Mit anderen Augen – Teil 9

Kapitel XLV: London, Abenteuer Metropole

Ein Summer weckte sie am folgenden Morgen. Ganz überrascht, dass sie schon wieder aufstehen sollten, knuddelte Carsten seinen Freund liebevoll. Wie angekündigt zog sich Carsten etwas über und ging sich mit Max die Beine vertreten.

Andreas ging währenddessen unter die Dusche, wobei er zuvor noch eine kleine Überraschung von Max entfernte. Nach wenigen Minuten klopfte es an der Abteiltür. Ein junger Mann der Eisenbahngesellschaft trat ein und verwandelte das Abteil.

Die Sitze kamen wieder zum Vorschein und der Tisch wurde wieder aufgestellt. Die ganze Aktion dauerte ein paar Minuten, in denen Andreas auf dem Gang wartete.

„Da seid ihr ja schon wieder.“

„Ja, warum stehst du hier herum?“

„Das Abteil wird gerade umgebaut. Wie war der Spaziergang?“

„Es ging. Ehrlich, mir wäre es lieber Max frei laufen lassen zu können. Mir scheint, als fehle ihr ein ordentlicher Sprint über eine Wiese. Nur gut, dass sie keine Geschäfte machen musste.“

„Das hat sie heute schon getan oder zumindest irgendwann in der Nacht. In der Duschkabine fand ich einen Haufen von ihr.“

„Sorry.“

„Ach was, besser da als auf dem Teppich. Ich habe ihn beseitigt und gut ist. Paul sagte mir, dass solche Dinge passieren und die beste Art damit umzugehen ist, kein Aufheben darum zu machen. Nur frage ich mich, wie sie da hinein gekommen ist.“

„Das kann ich vielleicht erklären, die Tür hat im Schloss geklappert, da habe ich sie auf gemacht. Max hat wohl die Gelegenheit genutzt. Wahrscheinlich ist die Tür später wieder zugefallen.“

Carsten hakte sich bei Andreas ein und gab ihm einen Kuss auf die Wange und sein Freund verstand diese Geste. Max saß grinsend daneben. Der aus dem Coupé austretende französische Bedienstete grüßte Carsten und fragte an, wann ihr petite déjeuner serviert werden sollte.

Andreas beeilte sich, ihm auf Französisch zu antworten, denn Carsten machte eine verdutzte Miene. Danach traten sie wieder in ihr Abteil.

„So Carsten, du hast jetzt eine halbe Stunde Zeit bis das Frühstück kommt. Trödel nicht.“

„Alter Sklaventreiber.“

„Ja und wir bekommen eine Ration Brötchen und Kaffee extra.“

„Ich beeile mich.“

Sprach es und verschwand in der Nasszelle. Andreas nutze die Zeit nach Max’ Wasser zu sehen. Viel hatte sie davon nicht geschlabbert, also ließ er alles beim Alten. Dann sah er sich um, räumte seine persönlichen Schlafsachen in den Koffer und setzte sich ans Fenster.

Der Zug fuhr durch eine weite Ebene mit vereinzelten Häusern und Bauernhöfen. Er schnappte sich den Fahrplan. So wie es aussah, lagen sie noch im Zeitplan, der nächste Halt wäre Metz.

Carstens Erscheinen ließ ihn kurz aufblicken und den Atem stocken. Sein Freund stand nackt im Abteil.

„Sorry, ich habe meine frischen Sachen vergessen. Kannst du mir ein paar Dinge aus dem Koffer geben? Unterwäsche, ein frisches Shirt und die Jeans von gestern.“

„Hast du eine Ader von Exhibitionismus? Wir können jeder Zeit von Außen gesehen werden.“

„Oh, magst du mich nicht so sehen?“

„Doch schon, du bist ja mein Adonis, aber wir erreichen gleich Metz.“

„Keine Panik, wenn ich Recht informiert bin, sind diese Abteile von außen nicht einsichtig. Hilfst du mir jetzt oder soll der Zugbegleiter mich so sehen?“

Andreas grinste und holte aus dem Koffer die gewünschten Sachen. Er reichte sie ihm und als Carsten sich umdrehte, konnte er nicht an sich halten, ihm einen Klaps auf den süßen Hintern zu geben.

Unter nicht ganz ernst gemeinten Verwünschungen verschwand Carsten. Wenige Minuten später betrat ein frisch gestriegelter Carsten das Abteil. Als erstes holte er den Fressnapf hervor und füllte den Inhalt einer Dose hinein.

Max fackelte nicht lange und schmatzte herzhaft. Das französische Frühstück fanden beide abwechslungsreich. Vor allem genossen sie den Café au lait. Die Brötchen waren noch warm und es gab genug Aufschnitt und Marmelade.

Kurz vor Paris wurden sie von ihrem Zugbegleiter informiert, dass sie bald den Bahnhof erreichen würden. Andreas packte die restlichen Sachen weg und Carsten leerte die Näpfe und reinigte diese im Waschbecken.

Genau als der Zug seine Fahrt verlangsamte, waren sie fertig. Im Sommer war es schon früh am Morgen in der französischen Metropole recht warm, besonders wenn man gerade aus einem klimatisierten Zug stieg.

Der Bedienstete der Eisenbahngesellschaft half den Jungen bei ihren Gepäckstücken. Andreas nahm erst den Koffer und dann den Rucksack entgegen. Carsten wartete noch im Zug. Dann stieg Max zuerst aus, setzte sich auf den Bahnsteig und wartete.

Einige Mitreisende beobachteten ihre Aktion, zumal sie den Weg direkt vor der Tür versperrte. Carsten orientierte sich beim Aussteigen an dem Handgriff und der Zugtür. Als er seinen Blindenstock am Gleis hervorholte, gesellte sich Max zu ihm.

Andreas gab ihm den Rucksack und er selbst zog den Koffer hinter sich her. Gemeinsam verließen sie den Bahnhof.

„So, Stop!“

„Was ist los Andreas?“

„Warte einmal, lass mich erst einmal die Karte hervorholen und sehen wo wir lang müssen. Nicht das wir gleich vor dem Eifelturm stehen.“

Andreas holte seinen Plan hervor und sah sich orientierend um. Nach wenigen Augenblicken hatte er ihren Standpunkt auf der Karte lokalisiert.

„Schatz, wir können. Es sind ungefähr 1500 m und wie ich gerade feststellen muss, ausgeschildert.“

„Gut, ich nehme den Rucksack. Dann lasse ich Max an der Leine laufen, wenn du mich führst. Gibt es auch einen Grünstreifen wo Max machen kann?“

„Ja und ich habe auch das dazugehörige Equipment, damit es nicht zu teuer wird.“

„Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe?“

„Lass mal überlegen…“

„Schuft, ich liebe dich, Andreas.“

Andreas gab daraufhin Carsten einen Kuss und der Golden Retriever las schon mit der Nase in der Pariser Hundezeitung. Die Jungen ließen sich ein wenig Zeit um den Bahnhof zu wechseln.

Am Gare du Nord hatte Andreas die glorreiche Idee, ein Straßencafé aufzusuchen und noch ein wenig die Pariser Luft und Atmosphäre zu genießen. Eine halbe Stunde vor Abfahrt des Eurostar trafen sie am Schalter ein.

Dort wurden ihre Tickets geprüft und ein Mitarbeiter begleitete sie zu ihrem Wagon. Er half Andreas das Gepäck bis zum Platz zu bringen und zu verstauen. Carsten setzte sich auf einen der breiten Sessel und Max legte sich seitlich zu seinen Füßen.

Andreas selbst setzte sich ihm gegenüber und genoss den Komfort. Pünktlich fuhr der Eurostar in Richtung London ab. Paris hatten sie noch nicht verlassen, da kam auch schon der Zugbegleiter.

Er prüfte noch einmal die Tickets und fragte nach ihren Wünschen. Andreas war der Sinn nach etwas Ruhe, doch zuvor holte er, auf Carstens Wunsch, dessen PowerBook hervor. Carsten wollte die Zeit nutzen, um sich noch ein wenig mehr über das London Symphony Orchestra zu informieren.

Obendrein bestellte er sich eine Tasse Kaffee und fragte an, ob sie auch eine Schüssel Wasser für Max bekommen könnten. Der Bedienstete bestätigte seine Bestellung. Carsten schaltete seinen kleinen Computer ein und las ein wenig in der Geschichte des Orchesters, dann noch ein wenig über den Dirigenten William Mathew.

Zwischenzeitlich wurden der Kaffee und ein Napf Wasser serviert. Ganz so schlimm war das Getränk doch nicht, obwohl es nicht unbedingt Carstens Geschmack traf. Noch vor dem Tunnel las er in seinem virtuellen Stadtführer über die englische Metropole.

Es konnte ja nicht schaden, etwas mehr über die Gaststadt zu wissen. Da er von Andreas nichts hörte, ging er davon aus, dass er ein kleines Nickerchen machte und Max erinnerte ihn mit ihrem Schwanzwedeln daran, dass sie unter seiner Bank lag.

Es lag wohl daran, dass sie in den Eisenbahntunnel unter dem Meer einfuhren, Carsten hatte plötzlich ein leichtes Taubheitsgefühl auf den Ohren. So ähnlich, als wenn er im Schwimmtraining tauchen würde.

„Das ist echt blöd, dieser Druckunterschied, ich höre alles wie durch Watte.“

„Dann halt dir die Nase zu und baue einen leichten Gegendruck auf, dann sollte alles wieder beim Alten sein.“

„Liest du noch?“

„Ich wollte gerade aufhören, ich habe jetzt genug gelesen. Bis London haben wir noch gut eineinhalb Stunden. Mir steht der Sinn nach etwas Bewegung und der Besuch einer Toilette.“

„Das nächste WC ist gegen die Fahrtrichtung, am Anfang des Wagens. Soll ich dich begleiten?“

„Nein, bleib du hier bei Max. Ich werde mich schon nicht verlaufen, falls ich jedoch in einer Stunde noch nicht wieder hier bin…“

„Gebe ich eine Vermisstenanzeige auf und schicke Max hinter dir her.“

„So ungefähr. Ah, könntest du bitte meinen Rechner wieder verstauen?“

„Kein Problem.“

Carsten stand auf und gab Max ein entsprechendes ‘Bleib’. Die Hündin legte sich wieder hin und guckte hinter dem sich entfernenden Jungen her. Andreas nahm das PowerBook und verstaute dieses wieder in dem Koffer.

Da der Bedienstete gerade wieder an ihrem Platz vorbeiging, bestellte er sich ein Kännchen Kaffee. Dieser wurde gebracht, als auch Carsten wieder auftauchte. Bis London unterhielten sie sich über Gott und die Welt. Und jeder musste eine Zeit lang Max kraulen.

Als der Zugbegleiter die leeren Tassen und den Napf wieder abholte, teilte er ihnen mit, dass sie mit wenigen Minuten Verspätung London St. Pancras International erreichen würden. Carsten fasste sich ans Handgelenk und las die Zeit ab.

Die paar Minuten konnten sie verschmerzen, da sie keinen festen Termin hatten. Seine erste Probe sollte am folgenden Tag in St. Luke’s – dem Stammhaus des Orchesters – stattfinden. Bis dahin wollten sie sich von der langen Bahnfahrt erholen und Max musste auch endlich wieder einmal ordentlichen Auslauf haben.

Langsam fuhr der Eurostar in den Bahnhof ein und wie schon in Paris, warteten Carsten und Max bis die Passagiere der ersten Klasse ausgestiegen waren. Auch hier half der Bedienstete ihnen mit dem Gepäck und rief obendrein einen Gepäckträger zu ihnen.

„Sag einmal, wirst du hier erwartet?“

„Wieso fragst du?“

„Ich habe eben ein Schild mit deinem Namen gesehen.“

„Dann lass uns mal suchen gehen. Vielleicht …“

Carsten wurde durch eine Lautsprecherdurchsage unterbrochen.

Mr. Von Feldbach, sie werden am Informationsschalter des Eurostars erwartet.

Ein gut gekleideter Mann nahm die beiden Jungs und den Gepäckträger in Empfang. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um einen Chauffeur des Hotels handelte. Der Mann in der Uniform stellte sich als Mr. Taylor vor, zog eine Visitenkarte hervor und übergab sie Andreas.

Andreas las Carsten die Karte vor.

Neben dem Namen des Chauffeurs waren darauf noch eine Adresse und eine Telefonnummer verzeichnet. Danach steckte er sie ein. Mr. Taylor führte sie durch die Bahnhofshalle zu einem Parkplatz, der für diesen Service reserviert war.

Er stoppte vor einem Vauxhall Van. Zuvorkommend öffnete er die Tür und ließ die Gruppe einsteigen. Dann kümmerte er sich um das Gepäck, welches hinten im Auto verstaut wurde. Zuletzt stieg er selbst ein und gab ihr Hotel als Ziel bekannt.

„Entschuldigen Sie, könnten Sie uns erst zu einem Park fahren, wo ich meinen Hund laufen lassen kann? Sie hat etwas Bewegung nötig.“

„Gerne, ich sage im Hotel Bescheid, dass wir etwas später kommen.“

„Danke.“

„Sag einmal Carsten, woher wusstest du, dass unser Hotel ein Chauffeur schickt?“

„Okay, dann lasse ich die Katze mal aus dem Sack. Papa übernimmt die Transportkosten und Mama die Unterbringung. Wir sind in ihrem Londoner Stammhotel. Ergo wird sich das Hotel bemühen uns alles Recht zu machen. Dazu eben auch der Chauffeur. Die Kosten werden zwischen dem Orchester, meinen Eltern und mir geteilt.“

„Und was ist mit mir? Ich fahre ganz umsonst mit?“

„Nein, schon gar nicht umsonst. Gratis? Vielleicht, doch da ich dich einbinde auf Max aufzupassen, zahlst du eben in Naturalien für deinen Aufenthalt. Aber um dich zu beruhigen und damit die Ferien einen Erholungswert für dich haben, deine Großeltern haben zusammengelegt und haben uns zu sich nach Italien eingeladen. Das kostet…“

„Entschuldigen Sie bitte, wir sind da. Sie können Ihren Hund hier im Park frei laufen lassen. Er ist komplett eingezäunt. Ich werde derweil hier am Parkeingang auf Sie warten. Das Hotel ist über diese Verzögerung schon informiert und wünscht Ihnen viel Spaß.“

„Danke Mr. Taylor.“

Der Chauffeur öffnete die Tür und ließ die Jungs und Max aussteigen. Andreas und Carsten standen vor einem eisernen Tor hinter dem besagter Park lag. Eine Tafel informierte sie davon, dass Hunde ohne Leine laufen dürfen, die Besitzer aber dafür verantwortlich seien, dass Kot entfernt wird.

Dazu wurden entsprechende Mülleimer und Tütenspender regelmäßig am Weg aufgestellt. Max hatte einiges an Bewegungsmangel aufzuholen. Kaum hatte Carsten sie von der Leine gelassen und das Kommando gegeben, düste sie davon.

Andreas hatte sie schon lange nicht mehr so sprinten gesehen. Sie flog fast über den Boden, ihre Ohren flatterten im Wind. Nach hundert Metern legte sie ein Wendemanöver ein und raste auf Carsten zu.

