Solarplexus Manipura – Teil 6

Mein Herz schien einen Schlag aussetzen zu wollen und gleichzeitig raste es mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Ich spürte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildete und ich von einem Schwindelgefühl erfasst wurde. Meine Beine drohten mir den Dienst zu versagen, meine Knie wurden weich. Mein Blick war starr auf IHN gerichtet – keine 500m von mir entfernt stand Rolf.

Ich konnte nur fassungslos beobachten, wie er mitten auf der Straße mit einem anderen Mann knutschte. Sie befummelten sich dabei unablässig und es schien die beiden nicht zu stören, dass andere Passanten teilweise den Kopf über sie schüttelten. Ich konnte sogar viele sehen, die auf die beiden zeigten und aufgeregt miteinander tuschelten oder auch verärgert Kommentare in ihre Richtung warfen. Verstehen konnte ich zwar kein Wort, dazu war ich zu weit weg, doch der Ausdruck in den Gesichtern der pöbelnden Menschen sagte alles aus. Als sich sie die beiden voneinander lösten, konnte ich Rolfs typisch arrogantes Grinsen erkennen und wie er den Leuten nur provozierende Blicke zuwarf, ohne diese aber anzusprechen. Mich indes hatte er noch nicht gesehen, aber dass er sich genau in meine Richtung weiter bewegte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Ich sah mich ängstlich und gehetzt um, doch von Kay war noch nichts zu sehen. Meine Gedanken überschlugen sich, was sollte ich nur machen? Einerseits wollte ich weglaufen, doch andererseits konnte ich mich keinen Millimeter bewegen. Es war, als wäre mein Körper einem Anfall von akuter Lähmung unterlegen, er wollte mir einfach nicht gehorchen. Nie hatte ich den Spruch ‚Gelähmt vor Angst’ nachvollziehen können, doch in diesem Moment bekam ich am eigenen Leib zu spüren, wie sich das anfühlte. Während Rolf mit seinem Typen immer näher kam, stand ich verzweifelt einfach nur da und starrte ihn an. Um mich herum waren zwar einige Läden geöffnet, doch in die konnte ich schlecht flüchten. Nicht mit einem Hund, wo doch fast überall Hundeverbot herrschte. Sollte ich es trotzdem versuchen? Einfach mit dem Hund in einen Laden? Aber was hätte ich denn dem Personal erzählen sollen? Dass ich Todesängste ausstand und deswegen das Verbotsschild nicht beachtet hatte? Die würden mich doch nur auslachen und mir kein Wort glauben. Wer war schon am helllichten Tag und mitten in der Fußgängerzone einer Stadt auf der Flucht vor seinem Ex? Womöglich hätten die mich höflich gebeten, ihren Laden samt dem Hund wieder zu verlassen und dann wäre ich Rolf bestimmt direkt in die Arme gelaufen. Und Tam einfach irgendwo anbinden? Das traute ich mich nicht. Trotz meiner Angst dachte ich an den Hund und auf die Reaktion der Stadtbesucher, wenn ein in höchstem Maße gefährlicher Rottweiler, eine Bestie noch dazu ohne den in manchen Städten zur Pflicht gewordenen Maulkorb mutterseelenalleine inmitten einer belebten Fußgängerzone angebunden wäre. Nicht auszudenken. Dass Tammo äußerst friedlich und sanftmütig war, interessierte bei seinem Aussehen und seiner Rasse keinen. Für die ganzen Wichtigtuer wäre es vermutlich auch unverständlich, warum ich trotz Begleitung eines so genannten Kampfhundes so dermaßen in Panik verfiel. Aber welchen Schutz brachte mir das denn? Natürlich, Tammo hätte mich vermutlich ohne zu zögern verteidigt, aber was dann? Wer weiß, was er mit Rolf angerichtet hätte und wer weiß, welchen Schaden sich der Hund damit selbst zugefügt hätte. Rolf hätte schon beim geringsten Kratzer Anzeige gegen Kay erstattet und was dann mit dem Hund passiert wäre, daran wollte ich nicht mal denken.

