei aber etwas zu dünn, und hat schwarze Haare, die meist widerspenstig und lustig aussehend, wirr abstehen. Sein ausdrucksstarkes Gesicht, besonders die faszinierenden dunklen Augen, die mich oft mit einem magischen Leuchten darin anzublicken scheinen, und die feingliedrigen Hände sehe ich sogar manchmal in meinen Träumen.
Meine Gefühle ihm gegenüber sind ein ziemliches Chaos. Einerseits wirkt er verbotenerweise sehr anziehend auf mich, trotzdem habe ich Angst vor seiner Nähe und vor den Konsequenzen, mich solcherart bloß zustellen und mein Gesicht zu verlieren. Was dann mit mir in meiner Familie passieren würde, ich mag nicht daran denken. Und nun soll ich mit ihm vielleicht länger zusammen sein…
„Los, ihr Faulpelze! Einsteigen! Wir haben wenig Zeit!“
Die Pause ist beendet, Oberst Abdul treibt uns lautstark zum Aufbruch an. Dass er Amir mit Fußtritten und wüsten Beschimpfungen wie „Missgeburt der Hölle“ und noch ganz anderen schlimmen Worten malträtiert und zusätzlich antreibt, anderen aber freundlich unterstützend mal an Arm oder Schulter fasst, damit es etwas schneller geht, registriere ich mit Verwunderung. Und wie ich sehe, dass Amir sich ängstlich wie ein kleiner Wurm am Boden krümmt und elendig jammert, „Bitte, bitte nicht“ bettelt, und doch nur zusätzliche Tritte erntet, packe ich schnell seinen Arm und zerre ihn hoch, hinter mir her ins rettende Fahrzeug, was mir die bissig ätzende Bemerkung einbringt, „Du willst wohl auch was abhaben.“
Aber es passiert nichts weiter und wir fahren los. Ich sitze jetzt am Fenster, Amir in der Mitte und Oskar daneben. Amir hat seinen Kopf auf die Handflächen gestützt, weint leise vor sich hin, Oskar und auch ich reden beruhigend auf ihn ein.
„Amir, bitte, beruhige dich doch endlich. Vielleicht erzählst du uns einfach mal, was das soll, dass dieser Abdul dich so schlecht behandelt.“
Nach mehrfachen Zureden und Bitten haben wir ihn soweit, dass er uns was erzählen möchte.
„Ach, danke, dass ihr so gut zu mir seid, aber es ist doch nur recht, wie Onkel Abdul mich behandelt. Wenn ihr erst alles über mich erfahren habt, werdet ihr mich bestimmt genauso behandeln…“
Und wieder reichlich Tränen und Geschniefe.
„Nein, Amir, soweit müsstest du uns nach so vielen Jahren, die wir zusammen zur Schule gegangen sind, doch wohl kennen. Ich verspreche dir, dass Dorkas und ich dich niemals so mies behandeln werden. Das ist wirklich das Allerletzte. Bitte, nun erzähle endlich weiter.“
„Gut, ich vertraue euch: Nun, Onkel Abdul war bis vor einigen Wochen immer sehr gut zu mir. Ich war auch oft bei ihm zu Besuch, bekam sehr schöne Geschenke zu meinen Geburtstagen und so, bis…“
Vom Ende seines Satzes ist nichts zu verstehen, so hat Amir ihn in sich hinein genuschelt, er ist im Gesicht und an den Ohren hochrot angelaufen und Schweiß ist nicht nur auf seiner Stirn zu sehen, sondern mittlerweile auch gut für uns zu riechen. Wir sehen ihn fragend an, Oskar legt seinen Arm um Amirs Schulter, ich halte Amir am Handgelenk und leicht stockend setzt der endlich seine Schilderung fort, „Onkel Abdul hat mich mit seinem Sohn erwischt, wie wir nackt zusammen im Bett lagen, weil wir eigentlich