Andreas sah seinen Freund schon im Dreck liegen, doch hatte er nicht mit Max’ Beweglichkeit gerechnet. Geschickt lief sie einen Bogen um sie herum und stoppte vor einer Sandkuhle. Legte ihr Gesicht leicht schräg, runzelte die Stirn und fing an, in dem Sand zu graben.

„Was macht sie?“

„Buddeln!“

„Aha.“

„Aha?“

„Sicherlich hat sie ihren Kopf schräg und ihre Stirn in Falten gelegt. Mama sagt, dass sie das immer so macht, wenn sie in einem Mauseloch oder dergleichen buddelt. Gleich hört sie auf und kommt schwanzwedelnd zurück.“

 

Carsten behielt recht, die Retrieverhündin hörte plötzlich auf und kam entspannt auf die Jungs zu. Andreas sah, dass sie noch Boden um ihre Schnauze hatte und auch auf der Zunge. Doch sie sah glücklich aus.

Sie setzte sich vor Carsten hin und bekam auch gleich ein Keks von ihrem Herrchen. Danach entschied Carsten zum Hotel zu fahren. Der Chauffeur öffnete zuvorkommend die Wagentür und schloss sie leise, nachdem alle wieder saßen.

Es dauerte noch einige Minuten bis sie am Hotel ankamen. Andreas staunte nicht schlecht über ihre Unterbringung der kommenden zwei Wochen. Er hatte ein Hotel in der unteren Kategorie erwartet, doch es waren deutlich drei goldene Sterne zu sehen.

Ein Gentleman in Uniform öffnete dieses Mal die Wagentür und begrüßte die neuen Gäste. Ein weiterer junger Mann kümmerte sich um ihr Gepäck. Gemeinsam gingen sie zur Rezeption.

„Guten Tag Mr. von Feldbach und Mr. Zahradník, darf ich fragen wie Ihre Anreise war?“

„Angenehm, Mr.?“

„Mr. Grand, ich bin der Concierge des Hotels. Wir haben alles nach Ihren Wünschen vorbereitet.“

„Ist das Kuriergepäck schon angekommen?“

„Gestern Mittag, pünktlich, es ist bereits auf Ihrem Zimmer.“

„Danke, Andreas würdest du bitte das Formular ausfüllen?“

„Sicher, gibst du mir bitte einmal deinen Ausweis?“

„Mr. Grand, könnte ich noch mit dem Verantwortlichen sprechen, der für das Hundefutter zuständig ist?“

„Gerne, ist es Ihnen in einer Stunde Recht?“

„Ausgezeichnet und hier sind die Einverständniserklärungen unserer Erziehungsberechtigten, dass unter anderem zum Essen alkoholische Getränke serviert werden dürfen. Meine Mutter legt Wert darauf, dass Sie nicht in Schwierigkeiten mit dem Gesetz kommen. Diese Genehmigung bezieht sich aber nur auf Ihr Restaurant. Ansonsten werden wir schon darauf achten, keinen Alkohol in der Öffentlichkeit zu konsumieren.“

„Danke, ich werde einen entsprechenden Eintrag auf ihrem Konto für unser Personal machen.“

Andreas erledigte während des Gesprächs die Anmeldung für sie beide. Anschließend wies der Mann hinter dem Tresen seinen Bediensteten an, die Jungen auf ihr Zimmer zu begleiten. Andreas glaubte zu träumen, als sie ihre Unterkunft betraten.

Dabei handelte es sich um eine geräumige Suite. In dem ersten Zimmer befand sich neben einem Tisch mit Stühlen ein Sekretär mit einem Arbeitssessel und ein kleiner Flügel. In dem angrenzenden Zimmer befand sich das Schlafzimmer, von dem aus sie in ein kleines Bad gelangten.

Beide Zimmer hatten Zugänge zu dem Korridor und einen gemeinsamen Balkon. Der Page stellte das Gepäck ab und Andreas gab ihm ein Trinkgeld. Er bedankte sich und schloss diskret die Tür beim Hinausgehen.

Nachdem Carsten Max das Geschirr ausgezogen hat, nahm Andreas seinen Freund in den Arm und gab ihm einen innigen Kuss. Als sie wieder voneinander ließen, sah sich Andreas skeptisch um.

„Schatz du weißt schon dass wir Recht exklusiv wohnen?“

„Ja und wir haben einen umfangreichen Service. Falls du Wünsche hast, ist Mr. Grand dein Ansprechpartner. Er kümmert sich um alles. So und nun führ mich bitte einmal durch die Räume.“

„Okay, stell dich einmal hier hin. Im Rücken hast du nun die Korridortür. Ein Flügel steht jetzt links von dir auf Zehn Uhr. Dir gegenüber ist in vier Meter Entfernung ein Schreibtisch und auf halb Ein Uhr befindet sich ein runder Tisch mit zwei Stühlen. Gehst du von deiner Position um den Tisch herum weiter geradeaus, kannst du durch eine Tür auf den Balkon. Rechts von dir befindet sich eine Sitzecke mit Sessel und Sofa und einem kleinen Tisch. Weiter rechts davon ist die Multimediawand. Zum Schlafzimmer kommst du, wenn du von dir aus Richtung Zwei Uhr gehst. Neben der Schlafzimmertür befindet sich noch ein kleiner Bartresen.“

Carsten nickte, dass er Andreas verstanden hatte. Dann gingen sie gemeinsam alle Stationen einmal ab. Im Schlafzimmer und im Bad machten sie genau dasselbe. Max trottete hinter den beiden her und schnuffelte überall.

Es schien Andreas, als wolle auch sie sich alles einprägen. Zuletzt gingen sie auf den Balkon. Es war mitten in London recht still auf dieser Seite, was wohl daran gelegen war, dass sich auf dieser Seite des Hotels ein parkähnlicher Garten befand.

Selbst Vögel konnten sie zwitschern hören. Ihre Gedanken wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Carsten ließ den Besucher hineinkommen. Er stellte sich als zuständiger Mitarbeiter des Hotels für die Tierverpflegung vor.

„Sie wollten mich sprechen Mr. Von Feldbach?“

„Sie kümmern sich um die Hundeverpflegung?“

„Gewiss, darf ich fragen was Sie für Ihren Hund wünschen?“

„Barfen Sie hier im Hotel?“

„Sicher doch.“

„Gut, Max bekommt zweimal am Tag zu fressen. Morgens eine Mischung aus Obst, Getreide, pürierten Fleisch- oder Fischbrocken. Der Brennwert sollte um die 1500 kcal liegen. Abends abwechselnd Innereien von Rind, Geflügel, Fisch oder Kaninchen. Hier sollte der Brennwert die 1000 kcal nicht überschreiten. Nur am Freitag bekommt sie morgens und abends 1500 kcal.“

„Danke, was ist mit getrockneten Rinderohren, Pansen und dergleichen?“

„Weniger, dafür darf sie ruhig einen größeren Knochen bekommen, worauf sie herum kauen kann.“

„Ich habe alles notiert, Sie frühstücken auf Ihrem Zimmer?“

„Andreas? Frühstücken wir hier?“

„Ich dachte eher an ein Buffet.“

„Gut, wir nehmen unsere Mahlzeiten im Restaurant ein.“

„Dann servieren wir auch das Menu für Ihren Hund im Restaurant. In Ihrer Suite haben wir einen Wassernapf neben der Hausbar positioniert. Haben Sie noch weitere Wünsche?“

„Nein, das war es schon.“

Der Pet-Service verabschiedete sich. Andreas wunderte sich, wie Carsten so alles auswendig wusste. Aber andersherum, für Max gesunde Ernährung war er verantwortlich und kannte ihre Fressgewohnheiten aus dem Eff-Eff.

Dann machten sie sich daran, ihre Koffer auszupacken. Auf Anraten der Erwachsenen hatten die Jungs neben ihren normalen Sachen auch jeweils eine Garnitur der formalen Internatskleidung mit.

Es machte sich wohl besser, etwas förmlicher gekleidet im Restaurant aufzutauchen. Die leeren Koffer stellten sie erst einmal beiseite. Andreas blickte auf die Uhr. Wie schnell doch die Zeit verging.

Er nahm Carsten zärtlich in die Arme und gab ihm einen langen Kuss. Dass es genau die richtige Aktion war, spürte er, als dieser seine Lenden an ihn presste.

„Wow, Schatz. Was machen wir jetzt?“

„Ist es nicht gleich Teatime?“

„Möchtest du das probieren?“

„Warum nicht, wir haben Urlaub. Obendrein hoffe ich, dass es ruhig ist und Max die Örtlichkeiten kennenlernt.“

„Gut, ich glaube wir sind ordentlich genug für den Tee gekleidet.“

„Komm Max.“

Nur ungern entließ Andreas seinen Freund. Doch er selbst hatte den Stein ins Rollen gebracht. Im Wohnbereich übergab Andreas Carsten den Zimmerschlüssel in Form einer Plastikkarte. Dann ging es hinaus auf den Korridor.

Max trug noch immer das Führgeschirr und Carsten ließ sich von ihr führen. Andreas ging neben den beiden her und gab Carsten die Richtung vor. An manchen Ecken hielt Max einen Moment zur Orientierung inne.

Ihr Zimmer lag on the first Floor, also benutzen sie die Treppe, was Max – so schien es Andreas – bei weitem lieber war als der Lift.

Der Salon, in dem der Tee serviert wurde, war sehr überschaulich und hatte einen Zugang zu einer Terrasse. Es war angenehm warm, daher entschieden sie sich dafür, den Tee im Freien zu nehmen.

Ein Ober begleitete sie zu einem freien Tisch und fragte nach ihren Wünschen. Die Jungs entschieden sich für eine schwarze Teemischung aus Indien und Sandwiches, für Max einen Napf Wasser.

Der Kellner nickte leicht und verschwand. Schon wenige Minuten später wurde ihnen serviert.

„Hast du für heute Abend schon etwas vor?“

„Ausruhen, Beine vertreten, ankommen. Vielleicht könntest du mir helfen, indem du dich einmal kundig machst, wo wir hier in der Nähe mit dem Hund toben können. Beziehungsweise wo wir ruhig und entspannt spazieren gehen können?“

„Wird erledigt. Und dein morgiger Tag?“

„Die erste Probe ist in St. Luke’s für den Nachmittag angesetzt. Da lerne ich das Orchester persönlich kennen. Ich habe keinerlei Vorstellung wie lange das dauern wird. Vielleicht bis zum Fünf-Uhr-Tee.

Am Vormittag werde ich mich schon einmal um die Konzertgarderobe kümmern.“

„Hast du dich schon entschieden was genau du tragen willst?“

„Das Orchester trägt obligatorisch schwarzen Frack, die Damen entsprechende Kleider. Ich sollte auch so ein Teil anziehen, was meinst du?“

„Ist ein wenig bieder.“

„Na, ich glaube da wird sich entsprechend modernes finden lassen. Ich kann ja Mr. Grand um eine Adresse eines Herrenausstatters bitten. Andrea meinte am Telefon, genau wie du, etwas Anthrazitfarbenes. Beim Stoff schlug sie etwas Leichtes vor.“

„Da bin ich ja einmal gespannt, ob sich hier so etwas finden lässt.“

„Wir sind in London, so wie ich im Reiseführer gelesen habe, ist diese Metropole für ihre hohe Dichte an Herrenschneidereien bekannt.“

„Gehst du in die Savile Row?“

„Wenn es sein muss, ja.“

„Der Kellner kommt, möchtest du noch etwas?“

„Nein, danke.“

„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“

„Nein, danke. Entschuldigen Sie, gibt es hier auch Stadtpläne?“

„Sicher bekommen Sie einen an der Rezeption, darf ich fragen, was genau Sie suchen?“

„Erst einmal einen hundetauglichen Park.“

„Oh, das ist einfach, Sie gehen links vom Hotel aus vier Straßen weiter, biegen dort nach rechts ab und nach ca. fünfhundert Metern finden Sie einen kleinen Stadtteilpark. Dort sind Hunde erlaubt, sie müssten sich nur um die Hinterlassenschaften kümmern.“

„Danke, sie sind Goldwert mein Herr.“

„Henry, Mr. Zahradník.“

„Danke Henry.“

Henry, der Kellner, servierte ab. Die Jungen standen auf und gingen zur Rezeption. Dort erhielt Andreas einen Stadtplan und Carsten gab seinen Zimmerschlüssel ab. Andreas fragte ihn, warum er dieses tat, worauf Carsten ihm erklärte, dass es für ihn am einfachsten sei, sich den Schlüssel jeweils an der Rezeption abzuholen, als ihn irgendwo in seine Tasche zu stecken.

Selbst der Verlust der Chipkarte sei so ein minimales Risiko. Diese Argumentation hatte etwas für sich, also gab auch Andreas seine Karte ab. Gemeinsam verließen sie das Hotel in Richtung des Parks.

Carsten gab entsprechende Kommandos an Max, die ihn führte. Und wie schon daheim, setzte sie sich an roten Ampeln und ging erst, als das grüne Signal leuchtete. Dass der Verkehr von der anderen Seite kam, interessierte sie weniger.

Unterwegs hielten Carsten und Andreas ihre Hände und unterhielten sich über belanglose Dinge. Vielleicht lag es daran, dass Sonntag war oder das Wetter sommerlich warm, Andreas hatte den Eindruck, jeder Passant dem sie begegneten hätte gute Laune.

Im Park legte Max erst wieder einen eindrucksvollen Sprint hin, um später ausgiebig mit den Jungen Frisbee zu spielen. Selbst einige Kinder spielten spontan mit, was Max durch eine abschließende große Knuddelrunde genoss.

Langsam machte sich der Abend über sie her und es wurde in dem Park still. Andreas lotste Carsten zu einer Bank und tat das, was zwei Liebende tun: Küssen. Am Hotel trafen sie spät ein. Andreas schaute sich um.

Dann fragte er an der Rezeption, ob es für das Dinner eine spezielle Kleiderordnung gäbe. Die Vertretung von Mr. Grand deutete an, dass ein Jackett wohl angebracht sei. Also verschwanden die beiden auf ihr Zimmer und machten sich etwas frisch, zogen sich weiße Hemden und die Internatsjacketts an.

Dann gingen sie wieder hinunter. Ein Oberkellner geleitete sie zu ihrem Tisch. Anschließend übergab er ihnen die Speisekarten. Das Hotel war auf Carstens Besuch eingerichtet, denn seine Karte war in Braille gedruckt.

Sie einigten sich auf ein drei Gänge Menu und entsprechende Getränke. Langsam wunderte sich Andreas. Es handelte sich um ein drei Sterne Hotel mit Restaurant und sie bekamen einen eigenen Tischkellner, der sie den ganzen Abend bediente.

Selbst Max Napf wurde von ihm serviert. Später auf ihrem Zimmer teilte er Carsten seine Beobachtungen mit. Der brach in lautes Gelächter aus. Irritiert schaute Andreas ihn an.