Gerade in dem Moment, als ich mich hektisch wieder in Rolfs Richtung drehte, blieb dieser sprichwörtlich wie von der Tarantel gestochen stehen und starrte mich ungläubig an.

Er hatte mich entdeckt.

Nach nur sehr kurzer Fassungslosigkeit fing er an gehässig zu grinsen und bewegte sich weiter in meine Richtung, seine Begleitung im Schlepptau. Er ließ mich dabei kein einziges Mal aus den Augen. Ich dagegen stand immer noch da wie gelähmt, nahm nur noch ihn wahr. Seine fixierenden Blicke. Sein überhebliches Grinsen. Aber als er anfing seine Schritte zu beschleunigen, löste sich die Starre in mir endlich. Eilig hetzte ich mit Tammo in die Richtung, in die Kay verschwunden war. Der Hund winselte dabei ganz kurz auf, weil ich ihn so plötzlich an der Leine gerissen hatte. Doch er schien auch zu merken, dass etwas nicht stimmte, denn er passte sich sofort meinen schnellen Schritten an und blieb treu an meiner Seite. Ein Blick über meine Schulter bestätigte mir, dass nun auch Rolf immer schneller wurde und als ich anfing zu laufen, sprintete auch er los. Den anderen Typen hatte er einfach stehen gelassen.

Ich fühlte mich hilflos, die Verzweiflung in mir stieg ins Unermessliche. Trotz der vielen Menschen um mich herum war ich nicht in Sicherheit, denn sollte Rolf mich erwischen, wäre es ihm garantiert egal, ob er Beobachter hatte oder nicht. Ich bezweifelte sogar, dass auch nur einer der Passanten die Polizei gerufen hätte, so gleichgültig wie die Menschen untereinander geworden waren. Nein, helfen konnte mir keiner.

Ich bekam vor Angst kaum mehr Luft zum Atmen und achtete nicht mehr darauf, wo ich hinlief. Dabei rempelte ich auch mehrere Male jemanden an und nicht selten wurde ich deswegen angeschnauzt. Doch ich rannte einfach weiter.

Als ich erneut einen Blick zurückwarf, blieb Rolf gerade hinter ein paar Menschen zurück. Mir war unklar, was er damit bezwecken wollte und auch etwas verwirrt. Deswegen ließ ich ihn gar nicht mehr aus den Augen und so kam, was passieren musste. Ich prallte frontal gegen einen anderen Fußgänger und hätte ihn auch beinahe zu Boden gerissen, als ich mich aus dem Gleichgewicht gekommen einfach an ihm festhielt. Erschrocken wollte ich mich hektisch entschuldigen, doch als ich meinen Blick hob, sah ich sprachlos in zwei wunderschöne grün-braune Augen.

Vor mir stand Kay und legte besorgt beide Hände auf meine Schultern. „Bastian, was ist denn los?“

Atemlos beobachtete ich die Menge hinter mir und flüsterte nur das eine Wort: „Rolf…“

Verwirrt suchte ich die Straße nach ihm ab, konnte ihn aber nicht mehr entdecken.

Ich sah Zorn in Kay’s Augen, als er auf mich einredete: „Ist mit dir alles in Ordnung? Hat er dich angefasst?“

Ich schüttelte den Kopf und erwiderte kleinlaut: „Nein, ich … ich bin weggelaufen.“

„Das war das einzig Richtige, was du hättest tun können, Bastian.“

Ich reagierte nicht darauf, sondern suchte immer noch nach ihm. Nachdenklich sagte ich leise: „Er ist weg.“

Da legte Kay seine Hand an mein Kinn und zwang mich behutsam, ihn anzusehen. Forschend betrachtete er mich und lächelte dann leicht, während er eine Strähne aus meiner Stirn strich. „Er hat wohl gesehen, dass du nicht alleine bist und zog es vor aufzugeben. Möchtest du lieber heim? Ich mein … zu MIR heim?“

Ich war total in seine Augen versunken und schüttelte nur den Kopf.

