Das erste, was Mic registrierte, als er wach wurde, war ein Adventskranz, der fast vor seiner Nase auf seinem Tisch stand, das zweite war sein verkrampfter Rücken, das dritte Durst. 16:30 Uhr, und es war schon dunkel. Kein Zweifel: Der Winter hatte wohl angefangen.
Wie kam der Kranz dahin? Im ersten Moment war er verwirrt, aber dann wurde ihm klar, dass den nur Richard oder Jörn besorgt haben konnte. Sie mussten wohl auch den Laptop weggestellt und ihn zugedeckt haben. Langsam setzte er sich auf und ging in die Küche, trank ein großes Glas Wasser und direkt noch ein zweites hinterher. Die Küche war aufgeräumt, die Spülmaschine schon durchgelaufen, wohl auch das Werk der beiden. Aber wo waren sie eigentlich? Doch nach Hause gegangen? Jetzt hätte er sich dann doch gerne an Richard gekuschelt. Er rief ihn an, aber niemand hob ab. Nur der blöde AB, dem er erzählte, dass es ihm gut ginge und er Richard vermisse.
Mic beschloss, erst mal duschen zu gehen, um den Krankenhausgeruch loszuwerden, der immer noch an ihm haftete. Lange stand er unter der Dusche und dachte an die vergangenen Wochen. So viel war geschehen und er hatte das Gefühl, er kam mit dem Verarbeiten gar nicht hinterher. Irgendwie staute es sich und er hätte jetzt gerne mit Babs geredet. Er nahm sich vor, sie gleich anzurufen, und vielleicht konnte er sie ja noch heute besuchen.
Er rubbelte sich trocken und ging ins Schlafzimmer, um sich etwas zum Anziehen zu holen. Als er allerdings das Licht anmachte, blieb er erst mal wie angewurzelt stehen. Nicht nur, dass ein paar inzwischen so vertraute blonde Stoppelhaare, die eindeutig zu Richards Kopf gehörten, unter der Decke auf seinem Bett hervorlugten – es schauten auch dunkle Locken unter der Decke hervor, die nur Jörns sein konnten. Richard und Jörn in seinem Bett? Völlig vergessend, dass er hier splitterfasernackt stand, starrte er die beiden immer noch entgeistert an, als der zu den dunklen Locken gehörende Körper sich bewegte. Jörn sah ihn erst genauso perplex an wie Mic ihn, setzte sich dann auf.
„Sorry, Mic, wir waren so müde, hatten die ganze Nacht nicht gepennt … du bist eingeschlafen auf dem Sofa … wir haben dich zugedeckt und schlafen lassen … “, plätscherte es zusammenhanglos aus seinem Mund.
Mic versuchte immer noch, die Situation zu erfassen, unfähig, irgendwas zu sagen, worauf Jörn aufstand und anfing, in seine Jeans zu schlüpfen.
„Dann geh ich wohl mal …“
Jörn, der sich in seinem Schlafzimmer anzog. Das war ja fast schon ein Déjà-vu …
„Willst du schon wieder flüchten?“, hörte Mic sich fragen.
„Wer will flüchten?“, kam es von Richard, der nun auch aufgewacht war.
Und plötzlich musste Mic in sich hineinlachen. Sie gaben sicher ein tolles Bild ab: Richard mit fragendem Gesicht im Bett, Jörn nur an einem inzwischen in seinen Jeans steckenden Bein bekleidet, aber ansonsten wie eingefroren, er selbst nackt mit nassen Haaren, alle sich gegenseitig taxierend.
„Hallo? Seht mich nicht so an. Ich werd schon nicht gleich wieder austicken.“
Jörn sah ihn zweifelnd an.
„Nicht? Na hoffentlich. Dazu gibt’s übrigens auch keinen Grund. Wir haben wirklich einfach nur geschlafen.“
„Wir waren todmüde, Mic“, pflichtete Richard ihm bei.
„Wir haben uns nämlich beide wegen eines gewissen Mic die Nacht um die Ohren geschlagen.“
„Schon gut. Ich hab‘s ja verstanden.“
Mic holte sich etwas zum Anziehen aus seinem Schrank und sah aus dem Augenwinkel, wie Jörn auch mit dem anderen Bein in seine Jeans stieg. Schade eigentlich.
Schade? Wieso schade? Mic hoffte inbrünstig, nicht wieder laut gedacht zu haben.
Richard dagegen rekelte sich genüsslich und gähnte laut.
„Das hat echt gut getan, zu schlafen. Wie geht’s dir, Mic? Kopfweh? Schwindel? Irgendwas?“
„Nein. Nur Durst … und noch immer müde.“
„Was ziehst du dich dann an? Schlaf weiter.“
Richard klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich.
Mic fiel Jörns anzüglicher Blick in Mics Lendengegend auf, untermalt von einem breiten Grinsen.
„Was?“, entfuhr es Mic schärfer als geplant und spürte dabei, wie er mal wieder rot wurde. Ob es wohl Medikamente gegen dieses ewige Erröten gab?
„So müde siehst du gar nicht aus, das ist alles. Wem gilt denn das?“, kicherte Jörn, während er auf genau die Stelle deutete, die er eben so schamlos gemustert hatte.
Das reichte. So schnell er konnte verschwand Mic unter der Decke und zog sich selbige vorsichtshalber noch über den Kopf.
„Ein Kaffee wär mir lieber als weiterschlafen“, grummelte der unter der Decke.
„Den kannst du auch hier trinken. Du kommst gerade aus dem Krankenhaus. Da darf man sich verwöhnen lassen. Und komm da raus, damit ich dich leuchten sehen kann.“
Damit befreite Richard mit einem verschmitzten Lächeln Mics Gesicht wieder von der Decke, was nicht wirklich zur Normalisierung von Mics Gesichtsfarbe beitrug.