„Warum lachst du mich aus?“

„Oh, Andreas, ich lache dich nicht aus. Du hast da nur etwas falsch verstanden. Das Hotel heißt ‘Three golden Stars’. Es ein exklusives, privates Hotel mit ebensolchem Restaurant in der vier Sterne Kategorie. Jedoch der Service, den sie ihren Gästen bieten, geht weit darüber hinaus. Mutti hatte es vor Jahren entdeckt, als sie zu einem internationalen Kongress der Anthropologie war. Da dieser Kongress traditionell jedes Jahr hier in London stattfindet, logiert Mutti grundsätzlich hier.“

„Aber das können wir uns doch gar nicht leisten.“

„Ich denke, ich sollte noch einmal auf ein Gespräch, welches wir mal im Internat gehabt haben, zurückkommen. Da hast du mich gefragt, ob wir adelig sind.“

„Ja, ich kann mich erinnern. Du sagtest etwas wie, dass ihr den Adelstitel von eurem Urgroßvater geerbt habt und dass es das auch schon gewesen sei.“

„Richtig. Das was er hatte, hat er in der großen Weltwirtschaftskrise verloren. Meine Großeltern bauten nach dem Krieg etwas auf und haben es an ihre Enkel vererbt. Wir haben beschlossen ein Teil des Gelds in die Tierarztpraxis und das Haus zu investieren. Papa ist ein sehr erfolgreicher Tierarzt mit gutem Ruf und Mama in ihrem Fach kein unbeschriebenes Blatt. Allein das wir in ihrem Stammhotel sind, spricht schon für sie. Obendrein haben wir ein Teil des Erbes angelegt und dies ist ordentlich gewachsen. Andrea und ich brauchen ja nicht viel. Als die Idee mit den beiden Konzerten aufkam, habe ich alles einmal durchrechnen lassen, es bleibt nach den sechs Wochen immer noch ein fettes Plus unter dem Strich.“

„Puh.“

„Was heißt hier puh?“

„Du bist reich und ich dein Aschenputtel. Warum hast du nicht früher etwas gesagt?“

„Vermögend: Ja. Reich: Nein. Der Hauptgrund ist, weil ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dass du mich um meinetwillen liebst. Sei ehrlich, hätte dich das Wissen um einen vermögenden Freund kalt gelassen?“

„Ehrlich? Nein, ich glaube nicht.“

„Siehst du Andreas, deswegen lass ich das nicht heraushängen. Ich hoffe jetzt nur, es ändert sich nichts zwischen uns. Weil ich dich eben so liebe, wie du bist: Der Junge den ich manchmal aus der Reserve locken muss.“

„Naja, du hast nicht nur einen süßen Hintern, sondern bist ein ebensolcher Arsch. Gut, ich werde mich daran gewöhnen können. Soweit ich aus deinen Worten schließen kann, ist hier alles unter Dach und Fach, soll heißen Hotel und Reise sind bezahlt.“

„Ja, es kommen lediglich unsere persönlichen Ausgaben hinzu.“

„Gut, da machen wir getrennt Kasse.“

„Wenn du wünschst, aber bei Ausgaben für das Konzert zahl ich.“

„Das wird ja nicht soviel werden. Darf ich das Thema wechseln, muss Max noch mal raus?“

„Oh, wir sollten jetzt hinunter in den Garten. Mit dem, was wir heute an Bewegung hatten, reicht das und sie sollte bis morgen durchschlafen.“

„Darf ich mitkommen?“

„Sicher doch, wolltest du nicht in Naturalien bezahlen?“

„Schuft, dir gebe ich es.“

Carsten schnappte sich die Leine und seinen Stock, Andreas den Zimmerschlüssel und gemeinsam gingen sie hinunter in den Garten. Der Pet-Service war dort mit einem anderen Gasthund und Andreas wusste, wo die Hunde machen durften.

Doch bevor Max machen wollte, wurde der andere Hund intensiv beschnüffelt.

„Pfui, weg da.“

? ! ?

„Sie da, lassen Sie den großen Hund nicht zu nah an meine Susi.“

„Oh, Sie tut Ihrer Susi nichts?“

„Rufen Sie ihren Hund zurück.“

„Max! Da will dir jemand den Spaß an Freundschaft knüpfen verderben.“

Andreas und der Junge vom Service schauten sich verständnislos an. Max setzte sich neben Carsten ab und bekam ein Leckerchen von ihrem Herrchen. Eine streng dreinblickende Frau lief auf ihren kleinen Hund zu, hob diesen vom Boden und nahm ihn in ihren Arm.

Dabei babbelte sie etwas von unverantwortlichem Servicepersonal und betüttelte ihren Vierbeiner. Carsten versuchte noch einmal die Frau zu beruhigen, doch leider ohne Erfolg. Die Dame zog mit ihrer Susi von dannen.

Zurück blieben die Jungen, Max und ein scheinbar geknickter Pet-Service. Max winselte etwas und Carsten gab das Kommando, dass sie sich endlich lösen dürfte. Der Junge vom Service schaute ihr nach.

Nachdem Max fertig war, ging sie auf den Jungen zu und leckte ihm die Hand.

„Carsten, Max scheint gerade eine neue Freundschaft geschlossen zu haben.“

„Ich denke, es waren eher die Hundekekse, die ich darin gehalten habe. Sie ist sehr schön und hat vorhin nicht den Eindruck auf mich gemacht, gegenüber anderen Hunden aggressiv zu werden.“

„Du kannst Hunde gut einschätzen.“

„Ist nicht schwer, wenn man ihre Gesten lesen kann. So, ich denke ich räum hier noch ein wenig auf. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

„Danke, das wünschen wir Ihnen auch. Komm Max.“

Andreas und Carsten verließen mit Max den Garten. An der Terrassentür stoppte die Hündin noch einmal und drehte sich um. Auf ihrem Zimmer legte sie sich auf ihren Platz, nachdem Carsten ihr Halsband und Geschirr abgenommen hatte.

Er und Andreas machten es sich noch auf der Couch gemütlich und ließen leise Musik im Hintergrund laufen. In der Minibar hatte Andreas noch eine Flasche Sekt aufgetrieben, die sie nun genüsslich leerten.

„Glaubst du, die entlassen den Jungen?“

„Ich weiß nicht Schatz. Max Verhalten hat mich vorhin etwas irritiert. Du kennst sie doch auch schon eine Weile, hast du schon einmal mitbekommen, dass sie sich umsieht?“

„Nein. Glaubst du, sie wollte dir etwas mitteilen?“

„Ich denke, sie will auch einen Gassi Service, um mich zu entlasten.“

„Weit hergeholt, Tiger.“

„Mir wurde mitgeteilt, dass es eine Ecke im Garten gibt, wo Hunde ihre Geschäfte machen können. Ich sehe ja nicht wo Max ihren Haufen hinsetzt, wie soll ich ihn da wieder wegmachen? Ich habe keine große Lust deswegen auf einen Konflikt mit anderen Gästen.“

„Soll ich der Rezeption Bescheid geben, dass wir einen Gassi Service brauchen?“

„Du bist einmalig im Gedankenlesen Schatz. Bestell ihn für morgen früh halb acht. Bis dahin wird Max aushalten können.“

Andreas stand auf, ging zu dem kleinen Schreibtisch, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer der Rezeption. Dort informierte er den diensthabenden Portier über ihr Anliegen, dass für die Retrieverhündin ein Gassigänger benötigt würde.

Andreas hörte ihm aufmerksam zu, dann erwähnte er den Jungen, den sie vorhin im Garten getroffen haben, dessen Schützling Susi hieß. Wieder lauschte er den Ausführungen.

„Ja, Mike soll den Hund um 7:30 Uhr abholen. Alles Weitere wird dann Mr. von Feldbach mit ihm besprechen. Danke.“

Er legte den Hörer wieder auf und ging zu seinem Freund hinüber und kuschelte sich an ihn.

„Du hast den richtigen Riecher gehabt, Susi’s Frauchen hat sich beschwert.“

„Dann scheint sie nicht sehr klug zu sein.“

„Carsten!“

„Ist doch höflicher ausgedrückt, als die üblichen tierischen Kraftausdrücke. Und Kühe sind alles andere als dumm. Wäre Mike – so heißt doch der Junge – seinen Job los?“

„Nein, diese Frau scheint generell im Umgang kompliziert zu sein und reist obendrein morgen ab.“

„Wie spät haben wir es jetzt? Ich habe meine Uhr schon abgenommen.“

„Halb zwölf. Du siehst nicht mehr ganz so munter aus.“

„Wundert dich das? Die ganze Anreise war anstrengend. Selbst der kleine Ausflug zum Park heute Nachmittag war alles andere als erholsam. Lediglich die halbe Stunde im Park war entspannend.“

„Wieso? Max hat dich doch gut geführt.“

„Ich musste mich konzentrieren, zum einen auf den Weg selbst und zum anderen auf Max’ Verhalten. Sie ist eine exzellente Blindenführhündin, nur London ist ihr nicht bekannt und da kann schon einmal Unsicherheit auftreten. Dann erwartet sie von mir zu Recht eine Bestätigung, die ihre Zweifel zerstreut. Es sind wirklich nur kleine Dinge. Die erste Ampel zum Beispiel, Max hat gelernt bei Rot ins Sitz zu gehen und bei Grün wieder aufzustehen. Anscheinend sind die Symbole und Farben etwas anders als in Deutschland. Sie war sich nicht sicher ob nun ‘Sitz’ angesagt ist oder nicht. Da du stehengeblieben bist, bin ich davon ausgegangen, die Ampel leuchtete Rot. Mein stehenbleiben hat sie als Haltsignal interpretiert und sich gesetzt. Von nun an weiß sie mit den hiesigen Signalen umzugehen.“

„Und was ist mit Zebrastreifen? Hier kommt der Verkehr von rechts.“

„Zebrastreifen, ist wie in Deutschland: Erst gehen, wenn sie sicher ist, dass die Autos stehen. Egal ob von links oder rechts.“

„Man o man, ihr beiden lernt nie aus.“

„Nein und darum war der heutige Tag auch anstrengend für mich, ich will ins Bett. Kommst du mit?“

Keine Frage, die Flasche Sekt war ohnehin leer. Also räumte Andreas die Gläser und die Flasche sicher vor Max auf den Bartresen. Wie gewohnt öffnete er ein Fenster und löschte das Licht.

Carsten war schon im Bad verschwunden und den Geräuschen nach putzte er sich seine Beißerchen. Er selbst schaute sich um, die Vorhänge waren schon zugezogen und machte neben dem einzigen großen Bett Licht.

Max schlummerte schon in ihrer Gästekudde. Zügig begab er sich ebenfalls ins Bad. Carsten legte gerade die Zahnbürste ab und spülte noch einmal den Mund aus.

„Willst du an der Fensterseite liegen oder?“

„Ich nehme die Seite auf der auch Max pennt, also die Korridorseite. Den Weg vom Bett zum Bad habe ich schon ein paarmal abgelaufen, ist ergo auch nicht mehr unbekannt. So und nun beeil dich, sonst bin ich schon im Reich der Träume, bevor du hier fertig bist.“

Sprach es und verschwand. Selbst wenn Andreas getrödelt hätte, Carsten war gerade fertig seinen Schlafanzug anzuziehen, als er das Bad verließ. Andreas räumte die Tagesdecke beiseite und zum Vorschein kam ein gemütliches King size bed.

Carsten kletterte von links und Andreas von rechts hinein und trafen sich – oh Wunder – in der Mitte des Bettes. Diesmal kuschelte sich Carsten an seinen Freund und die Reaktionen der Lendengegenden waren eindeutig.

Aber große Lust zu spielen, verspürte keiner von den Jungen. Im Gegenteil, Carsten ließ sich einfach geborgen fallen und schlummerte zufrieden ein.

Kapitel XLVI: London, St. Lukes und erste Probe

Kurz nach sieben stellte sich Max mit ihren Pfoten auf das Bett und schubste Carsten mit ihrer Nase an. Der Junge murmelte etwas und strich ihr sanft über das Gesicht.

„Guten Morgen Max, ist schon wieder Aufstehenszeit?“

Wuff

„Dann lass mich mal nach der Uhr greifen.“

„Hem, Carsten es ist viertel nach Sieben. Guten Morgen.“

„Dann lass mich einmal aufstehen, bleib du ruhig noch etwas liegen.“

„Warum willst du aufstehen?“

„Damit ich Max für ihre Gassirunde fertig machen kann. Dann komm ich wieder zurück.“

„Dein Morgenmantel liegt auf dem Stuhl an deinem Bettende.“

„Danke Schatz.“

Carsten ließ seinen Worten Taten folgen. Stand auf und tastete sich um das Bett herum. Zog sich den Morgenmantel über und nahm Max mit ins andere Zimmer. Es dauerte bis er den Tisch gefunden hatte.

Sowohl das Führgeschirr als auch das Halsband hatte er über eine Stuhllehne gehängt. Dann ging er in die Hocke und legte seiner Blindenführhündin das Halsband um. Dann zog er ihr das Geschirr an, ließ aber den Führgriff ab, irgendwie sollte Max auch Urlaub haben.

Dann klopfte es schon an der Tür. Carsten ging hin und öffnete.

„Guten Morgen, mein Name ist Mike, Mr. Von Feldbach, ich möchte Ihren Hund abholen.“

„Guten Morgen, Mike. Kommen Sie bitte kurz herein.“

Carsten ging etwas zur Seite und ließ den Jungen vom Service hinein.

„Um es etwas einfacher für Sie zu machen, Max, meine Hündin, hat mich auf die Idee gebracht, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie holen sie jeden Morgen gegen halb acht ab, gehen mit ihr in den Garten. Sie macht gewöhnlich zweimal. Danach werfen Sie zwei, drei Kekse in die Gegend und lassen sie diese Suchen. Wenn sie etwas länger draußen bleiben will, lassen Sie sich Zeit. Wir sind spätestens um halb Neun beim Frühstücksbuffet, dann bringen Sie Max direkt an unseren Frühstückstisch.“

„Gut. Läuft sie an der Leine?“

„Hier im Hotel bitte ich darum. Im Garten können Sie die Leine entfernen. Sie hört sehr gut auf ihren Namen. So, ich denke, das war es schon. Max, benimm dich.“

Mike nahm die Leine und befestigte diese an dem Geschirr. Gemeinsam mit Max verließ er die Suite. Carsten tapste ins Schlafzimmer zurück, gähnte herzhaft.

„Max versorgt?“

„Jep.“

„Kommst du ins Bett zurück?“

„Hör ich da etwas heraus?“

„Nö, absolut nicht. Ich liege hier allein in einem überaus bequemen king size bed. In der Tür steht mein Freund, der selbst im Morgenmantel äußerst appetitlich aussieht und mein Blut in Wallungen bringt. Und wir sind allein, keine Max.“

„Als ob Max uns je gestört hätte.“

„Nein. Komm, lass dich von mir vernaschen.“

Dieser Einladung konnte Carsten nun wirklich keine Absage erteilen.

*-*-*

Mit einigen Minuten Verspätung betraten sie gut gelaunt den Frühstücksraum. Henry kam auf sie zu, begrüßte sie und geleitete sie zu ihrem Tisch. Dann fragte er sie nach ihren Wünschen.