„Ganz sicher?“

Noch immer starrte ich in Kays wunderschöne Augen und nickte nur leicht. Spürte noch immer seine Hand, die leicht an meinem Kinn lag. Auch Kay betrachtete mich lange, sah mir in die Augen und ließ seinen Blick langsam zu meinen Lippen wandern. Mein Atem beschleunigte sich leicht, als sich sein Gesicht langsam dem meinen zu bewegte und ich war schon versucht, meine Augen zu schließen und auf einen Kuss von Kay zu warten.

„Das gibt’s doch nicht! Sind denn heut lauter Perverse unterwegs?!“

Ich zuckte erschrocken zusammen und auch Kay fuhr zurück. Ängstlich suchte ich nach der Person, die den Kommentar abgelassen hatte, doch sah ihn nur noch von hinten, als er sich kopfschüttelnd entfernte.

Was war das eben? Hatte Kay mich küssen wollen?

„Ahm … was hältst du davon, wenn wir im Orient ne Kleinigkeit essen?“, fragte mich Kay mindestens genauso verwirrt wie ich es war.

„Ja … das … können wir gerne machen“, antwortete ich und versuchte dabei noch nicht einmal, meine Verwirrung zu verstecken.

Kay nickte still und so machten wir uns auf den kurzen Weg ins Orient. Nach ein paar Schritten schon griff er wortlos nach meiner Hand und hielt sie fest, bis wir beim Lokal angekommen waren.

Meine Verwirrung stieg dadurch noch weiter und ich ließ meine Hand einfach nur locker in der seinen liegen, ohne mich festzuhalten. Peinlich genau achtete ich darauf, meine Hand nur ja nicht zu bewegen, aus Angst, er könne sie gleich wieder los lassen.

Wenige Minuten später hatten wir das Lokal auch schon erreicht und gingen nacheinander durch die offene Tür.

„Hey Kay, was ist los? Ich dachte du brauchst unbedingt frei diese Woche?“, wurden wir auch gleich begrüßt.

„Ja klar, damit wir hier bei dir essen können“, lachte Kay.

„Na, dann macht euchs doch mal bequem. Die Karten bring ich euch gleich.“

Kay guckte mich kurz an und lächelte, bevor er mich in den hinteren Teil des Orients führte. Hier stand nur ein einziger Tisch für vier Personen, jedoch war der Tisch sehr abgeschottet. Zugang hatte man von zwei Seiten… eine zur Eingangstür hin und eine zur Küche, der Rest wurde von fast zimmerhohen Grünpflanzen eingerahmt.
Insgesamt eine wahnsinnig schöne Kulisse und sehr romantisch, vor allem wenn man nur zu zweit war. Naja, wegen der Romantik hatte Kay den Tisch aber bestimmt nicht ausgewählt, denn er meinte lächelnd: „Von hier haben wir den besten Überblick zum Eingangsbereich und können uns trotzdem ungestört unterhalten.“

Ich nickte zur Antwort und kaum hatte ich mich erschöpft an den Tisch gesetzt, kam auch schon Kays Onkel und brachte uns die Karten. Dabei hatte er außerdem ein kleines Tablett, auf dem drei Gläser gefüllt mit einer undefinierbaren Flüssigkeit und eine Schale gefüllt mit Wasser standen, dabei. Erst reichte er uns die Karten, bevor er die Wasserschale für Tammo auf den Boden stelle und dann jedem von uns eins der Gläser reichte. Das dritte hatte er für sich selbst mitgenommen und hielt es nun hoch.

„Auf Kosten des Hauses für besondere Gäste … fi sihatik!“

Ich musste wohl extrem belämmert geguckt haben, denn Kay lachte plötzlich und meinte: „Auf dein Wohl.“

Nun lachte auch Kays Onkel und zwinkerte, während ich knallrot anlief. „Hey, das lernst du bestimmt noch, besonders wenn du jetzt öfter mit Kay hier bist.“

Kay wollte öfter mit mir essen gehen?