dachten, dass die nächsten Stunden keiner kommt. Na ja, und der hat dann erzählt, ich hätte ihn zu was verführt, dabei war es aber genau umgekehrt… Mein Onkel hat sofort alles meinen Eltern erzählt. Seitdem bin ich für die ganze Familie wie gestorben. Keiner hat mehr richtig mit mir gesprochen, sondern mich nur übelst angegiftet und beleidigt. Onkel Abdul meinte später, es wäre sehr gut für alle, wenn ich für immer verschwinde. Er bot an, mich mit nach Europa zu nehmen, damit ich dort arbeite könne und wenigstens zu etwas nütze bin. Meine Eltern waren sofort einverstanden, aber unter der Bedingung, dass ich von dort niemals mehr zu ihnen zurückkehre. Sie wollen mich nicht mehr… Ihr wisst ja, dass meine Familie nicht gerade arm ist, und ich sollte eigentlich später in Amerika studieren. Aber das ist alles vorbei, ohne ihr Geld wird das nichts mehr, und enterbt wurde ich auch noch. Eigentlich bin ich jetzt ganz froh, von zuhause weg zu kommen, denn da war es nur noch die Hölle…“
Während Oskar weiter mit Amir redet, sitze ich innerlich sehr erschrocken, in mich gekehrt und nachdenklich auf meinem Platz. Ich schäme mich, dass ich von Amirs Not nichts mitbekommen habe, wo ich ihn doch sehr mag, aber für seine Nöte blind bin. Aber ihn in seiner Situation helfen können, hätte ich wohl eher nicht, nein, ich hätte dabei alles nur noch viel schlimmer gemacht, denn habe ich nicht auch schon mal davon geträumt, mit Amir…
„…was soll der ganze Scheiß! Ist doch schön wenn sich zwei Menschen mögen, und wenn sich halt zwei Jungs lieben – mich stört es jedenfalls nicht. Und dich doch auch nicht, Dorkas, oder?“
Oskar hat etwas lauter gesprochen, so dass sein Satz in meinen Gehirnwindungen angekommen ist und verarbeitet werden kann. Der Inhalt ist für Amir und mich gleichermaßen von Bedeutung. Ich kann mir nun sicher sein, mit meinen geheimen Sehnsüchten, sollten diese mal bekannt werden, bei ihm nicht auf Ablehnung zu stoßen.
„Nein, Dorkas, mich stört es nicht, eher im Gegenteil…“, entgegne ich, dabei, von einem inneren Antrieb automatisch gelenkt, meinen Arm um Amirs Schulter legend.
„Ich habe es doch immer gewusst, habe es ja täglich gesehen, so wie ihr euch angesehen habt…“, meint Oskar mit einem Lächeln, keineswegs hässlich oder höhnisch, nein, ehrlich wie immer als mein bester Freund und mir wohl gesonnen.
„Danke…“, kann ich nur hauchen, Amir sieht mich erst nur sehr erstaunt an, dann verändert sich sein Blick, nimmt mich ganz gefangen, unsere Gesichter ziehen sich an, unsichtbare Verbindungen werden geknüpft und Tausende neue und bisher mir noch unbekannte Nervenimpulse entfachen ihre Wirkung, erzeugen Gefühle, von denen ich niemals nur die Spur einer Ahnung hatte. … Ich habe einen neuen Freund gewonnen, und was für einen, den meiner kühnsten Träume!
Bei den nächsten Fahrpausen nehmen wir Amir in die Mitte und passen auf ihn auf, damit er nicht wieder von Abdul so leicht angegriffen werden kann, so dass weiter nichts vorfällt. Der Fahrer scheint sich sehr gut auszukennen, denn er wechselt zwischendurch oft die Straßen, durchfährt manchmal sogar schmale Feldwege, bis wir vielfach durchgeschüttelt endlich wieder halten.