„Henry, Sie haben ein Buffet?“

„Jawohl, Mr. Zahradník wir haben es dort drüben aufgestellt.“

„Danke, Henry.“

„Henry, bitte bringen Sie mir ein Frühstück wie es auf der Karte steht. Darf ich fragen wie der Kaffee ist?“

„Nun, Mr. Von Feldbach, ich kann mir darüber kein Urteil erlauben, da ich Tee bevorzuge.“

„Danke Henry, bitte bringen Sie mir ein Frühstück und Ihren hauseigenen Breakfast Tea.“

„Sehr wohl. Darf ich nachfragen, ob ich das Frühstück für Ihren Hund schon servieren soll.“

„Ist sie denn schon da?“

„Sie wird gerade ins Restaurant gebracht.“

„Dann servieren Sie auch ihren Napf. Danke.“

Andreas stand auf und ging zum Buffet hinüber. Währenddessen nahm Carsten Max in Empfang. Mike berichtet ein wenig von ihrer Runde und bedankte sich für das Vertrauen. Carsten wuschelte ihren Kopf.

Dann fragte Carsten nach, ob er auch am Abend gegen halb Zehn Uhr mit ihr Gassi gehen könnte. Mike bestätigte den Auftrag. Andreas sah ihn den Raum verlassen, als er sich mit einem gefüllten Teller wieder zu Carsten setzte.

Auch er wuselte Max übers Fell. Carsten brachte ihn auf den neusten Stand der Dinge. Andreas stand noch einmal auf und holte sich eine Tasse Kaffee. Henry servierte Carsten ein wohl typisches britisches Breakfast.

Im ersten Gang gab es ein Glas Fruchtsaft und etwas Cornflakes mit Milch. Danach folgte ein Teller mit einem Klecks gebackenen Bohnen, gebratenem Speck, einer kleinen gerösteten Wurst, Spiegelei, einigen ebenfalls gebratenen Champignons und einer gegrillten Tomate.

Henry gab auf Carstens Wunsch noch eine zähe Sauce auf und servierte eine Tasse Tee mit Milch. Dazu stellte er einen kleinen Ständer mit Toast und einen kleinen Teller mit Butter. Der Kellner achtete darauf, dass Carsten immer wusste, wo etwas steht.

Vielleicht war das der Grund warum Henry sie betreute, er hatte Erfahrung mit blinden Gästen. Eine Ebene tiefer mampfte Max mit gedämpften Geräuschen ihren Napf leer. Andreas wurde ein wenig neidisch, jedes mal wenn sein Teller leer war, musste er selbst zum Buffet rennen.

Fest nahm er sich vor, wie Carsten, ein Frühstück von der Karte zu wählen. Denn sein Frühstück sah für Andreas sehr appetitlich aus und zuletzt brachte der Ober noch einmal Toast, frische Orangenmarmelade und eine weitere Tasse Tee.

„Danke, Henry, das war ein ausgezeichnetes Frühstück.“

„Es freut mich, dass unser Haus Ihren Wünschen gerecht werden konnte.“

„Bitte notieren Sie, dass ich zum Frühstück ihren Breakfast Tea bevorzuge.“

„Jawohl, ich werde es vermerken. Haben Sie noch Wünsche meine Herren?“

„Nein und du Andreas?“

„Wunschlos glücklich.“

Henry verneigte sich und entfernte sich vom Tisch. Carsten lehnte sich auf dem Stuhl zurück, fasste sich ans Handgelenk und las die Zeit ab. Max lag wie sooft neben ihm und schlummerte.

„So mein Lieber, wie sieht der weitere Vormittag aus?“

„Wir gehen mit Max spazieren und kümmern uns um die Konzertgarderobe.“

„Einverstanden, aber ich möchte erst auf unser Zimmer, ich habe da etwas zwischen den Zähnen.“

„Ich muss ja auch noch nach oben, Max Geschirr ist ja noch nicht komplett und zur Probe sollte ich schon meinen tragbaren Computer dabei haben. Komm Max.“

Carsten stand auf und Max gesellte sich an seine Seite. Er nahm ihre Leine an sich. Gemeinsam gingen die Jungen zu ihrer Suite. Das Personal hatte während ihrer Abwesenheit die Zimmer gesäubert. Selbst das Bett war perfekt hergerichtet.

Andreas putzte sich die Zähne und nahm eines der Handtücher. Carsten tat es ihm wenige Minuten später gleich. Bevor sie nun ihre Suite verließen, hing Carsten sich seine Laptoptasche um. An der Rezeption gaben sie ihre Zimmerschlüssel ab.

Mr. Grand erkundigte sich nach ihren Wohlbefinden und war erfreut von ihrer Zufriedenheit zu hören. Carsten fragte nach einem Laden für Herrenkonfektion. Der Concierge gab ihnen drei Empfehlungen mit auf den Weg. Zuerst gingen sie aber zu dem Park, den sie schon am Tag zuvor besucht hatten.

Max sprintete über das Gelände hinter dem Frisbee her. Andreas sah sich das Treiben von einer Bank aus an. Dann nahm er die drei Adressen und zeichnete diese in seinen Stadtplan ein.

Carsten setzte sich zu ihm, nachdem Max signalisierte, keine Lust mehr am Apportierspiel zu haben und ihn zu Andreas brachte.

„Was machst du Schatz?“

„Ich habe mir gerade Mr. Grands Empfehlungen in den Stadtplan eingezeichnet. Fährt Max mit der Underground?“

„Ja, warum fragst du?“

„Eine der Adressen ist etwas abseits, am günstigsten ist da die U-Bahn.“

„Dann fangen wir doch damit an. Max ist frisch und mir scheint, einem Abenteuer nicht abgeneigt.“

„Okay, dann worauf warten wir?“

Carsten gab Andreas einen lieben Kuss zur Antwort. Dann standen sie auf und machten sich auf den Weg. Max und auch Carsten war die Londoner Underground dann doch nicht ganz geheuer.

Ohne Andreas hätten sie sich wohlmöglich verfahren. Jedenfalls betraten sie, wieder an der Oberfläche Londons, eine exklusive Schneiderei. Ein Mann trat ihnen entgegen und sah sie erwartungsvoll an.

Andreas beschrieb ihr Anliegen. Doch der Mann schüttelte nur den Kopf. Aber er war sehr zuvorkommend und gab ihnen eine Adresse nicht weit von ihnen. Er sagte ihnen, dass sie dort genau das finden würden, was sie suchten.

Sowohl Carsten als auch Andreas bedankten sich bei ihm.

„Ich glaube, Mr. Grand hat dich nicht richtig verstanden.“

„Ja, den Eindruck habe ich auch bekommen. Dann mal los zu dieser Adresse.“

Andreas suchte die Adresse im Stadtplan und sah, dass sie nur wenige Straßen weiter mussten. In dem Laden, den sie dann betraten, hingen einige Anzüge, Sakkos und Mäntel. Ein älterer Mann bediente sie.

Er bat Carsten, Max nicht zu nah an die Ausstellungsware zu lassen. Es würde sich nicht sehr gut machen, wenn die Anzüge voll Hundehaare wären. Carsten gab Max ein Kommando und sie legte sich etwas abseits ab.

Dann erkundigte sich der Mann nach ihren genaueren Vorstellungen.

„Sie suchen also Konzertkleidung in Form eines Fracks?“

„Ja, er sollte hinten aber nicht zu lang sein.“

„Gut, das erledigen wir später. Wir haben da einige Modelle auf Lager die für sie in Frage kommen. Bei ihrem Aussehen, würde ich ihnen einen leichten Satinstoff empfehlen. Warten sie einen Moment.“

Der Mann eilte davon und kam wenige Minuten später mit einer handvoll Ware zurück, die an einem rollenden Ständer hingen. Carsten probierte einen nach dem anderen an. Doch selbst der Angestellte musste eingestehen, dass keiner so richtig zu Carsten passen wollte.

Derweil sah Andreas sich ein wenig um. Die Ausstellungsware hatte keine Preisschilder und sah sehr edel aus. Immer wieder schaute er zu Carsten hinüber. Als er sah, dass die beiden nicht weiter kamen, wandte er seine Aufmerksamkeit seiner Tätigkeit zu.

Plötzlich hielt er einen dunkelblauen Frack in den Händen. Dieser gefiel ihm.

„So hat das keinen Sinn. Wir machen folgendes…“

„Carsten, entschuldige, dass ich dich unterbreche, würdest du bitte mal diesen Frack anziehen, der müsste deine Größe haben und ist etwas dunkler.“

„Dann mal los. Reichst du ihn mir?“

Andreas gab ihm nur das obere Teil. Der Verkäufer half beim Anziehen. Es wurde etwas still um Carsten.

„Das ist er. Was meinen sie?“

„Sitzt gut, nur die Armlänge müsste etwas gekürzt werden. Ziehen sie doch bitte auch die Hose und die Weste dazu an.“

Carsten tat wie ihm geheißen und auch an der Hosenlänge sollte etwas geändert werden. Ansonsten waren alle zufrieden. Der Mann nahm aus seiner Tasche ein Maßband, ein Stück Kreide und ein Kissen mit Nadeln.

Er machte einige weiße Striche auf dem Stoff und steckte diese mit einer Nadel ab. Selbst der hintere Teil musste dran glauben. Mit all den Änderungen war Andreas zufrieden. Carsten hatte sein Outfit gefunden.

Nun galt es für sich selbst etwas zu finden. Teuer war der Laden ja, aber sein Freund sah einfach super gut in dem Teil aus. Warum sollte er sich nicht auch so etwas zulegen. Konzerte wird er auch in Zukunft besuchen und wenn er an Carstens Gehrock dachte, machte sich die Qualität bezahlt.

„Andreas, ich denke die gleiche Stoffart sollte es schon sein.“

„Ja, da kann ich Ihnen nur zustimmen, die Farbe sollte auch nicht groß abweichen. Warten Sie einmal, ich habe da noch ein gleiches Modell nur mit einem anderen Revers.“

Der Verkäufer ging und kam wenig später mit einem Frack in Carstens Farbe wieder. Der Unterschied bei den beiden war lediglich das Revers. Während sich auf Carstens Frack ein glänzender, anthrazit-blauer Aufschlag befand, war der auf Andreas’ glänzend anthrazit-grün.

Carstens Freund zog ihn an und auch er passte einigermaßen. Der Mann nahm wieder sein Maßband aus der Tasche und legte sie an Andreas Ärmel, dann schlug er dessen Saum um. Dabei erklärte er, dass Andreas Arme etwas unterschiedlicher Länge seien.

Aus dem linken Saum könnte er noch etwas herauslassen und in der rechten Schulter könne er noch ein wenig mehr Polster haben. Ansonsten gab es nichts weiter daran zu beanstanden. Andreas zog sich vorsichtig wieder um, wobei der Mann ihm half.

Anschließend ging es zur Kasse. Der Verkäufer fragte noch um weiteres Equipment, wie Hemden, Fliegen und Manschettenknöpfe. Carsten ließ auch noch zwei Hemden und passende Fliegen hinzufügen.

Damit waren sie soweit fertig. Andreas fragte nach, wie lange die Änderungen in Anspruch nehmen würden, da die Anzüge schon am Freitag benötig werden.

„Oh, wir fertigen die Änderungen bis Donnerstag an. Wohin sollen wir liefern?“

Carsten nannte seinen Namen und den des Hotels. Dann wurden zwei Rechnungen angefertigt. Als Andreas bezahlen wollte, erinnerte ihn Carsten an ihre Abmachung. Andreas Frack galt als Konzertgarderobe, daher kam er für die Ausgaben auf.

Der Mann hinter dem Tresen addierte alles und Carsten zahlte. Dann verließen sie den kleinen Laden.

„Carsten, das war nicht fair!“

„Was meinst du?“

„Du wusstest doch, dass diese Aktion teuer wird.“

„Ja, Konzertkleidung gibt es nicht im Discounter. Ich möchte dich dabei haben und da passt es einfach nicht, dass ich top gestylt bin und du trägst ein zweitklassiges Outfit. Andreas, ich habe dich lieb. Und ohne dich wäre dieses Unterfangen für mich schwer zu bewältigen.“

Dem musste Andreas nun doch zustimmen. Sie waren zwar gerade mal vierundzwanzig Stunden hier, aber er hat schon viel für sie beide erledigen können. Trotzdem gefiel ihm dieses Gefühl nicht besonders.

Nun, die Zeit war vorgerückt und Andreas schlug vor, einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen. Diesem Vorschlag war Carsten nicht abgeneigt. Außerdem würden sich ihre Wege bald trennen, denn Carstens erste gemeinsame Probe stand an.

Sie entschieden sich für ein asiatisches Schnellrestaurant. Bei Ente süß-sauer besprachen sie das weitere Vorgehen des Tages. Carsten wurde um zwei Uhr zur Probe erwartet, damit war sein Nachmittag verplant.

Andreas wollte noch ein wenig durch London streifen. Vielleicht konnte er ja in einer der vielen Shopping Malls etwas stöbern. Carsten hielt seine Füße still, als Andreas das Lunch bezahlte.

Anschließend wurde er noch bis zum Stammhaus des London Symphony Orchestra St. Luke’s von Andreas begleitet. Bevor sie sich verabschiedeten, fragte Andras an, ob er Max nehmen sollte.

Carsten ging in die Hocke und wuselte seiner Hündin das Fell. Als er wieder aufstand, bedankte er sich für das Angebot, doch Max schien ihm müde zu sein. Selbst Andreas sah, dass die Blindenführhündin einer Ruhepause nicht abgeneigt war.

Sie verabredeten sich zur Teatime im Hotel. Zuletzt gab Andreas seinem Freund noch einen kleinen Kuss auf die Wange und ging in Richtung Underground-Station Old Street. Carsten lächelte.

Die Eingangshalle war angenehm kühl, im Gegensatz zu den sommerlichen Temperaturen außerhalb des Gebäudes.

„Sie müssen Mr. von Feldbach sein. Guten Tag.“

„Guten Tag, Sie haben Recht. Miss.?“

„Mrs. Fisher, ich habe Sie schon erwartet und soll Sie zum Probenraum begleiten. Kommt Ihr Hund mit?“

„Ja, haben Sie eventuell auch eine Schüssel Wasser für sie?“

„Darum werde ich mich anschließend kümmern. Kommen Sie hier lang.“

„Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, doch dürfte ich Sie am Ellenbogen fassen? Dann ist es für uns alle leichter, wenn Sie führen, Mrs. Fisher.“

„Oh, ja. Entschuldigen Sie, ich vergaß, dass Sie nicht sehen können.“

Bevor Carsten sich jetzt auf eine Endlosschleife der Entschuldigungen einließ, nickte er nur kurz. Die Dame nahm seine rechte Hand und führte diese zu ihrem Arm. Carsten hielt sich an ihr fest.

Max Bügel ließ er los. Die Hündin lief hinter den beiden her. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Jerwood Hall, wo die ersten beiden Proben stattfinden sollten. Die letzte wäre die Generalprobe in der Royal Albert Hall am Freitagvormittag.