Kay lachte seinen Onkel an und meinte dann zwinkernd in meine Richtung: „Das ist seine typische Masche in Bezug auf Kundenbindung.“

„Kay! Wie redest du von deinem eigenen Onkel?!“, meinte dieser empört, doch lachte dann auch mit. „So meine Lieben, was wollt ihr denn essen?“, fragte Kays Onkel weiter, von dem ich mittlerweile auch wusste, dass er Khalid hieß.

Ich überließ es wieder Kay für mich mitzubestellen, denn die ganzen orientalischen Namen und Begriffe auf der Speisekarte sagten mir rein gar nichts. Und außerdem hatte er letztes Mal ja schon sehr gut gewählt, das war wirklich lecker gewesen.

Nachdem Khalid wieder in der Küche verschwunden war, bedachte mich Kay mit einem besorgten Blick und fragte: „Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?“

„Ja … alles okay. Ich hatte vorhin nur einen riesigen Schreck.“

„Das hat aber nach entschieden mehr ausgesehen mein Lieber…“

Ich zog es vor, lieber nicht mehr darüber nachzudenken. Es war ja alles gut gegangen. Außerdem schämte ich mich plötzlich extrem. Es war mir unangenehm, dass ich so in Panik verfallen war. Dass ich solche Angst vor einem einzelnen Menschen gehabt hatte. Logische Gedankengänge waren zu dem Augenblick nicht mehr möglich gewesen, doch jetzt, wo ich mich sicher fühlte, fragte ich mich, ob ich nicht übertrieben reagiert hatte. Was hätte Rolf schon groß machen können? Die gedankliche Frage wurde aus einer Erinnerung beantwortet… Es hatte ihn nie sonderlich interessiert, wenn er Zuschauer gehabt hatte. Im Gegenteil…

„Nein, es ist wirklich alles in Ordnung.“ Schon allein mein Tonfall machte überdeutlich klar, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, doch um weitere Fragen von Kay zu vermeiden, fragte ich ihn: „Sag mal, wie kommst du eigentlich als deutscher Blonder zu einem arabischen Onkel?“

Kay stieg auch glücklicherweise auf meinen Themenwechsel, nachdem er mich noch einen Moment mit hochgezogener Augenbraue betrachtet hatte.

„Ganz einfach, er ist mit einer meiner Tanten verheiratet und ist für sie auch nach Deutschland gekommen.“

„Okay, klingt einleuchtend. Aber wie kommt es dann, dass du die arabische Sprache verstehst?“, wollte ich weiter wissen.

„Das kommt irgendwann ganz automatisch. Khalid spricht zwar eigentlich perfekt deutsch, aber seine Muttersprache will er nicht aufgeben, was ich auch verstehen kann.“

Ich nickte zur Antwort nur lächelnd, war jedoch mit meinen Gedanken meilenweit weg.
Immer wieder sah ich Rolfs Bild vor mir. Immer wieder sah ich, wie er mit diesem mir unbekannten Typen rumgeknutscht hatte. Die Reaktionen der Passanten waren ihm vollkommen egal gewesen und das versetzte mir dummerweise einen schmerzhaften Stich in der Brust. Wenn wir zusammen unterwegs gewesen waren, hatte er nicht mal meine Hand in der Öffentlichkeit halten wollen. Wie sähe dass denn aus, hatte ich mir desöfteren von ihm anhören dürfen.
Als Tanja am Tag zuvor erzählt hatte, sie hätte Rolf mit irgendeiner Frau gesehen, war das für mich irgendwie noch nicht richtig greifbar gewesen. Erstens hatte ich schon immer gewusst, dass er geschlechtermäßig beidseitig interessiert war und Zweitens, hatte ich es nicht selbst mit ansehen müssen. Aber ihn jetzt tatsächlich mit eigenen Augen so zu sehen…
Unser finaler Streit, wenn man das denn so nennen wollte, war noch nicht mal ganze drei Tage her, schon vergnügte er sich mit dem nächsten. Oder besser gesagt, mit den nächsten.