Wir Jungs haben vollkommen die Orientierung verloren, aber von den durchfahrenen Höhenzügen aus sehen können, dass wir uns langsam dem Meer nähern. Abdul verlässt seinen Platz vorne und kommt nach hinten. „So, Leute, jetzt geht es gleich auf ein Schiff. Beim nächsten Halt steigt ihr alle aus, dabei ist absolute Ruhe oberstes Gebot. Keine Angst, ich werde euch sicher zum Ziel führen. Ach, noch was: Ihr nehmt nur mit, was ihr am Leib habt. Die Taschen bleiben hier im Fahrzeug, die stören unterwegs nur. Ihr bekommt am Zielort alles, was ihr dort brauchen werdet, dafür sorge ich schon. Und der Fahrer möchte ja auch seinen Gewinn haben, der hat eine große Familie zu versorgen. Jetzt keinen Widerspruch und irgendwelche Diskussionen! Ich fordere absoluten Gehorsam, dann soll es wirklich nicht euer Schade sein. Ich weiß wovon ich rede, denn ich habe schon oft diese Fahrt gemacht, ich kann euch beschützen. Nehmt ruhig noch eure Wertsachen und kleinen Dinge aus den Taschen. Jungs, nur Mut, das wird schon alles gut gehen.“ In mir baut sich ein innerer Protest dagegen auf, meine Sachen nicht mitnehmen zu können, aber ich merke auch die Spur von Freundlichkeit, die von Abdul trotz seiner Ausfälle gegen seinen Neffen ausgehen kann. Amir meinte ja, dass sein Onkel früher immer sehr nett zu ihm war. Wie kann man nur so verbohrt sein in seinen Urteilen über andere Menschen, und sich zu deren Richtern aufschwingen. Nun, wie war das mit seinem Sohn und Amir wirklich – wenn der wüsste…
Eine Seefahrt…
Wenig später schon halten wir kurz auf einer Straße zwischen alten Werkhallen und verschwinden anschließend samt Kleinbus hinter einem großen Blechtor, welches sich wie von Geisterhand automatisch öffnet. Wir werden anscheinend schon erwartet, aber niemand ist zu sehen. Innen stehen auf Holzgestellen aufgerichtete Fischerboote im schlechten Zustand, wir befinden uns offensichtlich auf einer Schiffswerft. Nach dem Aussteigen werden wir nochmals zu Eile und Ruhe ermahnt und verlassen die Halle auf der anderen Seite gleich wieder, laufen an einer Slipanlage entlang, an der Boote mittels einer Seilwinde aus dem Wasser gezogen werden können, wie uns das rostige, dicke Stahlseil verrät. Modergeruch von verrottenden Algen, die hier überall dick aufgeschichtet im Sand liegen, liegt in der Luft, aber auch die wohltuende Frische des Meeres ist zu spüren, welche uns nach der schweißtreibenden Fahrt bei der Hitze richtig gut tut. Am Ende eines betonierten Steges liegt ein graues Schiff mit einem Zwillings-Geschütz auf dem Bug und dicken, waagerechten Torpedorohren am Heck. Dort angekommen, dreht Abdul an einem großen Eisenrad an der Stahltür des Deckshauses. „Jungs, jetzt erst mal gleich rechts rum und ab in die Kombüse, da gibt es was zu essen für euch.“ Und wirklich, wir werden vom Schiffskoch freundlich aufgefordert, Platz zu nehmen, und man merkt ihm seine Freude an, als er sieht, wie wir mit großem Hunger über die von ihm gedeckte Tafel herfallen. Das ist nun aber auch die letzte Rettung – wir sind ja auch schon viele Stunden unterwegs gewesen, und mein mitgebrachtes Fresspaket hat Amir unterwegs verdrückt. Plötzlich ertönen militärische Kommandos. Ein von seiner Art und der Uniform leicht als Kommandeur einzuordnender Mann betritt das Schiff, sieht uns am Kombüsentisch sitzen. „Guten Tag, meine Herren. Schön, dass sie schon da sind, dann