Carsten bedankte sich bei seiner Begleitung, die ihn bis zum aufgestellten Flügel brachte. Der Geräuschkulisse nach zu urteilen, waren schon viele Musiker da und spielten sich auf ihren Instrumenten ein.

Von Carsten nahmen sie zunächst keine große Kenntnis. Dieser ertastete sich den Flügel. Der Deckel war geöffnet und zu seinem Erstaunen war der Steg noch geschlossen, so stellte er sein PowerBook darauf.

Seine Braillezeile stellte er auf die Notenablage und schloss diesen am USB an. Falls noch Einträge zu machen wären, würde es so wie gewohnt am schnellsten gehen. Dann startete er den elektronischen Helfer, das kleine Jingel ließ nun doch einige Musiker des Orchesters aufschauen. Carsten suchte sich derweil die Partitur heraus.

Anschließend tastete er nach der Klavierbank, justierte die für ihn erforderliche Höhe und Entfernung zum Instrument. Erst dann öffnete er den Tastaturdeckel. Er rieb sich noch einmal die Finger und setzte wie gewohnt zum ersten Akkord an.

Der fiel etwas schräg aus, also stand er noch einmal auf, schob die Bank ein wenig zur Seite und das Spiel begann von neuem. Jetzt waren die Musiker alle ruhig und sahen dem Treiben am Klavier zu.

Nachdem Carsten seinen gewohnten Anfangsakkord sauber griff, spielte er einige seiner Fingerübungen. Im Anschluss eine Etüde von Frédéric Chopin. Zuletzt und damit beendete er sein Einspiel, den Quintenzirkel.

Diesen spielte er, um zu hören, wie die Stimmung des Klaviers an sich ist und bei den unterschiedlichen Tonarten klingt. Daraufhin kam der Dirigent auf ihm zu. Er begrüßte Carsten und besprach sich kurz mit ihm.

Danach wandte er sich an das Orchester. Während der Dirigent sprach, stand Carsten auf und drehte sich den Musikern zu.

„Guten Tag meine Damen und Herren, ich habe heute die Ehre Ihnen Mr. Carsten von Feldbach und seine Hündin Max vorzustellen. Er spielt mit uns das sinfonische Konzert mit obligatem Klavier in B Dur von Johannes Brahms. Carsten, ich möchte Sie im Namen des Orchesters willkommen heißen.“

„Danke, ich fühle mich geehrt, mit Ihnen dieses Konzert spielen zu dürfen. Wie sie sicherlich festgestellt haben, bin ich blind…“

„Dann können Sie ja gar nicht die weißen von den schwarzen Tasten unterscheiden.“

Dieser Zwischenruf war alles andere als freundlich. Doch Carsten kannte solche Sprüche schon zur Genüge. Und wusste darauf zu antworten, bevor noch Mr. Mathew etwas sagen konnte.

„Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind mein Herr. Aber wie mein Freund vor kurzem sagte: Manche Menschen denken nicht weiter, als die Sonne ihren Schatten wirft. Haben Sie sich in den letzten Tagen einmal ein Klavier genauer angesehen? Nein? Dann wäre ihnen eventuell aufgefallen, dass einige der Tasten bis zum Rand des Klaviers gehen und andere hören etwas früher auf. Und das einige Tasten in unterschiedlichen Gruppen zusammengefasst sind. Damit kann ich hervorragend umgehen und besonders gut spielen. Erweiternd möchte ich noch bemerken, dass ich dieses Konzert auch dann ohne Schwierigkeiten spielen kann, wenn es – wie mein kleiner Bruder es auszudrücken pflegt – stockdunkel ist. Ich gehe davon aus mein Herr, dass Sie ebenfalls in der Lage sind, Ihren Bass dann entsprechend spielen zu können.“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich einen Bass spiele?“

„Von der üblichen Orchesteraufstellung ausgehend, unter Berücksichtigung von Lautstärke und geschätzter Entfernung, sitzen Sie in der Bassgruppe. Ob Sie nun ein Violoncello spielen oder den Kontrabass, kann ich erst dann sagen wenn Ihr Instrument erklingt. Dennoch hoffe ich, dass wir gemeinsam den Zuhörern am Freitagabend eine beispiellose Konzertaufführung bieten werden.“

Viele der Musiker konnten sich nur schwer ein Grinsen gegenüber dem Kollegen verkneifen. Carsten hatte ihn auf dem sprichwörtlichen falschen Fuß erwischt und entsprechend in die Schranken gewiesen ohne ausfällig zu werden.

Der Dirigent sah seine Musiker mit einem enttäuschten Blick an, da er sie rechtzeitig davon informiert hatte, dass der Pianist nicht sehen könne. Es half nichts, die Probe musste ja irgendwann beginnen.

Also nahm er das Heft wieder in die Hand. Carsten setzte sich und schlug wieder seinen gewohnten Akkord an. Mr. Mathew forderte Carsten auf, den Kammerton auf dem Flügel anzuschlagen, damit das Orchester ihre Instrumente stimmen konnten.

Dann kamen noch einige Worte des Dirigenten zur Aufführung an alle. Vor allem, dass bei dieser Probe das Zusammenspiel im Vordergrund stand und weniger die Interpretation. Wie bei Carsten daheim abgesprochen, erklang zunächst ein hörbarer Takt mit den Schlägen des Taktstocks, danach setzte das Horn ein und Carsten folgte darauf.

Und sein Spiel gefiel. Den ersten Satz des Konzertes von guten siebzehn Minuten spielten sie komplett, wenn auch nicht fehlerfrei im Ausdruck, durch. Jedoch waren sich alle danach einig, das keine vierte Probe von Nöten sei.

Von da an gingen sie den ersten Satz Abschnitt nach Abschnitt durch. Nicht nur Carsten war konzentriert bei der Sache, sondern auch das Orchester. In den kleinen Pausen notierte er sich hin und wieder etwas auf dem Laptop in seiner Partitur.

Einen großen Teil der Probe lag Max wie immer unter dem Flügel. Dann aber ging sie schon mal sich die Beine vertreten und holte sich so manche Streicheleinheit bei anderen Musikern ab.

*-*-*

Andreas zog sich ein Ticket und stieg in die Northern-Linie in Richtung Norden ein. An der Station Kings Cross St. Pancras stieg er wieder aus, um in die Piccadilly-Linie in Richtung Süd-West einzusteigen.

Acht Stationen später, an der Knightsbridge stieg er wieder aus. Als er aus dem Untergrund wieder emporstieg, blendete ihn die Sonne. Instinktiv blinzelte er und kramte seine Sonnenbrille hervor.

Ihm fiel der Spruch von Carsten am Heimatbahnhof wieder ein, als er nach dem Grund der Sonnenbrille fragte. Sein Freund hatte recht: Er schloss die Augen zu einem schmalen Schlitz wenn die Sonne unangenehm blendete.

Dann sah er sich um, der Ausgang ging zur Sloane Street und er musste zur Brompton Road. Auf dem Stadtplan fand er die Station und wusste, dass er einmal um die Ecke gehen musste. Dann sah er das Schild mit dem Straßennamen.

Gemütlich ging er die Straße entlang, direkt an der Abzweigung zur Knightbridge befand sich eine Baustelle. Also gegenüber den vielen Baustellen in München wirkte diese eine etwas verlassen in der Landschaft.

Aber es sah genauso chaotisch aus. Von weitem sah er dann schon sein Ziel: Ein Backsteingebäude namens Harrods. Eigentlich etwas kostspielig für einen Teenager, aber wann kommt man schon nach London und er wollte sich ja nur umsehen.

Das Kaufhaus, wenn man es so bezeichnen kann, war angenehm klimatisiert. Andreas sah sich in der Eingangshalle um. Dicke, hohe Säulen teilten die Halle in mehrere Verkaufsbereiche.

Die herab gehängten Stuckdecken gaben jedem Bereich eine exklusive Atmosphäre. Vielleicht machte genau diese Architektur an Harrods das Besondere aus. Nachdem er sich von dem ersten Eindruck wieder gefasst hatte, ging er den Hauptgang unter einer Reihe Kristallglaskronleuchter weiter.

Bis er auf jemanden stieß, den er fragen konnte. Er formulierte seine Frage fast schon ehrfürchtig, was sein gegenüber zu einem Lächeln veranlasste. Andreas fiel ein, dass Carsten vorhin etwas vergessen hatte und das wollte er jetzt besorgen.

Der freundliche Mann führte Andreas durch das Haus, bis sie in der Accessoires Abteilung für Herren waren. Andreas bedankte sich und wurde darauf gleich von einer Verkäuferin angesprochen.

Der Junge beschrieb ihr was er suchte und sie zeigte ihm einige ausgewählte Stücke. Andreas rief sich noch einmal das Bild von Carsten in dem White Tie ins Gedächtnis und entschied sich für eine fast schliche Ausführung.

Inmitten eines kleinen silberfarbenen Rechtecks war ein kleiner Retriever eingraviert. Die Gravuren waren mit Diamantstaub besetzt, so dass sie im Licht leicht glitzerten. Andreas war mit seiner Entscheidung zufrieden, auch wenn es gegen ihre Abmachung war.

Die Verkäuferin packte jedes Set in eine kleine Schachtel und diese in eine kleine Tragetasche. Andreas fragte sich, ob allein diese Tragetasche den Preis in die Höhe trieb. Zufrieden verließ er das Kaufhaus wieder.

Er sah auf die Uhr und er wunderte sich, dass er soviel Zeit für diesen kleinen Abstecher benötigt hatte. Kritisch sah er sich um, in Harrods schienen die Uhren irgendwie anders zu gehen.

Zügig machte er sich auf zur Underground. Sein Hotel erreichte er eine dreiviertel Stunde später. Mr. Grand gab ihm seinen Zimmerschlüssel und fragte nach Carsten. Andreas antwortete ihm, dass er wohl noch bei der Probe sei und sie sich zum Tee verabredet hatten.

„Soll ich den Chauffeur nach St. Luke’s schicken? Ich könnte mir vorstellen, dass es zur Rushhour schwer wird für ihn.“

„Hat er ihn nicht bestellt? Okay, ich denke Mr. Taylor sollte ihn abholen, eventuell müsste er noch einmal an einem Park halten, damit Max auslaufen kann. Die U-Bahn erkläre ich ihm später und genau das soll der Chauffeur ihm sagen.“

„Ich werde es veranlassen, Mr. Zahradník. Wünschen Sie heute einen speziellen Tee?“

„Carsten wird erschöpft sein, bereiten sie einen anregenden Tee und einige herzhafte Sandwiches vor.“

„Sehr wohl.“

Andreas bedankte sich höflich und verließ die Rezeption. Auf dem Zimmer machte er es sich gemütlich. Er ging zu der Medien Wand und schaltete das Radio ein. Es ertönte erst irgendetwas rockiges, mit der Fernbedienung wechselte er die Programme bis er auf ein interessantes klassisches Stück stieß.

Dadurch gut gelaunt, setzte er sich an den kleinen Sekretär und begann Briefe an seine Großeltern zu schreiben. In ihnen berichtete er von der Schlossbesichtigung Sanssouci, der langen Bahnfahrt nach London.

Von dem Hotel, in dem sie alle logierten und was sie bisher alles erlebt haben. Im Hintergrund lief immer noch das Radio. Halbherzig hörte er einem Programmhinweis zu, in dem es um die Promenadenkonzerte ging.

Doch plötzlich hielt er inne. Im Anschluss an den Hinweis kam eine Art Portfolio über den Pianisten der Brahmskonzerte. Es gefiel ihm. Einige der angespielten Beispiele kannte er, andere waren auch ihm neu.

Woher die soviel über Carsten wussten? Er musste ihn unbedingt danach fragen. Anschließend folgten irgendwelche Opernarien, mit der Fernbedienung schaltete er das Radio wieder aus und widmete sich wieder den Briefen.

Zuletzt schrieb er die Adressen auf die Umschläge. Es sah seltsam aus, das er bei dem einen ‘Germany’ und ‘Italia’ auf dem anderen als Zusatz schrieb. Als Absender, schrieb er nur noch seinen Namen zu dem goldfarbenden Adressvordruck des Hotels.

Ob seine Großeltern jemals solche Briefcouverts in den Händen hielten? Dann legte er sie beiseite, später wollte er sie an der Rezeption abgeben und sah auf die Uhr. Carsten könnte langsam kommen.

*-*-*

„Danke Mr. Taylor, es war gut, dass Sie auf Andreas Anraten gekommen sind. Ich glaube Max und ich hätten uns mit der Underground völlig verfahren.“

„Es ist nicht der Rede wert Mr. Von Feldbach. So wie ich Mr. Zahradník verstanden habe, möchte er Ihnen unsere U-Bahn später erklären. Er erwähnte auch, dass Sie eventuell für ihren Hund ein Zwischenstopp einlegen möchten.“

„Das ist nicht nötig, nach dem Tee gehen wir wieder in den kleinen Park. Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Taylor?“

„Ja!“

„Gibt es in London auch eine Blindenorganisation?“

„Die Royal Blind Society wäre meines Erachtens eine erste Informationsstelle. Sie haben auch eine Internetseite. Da werden Sie sicherlich für Ihre Bedürfnisse etwas finden.“

„Danke, ich werde es versuchen.“

„Mr. Von Feldbach, wir erreichen das Hotel.“

„Danke, Mr. Taylor.“

Nachdem der Wagen zu stehen gekommen ist, wurde die Tür zuvorkommend geöffnet und die Insassen stiegen aus. Auch ohne Leine wartete Max neben dem Auto auf Carsten. Erst als dieser sie zu sich rief und den Bügel des Geschirrs fasste, führte Max den Jungen ins Hotel.

An der Rezeption fragte er nach seinem Zimmerschlüssel und ob Nachrichten für ihn hinterlegt wurden. Nachdem der Bedienstete hinter dem Tresen dies verneinte, ging es weiter zu ihrem Zimmer.

Max fand sich schon sehr gut in dem Hotel zurecht und dirigierte ihr Herrchen zielstrebig hinauf.

„Da bist du ja schon, Tiger.“

Andreas nahm beide in Empfang. Max wurde kurz geknuddelt und Carsten intensiv geküsst. Nachdem Andreas seinen Freund wieder entlassen hatte, stellte dieser seine Umhängetasche neben dem Sekretär ab.

„Wie war es in St. Luke’s?“

„Anstrengend Schatz. Danke, dass du dich um den Chauffeur gekümmert hast.“

„Ich habe dir etwas voraus, ich bin mit der Underground gefahren und obwohl die Hinweise recht eindeutig sind, ist es selbst für mich nicht ganz einfach. Ich denke gemeinsam schaffen wir diese Baustelle. Aber mit der U-Bahn fahren zu können, hat nicht die bevorzugte Priorität.“

„Da hast du Recht. Wie steht es mit Tee?“

„Gerne, ich habe für uns ein kleines Arrangement geordert. Henry weiß Bescheid.“

„Gute Idee, Schatz. Max?“

„Ich sehe sie hier nicht. Oh, sie liegt auf dem Balkon und genießt die Sonne. Glaubst du sie macht Dummheiten wenn wir sie hier lassen?“

„Nein, ich werde noch ein paar ihrer Kekse deponieren. Ich denke sie ist müde und geschlaucht. Die vielen neuen Eindrücke hier in London müssen erst verarbeitet werden. Wie steht es mit ihrem Wasser?“

„Werde ich frisch auffüllen und du solltest dir eventuell etwas Frisches anziehen, du müffelst etwas.“

„Vielleicht sollte ich vorher noch unter die Dusche?“

„Oh, ich hatte noch vor mit dir heute den Hotelpool unsicher zu machen.“

„Hey, du bist mein Goldstück. Die haben ja einen Pool, daran habe ich noch gar nicht gedacht und eine Sauna. Danach massierst du mich und ich zerfließe wie Wachs in deinen Händen.“

„Können wir machen, Tiger. Nun aber los.“

 

Carsten verschwand im Nebenraum und zog sich ein frisches Poloshirt über. Andreas folgte ihm und ging direkt ins Bad, um frisches Wasser in Max Napf zu füllen. Als er diesen wieder neben die Bar abstellte, war Carsten auch schon fertig.

