Fassungslos schaute ich Bob an. Er schaute zu Boden. Abby sprang auf und nahm ihn in den Arm.
„Tut mir Leid, Schatz“, hörte ich Abby sagen.
Dad war tot? Der Mann, der mich jeden Tag schikaniert hat war tot. Jetzt gab es niemanden mehr… Mum weg… Dad tot. Etwas fehlte. Ich fühlte keinen Schmerz. Es tat irgendwie gar nicht weh, dass die Gewissheit da war, diesen Mann nie wieder zu sehen.
„Tom?“
War das schlimm? War ich jetzt gefühlskalt, weil ich nicht schreiend in Tränen ausbrach? Nicht eine Träne bahnte sich einen Weg aus meinen Augen. Dieses Kapitel meiner Vergangenheit war nun auch geschlossen.
„Tom?“
Erschrocken sah ich auf.
„Tom, ist alles in Ordnung mit dir… du bist so weiß um die Nase.“
Bob war vor mir auf die Knie gegangen. Seine Hand lag auf meiner.
„Schon okay.“
Bob sah mich durchdringend an.
„Ähm… es ist wirklich alles klar. War ja nur eine Frage der Zeit… na ja, bis er bei diesem Alkoholkonsum sterben würde, oder?“
Abby und auch Bob schauten mich schockiert an.
„Was denn? Sorry, ich kann diesem Mann, der sich mein Vater nannte, nichts mehr abgewinnen…“
„Er war dein Vater…“, meinte Abby leise.
„Mein Vater?“, meinte ich und fing hysterisch an zu lachen.
Mit großen Augen schauten mich die beiden an.
„Ein Vater kümmert sich um seinen Sohn, ist für ihn da, wenn er ihn braucht. Dad war nie für mich da… Bob war in den letzten Tagen mehr Vater für mich, als mein Dad in den letzten Jahren je gewesen war!“, schrie ich jetzt fast.
Bobs Augen füllten sich mit Tränen und auch Abbys Augen waren feucht.
„Warum soll ich einem Mann hinterher heulen, der mich nie liebte, der mir nie ein Dad war…“
Meine Stimme erstickte fast bei den letzten Worten, weil mir einfach die Luft ausging. Nun füllten sich meine Augen doch mit Tränen. Aber nicht, weil ich Dad verloren hatte, sondern weil mir bewusst wurde, was ich durch diesen Mann verloren hatte.
Ich fiel Bob um den Hals und begann zu schluchzen.
„Ähm… hallo, was ist denn hier passiert?“
Auf der Treppe zur Veranda standen Molly und Lesley.
*-*-*
„Ich möchte nicht, dass ihr wegen mir zumacht“, meckerte ich.
„Tom, hör auf! Das ist beschlossene Sache. Wir fliegen gemeinsam in die Staaten. Schon alleine, weil ich Grandma bei diesen Gang nicht alleine lassen möchte“, sagte Bob.
Wir saßen nun alle in der Küche am Tisch und diskutierten darüber, wie man den Flug in die Staaten am Besten bewerkstelligen könnte. Bob hatte sich in den Kopf gesetzt, die Praxis einige Tage zu schließen. Na ja, eine Vertretung für Notfälle wäre schnell beschafft.
Lesley saß die ganze Zeit ruhig am Tisch, wich meinen Blicken aus. Säuerlich verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Aber nur wegen Grandma…“, meinte ich.
Molly schaute mich mitleidig an. Ich war mir sicher, sie verstand meinen Aufstand nicht. Wie konnte sie das auch, sie kannte ja Dad nicht.
„Ich rufe das Reisebüro an und lass Tickets buchen“, meinte Bob und stand auf.
Molly sah ihren Dad an.
„Was?“, fragte Bob.
„Ähm ich weiß… es ist nicht der passende Augenblick dafür…“
Bob ging neben seiner Tochter in die Hocke.
„Was ist, mein Schatz?“, fragte er.
„Ich wollte… na ja… oh Mann. Ist das schwer… ich bin mit Lesley zusammen… er ist mein Freund…“
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war die Stimmung im Raum plötzlich eine ganz andere. Lesley saß zusammen gekauert auf seinem Stuhl und war tief rot.
„Wurde auch langsam Zeit“, konnte ich von Abby hören.
„Glückwunsch euch beiden“, sagte Bob und umarmte seine Tochter.
Abby wuschelte dem verlegenen Lesley über den Kopf.
„Und was ist nun das Begehr meiner Tochter?“, fragte Bob.
„Ich weiß… ich könnte endlich mal wieder Grandma sehen… aber ich würde … lieber gern hier bei Lesley bleiben…“
Bob schaute zu seiner Frau, die nach kurzer Zeit nickte.
„Okay, dann geh ich mal sechs Tickets bestellen“, meinte Bob und erhob sich.
„Sechs?“, fragte Molly erstaunt.
„Na ja, wenn unsere Kinder nicht ohne ihre Freunde auskommen, müssen wir die wohl mitnehmen“, antwortete Bob mit einem Grinsen.
Bob hatte >unsere Kinder< gesagt, erstaunt und auch gerührt starrte ich ihn an.