können wir ja gleich los. Bitte wundern sie sich nicht, dass wir als Kriegsmarine uns überhaupt mit ihrer Beförderung befassen. Es sind halt schlimme Zeiten, und es gibt leider immer seltener Geld von der Regierung für unser Schiff, daher müssen wir eben kreativ sein in der Finanzbeschaffung. Sie werden gleich ein Deck tiefer gehen und für gewisse Zeit da unten bleiben müssen, für eine Schiffsbesichtigung ist leider keine Zeit. Wundern sie sich bitte nicht über die Enge unten, meine Kabine ist auch nicht viel größer. Jetzt Schiff klar machen zum ablegen!“ Sogleich öffnet der Schiffskoch eine Luke im schmalen Gang der Kombüse, und wir steigen eine Eisenleiter hinab, was uns wegen der Enge und mangels Übung nicht so leicht fällt. Wir versuchen, auf der ziemlich kleinen Fläche alle gut unter zukommen, was aber bedeutet, dass wir eng aneinander geschmiegt auf dem Fußboden sitzen müssen. Der Wohnraum ist spärlich eingerichtet mit Doppelstockkoje, unter dem Bullauge ist ein an die Wand fest verschraubter Mini-Tisch angebracht und auch eine kleine Sitzbank, dessen Sitzfläche wohl einen Stauraum verschließt. Ein sehr schmaler Spind rundet den ganzen Luxus ab. Wenigstens können wir nebenan auf ein WC gehen und uns an einem von der Kleinheit nie zuvor gesehenen Waschbecken erfrischen. Plötzlich geht ein Donner und Getöse durch den Schiffskörper und wir bekommen einen mächtigen Schreck! Es ist aber nur der Schiffsantrieb, der angeworfen wurde, der das Schiff erzittern läßt und unseren Hosenboden mächtig durchschüttelt. Dann merken wir an den leicht schwankenden Bewegungen des Schiffskörpers, dass wir ablegen. Nach einer Weile gibt der Steuermann kräftig Gas und das Vibrieren läßt nach, dafür wird es extrem laut. Hier bei dem Krach soll man wohnen können, und manchmal muss man ja auch schlafen… Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dazu freiwillig bereit sein würde. Trotzdem bewirkt das gleichmäßig dröhnende Geräusch, dass wir alle miteinander doch recht müde werden und vor uns hindösen.
Nach etlichen Stunden, in denen uns vom unbequemen Sitzen der Hintern schon kräftig weh tut, ebbt das Gedröhne plötzlich ab und wir können deutlich das Plätschern der Wellen an der Schiffswand hören. Durch das Bullauge ist nichts weiter zu sehen als reichlich Wasser. Quietschend wird die Luke wieder geöffnet. „Alles raus!“, brüllt es von oben, „Passt aber draußen auf, da ist es ziemlich glitschig.“ Die Sonne ist bereits am Untergehen, als wir das Deck betreten. Dort liegt ein großes Schlauchboot, an dem Abdul gekonnt Seile befestigt und es mit einer elektrischen Winde leicht anhebt. An seinem Verhalten ist unschwer zu erkennen, dass er auf diesem Gebiet Profi ist. „Nun, Leute, keine Bange, setzt euch schon mal ins Boot. Wir haben absolut spiegelglatte See wie selten mal, da kann kaum was passieren. Soll ich euch erst eine schriftliche Einladung geben – ab jetzt!“, befielt Abdul. Mit gemischten Gefühlen besteige ich das Gummiboot, setze mich auf eine Holzbank. Ringsum sind reichliche Seilschlaufen, wo ich mich sofort an eine fest anklammere. Oskar und Amir setzen sich links und rechts von mir. Das Boot macht einen sehr stabilen, soliden Eindruck, aber wieder wird es für alle eng. Als nun auch noch Abdul sich neben Amir drängt, kommen mir Zweifel, ob das Boot mit der Last noch schwimmfähig bleibt. „Hiev an!