Selbst eine Handvoll Hundekekse lagen für Max bereit. Dann gingen sie hinunter. Henry empfing sie und geleitete sie zu einem freien Tisch im Garten. Kaum saßen sie, wurde auch schon der Tee serviert.

Neben den Sandwiches wurde auch ein wenig Gebäck aufgetischt. Nach dem ersten Schluck Tee erzählte Carsten von der Probe und Andreas etwas von dem, was er getan hat. Dann kam er auf dieses Portfolio zu sprechen und Carsten klärte ihn auf, dass Mr. Mathew ihm im Auftrag der BBC darum gebeten hatte, dass es sich dabei um die Bewerbungsunterlagen für die Hochschulen handelte.

„Wann hast du denn die Aufnahmen gemacht? Es hörte sich an, als ob diese in einem Studio aufgenommen wurden.“

„Mitnichten Andreas. Alle Soloaufnahmen haben wir in dem kleinen Musikzimmer gemacht und der Rest sind Livemitschnitte. Es sollten ja nur Beispiele sein, welche die Hochschule zu einer Einladung anregen sollten. An den Hochschulen in Dresden, Leipzig und Weimar habe ich im Herbst ein Vorspiel. In München, Frankfurt am Main und Berlin im kommenden Frühjahr. Das war es auch schon. Würzburg, Rostock, Mainz, Köln und Stuttgart haben mir eine Absage erteilt. Herr Kramer wünscht sich ja, dass ich auf die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden gehe. Die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ zu Leipzig ist der Favorit von Mama.“

„Und welche favorisierst du?“

„Ich weiß es ehrlich noch nicht, bei den Bewerbungen haben wir absichtlich meine Blindheit weggelassen. Ich möchte nicht, dass ich der Quotenbehinderte bin.“

„Gibt es so etwas wirklich? Das hast du wirklich nicht nötig. Sieh dich doch an, du wurdest in einer der Musikhauptstädte Europas eingeladen.“

„Das mit dem Ansehen überlege ich mir noch einmal, gibst du mir noch ein Sandwich?“

Nicht nur Andreas grinste über Carstens Spruch. Henry reichte noch ein Teller mit frischen belegten Häppchen. Nach der zweiten Tasse Tee, wuselte auf einmal Max um sie herum. Carsten knuddelte sie.

„Wo kommst du denn her? Ich gehe einmal nachsehen ob die Tür von unserer Suite verschlossen ist.“

„Andreas, bring doch bitte ihren Frisbee mit. Na Kleines, war es dir doch zu langweilig da oben?“

Wuff

„Mr. Von Feldbach, darf ich ihrem Hund eine Schüssel Wasser bringen?“

„Ich denke das ist nicht nötig, Henry. Wenn mein Hund mich aufsucht, möchte Sie etwas unternehmen. Ich denke wir sollten gleich zu dem kleinen Park aufbrechen.“

„Hier der Diskus. Sind beide zu, wie Max wohl hinausgekommen ist?“

„Wir haben die Tür nur zugezogen, nicht abgeschlossen, Andreas. Max kann Türen öffnen. Vielleicht hat ein Zimmermädchen oder Page die Tür wieder geschlossen?“

„Wohl möglich, jedenfalls stand dein Laptop noch neben dem Sekretär.“

„Gut, dass du davon anfängst, der Akku muss noch geladen werden.“

„Möchtest du noch etwas?“

„Nein, wie steht es mit dir?“

„Eine Tasse Tee könnte ich noch vertragen, hast du etwas vor?“

„Max Spielstunde steht an, darum solltest du auch ihr Spielzeug mitbringen.“

„Gehst du sofort?“

„Nein, wir warten gerne auf dich. Nicht wahr Max?“

Wuff, wuff!

„Danke.“

Andreas ließ sich Zeit mit der letzten Tasse und Carsten knuddelte Max. Henry zog sich diskret zurück. Als es dann soweit war, nahm Carsten den Bügel und ließ sich von seiner Blindenführhündin führen.

Max war voller Elan und sehr konzentriert bei der Sache. Selbst Andreas staunte nicht schlecht, wie selbstsicher die Retrieverhündin den Weg zum Park nach Carstens Anweisungen ging.

Keine Unsicherheit bei Ampeln und Überwegen. Selbst kleinere Hindernisse wurden von der Hündin tadellos umgangen und Carsten vertraute ihr. In dem Park durfte sie dafür erst einen ordentlichen Sprint hinlegen, in einem Mauseloch buddeln – wobei Andreas im nachhinein mit dem Fuß wieder etwas Erde darüber kickte – und dann war sie bereit mit dem Frisbee zu spielen.

Diesmal gab sie sich nicht mit ein paar Würfen zufrieden. Fast eine ganze Stunde lang warfen Carsten und Andreas ihr Spielzeug durch die Gegend. Anschließend gingen sie gemütlich zum Hotel zurück.

Der Besuch des Hotelpools kam beiden gelegen. Carsten schwamm einige Runden und relaxte anschließend in einem Liegestuhl neben Andreas. Beide ließen den Tag noch einmal Revue passieren.

Dann erinnerte Andreas Carsten an das Dinner und daran, dass Max zum Gassi noch abgeholt werden würde. Nachdem Max am späten Abend von ihrer Gassirunde zurück war und – laut Andreas – selig ihn ihrem Gästebett schlummerte, machten es sich Carsten und Andreas auf der Couch bei ungesundem Knabberzeug und Wein gemütlich.

*-*-*

Zum Frühstück ließ sich Andreas durch die englische Küche verwöhnen. Dabei schmiedeten sie ihre Tagespläne. Carsten wollte noch ein wenig an dem Konzert üben, während Andreas sich dann um Max kümmern sollte.

Für den Nachmittag nahmen sie sich fest vor, The London Eye zu besuchen. In dem Prospekt, welches Andreas an der Rezeption erhalten hatte, befanden sich auch noch weitere Attraktionen wie das Sea Life Aquarium und das Film Museum.

Den Tee wollten sie dann in dem The Country Hall Restaurant einnehmen. Carsten schlug vor, danach noch einen Abstecher in die Waterloo Station einzulegen.

„Willst du jetzt schon lernen, wie du dich in der U-Bahn zu Recht findest?“

„Nicht unbedingt, aber ich habe gehört, die Station soll ungewöhnlich sein. Warum soll ich mir diese Gelegenheit mit dir entgehen lassen? Da wir dann noch etwas Zeit bis zum Dinner haben, können wir den Rückweg auch gemütlich zurücklegen.“

„Hm, gar keine so schlechte Idee. Da würden wir am Buckingham Palace und der Westminster Abby vorbeikommen. Für den Rest des Weges nehmen wir dann die U-Bahn ab der St. James Park Station.“

„Hey, hast du den Stadtplan auswendig gelernt?“

„Nein, aber ich habe mir schon einmal Gedanken gemacht, was interessant werden könnte. Das Riesenrad ist eine Attraktion für sich. Das Film Museum und das Aquarium haben ihre Reize. Und der Palace ist ein Muss für Touris. Auch wenn die königliche Familie nicht anwesend ist. Nur da habe ich noch ein Anliegen, ich würde mir gern einmal eine Shakespeare Vorstellung ansehen.“

„Weißt du, wo hier in London etwas aufgeführt wird?“

„Ja, nur frage ich mich, ob es für dich nicht langweilig wäre?“

„Andreas. Schatz. Nur weil ich nicht sehen kann, heißt es doch nicht, dass ich nicht auch ins Theater gehe. Kultur ist auch für mich wichtig. Du und Dr. Gabriel habt mich auf den Geschmack gebracht, mich mit der alten Literatur auseinander zu setzen und wenn ich einer Vorstellung beiwohnen kann, umso besser. Es bedarf zwar etwas an Vorbereitungen, doch ich denke dass mir die Royal Blind Society da behilflich sein kann. Ich benötige einen Dialogtext in Braille, so wie bei der Aufführung von Ercans Theaterstück zu Weihnachten. Also, nehmen wir uns Shakespeare nach dem Konzert vor.“

Andreas stimmte dem zu. Nach dem Frühstück zogen Andreas und Max los, während sich Carsten an den Flügel setzte und das Konzert probte. Nach zwei Stunden holte ihn Andreas ab.

Mr. Taylor brachte sie zu dem Riesenrad auf der anderen Seite der Themse und wünschte ihnen einen schönen Nachmittag. Zuerst genehmigten sie sich einen einfachen Lunch und dann erkundeten sie das Gelände.

Als sie am Abend in ihr Hotel zurückkehrten, waren alle geschafft. Nachdem Carsten Max das Geschirr ausgezogen hatte, verzog sie sich auf den Balkon. Andreas und Carsten machten sich im Bad für das Abendessen frisch.

„Also Tiger, ich bin fix und alle.“

„Nicht nur du allein. Aber es war ein wunderbarer Nachmittag. Ich habe schon lange nicht mehr soviel auf einmal erlebt. Der Bedienstete aus dem Sea Life Aquarium war sehr zuvorkommend uns soviel zu erklären und durch das Gelände zu führen.“

„Stimmt – übrigens, du solltest dich rasieren Tiger – ohne die Führung hätten wir wohl nur die Hälfte erlebt. Und die Idee mit der Waterloo Station war wundervoll. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Bahnhof so interessant gestaltet werden kann.“

„Ja, nur schade, dass wir den Buckingham Palace und die Abby nicht mehr besuchen konnten. Wäre sicherlich auch interessant geworden.“

„Ach, das läuft uns nicht davon. Machen wir einen Abstecher nach dem Konzert. Ich hatte nach dem Tee schon den Eindruck, Max würde nicht mehr lange durchhalten. Der Spaziergang zur St. James Station hat seine Wirkung nicht verfehlt.“

„Stimmt, sie ist dir dafür dankbar. Obwohl die U-Bahn ihr immer noch nicht geheuer ist.“

„Ja, warum mag sie keine U-Bahn? Sie fährt ja auch problemlos mit dem Zug.“

„Weil sie unter der Erde ist. Ich vermute mal, dass es mit der künstlichen Beleuchtung zu tun hat. Laut Papa können Hunde flackerndes Licht besser sehen als Menschen. Wenn ich jetzt in Physik aufgepasst habe, wirkt das Licht der Leuchtstoffröhren bei Max so ähnlich wie Stroboskoplicht bei uns Menschen.“

Die Antwort hatte etwas für sich. Auch wenn Andreas Max nicht fragen konnte ob es stimmt. Aber wenn dem so war, konnte er Max verstehen. Er selbst fühlte sich bei diesem Stroboskoplicht auch unwohl.

Was daran lag, dass optisch ein Teil der Bewegung fehlte. Carstens Erläuterungen waren daher äußerst plausibel. Nachdem Carsten den Elektrorasierer wieder hingelegte, gingen sie gemeinsam ins Restaurant.

Nach dem Dessert fragte Carsten Henry nach dem Empfangschef.

„Sie wünschen mich zu sprechen?“

„Ja, mein Hund hätte ein Bad nötig, haben Sie hier im Hotel entsprechende Möglichkeiten?“

„Wir haben einen entsprechenden Raum im Poolbereich für Hunde eingerichtet. Dort finden Sie alles was sie benötigen, Mr. Von Feldbach.“

„Danke. Das war es schon.“

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend meine Herren.“

Damit verließ der Angestellte den Tisch. Kurz darauf verließen auch Carsten und Andreas den Speisesalon. Erst gingen sie auf ihr Zimmer und anschließend mit Max hinunter in den Fitnessbereich. Andreas führte sie zu dem Raum und sah Carsten zu, wie der Max duschte.

Carsten verzichte auf das übliche Shampoo. Ein spezieller Waschhandschuh und reichlich lauwarmes Wasser reichte für die Retrieverhündin aus. Eine halbe Stunde später kehrten sie wieder zurück. Dann begann Carsten damit, Max’ Fell zu bürsten.

Die Hündin relaxte unter seinen Händen. Den Abschluss bildete schon ein fast rituelles herumgebalge zwischen Carsten und Max. Zur späten Gassirunde wirkte die Retrieverhündin wie ein junger Welpe.

Als die Jungen zu Bett gingen, schlief Max schon. So wie Andreas die Situation beschrieb, träumte die Blindenführhündin von etwas positivem, denn hin und wieder zuckten ihre Pfoten, begleitet von leisen, heiseren Bellen.

Carsten verschwand im Bad, um sich noch die Zähne zu putzen. Als er wieder zurückkam, wurde Andreas ganz heiß. Carsten stand splitterfasernackt in der Tür und es sah nicht so aus, als ob er daran etwas ändern wollte.

Im Gegenteil. Er ging zum Bett und legte sich so wie er war hinein, kroch zu Andreas hinüber und verführte seinen Freund mit allen Künsten. In dieser Nacht lernte Andreas erotische Stellen an seinem Körper kennen, welche er nie damit in Verbindung gebracht hätte.

Allein als Carsten seine Zunge in seinen Bauchnabel versenkte, jagte ihm ein wohliger Schauer durch den Körper. Und als er die Innenseite seiner Schenkel mit sanften Küssen bedachte, krallte er vor Ekstase seine Hände in das Laken.

Sein Schwanz stand steil vom Körper empor. Carsten hörte nicht auf seinen Freund zu verwöhnen. Andreas wusste nicht, wie ihm geschah, doch plötzlich fühlte er, wie Carsten ihm ein Kondom überzog.

Er war sich einen Moment nicht sicher, doch er ließ es geschehen. Das kühle Gel und dann die Wärme… In dem Augenblick als er kam, konnte auch Carsten nicht mehr an sich halten. Erschöpft ließen sie sich in ihre Armen fallen. Glücklich schliefen sie ein.

Kapitel XLVII: London, The Garden Museum

Pünktlich wurde Max zur morgendlichen Gassirunde abgeholt. Die Jungs ließen sich mit ihrer Morgentoilette etwas Zeit. Bevor sie ihr Zimmer zum Frühstück verließen, orderte Andreas beim Zimmerservice frische Bettwäsche und bat darum, dass ihre schmutzige Wäsche in die Reinigung käme.

Dazu packten sie alles in einen der hoteleigenen Wäschesäcke. Dann gingen sie hinunter.