Jörn räusperte sich und deutete eine Verbeugung an.
„Darf ich den Herrschaften dann gleich einen Kaffee und ein Stück Kuchen an ihr Schlaflager servieren, bevor ich mich in meine eigenen Gemächer zurückziehe?“
„Was für eine ausgezeichnete Idee, James“, quittierte Richard dieses Angebot.
Mic, der spürte, wie sein Gesicht noch immer brannte und vermutete, dass er aussah wie ein Feuermelder, versuchte ein Ablenkungsmanöver.
„Äh… ich wollte die Liste noch weiter durchgehen …“
„Erst nach dem Kaffee.“
Über Richards gespielt strengen Gesichtsausdruck musste Mic fast lachen.
„Und Predo muss versorgt werden“, fiel ihm noch ein.
„Erledigt“, kam es unisono von Jörn und Richard und Mic gab sich geschlagen, als Jörn das Schlafzimmer verließ und Richard sich einfach an ihn kuschelte.
„Du hast Jörns Frage eben gar nicht beantwortet“, hörte Mic ihn leise sagen, tat aber vorsichtshalber mal so, als habe er nichts gehört.
„Na … das ist wohl auch eine Antwort.“
War ja klar, dass nichts sagen nicht funktionieren würde. Mic wünschte sich einen kalten Waschlappen im Gesicht, so brannte es. Richard dagegen kicherte nur.
„Süß, dass du immer gleich rot wirst.“
Dann ernster: „Was war das eigentlich gestern? Magst du erzählen?“
Mic, eigentlich froh über die Wende des Gesprächs, zögerte.
„Das sollte ich vielleicht besser erzählen, wenn Jörn dabei ist.“
Mic dachte an Jörns ramponierte Lippe. Da hatte er wohl ein Recht auf eine Erklärung. Zumindest das. Allerdings wusste er nicht so recht, wie er das erklären sollte.
„Deswegen frage ich doch“, sagte Richard leise, plötzlich ganz sanft. „Meinst du, das geht? Reden, mein ich?“
Mic zuckte die Schultern.
„Ich weiß es nicht. Muss es wohl irgendwie.“
„Ok, also … wenn du Hilfe brauchst … ich bin ziemlich gut in Ultrakurzversionen, wenn du dich erinnerst.“
Mic seufzte.
„Danke, das ist total lieb von dir. Aber du weißt längst nicht alles.“
„Nein, aber ich hatte auch nicht vor, Details zu schildern. Und ich will mich auch nicht aufdrängen. Das sollte nur ein Angebot sein.“
Mic schwieg. Er schätzte Richards Vorschlag, aber wäre es nicht ziemlich erbärmlich, das Angebot auch anzunehmen? Richard für ihn reden zu lassen? Ja, fand er, genau das war es. Erbärmlich und armselig. Wer den Mist machte, sollte auch dafür gerade stehen. Wenn ihm das nur nicht so schwerfallen würde, darüber zu reden, und er nicht so eine verdammte Angst davor hätte, mal wieder die Kontrolle zu verlieren.
„Ich finde es ziemlich jämmerlich, dass ich das zulasse, aber wenn du das tun würdest … zumindest den Anfang machen, … danke.“
Richard küsste ihn behutsam.
„Hey, quäl dich nicht so. Ist nix falsch dran, es sich auch mal leichter zu machen. Sieht so aus, als wär‘s so schon schwer genug.“
Mic war da zwar anderer Ansicht, er verachtete sein eigenes Unvermögen, einfach zu sagen, wie es war, aber er schwieg dazu. Einen weiteren gut gemeinten Versuch von Richard, Mics kümmerliches Ego retten zu wollen, wollte er nicht auch noch ertragen müssen.
Ein paar Minuten später kam ein über das ganze Gesicht strahlender Jörn herein und setzte ein Tablett vor ihnen auf dem Bett ab.
„Bitte sehr, die Herrschaften. Die Kaffeetafel ist gerichtet“, grinste er.
„Ich wünsche noch einen angenehmen Aufenthalt. Ich nehme an, meine Dienste werden nicht weiter benötigt und daher empfehle ich mich hiermit.“
Mic starrte abwechselnd auf das Tablett und auf Jörn, der ihn schon wieder anlächelte. Mic entglitten die Gesichtszüge. Jörn flirtete ihn an, und zwar völlig ungeniert, trotz Richards Anwesenheit. Oder bildete er sich das nur ein? Richard dagegen brach in schallendes Gelächter aus und hielt mit spitzen Fingern eines der Kondome hoch, die Jörn so hübsch auf den Servietten drapiert hatte.
„Compliments of the Super Inn – Have a nice fuck!”, kommentierte Richard, der sich gar nicht wieder vor Lachen einkriegte. Jörn schmunzelte. Ob dieses Schmunzeln seinem Kondom-Gag galt oder Mic, der wieder eine neue Rotschattierung ausprobierte, ließ sich schwer sagen.
Erst als Jörn ankündigte, sich dann mal auf den Heimweg zu machen, bekam Richard sein Lachen wieder unter Kontrolle.
„Ach James, sie sind immer so aufmerksam. Aber bitte speisen sie doch mit uns.“
Dann ernster: „Da wär noch was zu klären wegen gestern. Magst dich noch zu uns setzen? Wir hatten doch eh eigentlich für uns alle drei Kuchen geholt …“
„Sicher?“
Jörns Frage war an Mic gerichtet, der nun nickte.
„Ja, bitte.“
„Na dann … okay …“
Jörn verschwand, um kurz darauf mit einem weiteren Tablett wieder aufzutauchen und sich im Schneidersitz ihnen gegenüber an das Fußende des Betts zu setzen. Mit augenscheinlichem Genuss schob er sich eine Gabel voll Sahnetorte in den Mund und schaute Mic erwartungsvoll an. Entsprechend erstaunt war sein Blick, als Richard das Wort ergriff.