Mit schmerzhafter Sicherheit wurde mir bewusst, dass ich die letzten neun Monate nicht mehr als ein Aushängeschild für ihn gewesen war. Etwas, das er rumschubsen konnte und sich stark vorkommen konnte. Ich dachte daran, als er das erste Mal die Hand gegen mich erhoben hatte. Das war auf einer Party seiner Freunde gewesen. Einer seiner Kumpels hatte mich immer wieder angegrapscht und bedrängt. Als mir das zu aufdringlich wurde, hatte ich ihn von mir weg geschupst und er war dabei, bis an den Rande besoffen, auf den Boden geknallt. Rolf war daraufhin total ausgerastet und hatte mich angekeift, was ich mir eigentlich einbilden würde und dass ich nicht so rumzicken solle. Es entstand ein Riesenstreit, an dessen Ende er mich das erste Mal halb bewusstlos geschlagen hatte. Drei Tage hatte er sich nicht mehr bei mir gemeldet und kam dann wieder angekrochen. Tausend Mal hatte er sich reuig entschuldigt, hatte die Schuld auf den Alkohol geschoben. Ein Missverständnis sei es gewesen. Ich Blödmann hatte ihm auch noch verziehen. Jetzt im Nachhinein kam mir in den Sinn, dass er mich damals vielleicht genau deshalb zu der Party geschleppt hatte… damit sich seine Freunde an mir vergnügen konnten.
Wieder sah ich den Moment vor mir, als er mich vorhin entdeckt hatte. Wie gemein er gegrinst hatte und wie er mich verfolgt hatte. Was wäre wohl geschehen, wenn ich nicht weg gelaufen wäre? Was hätte er mir denn schon tun können, so auf offener Straße und am helllichten Tag? Ich wusste es nicht. Ich kam mir so unendlich blöd und kindisch vor. Es war mir so peinlich, dass ich weggelaufen war, anstatt ihm gegenüber zu treten. Ich hatte mich total feige verhalten und hatte vor Angst kaum mehr denken können. Wie peinlich konnte man eigentlich noch sein?

Kay hatte gesagt, es wäre das einzig Richtige gewesen … aber dennoch schämte ich mich dafür. Was er wohl jetzt von mir dachte?

„Bastian?“, hörte ich Kay in dem Moment leise sagen und schreckte hoch. Er bedachte mich mit einem sehr besorgten Blick.

„Ich … ahm … tschuldigung. Ich war nur in Gedanken.“

„Ja, das ist mir aufgefallen“, meinte er lächelnd. „Möchtest du darüber reden?“

Ich schüttelte nur wortlos den Kopf und war froh, als endlich unser Essen serviert wurde. Wirklich Hunger hatte ich zwar nicht und erst recht keinen Appetit, aber zumindest konnte ich mich etwas ablenken.

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In den folgenden zwei Wochen ließ das Gefühl der Hilflosigkeit sehr nach. Allerdings auch nur, wenn ich nicht an den Tag in der Stadt dachte. Es war mir so peinlich, dass ich regelrecht Magenkrämpfe deswegen bekam. Aber die berühmte Verdrängungstaktik hatte ich mir während der Beziehung zu Rolf erfolgreich angewöhnt und so schien es wie ein Erlebnis, das ich nicht wirklich selbst erlebt hatte. Solange ich nicht konkret darüber nachdachte, funktionierte es erstaunlich gut.