“, ertönt ein Ruf und langsam heben wir vom Schiffsdeck ab. Der Ausleger der Winde wird über das Wasser gedreht und ganz langsam erreichen wir die Wasseroberfläche, die Verbindungen werden gelöst. Mit den Händen stoßen wir uns etwas von der Schiffswand ab, um dann mittels zweier kleiner Paddeln die Entfernung zum Schiffskörper und dessen gefährlich rotierenden Schiffsschrauben zu vergrößern. Langsam beschleunigend, verschwindet das Schiff am Horizont und hinterlässt mächtige Wellen, die bei manchen für reichlich Angst sorgen, doch zum Glück sind die Seilschlingen sehr stabil… Und dann ist es sehr still auf der glatten See, nur unsere Atemgeräusche sind zu hören. Ja, wir schwimmen sicher, das Wasser steht auch noch weit genug unter der Bordwand, was ich sofort überprüft habe, aber der Tag ist bereits in seinen wirklich letzten Zügen und gleich wird es ziemlich dunkel werden, und dann das Was, und Wie, und Warum… Grund für reichlich Unruhe unter den Fahrgästen, was sich in lauter werdendem Gemurmel äußert. „Leute, nun macht euch mal nicht gleich vor Angst in die Hose! Ihr habt Glück, dass die See heute so ruhig ist – da habe ich schon ganz andere Sachen mitgemacht und viele Leute kotzen sehen. Es ist euch doch wohl klar, dass das Kriegsschiff nicht so ohne weiteres in einem fremden Land an Land gehen kann, und vorsichtshalber möchten sie nicht bei dieser sehr illegalen Aktion beobachtet werden, denn das könnte für ein paar Jahre Militärknast reichen. Das Schlauchboot alleine bietet für Radar gewöhnlich wenig Angriffsfläche. Wir sind bereits dicht vor der Küste von Süditalien und von einem klein wenig höheren Standpunkt aus könntet ihr auch schon Land sehen. Wir werden bald von einem Fischerboot aus dem Wasser geangelt, die haben uns ja im Radar ankommen sehen und sind auch über Funk benachrichtigt worden. Danach wird das Schlauchboot wieder vom Kriegsschiff aufgenommen. Nun, ich nehme an, das kann nicht mehr lange dauern. Und dann ist es ja nur noch maximal eine Stunde hin, bis wir wieder an Land sind. Denkt aber immer daran, ihr seid dort offiziell nicht erwünscht, praktisch aber schon, um als billige Arbeitskraft zu arbeiten. Ihr müsst also irgendwelchen Behördenvertretern immer aus dem Weg gehen, und dürft nichts provozieren, obwohl die natürlich alle genau Bescheid wissen und auch ihren Nutzen aus euch ziehen. Falls sie durch eure Dummheit gezwungen sein werden, euch zu schnappen, die müssen nun mal den Schein waren, kommt ihr in ein großes Sammellager und werdet wieder in Richtung Heimat geschickt. Das kann aber manchmal sehr lange dauern und Geld gibt es dafür auch nicht. Also achtet auf meine Anordnungen, dann wird alles gut für euch ausgehen und ihr macht euren Eltern keine Schande.“ Nach dieser kleinen wichtigen Ansprache von Abdul kehrt erst mal etwas mehr Stille ein, andächtig beobachten wir den nun in voller Pracht sichtbaren Sternenhimmel. Dies und die fernen Lichter der fahrenden Schiffe erzeugen ein ziemlich romantisches Gefühl in mir. Noch nie habe ich der Betrachtung des Himmels solche Aufmerksamkeit gewidmet und war so beeindruckt von dessen Schönheit, mitten in der Stadt ist das sonst auch wenig möglich bei den ganzen künstlichen Lichtquellen dort. Rechte Traurigkeit kommt bei uns nicht auf, und auch wenn wir erst vor wenigen Stunden unser Zuhause für längere Zeit verlassen mussten, jetzt schwatzen alle