„Ich schieb eben was vorweg zu gestern Abend, weils Mic schwer fällt, ok? Ohne irgendwelche Details zu erzählen … er hatte da vor 17 Jahren eine sexuelle Gewalterfahrung, die so schlimm gewesen sein muss, dass er heute noch damit kämpft. Es passiert heute manchmal durch scheinbar banale Dinge, dass er sozusagen in einer Erinnerung gefangen ist. Sowas in der Art muss auch gestern passiert sein, aber Mic sagt, das habe einen weiteren Grund. Stimmt das so in etwa, Mic?“
Erschrocken über Richards nüchterne, sachliche Ausdrucksweise nickte Mic nur zustimmend. Er selbst hätte das nie so beschreiben können, dafür war das Ganze für ihn viel zu emotionsgeladen.
Jörn ließ die Gabel auf seinen Teller fallen, ein Geräusch, das Mic zusammenzucken ließ.
„Sexuelle Gewalt? Meinst du … oh Scheiße. Ich hatte sowas ja schon geahnt, aber das jetzt zu hören … hast du den Kerl wenigstens angezeigt?“
„Nein, war auch nicht mehr nötig.“
„Nicht nötig? Was bedeutet das jetzt wieder?“
„Bernd ist tot.“
Mic erinnerte sich genau daran, wie er es erfahren hatte. Nachdem er in Bernds Wohnung weggetreten sein musste, hatte er sich in der Hochhaussiedlung wiedergefunden. Es war ihm schleierhaft gewesen, wie er dort hingekommen war, so weit in den Norden der Stadt, hatte aber den Menschenauflauf vor einem der Hochhäuser gesehen und Stimmen laut schreien gehört. Das war hier mitten im sozialen Brennpunkt nichts Ungewöhnliches, auch nicht Polizei, RTW, Notarzt. Dennoch hatte Mic den Eindruck gehabt, dass hier etwas Schlimmes passiert sein musste, doch hatte er eben seine eigenen Wunden zu lecken gehabt und hatte sich nach Hause geschleppt. Dort angekommen hatte er sich für einige Stunden im Bad eingeschlossen, zitternd und angeekelt in der Badewanne gesessen. Er hatte geblutet, Kopfweh … eigentlich hatte ihm so ziemlich alles weh getan, und dauernd hatte er kotzen müssen. Er hatte das Bad erst verlassen, als seine Mutter gedroht hatte, die Tür aufbrechen zu lassen, wenn er nicht bald herauskäme. Er war in sein Zimmer gehuscht, hatte seiner Mutter gesagt, ihm sei übel und er wolle seine Ruhe. Das war noch nicht mal gelogen gewesen.
Dass der Trubel in der Hochaussiedlung mit Bernd zu tun gehabt hatte, hatte er erst am nächsten Morgen durch seine Mutter erfahren, die ihm die Zeitung vors Gesicht gehalten hatte.
„Selbstmord am Krähenstein. Sozialarbeiter stürzt sich in den Tod“, hatte Mic gelesen, ohne zunächst recht zu begreifen. Er erinnerte sich, dass es ihm im ersten Moment lediglich übel aufgestoßen war, wie die Zeitung mit dem Thema Selbsttötung umging. Die nutzen aber auch alles für eine Schlagzeile, hatte er gedacht, ansonsten hatte er genug mit sich selbst zu tun. Dennoch hatte er aus irgendeinem Grund den Artikel gelesen.
Seine Mutter hatte sich betroffen gezeigt.
„Wie tragisch! Was kann einen so jungen Menschen nur zu so etwas bringen?“
Zwei Tage später hatte er durch eine Freundin erfahren, dass Bernd sich umgebracht hätte, und sein Gehirn setzte die Informationen langsam zusammen. Gefühlt hatte er nichts. Weder Entsetzen noch Abscheu, noch Hass, noch Traurigkeit, noch Genugtuung. Da war einfach nichts gewesen – außer einer diffusen Angst.
Genau diese Angst war es, die auch jetzt wieder gegenwärtig war, als er das alles Richard und Jörn erzählte. Sie schien ihm regelrecht die Kehle zuzuschnüren. Wieder einmal stellte er sich die Frage, warum er dort gewesen war. Dort, wo Bernd sich vom Hochhaus gestürzt hatte. Wenn er denn selber gesprungen war. Er konnte sich einfach nicht erinnern. Nicht daran, wie er Bernds Wohnung verlassen hatte, und auch nicht daran, zu der Hochhaussiedlung gegangen zu sein. Was hatte er da zu suchen gehabt? Er kannte niemanden, der dort wohnte. Zumindest niemanden, den er je besucht hatte. Was, wenn er irgendetwas mit Bernds Tod zu tun hatte?
Doch all diese Ängste sprach er nicht aus, sondern begann gedankenverloren die bis dahin unberührte Torte in ihre Einzelteile zu zerlegen.
„Immerhin das scheint der Typ richtig gemacht zu haben“, kam es mit verächtlichem Tonfall nach ein paar Minuten des kollektiven Schweigens von Jörn.
„Ja. Begegnen musst du ihm jedenfalls nicht mehr. Nie wieder“, fügte Richard hinzu.
Mic murmelte halbherzig ein zustimmendes „Hmhm…“
„Und was war das nun gestern?“, fragte Jörn nach.
„So ganz versteh ich den Zusammenhang ehrlich gesagt nicht.“
Mic seufzte.