„Guten Morgen Henry.“

„Guten Morgen die jungen Herren. Möchten Sie heute auf der Terrasse frühstücken? Es ist heute angenehm warm.“

„Gerne.“

„Folgen Sie mir, bitte.“

Carsten hielt sich an Andreas fest, der ihn durch den Frühstückssalon führte. Henry ging voraus zu einem freien Tisch, der im morgendlichen Halbschatten stand. Andreas bewunderte den Service.

Der Tisch war tadellos gedeckt. Der Oberkellner half ihnen sich zu setzten. Das Frühstück und die Ration für den Hund wurden kurz nach Max’ eintreffen serviert. Beide Jungen hatten es nicht eilig.

Sie genossen die ruhige Atmosphäre der Terrasse. Und Max legte sich zum Sonnen auf dem angrenzenden Rasen ab.

„Sag einmal Tiger, wann beginnt die Probe heute?“

„Sie beginnt heute schon um 12:30 Uhr und endet erst um 21 Uhr.“

„Wow, warum so lange?“

„Die heutige Probe findet in dem Studio des Orchesters statt, dort wird auch eine Aufnahme von dem Konzert gemacht. Ich hatte dir ja gesagt, dass am Ende ein fettes Plus unter dem Strich bleibt.

Ich bin an den Rechten dieses Konzert beteiligt. Daher müsste ich dich bitten, heute auf Max aufzupassen.“

„Gerne, braucht sie ihr Führgeschirr?“

„Nein, es reicht das Brustgeschirr für die Leine. Sie kann heute Urlaub machen. Was hast du vor?“

„Heute wollte ich ins Garden Museum, ich hoffe etwas über Gartengestaltung zu lernen. Ich habe auch mein kleines Buch für die Pflanzenbestimmung mit.“

 

„Hört sich spannend an.“

„Du bist doch nicht enttäuscht weil ich allein hingehe?“

„Iwo! Deine Interessen sind nun einmal etwas anders als die meinigen. Ein Garten kann noch so schön gestaltet sein, ich sehe es nicht. Aber es hilft dir für die Zukunft. Du siehst in einem Garten die darin verborgene Ästhetik und Harmonie. Ich habe von dir schon oft gehört, dass in unserem Land die Gartenkultur einen anderen Stellenwert hat. Nein, ich wäre nicht glücklich, wenn du den ganzen Tag im Hotel bleiben würdest.“

„Dann bin ich beruhigt, soll ich ein leichtes Abendessen für uns auf das Zimmer bestellen, sagen wir um 22 Uhr?“

„Das ist eine gute Idee.“

„Was ist mit Max?“

„Was soll mit ihr sein? Ach so, sie kann ihre Ration auch mal später bekommen. Ich gebe dir nachher den Futterbeutel mit ihren Leckerlies.“

„Gut, möchtest du noch etwas Schatz?“

„Ein Tässchen Tee bitte.“

Andreas schenkte erst Carsten, dann sich selbst noch eine Tasse Tee ein. Carsten machte keine Anstalten den Tisch zu verlassen, er genoss die wärmenden Sonnenstrahlen. Daher ließ Andreas sich eine Tageszeitung bringen und las darin. Sie wurden nur einmal vom Kellner unterbrochen, der den Tisch abräumte.

„Sag einmal Tiger, hat sich deine Familie schon einmal gemeldet?“

„Nein. Ich habe am Sonntag nur eine Message geschickt, dass wir heil angekommen sind.“

„Ah, genauso wie ich. Ich habe auch schon Briefe nach Hause – sowohl in Deutschland als auch in Italien – geschickt. Schreibst du auch?“

„Ja, natürlich. Ich beschränke mich aber auf E-Mails. Hast du eigentlich eine Kamera mit?“

„Ja, die kleine digitale. Ich habe auch schon Aufnahmen von uns gemacht. Wozu möchtest du das wissen?“

„Wenn sich die Möglichkeit ergibt unseren Aufenthalt hier für den Rest der Familie in Bildern festzuhalten, sollte ich diese Nutzen.“

„Das ist ein plausibler Grund Schatz.“

„Gerade Ercan freut sich darüber.“

„Da sprichst du etwas an. Wieso bist du eigentlich so dicke mit eurem Jüngsten? Ich meine dein Verhältnis zu ihm ist irgendwie anders als seines zu Andrea und zu deinen Eltern.“

„Ich kann es dir nicht genau sagen, ich weiß nur soviel, dass er mich ausgesucht hat. Als er nämlich noch in Windeln unser Haus unsicher gemacht hat, war ich oft seine erste Anlaufstelle. Vielleicht liegt es daran, dass ich ihn als Person respektiert habe. Er ist aber auch für mich ein ganz besonderer Mensch. Ich weiß noch, wie er mir aus seinem Lieblingsbilderbuch vorgelesen hat.“

„Kann er denn schon lesen?“

„Nein, darauf kommt es ja auch nicht an. Er hat sich mit dem Buch in der Hand neben mich gesetzt und ernsthaft eine Geschichte erzählt, die er in den Bildern gesehen hat. Da ging es um irgendwelche Hasenkinder und ein rotes Fahrrad und so weiter. Etwas konfus, aber er war stolz wie Oskar seinem großen Bruder etwas vorgelesen zu haben. Dann saß er oft neben mir auf der Klavierbank und hat mir beim Üben zugesehen. Wir haben auch viel Quatsch gemacht. Ich erinnere mich noch daran, wie ich ihn im Sommer mit Arco vom Kindergarten abgeholt habe. Es hatte aus Kübeln gegossen und jede Pfütze auf dem Weg hat er mitgenommen. Mutti hätte mich fast gelyncht als wir daheim eintrafen. Doch Ercan hat sich vor sie aufgebaut und ihr selbstbewusst mitgeteilt, dass er die volle Verantwortung dafür übernimmt.“

„Und Luise hat es akzeptiert?“

„Hat sie und uns beiden ein heißes Bad verordnet. Damit war es gut. Aber auch das Gegenteil traf zu. Ich erinnere mich, dass ich mit ihm zum Einkaufen war. Ercan war glaube ich vier oder fünf. Also wir zum Laden, dort habe ich ihm gesagt, was wir brauchen und er hat mich dirigiert. Er hat aber auch selbst etwas in den Einkaufwagen getan: Mohrenköpfe, Tafeln Schokolade, Gummizeug und so ein Süßkram.“

„Du hast es an der Kasse zurückgehen lassen!“

„Nein, der Junge sollte lernen, dass wir uns vertrauen müssen. Also alles eingepackt und mitgenommen. Daheim ging Ercan mit Arco spielen und ich in die Küche. Dort habe ich mit Mama gesprochen. Zu Abend gab es Spagetti mit Tomatensauce, Ercans damaliges Leibgericht.“

„Dann hast du ihn aber belohnt.“

„Nein, die Nudeln waren für uns andere. Ercan bekam einen Teller mit Mohrenköpfen, Riegeln Schokolade und dem restlichen von ihm gekauften Zuckerzeug.“

„Das haben deine Eltern erlaubt?“

„Ich habe Mama meine Beweggründe erklärt und sie hat mir zugestimmt und Papa vertraut ihr. Als mein kleiner Bruder über seinen Teller schaute und sah, dass wir sein Leibgericht aßen und er leer ausgehen sollte kam sein Protest. Ganz ruhig habe ich ihm dem Sachverhalt erklärt, besonders was es mit Vertrauen auf sich hat.“

„Und hat Ercan es verstanden?“

„Ja, wenn er mit einkaufen geht, fragt er immer ob er etwas haben darf und auch sonst weiß er, dass ich mich auf ihn verlassen können muss. Nun aber zum aktuellen Tagesgeschehen, steht interessantes in der Zeitung?“

„Im Zuge eines Sparkurses der hiesigen Regierung werden die Studiengebühren angehoben. Auch in anderen Bereichen sollen die Gürtel enger geschnallt werden. In Deutschland ist wieder einmal ein Streit über den Stabilitätspakt vom Zaun gebrochen worden und in Australien heißt es: Land unter. Gesellschaftspolitisch: Der britische Thronfolger will heiraten.“

„Nicht wirklich interessant. Oder warte einmal, würdest du hier studieren wollen?“

„Wenn sich die Möglichkeit bieten würde: gerne. Aber ohne mindestens ein Teilstipendium ist es für mich nicht zu meistern. Zwar haben meine Eltern noch dafür gesorgt, dass ich eine Ausbildung plus Studium finanziert bekomme, doch in dem Zeitungsartikel heißt es, dass ein Studienjahr an die zehntausend Pfund kosten kann. Was ist mit dir?“

„Oh, ich habe mir schon meine Gedanken gemacht. Hier sind viele internationale Künstler zugegen, von denen ich lernen kann. In Deutschland würde ich eher eine solide Ausbildung erhalten. Obendrein kommt es darauf an, was ich später genau machen möchte.“

„Du hast einmal etwas gesagt, dass du gerne Pianist werden möchtest. Da wäre die Ausbildung hier viel vorteilhafter.“

„Pianist möchte ich schon gerne werden, daran hat sich nichts geändert. Aber für ein Standbein finde ich dieses nicht ausreichend. Du erinnerst dich an Miguel?“

„Diesen Nachhilfeschüler von Volker?“

„Genau der. Es war zwar nicht einfach und hat viel Arbeit gemacht, doch ich habe auch eine innere Befriedigung verspürt, mein bescheidenes Wissen weiter geben zu können.“

„Bescheidenes Wissen? Du scherzt!“

„Nein, ich mag eine gute Spieltechnik haben, doch fehlt mir noch ein gewisses Maß an Reife, Kompositionen zu verstehen. Da mache ich mir keine Illusionen. Aber wir schweifen vom Thema ab. Ich stimme dir zu, dass ohne ein Stipendium auch ein Studium für mich hier nicht in Frage kommt. Max!“

Die Blindenführhündin trat an den Tisch und schubste Carsten am Knie an. Dafür wurde sie liebevoll geknuddelt. Dann räumte der Kellner die letzten Tassen ab und die Jungs machten sich auf ihre Suite.

Andreas verabschiedete sich alsbald von seinem Freund und Carsten bestellte sich den Chauffeur.

*-*-*

Max lief locker neben Andreas her. Manchmal blieb sie einen Moment stehen und schnüffelte am Boden umher. Dann sah sie wieder auf und weiter ging es. Selbst die Underground nahm sie locker hin.

Aber Andreas merkte auch, dass sie sich an der Oberfläche sichtlich wohler fühlte. An der Vauxhall Station orientierte er sich an seinem Stadtplan. Nachdem er die Richtung festgelegt hatte, gingen sie längs der Straße zur Vauxhall Bridge.

Dort ging es hinunter ans Themse Ufer. Bis zum Garden Museum konnte sie auch ruhig den Fußweg längs des Flusses benutzen und der war für den Hund viel interessanter als die Straße.

Am Garden Museum zahlte Andreas den Eintritt und erklärte dem Personal, dass er auf Max aufpasse.

Im Entrée nahm er sich noch einige Broschüren, um sich über die verschiedene Bereiche Informieren zu können. In der Halle sah er sich die Historie des Gartens an. Immer wieder sprach er zu Max, über ein besonderes Foto oder eine Skizze die eine Veränderungen des Gartens darstellten.

Einige der anderen Besucher wunderten sich über den Jungen, der mit dem Hund sprach. Da dieser jedoch absolut harmlos aussah, schmunzelten sie nur etwas. An einer der Wände waren Portraits von Personen, die sich um den Garten oder die Gesellschaft verdient gemacht haben.

Leider war diese wohl nicht ganz vollständig, da zwischendurch immer wieder weiße quadratische Flecke auftraten. Dann betraten sie die Außenanlagen. Dort ließen sich die Beiden viel Zeit.

Andreas dirigierte sie zu einer Sitzbank. Max legte sich hin, ihren Kopf auf die Vorderpfoten abgelegt und genoss die wärmende Sonne. Hin und wieder blinzelte sie zu Andreas hoch oder hob den Kopf in eine bestimmte Richtung.

Andreas holte sich seinen Skizzenblock aus dem Rucksack und skizzierte was er sah. Manchmal blätterte er in dem Pflanzenbuch und machte anschließend einige Bemerkungen in seine Zeichnung.

Auch einige Vorstellungen verwirklichte er darin. Zwischendurch setzte sich eine ältere Besucherin neben ihn. Sie machte einige Bemerkungen über den Knot – Garden und Andreas Zeichnungen.

Andreas merkte sehr schnell, dass seine Gesprächspartnerin nicht nur Ahnung von der Materie hatte, sondern dem Garten auch eine philosophische Seite abgewinnen konnte. Er erklärte ihr sogar seine Skizzen und warum er dieses oder jenes gegenüber dem Original geändert hat.

Es wurde sehr warm und Max verzog sich unter die Bank in den Schatten. Aber lange konnte sie nicht liegen bleiben. Die ältere Dame lud Andreas zu einem kleinen Imbiss ins Museum Café ein, um wohl der Mittagssonne entfliehen zu können.

Dort erhielt auch Max eine Schüssel Wasser. Angeregt unterhielten sich Andreas und die Dame über die verschiedenen Aspekte des Museums. Wobei Andreas mehr erfuhr als in den offiziellen Borschüren und Prospekten stand.

Es schien so, als ob Andreas’ Gesprächspartnerin die Veränderungen der letzten Jahrzehnte in und auswendig kannte. Selbst kleinere Anekdoten beim Besuch der Königsfamilie wusste sie zu erzählen.

Andreas fühlte sich in keinster Weise in ihrer Gesellschaft unwohl. Das Gegenteil war der Fall. Er lernte die Gesichtspunkte der Gartenkultur aus der Sichtweise einer älteren Generation kennen.

Später gingen sie noch einmal gemeinsam durch die Anlage. Diesmal war es Andreas, der der Frau seine Vorstellungen erläuterte. Als sie sich dem Ausgang nährten, bat seine Begleitung um eine Kopie seiner Skizzen.

Andreas überlegte einen Augenblick. Da kein Kopierer in der Nähe war, händigte er ihr die Originale und seine Adresse in London aus. Die Dame versprach ihm die Skizzen wieder zukommen zu lassen und verabschiedete sich.

Mit Max an der Leine ging es direkt zum Ufer der Themse. Dort ließ er sie frei laufen, im Wissen, dass sie sich ein kühles Bad im Fluss gönnen würde. Er sah ihr zu, wie sie immer wieder ins Wasser sprang, anschließend im Sand wälzte und buddelte.

Seine Gedanken waren aber bei dem, was er heute über Gärten gelernt hatte. Ein wenig bereute er schon, dass er seine Skizzen aus der Hand gegeben hatte. Doch nun war es zu spät. Er holte den Stadtplan aus der Tasche und sah sich den Weg zum Hotel an.

Es war schon ein Stück Strecke zu gehen, doch brauchte er jetzt einmal sehr viel Ruhe, um über den Tag nachzudenken. Er rief Max zu sich, die bellend und schwanzwedelnd auf ihn zukam.

Er befestigte die Leine am Geschirr und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Im Hotel holten sie ihren Schüssel an der Rezeption ab. Andreas überlegte einen Augenblick und schlug dann den Weg zum Schwimmbad ein.