Kay hatte sich in unserer gemeinsamen Zeit wirklich sehr um mich gekümmert. Hatte mich kein einziges Mal alleine gelassen, hatte mir zugehört oder hatte mit mir zusammen geschwiegen. Er war einfach nur da.
Mal hatten wir einen ganzen Abend mit Filmschauen verbracht, mal saßen wir im Garten und genossen die milden Abende. Reden konnten wir über nahezu alles und das tat wahnsinnig gut. Ich war es nicht gewohnt, dass mir jemand ernsthaft zuhörte und sich für meine Erzählungen interessierte. Kai nahm mich ernst und zeigte mir, dass ich auch eine eigene Meinung haben durfte. Dass er es mir nicht übel nahm, wenn ich bei manchen Themen anders dachte als er. Kai nahm es mir auch nicht übel, wenn ich wortkarg wurde und eher auf Distanz ging. Wie anders war Rolf gewesen…

Jedenfalls hatte sich trotz aller Gegenwünsche die letzte Nacht, bevor meine Eltern wieder aus dem Urlaub zurückkehren würden, herangeschlichen und obwohl ich mich wirklich bemühte, den Gedanken zu verdrängen, war ich schon jetzt wahnsinnig traurig darüber. Ich wäre gerne noch länger bei Kay geblieben, doch welchen Grund hätte er dazu? Er hatte mich ja nur bei sich einquartiert, damit ich die zwei Wochen nicht alleine zu Hause verbringen musste.

Ich hatte Angst, dass mich die Gedanken an Rolf wieder heimsuchen würden, wenn ich alleine war.

Wir hatten für diesen letzten Abend ein kleines Abendessen geplant, zu dem auch Tanja mit ihrem Freund eingeladen war. Ich hoffte sehr, dass mich das etwas ablenken würde, denn die Gedanken an die kommende Zeit machten mir sehr schwer zu schaffen. Eigentlich hätte ich den Abend auch lieber mit Kay alleine verbracht. Aber was hätte das gebracht?

„Bastian, was ist los mit dir? Du siehst den ganzen Tag schon so traurig aus.“

Ich versuchte zu lächeln und hob statt einer Antwort nur die Schultern. Es wäre mir unangenehm gewesen, hätte ich Kay auch noch mit diesen Ängsten belasten müssen. Er hatte schon so viel für mich getan. Dass er mir meine unbekümmerte Reaktion nicht abgekauft hatte, merkte ich an seinem zweifelnden Blick.

„Bastian, wenn du reden möchtest, jederzeit … du weißt, ich bin für dich da.“

Gerührt von diesen Worten stahl sich in meine traurigen Gedanken tatsächlich ein Hauch von Strahlen und so lächelte ich Kay nur beruhigend an. „Aber ich merk dir schon an, dass du nicht reden willst, hm?“

Ich konnte mir ein leichtes Lachen nicht verkneifen und umarmte ihn statt einer Antwort. Dabei hauchte ich ihm einfach einen Kuss auf die Wange und schüttelte dann den Kopf. Kay lächelte einfach nur und sah mich wieder mit diesem undefinierbaren Blick an. Irgendwie bildete ich mir ein, dass er ein bisschen verlegen zu sein schien, denn er fragte mich plötzlich hektisch: „Hilfst du mir dabei, die Sachen hinaus zu tragen?“

„Klar, ich werd wohl kaum daneben stehen und zusehen wie du dich abrackerst“, erwiderte ich mit einem Grinsen und er schüttelte lachend den Kopf.

Wie sich herausstellte, hatten wir keine Sekunde zu spät damit angefangen, denn gerade als wir den Tisch fertig gedeckt hatten, klingelte es an der Haustür. Kay ging einfach nur um das Haus herum und winkte vom Garten aus, um Tanja und Michael auf uns aufmerksam zu machen.

„Hey ihr zwei … sagt bloß, ihr habt ohne uns angefangen?“, meinte Tanja mit einem frechen Grinsen, bevor wir uns mit einer Umarmung begrüßten.