„Nein, damit, dass Bernd tot ist, hat es auch glaube ich nichts zu tun. Gestern … erst war da Richard, der da stand und gelächelt hat, als wir getanzt haben. Ich hatte die Nacht davor `nen ziemlich wüsten Traum von einer ganz ähnlichen Situation, da hat mich das dann dran erinnert. Das hat mich in dem Moment total erschreckt, ich wollte einfach nicht weiter tanzen. Aber dann hast du mich so festgehalten, als ich von dir weg wollte. Da hab ich irgendwie Panik bekommen, und viel mehr weiß ich auch nicht mehr.“
Jörn fixierte Mic mit Blicken.
„Und sowas passiert öfter? Dass du so in Panik gerätst und dann nicht mehr weißt, was du tust?“
„In letzter Zeit, ja.“
„Sei nicht sauer, wenn ich frage, aber der Unfall mit Richards Nase …“
„Ja, das geht auch auf meine Rechnung“, klärte Mic das sofort auf.
„Ich hab dich nicht festgehalten, Mic. Ich hab mich nur an dir festgehalten, damit ich nicht hinfalle. Das ist alles.“
„Ja, das habe ich inzwischen auch verstanden. Dass du mich festgehalten hast, war nur in dem blöden Traum so. Und überhaupt … Das hat was mit mir zu tun, nicht mit dir. Und es tut mir leid, wirklich. Ich wollte das nicht. Und ich will ja auch was dran tun.“
Jörn nickte nachdenklich.
„Gibt’s irgendwelche bestimmten Sachen, von denen du so ausrastest? Ich mein … hab ich den Abend mit dir vor ein paar Wochen einfach nur Glück gehabt, keins in die Fresse zu bekommen?“
Was sollte er darauf antworten? Wahrscheinlich war es genau das. Er konnte doch selbst nicht vorhersagen, was als nächstes kommen würde. Das war mal anders gewesen, aber die letzten Wochen hatten alles auf den Kopf gestellt, und Mic stellte fest, dass er sich selbst nicht mehr einschätzen konnte. Schlimmer noch: Er traute sich selbst nicht mehr über den Weg.
„Ich weiß es nicht, Jörn, ganz ehrlich. Aber ich werde es herausfinden. Sogar mir ist inzwischen klar, dass ich so nicht weitermachen kann.“
Jörn lächelte daraufhin. Schon wieder dieses Lächeln, das Mic so schmelzen ließ.
„Das ist gut. Kriegst du schon hin. Und – na ja, wenn mal was ist, wo du drüber reden willst, dann kannst du dich melden. Sonst auch, aber das ist ja eh klar, oder?“
Mic warf einen unsicheren Blick zu Richard, aber der lächelte ebenfalls, jetzt sogar ganz entspannt.
„Ok. Danke. Und hey, das gilt auch umgekehrt, ok?“
Richard schlief tief und fest, Mic dagegen lag mal wieder wach und grübelte. In gut 14 Stunden würden sie bei seinen Eltern sitzen. Wie sollte er denen sagen, wer Richard für ihn war? Was er ihm bedeutete? Die Frage, ob er es sagen würde, stellte sich nicht. Er hatte auch so schon genug Probleme, da wollte er es sich nicht auch noch antun müssen, irgendwas zu verstecken. Absolut überflüssig wäre es noch dazu, da war er sich recht sicher. Mic dachte eher über das WIE nach. Was war das denn nun eigentlich zwischen ihm und Richard? Wirklich ausgesprochen – sozusagen fürs Protokoll – war da nichts.
Und Jörn? Aus dem wurde er nun so gar nicht mehr schlau. Einerseits schien er es regelrecht darauf anzulegen, Mic in Verlegenheit zu bringen, andererseits ließ er ihn wissen, er könne sich melden, wenn er reden wollte. Und dann diese Flirterei und die blöden Kondome auf dem Kuchentablett. Was sollte das? Richard schien das alles völlig entspannt hinzunehmen. Mic verstand es einfach nicht. Irgendwie war das total verwirrend, fand er. Zumindest darauf sollte er ihn mal ansprechen, beschloss er. Er kam sich so vor, als würde er plötzlich erblindet durch die Gegend stolpern. Er wollte, nein, er musste da Licht reinbringen, auch wenn er sich alles andere als sicher war, ob ihm gefallen würde, was er zu sehen bekäme.
Nachdem Jörn nach Hause gegangen war, hatte Mic auch schon gegrübelt. Er hatte versucht, sich auf seine Therapeuten-Liste zu konzentrieren, war aber kläglich gescheitert. Entnervt hatte er sich dann irgendwann regelrecht auf Richard gestürzt, zu dessen großen Erstaunen. Richard, der zunächst irgendwas von Krankenhaus gefaselt hatte und von Ausruhen, war dann doch erstaunlich schnell überzeugt gewesen, dass es Mic wohl wieder recht gut ging. Mic schmunzelte darüber, wie leicht es gewesen war, Richards Scheinwiderstände zu enttarnen. Für einen kurzen Zeitraum hatte er das Grübeln damit auch stoppen können, aber eben nur für einen kurzen Zeitraum.
Er genoss Richards Nähe sehr, seine Leichtigkeit, seine Zuneigung, und ja, zugegeben, auch den Sex, und er wollte auf keinen Fall, dass Richard aus irgendwelchen Gründen wieder aus seinem Leben verschwand. Was auch immer sich da entwickelte, es sollte sich weiter entwickeln. Was Richard wohl sagen würde, wenn Mic ihm von seinen Ängsten bezüglich Bernds Selbstmord erzählen würde? Wie würde er reagieren? Richard hatte doch so schon Angst davor, Reaktionen auszulösen, die Mic nicht kontrollieren konnte. Das würde dann sicherlich noch schlimmer werden. Oder vielleicht würde er sich auch komplett von ihm abwenden. Alles hatte schließlich irgendwo seine Grenzen. Der Gedanke, Richard könnte Angst vor ihm bekommen, war Mic unerträglich. Nein, er konnte ihm einfach nicht erzählen, welche Sorgen er bezüglich Bernds Tod hatte. Auf keinen Fall. Ändern würde es ja ohnehin nichts. Der Entschluss stand fest … auch wenn er sich irgendwie mies dabei fühlte.