„Ich geh doch recht in der Annahme, dass du und Berry nun auch zusammen seid, oder?“
Die Farbe in meinem Gesicht bekam Hochkonjunktur. Molly schaute mich erstaunt, aber auch grinsend an.
„Oder habe ich das heute morgen falsch verstanden?“, setzte Bob nach.
Fassungslos schaute ich Bob an. Er war mir weit voraus. Er grinste mich breit an.
„Was? Hast du keine Stimme mehr?“
Ich schüttelte meinen Kopf. Dabei streifte mein Blick Lesley. Er schaute mich gequält an. Ich erwiderte seinen Blick fragend.
„Ich bin im Büro, wenn mich jemand sucht“, meinte Bob und verschwand.
„Ich komme mit“, meinte Abby und lief ihm nach.
Nun saß ich mit Molly und Lesley alleine am Tisch.
„Ich glaube, ich lasse euch beide Mal alleine… da ist ein Gespräch fällig“, sagte Molly.
Sie erhob sich, drückte Lesley einen Kuss auf die Wange und verschwand ebenso. Nun löste sich Lesley aus seiner Starre und schaute nach unten.
„Ich… ich wollte mich entschuldigen…“, stammelte er.
„Wofür?“, fragte ich.
„Dass ich dich einfach hab sitzen lassen.“
Bei diesem Satz hob Lesley wieder den Kopf und sah mich wieder an. Seine Augen waren feucht.
„Ich bin dir nicht böse, Lesley. Irgendwie verstehe ich dich auch…“
„Verstehen?“
„Man kriegt nicht jeden Tag erzählt, dass man einen Schwulen vor sich sitzen hat.“
Ich wunderte mich über mich selbst, wie ruhig ich das gesagt hatte. Mein Selbstbewusstsein war in den letzten Tagen enorm gestiegen… jedenfalls in dieser Sache.
„Ich lebe mit einem zusammen, warum sollte mich das schocken?“, fragte Lesley.
Treffer – versenkt! Ein Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit. Berry war schwul, nun hatte ich 100-prozentige Gewissheit.
„Und warum bist du dann weggelaufen?“
Verlegen hob Lesley die Hand und rieb sich über sein Gesicht.
„Mag für dich vielleicht kindisch klingen…“
„Was?“, fragte ich.
„Ich dachte… du könntest mein bester Freund werden…“
„Öhm… danke…, dass kann ich doch immer noch werden. Wo ist das Problem?“
„Ach, ich weiß auch nicht. Plötzlich brannte bei mir eine Sicherung durch. Ich sah dich schon mit Berry zusammen und da wäre kein Platz mehr für mich.“
Ich konnte nicht anders und fing an zu lachen.
„Sorry“, meinte ich, „wie kommst du darauf, dass da kein Platz mehr für dich ist?“
Lesley zuckte mit seinen Schultern.
„Ich weiß es auch nicht!“
„Es ist zwar jetzt ein trauriger Anlass, warum wir in die Staaten fliegen, aber ich freu mich, dass ihr mitkommt.“
„Tut mir Leid, wegen deinem Dad.“
„Braucht es nicht… also ich meine… für mich ist es nicht so schlimm… du weißt wie das Verhältnis zu meinem Dad war.“
„Er war dein Dad…!“
Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Ich glaube, ich fahr dann mal heim, um Berry mal zu berichten, was hier vorgefallen ist. Blicken lassen müsste ich mich sowieso, sonst gibt meine Mum noch eine Vermisstenanzeige raus.“
„Okay“, meinte ich und stand langsam auf.
Lesley kam zu mir her und nahm ich einfach in den Arm.
„Danke, dass du mir nicht böse bist“, hörte ich ihn in mein Ohr flüstern.
Ich drückte ihn von mir weg und lächelte ihn an.
„Freunde?“, fragte ich.
„Freunde!“
Noch einmal drückten wir uns fest aneinander.
*-*-*
„Ja, ihm geht es gut… er freut sich, euch wieder zu sehen…“
Abby saß am Schreibtisch und telefonierte wohl mit Grandma. Bob saß am anderen Schreibtisch und telefonierte wohl immer noch mit dem Reisebüro.
„Nein, Grandma. Wir nehmen ein Hotel. Zu sechst kommen wir nicht bei dir unter.“
Abby schaute auf und lächelte mich an.
„Es werden noch Freunde von Molly und Tom mitkommen… nein, das ist nicht zu teuer und ja, wir können uns das leisten.“
Wie teuer das werden würde, darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.
„Moment, ich muss Bob fragen, ob er schon Näheres weiß“, meinte Abby und schaute zu Bob, „weißt du schon, wann wir fliegen?“
„Ja morgen… werden gegen Mitternacht in den Staaten eintreffen.“
Morgen schon? Abby berichtete Grandma die Neuigkeit. Hinter mir öffnete sich die Tür und Molly schaute herein.
„Kommst du mal, Tom?“, fragte sie.
„Ja… gleich, Grandma ist am Telefon.
„Ähm, du hast Besuch…“
Erstaunt schaute ich Molly an.