„Aber nicht doch … wir haben hier nur die Sklavenarbeit vollendet, damit ihr futtern könnt.“

„Kay, du wieder“, lachte Michael herzhaft, bevor auch er Kay umarmte. Die beiden hatten sich seit Kay’s Rückkehr in die Heimat noch nicht gesehen und so folgte auch erst mal ein angeregtes Gespräch, in dem Kay erzählte und erzählte und trotzdem noch eine Ewigkeit mit Fragen von Michael bombardiert wurde.

Und so entwickelte sich von ganz alleine ein sehr angeheitertes Gespräch, während dem wir gemütlich aßen und auch jede Menge Wein tranken. So wurde der Abend trotz meiner Befürchtungen doch sehr lustig. Wir lachten viel und uns fiel auch allerhand Blödsinn ein. Auch war das Drumherum wahnsinnig schön, denn Kay hatte alle Lichter gelöscht und auf der Veranda nur ein paar Fackeln verteilt, die einen romantischen Schein zauberten.

Ich fühlte mich wahnsinnig wohl, genoss den Rotwein und war einfach nur glücklich. Lächelnd beobachtete ich Kay neben mir, der gerade eine angeregte Diskussion mit Michael führte. Ich grinste, als Kay auf seiner Meinung beharrte und auch immer wieder die scheinbar handfesten Argumente Michaels zu widerlegen wusste. Am Schluss kamen sie aber natürlich zu keinem Ergebnis und so wechselten sie lachend das Thema.

Mit einem Blick auf die Rotweinkaraffe stand Kay zwischendurch auf, um ‚Nachschub zu holen’, wie er es nannte. Als er im Haus verschwunden war, bemerkte ich, wie mich Tanja nachdenklich musterte und lächelte sie fragend an. Doch sie erwiderte mein Lächeln nur still und Michael fragte nun in meine Richtung: „Sag mal, ist dein Freund bei allem so stur?“

Stotternd und zögerlich gab ich zur Antwort: „Ahm … eigentlich ist er nicht mein Freund. Also … schon aber nicht im Sinne von ‚mein Freund’, sondern … ahm … ein Freund eben.“ Ich war dabei wahnsinnig froh darüber, dass in dem schwummrigen Licht keiner meine aktuelle Gesichtsfarbe erkennen konnte. Denn die hatte von meinem typischen blass ins dunkeltomatenrot gewechselt.

„Oh sorry, ich dachte nur … ahm … es hat irgendwie so ausgesehen, als wärt ihr zusammen.“

Nun fiel auch Tanja ein und meinte: „Ihr zwei benehmt euch tatsächlich wie ein Paar, auch wenn ihr nicht rumknutscht oder Händchen haltet … ich weiß nicht, die Art wie ihr euch anseht … wie ihr miteinander sprecht …“

In dem Moment kam Kay mit einer gefüllten Karaffe zurück und meinte grinsend: „Na? Auf einmal alle so still?“

Das Gespräch kam schnell wieder in Gang, ich aber wurde nachdenklich. Was hatte Tanja da gesagt? Kay und ich wirkten wie ein Paar? Grübelnd beobachtete ich ihn und mir fiel dabei schon auf, dass er hin und wieder einen Blick in meine Richtung warf und auch lächelte. Aber benahm man sich deswegen gleich wie ein Paar? Dieser eine Gedanke ließ mir den ganzen Abend keine Ruhe mehr.

Weit nach Mitternacht gingen Tanja und Michael schließlich todmüde und auch ziemlich angeheitert schlafen. Dazu mussten sie nicht extra heimfahren, denn Kay hatte ihnen im Erdgeschoß eine Übernachtungsmöglichkeit eingerichtet. Tanja umarmte mich noch kurz und flüsterte etwas zu laut: „Viel Spaß noch, Kleiner“. Erschrocken blickte ich zu Kay, doch Tanja hatte sich schon kichernd bei Michael eingehakt, um mit ihm im Haus zu verschwinden.

Auch ich wandte mich dem Haus zu und wollte gerade hineingehen, als mich Kay sanft davon zurückhielt.

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