Jetzt gab es kein Zurück mehr, Mic hörte Schritte hinter der Haustür, die er mühelos als die seiner Mutter identifizierte. Die Tür öffnete sich und seine Mutter strahlte ihn freudig erregt an.
„Mici, das wird aber auch Zeit, dass du dich endlich wieder blicken lässt!“
Damit umarmte sie Mic und drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange.
Wie immer war sie ein wenig extravagant gekleidet, hatte sie doch immer schon eine Vorliebe für knöchellange, bevorzugterweise schwarze, eng geschnittene Röcke mit weiten Oberteilen gehabt, am liebsten wild gemustert und tief ausgeschnitten. Mic kannte seine Mutter kaum anders, egal, ob sie zum Einkaufen oder in die Oper ging, und er hatte sich daran gewöhnt, dass sich viele Menschen nach ihnen umdrehten, wenn Mic mit ihr unterwegs war. Das lag definitiv nicht an seinem Erscheinungsbild, er mochte es dann doch lieber schlicht. Die Aufmerksamkeit erregte eindeutig seine immer etwas schillernde Mutter und jetzt gerade fragte Mic sich, ob er Richard nicht hätte warnen sollen, als er dessen Gesichtsausdruck studierte.
„Und Sie müssen Richard sein. Danke, dass Sie sich um Mic gekümmert haben. Kommt rein, es schneit ja schon wieder. Ihr holt euch noch den Tod. Heute gibt es die ersten Adventsplätzchen, ganz frisch gebacken. Der Kaffee läuft auch schon durch. Oder möchten Sie lieber Tee, Richard? Ich darf doch Richard sagen? Nennen Sie mich einfach Jo, ich heiße Jolande, wissen Sie. Was sich manche Eltern nur denken, wenn sie ihren Kindern Namen geben … Ich kann auch Kakao machen, wenn Ihnen das lieber ist. Mic, kannst du bitte direkt ein bisschen Holz im Kamin nachlegen? Und heute Abend esst ihr mit uns, oder? Es gibt Sauerbraten mit Rotkohl und Knödeln. Ich hoffe, Sie mögen das, Richard, mein Mann kommt aus dem Rheinland, da mag man sowas, aber ich gebe keine Rosinen dran. Ich kann Ihnen aber auch gerne etwas anderes …“
„Mama!!!“, unterbrach Mic den Redefluss seiner Mutter lachend.
„Hol mal Luft zwischendurch und lass uns eine Chance zu antworten. Zum Essen wollten wir doch gar nicht bleiben. Ich hatte gesagt, auf ein oder zwei Stündchen kommen wir vorbei.“
„Ich freue mich eben so“, gab seine Mutter lachend zurück. „Ich habe dich so lange nicht zu Gesicht bekommen, dann kann man es ja wohl mal versuchen. Dünn bist du geworden, mein Schatz. Isst du nicht richtig? Oder bist du ernsthaft krank? Du hast uns einen solchen Schrecken eingejagt …“
„Mic vergisst schon mal das Einkaufen, dann beschimpft er sich selbst und lässt sich von mir zur Pizza einladen“, warf Richard grinsend dazwischen.
Mic, der sich lebhaft an ihre erste Verabredung erinnerte, musste ebenfalls grinsen.
„Ich hatte nicht mal die Chance, nein zu sagen.“
„Ich bin eben um dein Wohl besorgt“, konterte Richard.
Dann wendete er sich Mics Mutter zu.
„Danke für die Einladung, Jo. Ich freue mich wirklich sehr, Sie kennenlernen zu dürfen. Sie dürfen gerne Richard sagen, sehr gerne sogar, und Kaffee mit Adventsplätzchen klingt sehr verlockend. Es duftet einfach herrlich bei Ihnen. Und gemütlich haben Sie es mit dem tollen Kamin dort … und alles so stimmungsvoll dekoriert. Ich mag die Farben.“
Mic war sprachlos. Von der Seite hatte er Richard noch nicht kennengelernt. Der raspelte doch tatsächlich Süßholz auf Teufel komm raus.
Mics Mutter dagegen strahlte.
„Danke, Richard, Sie scheinen ein Auge für sowas zu haben. Da könnten Sie Mic noch ein wenig beibringen, sofern das möglich ist.“
Sie trat einen Schritt näher an Richard heran und fuhr in vertraulichem Tonfall fort: „Ich fürchte, da fehlt ihm ein Gen.“
Dann wieder an beide: „Setzt euch erst mal. Ich hole gleich den Kaffee.“
Sie schaute die Wendeltreppe am Eingang hinauf.
„Georg! Mic ist da und dieser Freund von ihm. Kommst du runter?“
Von oben war ein tiefes „Ja, einen Moment noch!“ zu hören.
Mics Mutter verschwand, man hörte Geschirr klappern.
Mic ging zum Kamin, um Holz nachzulegen und zuckte unwillkürlich zusammen, als er plötzlich Richard neben sich spürte.
„Kann ich dir helfen?“
„Nein, du Schleimer, geht schon. Ich wusste gar nicht, dass du so charmant Süßholz raspeln kannst.“
Richard grinste.
„Forget about your sin. Give the audience a grin. Enjoy it. It’s your last chance, anyhow”, sang er leise.
„Ist sie immer so aufgekratzt?”
Mic lächelte in sich hinein.
“Heute ist es extrem. Ich war wohl wirklich zu lange nicht hier …”
Er stand vom Kamin auf und zog Richard mit sich hoch.