munter und aufgeregt drauf los, manche summen sogar irgendwelche Melodien. Dann, ganz plötzlich, wird alles sehr still, denn rechts neben mir beginnt jemand ein allen vom Musikunterricht her bekanntes Lied zu singen. So rein, glockenklar, und mein Gemüt berührend, dass meine Seele zu schwingen anfängt, klingt es einfach wunderschön. Amir! Die meisten stimmen mit ein, haben das Lied ja schon in der Schule mitsingen müssen, aber erst hier wird ihnen wohl die Bedeutung und Tragweite des alten Textes über Abschied und Wiederkehr klar, denn erst hier bietet sich in ihrem Leben dafür die richtige begreifbare Situation. Ich wusste nicht, dass der so gut singen kann… nun, eigentlich wusste ich ja bisher überhaupt nichts von Amir. Im Dunkeln ergreife ich seine Hand, drücke sie, und an der noch gesteigerten Intensität seines Gesanges kann ich spüren, wie es ihn bewegt. „Sofort aufhören mit dem grässlichen Katzengejammer! Bin ich denn hier nur unter Gefühlsidioten? Ihr hört jetzt schlagartig damit auf!“ Wie kann man nur dermaßen kalt, gefühllos und unmusikalisch sein, alle ignorieren den Einwand unseres Oberkulturbanausen, der dann nur noch wütend in seinen schwarzen Bart grummelt. „Gut, gut, ich gebe ja zu, ich bin reichlich unmusikalisch, dafür achte ich aber besser auf die Umgebung! Leute, schaut nur mal nach rechts!“ Einen bessere Methode, uns vom Weitersingen abzubringen, kann es nicht geben, und nun bemerken wir Jungs es auch: Von rechts nähert sich hell erleuchtet und bedrohlich schnell ein großes Schiff! So schnell, wie es eben mit den kleinen Paddeln geht, und den zahlreichen, wild im Wasser wedelnden Handflächen, wechseln wir die Fahrtrichtung und versuchen rechtzeitig auszuweichen, doch scheinbar ist hier auch eine unpassende Strömung oder das große Schiff zieht uns magisch an, wir kommen der Gefahr immer näher. Im Ergebnis bin ich sofort ziemlich durchnässt von der Aktion, spritzen mir doch meine Nebenleute das Salzwasser über den ganzen Körper. Für mein Gefühl viel zu dicht, ist das Schiff dann auf unserer Höhe. Strahlend weiß, hoch wie ein Hochhaus und hell erleuchtet. Laut ist vom Schiff her englische Musik hörbar, ein auch uns gut bekanntes Stück von REM, was zuhause manchmal im Radio zu hören ist. Unsere Blicke richten sich nach oben, denn von dort ertönt lautes, höhnisches Gelächter. Jungs in unserem Alter prosten uns mit großen Biergläsern zu, doch der eine Kerl öffnet wirklich seine Hose und schon trifft sein Strahl unser Schlauchboot! Als auch noch ihre Biergläser geflogen kommen, haben wir Glück, nicht getroffen zu werden, was durch die sich schnell vergrößernde Entfernung zu unseren Peinigern erschwert wird. „Ja, lacht und feiert ihr nur, ihr Ungläubigen! Ihr merkt ja nicht in eurer Dummheit und Überheblichkeit, dass ihr schon euren Untergang besiegelt habt! Ihr sitzt einfach ruhig da wie auf der Titanic und gebt euch nur euren Lastern hin, seht nicht den bedrohlichen Eisberg, der bereits gefährlich naht, richtet unseren Planeten mit eurer Habgier zugrunde, und höhnt über UNS! Aber euer Richter hat sein Schwert schon geschärft…“ Nun, auch wenn Abdul wohl total unmusikalisch ist, aber mit Worten kann er weit besser als ich umgehen und hat gut gesprochen, denke ich mir. Als das Schiff fast vorbei ist, geraten wir immer mehr in den Bereich der wirbelnd