„Schön, dass du mitgekommen bist.“
Richards grüne Augen lächelten ihn ein wenig spöttisch an und Mics Herzmuskel machte ein paar seltsame Verrenkungen. Gerade wurde ihm klar, dass er tatsächlich hier mit Richard im Wohnzimmer seiner Eltern stand, und das fühlte sich gut an.
„Sicher?“, fragte Richard leise.
„Noch könntest du es dir überlegen.“
Mic gab ihm einen flüchtigen Kuss.
„Nee, da gibt’s nichts zu überlegen. Mit Versteckspielchen fang ich erst gar nicht an. Und erwarte bloß kein Drama. Das wird es nämlich hier nicht geben.“
Richard lachte.
„Sollte bei dir tatsächlich mal was undramatisch ablaufen? Das wär ja mal was ganz Neues. Glaub ich erst, wenn‘s soweit ist.“
„Hey! Nicht so frech! Sonst …“
Mic kniff in eines von Richards Speckröllchen.
„Na warte, bis ich dich rund gefüttert hab. Deine Mutter wird mir dafür auf Knien danken, weil du ja so dünn geworden bist. Und dann bekommst du jeden Kneifer von mir zurück. Jeden einzelnen. Samt Zinsen.“
Mic wollte gerade etwas erwidern, als die Bassstimme seines Vaters durch den Raum dröhnte.
„Mic! Junge, wo hast du so lange gesteckt?“
Er eilte auf Mic zu, um ihn zu umarmen.
„Ja, ich war viel zu lange nicht hier, stimmt schon.“
Dann wurde Richard die Hand gereicht.
„Ich bin Georg, Mics Vater. Und Sie sind?“
„Richard, Mics Freund.“
„Ach ja, der aus dem Krankenhaus. Danke für alles. Wie geht’s dir, Mic? Wir machen uns große Sorgen, Junge.“
Mic betrachtete seinen Vater. Gegensätzlicher als seine Eltern konnten zwei Menschen wohl kaum sein, fand er. Täuschte er sich oder wirkte sein Vater älter als das letzte Mal? Seine grauen Haare standen strubblig von seinem Kopf ab wie eh und je, er war unrasiert und natürlich trug er seine alte, vor Urzeiten mal dunkelbraune Lieblingsjacke mit den Lederflicken an den Ellbogen. Schließlich war Sonntag, da hatte er es gern bequem. Seine von dicken Stricksocken umhüllten Füße steckten in seinen alten Filzpantoffeln und die Brille saß ein wenig schief auf seiner Nase. Die Augen jedoch waren hellwach, wie immer, und schauten jetzt ein wenig besorgt unter Augenbrauen hervor, die denen von Theo Weigel Konkurrenz hätten machen können.
„Ich hatte ein paar Dinge mit mir auszumachen, Paps, aber das kommt alles in Ordnung. Ich erzähl euch gleich mehr, wenn Mama hier ist, ok?“
„Bist du krank, Junge? Man wird doch nicht einfach so bewusstlos. Ich war noch nie bewusstlos.“
Mic musste lächeln.
„Nein, Paps, ich bin nicht krank. Das hatte andere Gründe. Lass uns bitte warten, bis Mama hier ist, ja? Sonst erzähl ich alles doppelt.“
„Ich bin schon da, mein Schatz“, flötete es durchs Zimmer, als seine Mutter mit einem Tablett beladen wieder reinkam.
„So, bedient euch. Ich kann auch noch Nachschub holen. Richard, probieren Sie mal die Zimtsterne und sagen Sie mir, was Sie davon halten. Das Rezept ist neu. Georg, wie siehst du nur wieder aus? Wir haben Besuch und du läufst rum wie … nun, lassen wir das. Na, was sagen Sie, Richard?“
Richard, der mit geschlossenen Augen auf einem Zimtstern herumkaute, grinste.
„Das sind mit Abstand die köstlichsten Zimtsterne, die ich je versuchen durfte. Ist das Rezept geheim oder könnte ich es wohl bekommen?“
Mic verdrehte die Augen.
„Du trägst zu dick auf.“
Dabei kniff er Richard nochmal in ein Speckröllchen, so dass er quiekte.
„Richard versucht, glaub ich, grad, sich bei euch als Schwiegersohn einzuschleimen“, richtete Mic das Wort wieder an seine Eltern, was zur Folge hatte, dass Richard sich verschluckte und hustete, bis er rot angelaufen war.
Mic klopfte ihm auf den Rücken, ohne seine Eltern aus den Augen zu verlieren.
„Das mit dem Schwiegersohn war natürlich ein Scherz. Heiratspläne haben wir keine, aber zusammen sind wir trotzdem. Das musste ich für mich erst mal klar kriegen, deswegen habt ihr auch so wenig von mir gehört in der letzten Zeit. Ich war ein wenig … sagen wir mal durcheinander.“
Stille – bis auf Richards Husten.
Mics Mutter verschwand in der Küche und kehrte mit einem Glas Wasser zurück.
„Hier, trinken Sie mal einen Schluck. Das sollte helfen.“
„Danke“, krächzte Richard und nahm das Glas. Es half tatsächlich, der Husten legte sich.
„Besser?“, fragte Mics Vater schließlich.
„Dann könntest du das nochmal wiederholen, Junge. Nicht, dass ich was falsch verstanden habe.“
Mic sah seinem Vater in die Augen. Das war immer ein wenig so, als würde er seine eigenen Augen im Spiegel sehen, nur mit ein paar Falten mehr, schlafferen Augenlidern und ohne diese fellartigen Brauen, aber ansonsten eindeutig wie seine eigenen Augen.
„Du hast nichts falsch verstanden, Paps. Richard und ich … wie sagt man so schön? Wir sind ein Paar.“
Wie in Zeitlupe blickte sein Vater zwischen Mic und Richard hin und her.
„Ihr seid … Ich bin so ein Idiot! Du hattest Recht, Jo“, brummte er und ließ mit undefinierbarer Mine seine Hand schwer auf das Knie seiner Frau fallen.
Mic spürte, wie sich seine Augenbrauen zusammenzogen. Was war denn das? Nicht ganz die erwartete Reaktion. Ein Seitenblick auf Richard, der die Schultern zuckte, war auch nicht besonders hilfreich. Was Mic noch mehr irritierte, war das triumphierende Grinsen seiner Mutter.
„Was habe ich gesagt, Georg? Was habe ich gesagt? Ich hatte recht.“
„Mama? Kann es sein, dass du mich nicht verstanden hast? Ich versuche dir gerade mitzuteilen, dass ich schwul bin.“
Sie wendete sich Mic zu, diesmal ganz ernst.
„Ach Mici, du hältst mich wohl für sehr dumm, oder?“
„Nein, natürlich nicht. Es ist nur … du hast es geahnt? Wie denn, bitteschön? Ich meine … wieso … also … woher …“
Seine Mutter brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, mein Schatz. Seit Susanne weg ist, bist du immer nur alleine. Ich mochte Susanne, das weißt du, sie war öfter hier als du. Wir haben viel geredet, Susanne und ich, und ich weiß auch, warum das mit euch nicht geklappt hat. Muss ich deutlicher werden?“
Sie warf einen kurzen Seitenblick auf Richard, während Mic mal wieder rot wurde.
„Nein, ist wohl nicht nötig.“
„Na also. Und als du dann so lange alleine warst, haben wir natürlich überlegt, warum das wohl so war. Du hast dich verändert, Mici, dich in deine Arbeit vergraben. Und das lag nicht daran, dass Susanne weg war. Da schienst du uns eher erleichtert.“
„Mama, ich wollte einfach nur für mich sein“, protestierte Mic, doch seine Mutter wischte die Bemerkung mit einer wegwerfenden Geste fort.
„Kann ja sein, aber trotzdem kam uns das komisch vor. Du wurdest immer zurückgezogener. Du hast kaum noch gelacht, weißt du das eigentlich? Und dann haben wir“, sie deutet mit dem Kinn auf Mics Vater, „mal alle Gründe durchgekaut, die es dafür geben könnte. Dass du homosexuell sein könntest, war nur ein möglicher Grund. Dein Vater kam zu dem Schluss, du seist depressiv oder der Lehrerjob ginge dir an die Nieren und du solltest einen Therapeuten aufsuchen, Burn-Out-Syndrom oder etwas in der Art, aber mir ging immer wieder durch den Kopf… darf ich dich mal was fragen? Etwas sehr Persönliches?“
Mic schluckte. Wenn sie so fragte, musste es wirklich etwas sehr Persönliches sein, was sie wissen wollte.
„Also gut, frag.“
„Dieser Junge damals im Jugendheim, dieser Gruppenleiter von euch …“
„Bitte, Mama, da möchte ich nicht drüber reden. Ja, da war was, aber bitte, lass uns nicht über Bernd reden, ja?“
Seine Mutter zog die Augenbrauen hoch.
„Nein, das müssen wir auch nicht. Es ist nur … ich hatte mir damals schon sowas gedacht. Ich habe mal gehört, wie ihr telefoniert habt und hätte schwören können, du hast ihm Küsse durch das Telefon geschickt. Und du schienst mir immer so … beschwingt, himmelhochjauchzend, wenn du zum Jugendheim gingst, und du hast immer nur von Bernd geredet … Und dann, als der arme Junge sich umgebracht hat, da warst du auch schon so verändert. Ich wollte dich damals schon danach fragen, aber du warst plötzlich so unerreichbar für mich geworden, und ich habe auch gehofft oder glauben wollen, wenn du wirklich Probleme hättest, würdest du mit uns darüber reden können.“
Ein fragender Blick traf Mic, der sich innerlich wand.
„Tut mir leid, Mama. Ich konnte einfach nicht …“
Mic fühlte sich plötzlich völlig hilflos. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, hier bei seinen Eltern an Bernd denken zu müssen, geschweige denn über ihn reden.
Er spürte, wie Richard einen Arm um ihn legte.
„Das ist immer noch ein schwieriges Thema für Mic, Jo.“
„Entschuldige, mein Schatz. Ich will keine alten Wunden aufreißen, aber du wolltest wissen, wie ich auf die Idee gekommen bin.“
Die Stimme seiner Mutter klang plötzlich ganz weich.
„Schon ok …“, murmelte Mic, und seine Mutter redete weiter.
„Dann vor ein paar Wochen warst du wie vom Erdboden verschluckt, ich hab mir solche Sorgen gemacht. Also bin ich zu dir gegangen, aber du warst entweder nicht da oder hast die Tür nicht geöffnet. Da habe ich deine Nachbarin getroffen, diese Babs. Ein nettes Mädel übrigens. Ihr ist da etwas rausgerutscht. Du seist unglücklich verliebt und zu stur, mit IHM zu reden. Sie sagte IHM.“
„Babs hat …“
Mic wollte seine Mutter verärgert unterbrechen, aber die redete unbeirrt weiter.
„Mach ihr bitte keine Vorwürfe, ja? Sie hat ihren Versprecher bemerkt und versucht, es so zu drehen, als habe sie sich versprochen, allerdings nicht sehr glaubwürdig. Sie ist wohl eine sehr schlechte Lügnerin.“
Sie runzelte die Stirn.
„Aber ich glaube, sie hatte sogar einen Namen erwähnt. Nicht Richard … oder doch? Ich kann mich auch täuschen. Jedenfalls habe ich Paps davon erzählt.“
Sie wendete sich Richard zu.