en Schiffsschrauben und der für unsere kleine Nussschale sehr gefährlichen Heckwelle. Wie wir uns auch mühen, ein Entkommen gibt es nicht. Krampfhaft uns an allem fest klammernd und benutzend, was uns am Hinausfallen hindern kann, einschließlich den Körperteilen des jeweiligen Nachbarn, werden wir mitsamt dem Boot hin und her geworfen, schleudern waagerecht meterhoch durch die Luft, um danach wieder sehr hart auf das Wasser zu klatschen. Wir kommen uns vor wie auf einer gefährlichen Achterbahn mit erweitertem Gruseleffekt und garantierter Todesgefahr, aber bisher ist uns zum Glück nichts passiert, und die Wellen sind bereits deutlich am abflauen. Plötzlich spüre ich, wie von rechts der Druck auf meine Körperteile schlagartig nachlässt, und sofort wird mir klar, warum: Amir ist über Bord! Aber bevor ich noch „Piep“ sagen kann, spüre ich kaltes Metall an meinem Hals und stoppe abrupt meinen Hilferuf. „Halt nur jetzt die Schnauze, sonst bist du auch dran! Und kein Wort darüber zu den anderen! Diese gute Gelegenheit, meinen störenden Neffen endlich los zu werden, die musste ich einfach ausnutzen. Beim Bart des Propheten, das hässliche Gerippe bin ich endlich los. Der liegt nun gleich auf dem Meeresboden. Nun sei doch froh und mir dankbar, denn der taugt nichts für die Arbeit, wäre uns nur eine Last“, flüstert mir Abdul zu. „Und jetzt wasche da vorn noch das Blut ab…“ Unfähig und geschockt, jetzt klar zu denken, wasche ich mit der tödlichen Bedrohung des nahen Messers an meinem Hals das Blut meines Freundes, meiner ersten Liebe ab, spüre noch die Wärme darin. Unendliche Traurigkeit durchdringt mich, ein hilfloser lauter Schmerzensschrei kann nicht meine zugeschnürte Kehle verlassen. Lautlos und wie unter Krämpfen schluchzend, und mit zahlreichen Tränen, versuche ich das Geschehene zu begreifen. Die ganze Falschheit von Abdul wird sichtbar, als er kurz nach der Säuberung der Bordwand in ein „Ach und Weh!“ ausbricht über den verlorenen, guten Verwandten, der so unglücklich über Bord gegangen ist, und seine überaus tiefe Betroffenheit jammernd zeigt, so dass er von den Jungs sogleich bemitleidet wird. Aber trotz der lauten Rufe nach Amir und der aufmerksamen Blicke aller in Richtung finsterer See – er bleibt für immer in der Dunkelheit verschwunden…
Nur ich schaue nicht mit, in mir schreit es immer nur: „Warum?!“
Kurz darauf, nachdem das große Schiff entschwunden ist, werden wir von einem Fischtrawler aufgenommen. Der hat wohl nur in einiger Entfernung darauf gewartet, dass der unliebsame Zeuge sich endlich entfernt.
Dass ich dann in einem stinkigen Laderaum zwischen lauter toten Fischen sitze, später an Land einen Lastwagen besteige, das ist mir alles so vollkommen egal und ich registriere es kaum. Eigentlich möchte ich jetzt auch nur noch tot sein.
Zwischenbemerkung:
So, Pause! Hast Du auch alles bisher gut lesen und verstehen können? Ich habe immer noch reichlich Schwierigkeiten mit dieser Sprache und finde es sehr anstrengend, so zu schreiben. Trotz der ganzen Dramatik – jetzt bin ich aber hundemüde, und es ist ja auch schon mitten in der Nacht. Du kannst gern über Nacht bleiben und die Liege von Oskar benutzen. Der ist ja bei seiner Freundin, streichelt wieder ihren dicken Bauch. Ich glaube, der wird bestimmt später hier am Ort bleiben wollen, wenn der Nachwuchs erstmal da ist… Und ich – eigentlich gerne, wenn nur dieses Mistwetter hier nicht immer wäre…