„Und als sie mich dann vorgestern angerufen haben, weil Mic zusammengebrochen war und im Krankenhaus lag, da klangen sie nicht nur besorgt, sie haben geschluchzt, da bin ich mir ganz sicher. Sie klangen ganz und gar nicht nur wie ein besorgter Freund.“
Richard räusperte sich.
„Ich hätte nicht gedacht, dass man das so hören konnte …“
„Meine Ohren funktionieren noch ganz wunderbar, Richard.“
Mic starrte seine Mutter noch immer ungläubig an.
„Sieh mich nicht so an, Mic. Eins und eins kann auch deine Mutter noch zusammenzählen. Noch bin ich nicht senil.“
Mic seufzte.
„Nein, alles, nur das nicht. Kann ich mal die Kaffeekanne haben? Willst du auch noch, Richard?“
Stumm goss Mic die Tassen wieder voll.
„Und jetzt? Was haltet ihr davon? Ich meine … von mir mit Richard?“
Mics Vater schmunzelte.
„Gar nichts. Ich hatte gehofft, es wäre was anderes, denn nun bedeutet es, deine Mutter hatte einmal mehr Recht.“
„Georg!“, kam es tadelnd von Mics Mutter. „Der Junge ist schon unsicher genug. Siehst du das nicht?“
„Der Junge versteht schon, wie ich das meine, oder? Mic?“
Das ging Mic dann doch zu weit.
„Heeee, der Junge ist 31 und kein Junge mehr!“
„Papperlapapp! Du bleibst immer unser Junge, find dich damit ab. Erst recht, wenn du so komische Fragen stellst. Nur hätte ich dir einen leichteren Weg gewünscht. Ich dachte, du kennst uns und unsere Einstellung. Du bist glücklich? Dann sind wir es auch. Ich dachte immer, das wüsstest du.“
Ein leicht vorwurfsvoller Ton lag in ihrer Stimme, stellte Mic fest.
„Weiß ich auch. Aber es ist trotzdem gut, es nochmal zu hören.“
„Gut, jetzt hast du es gehört“, kam es trocken von Mics Vater.
„Und jetzt seid ihr dran mit Erzählen. Woher kennt ihr euch? Und wie lange?“
Mic grinste.
„Sonst willst du nichts wissen, Paps? Du bist ja gar nicht neugierig …“
„Du hast mich erwischt. Natürlich möchte ich auch noch wissen, ob der Herr Richard einem anständigen Beruf nachgeht, ob er katholisch ist und regelmäßig den Gottesdienst besucht, aus gutem Hause kommt, dich ernähren kann, was seine Eltern machen und was Eltern sonst angeblich so fragen. Sie nehmen doch hoffentlich keine Drogen, Richard?“
Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht, als Richard nur kicherte.
„Ich mach mal einen Sekt auf, um eurem Sprachzentrum auf die Sprünge zu helfen. Keine Sorge wegen der Fahrerei. Nach dem Essen heute Abend ist der wieder verdaut …“
Mic tat entrüstet.
„Ist jetzt nicht wahr, oder? Paps, du machst dich lustig über mich. Das glaubt mir kein Mensch … und jetzt fängst du auch noch vom Abendessen an. Wir wollten doch nicht …“
Richard hielt ihm den Mund zu.
„Ach Mic, Sauerbraten mit Klößen und Rotkohl! Das willst du mir wirklich vorenthalten?“
Mit einem Seitenblick auf seine Mutter, die Richard dankbare Blicke zuwarf, knurrte Mic zurück:
„Und du schleimst doch!“
Richard grinste.
„Nö, ich mag nur zu gern Sauerbraten. Hab ich gewonnen?“
„Ja, ja, hast gewonnen …“, grummelte Mic, der langsam anfing zu begreifen, was hier gerade passiert war.
Es wurde tatsächlich ein netter Abend, obwohl Mic und Richard abwechselnd gefühlte 1000 Fragen beantworteten. Der Wissensdurst der Eltern schien unerschöpflich, und es war nur allzu offensichtlich, dass Richard sich auf Anhieb gut mit ihnen verstand. Schnell ließen sie das förmliche „Sie“ weg und der Ton wurde vertraulicher. Mic war das alles fast schon ein wenig unheimlich.
Nach dem – wie Mic zugeben musste – phantastischen Essen stand er mit seiner Mutter in der Küche und räumte die Spülmaschine ein, als sie plötzlich innehielt und die Küchentür schloss.
„Mici? Wann besuchst du uns nochmal alleine?“
Mic mussten wohl die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben sein, denn sie beeilte sich fortzufahren: „Bitte versteh das richtig. Richard scheint ein netter Kerl zu sein und ich habe nichts gegen ihn. Ich würde nur gern mal in Ruhe und alleine über ein paar Dinge mit dir sprechen.“
„Was für Dinge, Mama?“
Jo seufzte.
„Über die letzten Wochen zum Beispiel. Wir waren wirklich krank vor Sorge. Du hast keine Ahnung, wie das ist, wenn man weiß, dass es dem eigenen Kind nicht gut geht und man nichts tun kann, einfach ausgesperrt wird. Lass uns versuchen, da eine Lösung zu finden, die dich nicht zu sehr einschränkt und uns trotzdem Schlaf finden lässt. Meinst du, das bekommen wir hin?“
Sofort meldete sich Mics schlechtes Gewissen. Ja, seine Mutter sah müde aus, das konnte auch die viele Schminke nicht vertuschen, also nickte er langsam.
„Sicher schaffen wir das. Gib mir noch ein paar Tage Zeit, ja?“
Das Lächeln seiner Mutter konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ihr wohl einiges zugemutet hatte in der letzten Zeit. Und nicht nur ihr, erinnerte er sich zerknirscht.
1 Kommentar
Die Seite ist aber ganz schön tot hier. Bei Google nicht mehr zu finden. Hab ihr keine Lust mehr?