Max Bad in dem Fluss konnte man riechen, also nahm er die Gelegenheit wahr sie noch einmal zu baden. Danach gingen sie hoch auf ihre Suite. Carsten kam spät zurück. Als Andreas ihn in Empfang nahm, wirkte er erschöpft und er zweifelte an seiner Zusage, ihn allein zu lassen.

Sein Freund aber zerstreute diese Gedanken sehr schnell. Nach einer intimen Begrüßung wälzte er sich mit Max über den Boden. Sowohl Carsten als auch die Hündin genossen diesen engen Kontakt und die Spielerei.

Andreas lachte, als Max zuletzt auf seinem Freund stand und ihm das Gesicht ableckte.

„Max ist die heutige Siegerin. Sorry Carsten, du hast verloren.“

„Schon gut, eigentlich verliere ich immer bei diesem Spiel. So wie war es Schatz? Ich meine das Garden Museum.“

„Später, hast du Hunger, dann sollte ich jetzt im Restaurant Bescheid geben.“

„Ja, habe ich. Ich mach mich jetzt aber erst einmal frisch, wenn du erlaubst.“

„Mach das.“

Andreas nahm den Hörer in die Hand und orderte das vorbestellte Dinner und Max’ Ration. Im Hintergrund hörte er wie Carsten das Wasser im Bad abstellte.

Dann raschelte etwas im Schafzimmer und ein paar Minuten später erschien Carsten in der Tür. Andreas blickte auf. Carsten hatte sich etwas Legeres angezogen. Vor allem sah er nun nicht mehr so erschöpft aus.

„Das Essen kommt in ein paar Minuten.“

„Danke, ich lass mich mal überraschen was es gibt.“

„Wie war dein Tag Tiger?“

„Anstrengend und sehr erfolgreich. Zuerst haben wir das Konzert noch einmal so durchgeprobt, wie wir es am Freitag spielen. Dann ging es um die Aufnahme. Die erste halbe Stunde haben wir nur Ton- und Aufstellungsproben gemacht. Gut, ich konnte mich etwas zurückziehen, da das Klavier nicht verrückt wurde. Diese Zeit habe ich dann mit William genutzt, um noch einige Details beim Konzert durchzusprechen. Das Programm steht jetzt und ich darf bei den Zugaben ein Stück spontan frei wählen. Dafür wird es ein langer Abend.“

„Wie jetzt?“

„Ursprünglich war geplant: Ouvertüre, Brahms, Zugabe, Pause, Mendelssohn, Zugabe, Ende. Nun ist die Reihenfolge: Ouvertüre, Mendelssohn, Zugabe, Pause, Brahms, Zugabe, Ende.“

„Hat das einen besonderen Grund?“

„Ich glaube einer der Sponsoren kann erst später kommen und möchte unbedingt das Klavierkonzert hören. Scheint eine wichtige Person zu sein.“

„Was soll’s.“

„Naja, ich hatte vor, mit dir nach dem Konzert fein Essen zu gehen, so als kleine Entschädigung dafür, dass diese Woche alles andere ist als Urlaub.“

„Es ist Urlaub. Ich bin kein Mallorca Typ der nur feiern und faulenzen kennt. So wie du, einen Gang zurückschalten und sich der Muse hingeben, das trifft eher zu.“

„Mein kleiner Gärtner, du bist lieb.“

Ein klopfen an der Tür unterbrach den zärtlichen Kuss der Beiden. Andreas bat herein und der Zimmerservice trat ein. Auf zwei Servierwagen wurde das Essen hineingefahren. Der Kellner deckte den Tisch ein und servierte die Speisen, nachdem sich die Jungs gesetzt hatten.

Selbst Max hatte ihre Ration ohne weiteres Aufhebens gefressen und sich auf dem Balkon noch etwas gemütlich gemacht. Das späte Dinner war exzellent und die Jungs genossen die private Atmosphäre ihrer Suite.

Anschließend gesellten sie sich zu Max auf den Balkon und ließen den Abend bei einem guten Tropfen ausklingen. Dabei erzählte Andreas von seinem Tag im Museum. Auch Carsten fand es schade, das er seine Zeichnungen aus der Hand gegeben hatte.

Er hoffte aber wie sein Freund, dass die Dame Wort hielt und die Skizzen unbeschadet zurückgab.

Kapitel XLVIII: London, Royal Albert Hall Konzert

Am Freitagvormittag, machten sie sich gemeinsam zur Royal Albert Hall auf. Da ihr Hotel nicht allzu weit entfernt von der Location war, gingen sie den Weg. Selbst Carsten war erstaunt, wie schnell Max sich anpassen konnte.

Zwar bestimmte Andreas die Richtung, doch Max führte Carsten sicher bis ans Ziel. Zuerst besichtigten sie das Royal Albert Memorial. Andreas beschrieb die Gedenkstätte. Vom Baldachin, dem vergoldeten Prinzengemahl Königin Victorias.

Den vier Säulen, die stellvertretend für den Wohlstand der damaligen Zeit stehen: Landwirtschaft, Ingenieurswesen, Handel und Fabrikation. Besonders interessant fanden die Jungen den Marmorsims um das Denkmal, welches viele lebensgroßen Künstler darstellte.

Einige erkannten sie, nachdem Andreas das Aussehen beschrieb. Seltsamer Weise erkannte Carsten die Figuren, welche Komponisten darstellten. Andere erkannten sie erst, nachdem Andreas in einer Broschüre nachgelesen hatte.

Eine dreiviertel Stunde später standen sie vor dem Nebeneingang der Royal Albert Hall.

„So und wie kommen wir nun hinein?“

„Ist hier denn nirgendwo eine Klingel? Laut des Dirigenten brauchen wir nur zu klingeln und der Hallenmeister lässt uns hinein.“

„Ach, hier ist so etwas Ähnliches wie ein Drücker.“

Andreas drückte den Knopf und sie harrten der Dinge die da kommen sollten. Nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet und ein Mann schaute hinaus. Bevor einer der Jungen etwas sagen konnte, stellte sich der Mann als Mr. Miller, den Hallenwart vor.

„Mr. Mathew hat mich darüber Informiert, dass Sie, Mr. Von Feldbach, heute erscheinen würden. Kann ich etwas für Sie tun?“

„Entschuldigen Sie bitte Mr. Miller, mein Name ist Zahradník. Mr. von Feldbach ist der Junge neben mir.“

„Oh, ja! Entschuldigen Sie bitte, kommen sie doch hinein.“

Der Hallenwart war sehr zuvorkommend. Er führte sie zunächst zur Künstlergarderobe. Andreas staunte nicht schlecht, wie geräumig diese war. Neben einem Klavier, welches wohl zum Einspielen des Künstlers gedacht war, stand ein gemütliches Canapé im Raum und eine entsprechende – zur Ruhe einladende – Sitzecke.

Dann befand sich noch ein rollender Garderobenständer, ein Frisier- und Schminktisch und zu guter letzt eine kleine Hausbar in dem Künstlerquartier. Anschließend ging es weiter zur Bühne wo neben der Orchesterbestuhlung schon der Flügel stand.

Andreas stellte sich daneben und sah in die Halle. Dann beschrieb er Carsten was er sah. Die Royal Albert Hall war gigantisch. Unterhalb der Bühne befand sich eine freie Fläche, die wie eine Arena aussah.

Um diese herum sah er einen großen Ring, der in mehrere Segmente eingeteilt war. Dahinter, so erklärte Mr. Miller weiter, befanden sich die Logen, darüber noch zwei weitere Reihen und ganz oben eine Promenadengalerie. Insgesamt würden rund achttausend Besucher Platz finden können. Dann wandten sie sich der Bühne zu.

„Carsten, der Flügel steht in der Mitte ungefähr zweieinhalb Meter vom Bühnenrand entfernt. Dieser ist mit einer Reihe Blumenkästen abgegrenzt. Auf der Orchesterseite befindet sich das Dirigentenpult auf Höhe des Flügelschwungs. Ebenfalls eineinhalb Meter entfernt und zum Piano forte mit einem Gitter versehen. Das Orchester befindet sich ungefähr zwei Meter vom Flügel entfernt und bildet ein Kreissegment von fünf vor halb Drei bis fünf nach halb Zehn vom Dirigentenpult. Augenblick einmal. Mr. Miller, kann Carsten von beiden Seiten auf die Bühne?“

„Nein, es gibt nur den einen Zugang über rechts. Wozu möchten Sie das wissen.“

„Weil ich blind bin und zum Instrument geführt werden muss. Nur wie stellen wir das jetzt an?“

„Oh, das ist kein Problem, wir haben den Flügel an der üblichen Stelle gestellt. Den können wir ruhig noch etwas zum Rand schieben, da können wir noch einen halben Meter zu dem Dirigentenpult schaffen. Reicht das?“

„Zwei Meter sind gut. Ich werde dann heute auch noch den Auftritt proben.“

Nachdem diese kleine Hürde genommen wurde beschrieb Andreas den Aufbau des Orchesters weiter, das sich auf insgesamt drei Bühnenebenen erstreckte. Es gab ja auch einiges an Musiker unterzubringen.

Andreas überflog die Anzahl der Stühle und kam auf über 80 Sitzplätze. Weiter erklärte er, dass sich über der Bühne noch eine gigantische Orgel befand und daneben noch einmal Besucher untergebracht werden können.

Derweil löste Mr. Miller die Stopper des Klaviers und schob diesen ein wenig weiter zum Rand. An der neuen Position fixierte er die Bremsen des Flügels und stellte die Bank davor. Max wusste nicht so recht was sie machen sollte.

Sie schaute zwischen Andreas und Carsten hin und her, dann schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben. Wie bei Carsten Daheim, legte sie sich unter den Flügel und schlummerte eine Runde.

Carsten interessierte nun doch langsam sein Instrument und vor allem die Akustik des Konzertsaals. Andreas führte ihn zu dem Flügel. Carsten ging einmal tastend um das Instrument herum.

Wie er Andreas erklärte, wolle er sich sein Bild von den Dimensionen des Grand Pianos machen. Danach stellte er den Deckel auf und fixierte diesen mit dem Stab in der Position. Zuletzt setzte er sich auf die Klavierbank und brummelte etwas.

Dann lupfte er seinen Hintern und schraubte die Bank etwas höher. Anschließend schob er diese noch ein wenig zurück. Andreas setzte sich auf einen der freien Stühle und sah ihm zu. Carsten stützte seine Hände neben sich auf die Bank und testete die Pedalentfernung.

Als nach fünf Minuten diese Prozedur beendet war, öffnete er die Tastenabdeckung. Andreas sah auf den Tasten einen kleinen Samtschal liegen. Carsten nahm diesen ab und hielt ihn einen Moment.

Er bat Andreas den Tastenläufer an sich zu nehmen. Doch bevor sein Freund seinem Wunsch nach kommen konnte, nahm Mr. Miller diesen. Dabei erwähnte er, dass der Klavierstimmer am Vormittag den Flügel für die Generalprobe gestimmt hatte.

Carsten bedankte sich und schlug wie gewohnt einige Tasten an. Carsten begann mit einigen Fingerübungen. Andreas und Mr. Miller sahen ihm aufmerksam zu. Es schien ihnen, als würde Carsten manchmal innehalte und lauschen.

„Die Akustik ist nicht schlecht, hallt ein wenig nach.“

„Mr. Von Feldbach, aus Erfahrung weiß ich, dass durch das Publikum dieser Hall nachlässt.“

„Darf ich fragen, wie viele Besucher zum Konzert erwartet werden?“

„Die Proms sind immer gut besucht. In den letzten Konzerten waren immer um die fünftausend Besucher ohne das promenierende Publikum.“

„Sind diese Besucher sehr laut? Ich meine, hört man ihre Schritte oder so etwas und bitte nennen Sie mich Carsten.“

„Danke Carsten. Nein, auf der Bühne hören Sie nicht viel davon. Der Boden ist mit Trittschalldämmung ausgestattet, doch leider hat dieser auch seine physikalischen Grenzen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten der Zuhörer in der Arena sich nicht viel bewegen.

Weiter sind für die Liveübertragung die Bühne mit vielen speziellen Mikrofonen ausgestattet. Die Tontechniker kommen auch gleich zur Probe und justieren diese noch. Weiter sind die großen Kameras alle auf dem obersten Promenaden Ring der Gallery.

Eine kleine Kamera steht zwischen Ihnen und dem Orchester und ist auf die Tastatur ausgerichtet. Eine weitere befindet sich Ihnen gegenüber, hinter dem Klavier. Ich werde Sorge tragen, dass Ihr Weg frei bleibt.“

„Danke!“

Während des Gesprächs spielte Carsten seine Übungen weiter, nur etwas leiser. Dann erkannte Andreas einige der Etüden von Czerny. Er schmunzelte. Max stand plötzlich vor Andreas und forderte Streicheleinheiten ein.

Dazu legte sie ihren Kopf auf seinen Schoß und Andreas kam dieser Aufforderung gerne nach. Mr. Miller setzte sich neben Andreas und hörte ebenfalls Carsten zu. Dieser begann nun mit einigen Passagen aus dem Konzert.

Der große Flügel klang klar und warm. Auch wenn Andreas von Instrumenten nicht sehr viel Ahnung hatte, dieser Flügel war eine Klasse für sich und sein Freund, so schien es ihm, wusste ihn Hand zu haben.

Mittlerweile spielte Carsten darauf nur noch das Konzert. Zwar nicht in der geforderten Reihenfolge, sondern von den leichteren zu den schwereren Teilen. Keiner merkte wie die Zeit verging, bis jemand die Bühne heller beleuchtete und die Bühnentür geöffnet wurde.

Carsten unterbrach sein Spiel. Mr. Miller entschuldigte sich dafür, dass er seine Aufgabe vernachlässigt hat. Er stand auf und ging neben der Bühne in den Zuschauerraum. Andreas hörte mit der Kraulerei auf, stand ebenfalls auf und ging zu Carsten hinüber.

„Schatz, ich denke ich gehe mit Max in den Hyde Park spielen. Sie sieht etwas gelangweilt aus.“

„Gut, Darling. Ich denke die Generalprobe wird sicher zwei Stunden dauern. Treffen wir uns um zwei Uhr am Haupteingang?“

„Jep, was wird mit Max heute Abend?“

„Eigentlich hatte ich geplant, sie vom Service betreuen zu lassen, doch sie kommt mit her. Seit dem Dresdenkonzert weiß ich, das sie sich auch in Konzerthäusern benehmen kann. Nur während meines Auftritts müsstest du dich um sie kümmern. Einverstanden?“

„Gerne, kein Problem. Glaubst du, es lenkt den Künstler am Klavier ab, wenn ich ihm einen kleinen Kuss gebe?“

„Ich denke, er wird sich emotional fangen können.“

Andreas gab seinem Freund einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich damit. Beide störte es nicht, ob einer der Musiker davon Wind bekam. Aber beim Hinausgehen mit Max schien es, als ob es keiner mitbekommen haben wollte.

Doch bevor er und Max die Royal Albert Hall verlassen konnte wurde er noch einmal von Mr. Miller aufgehalten. Er führte sie in sein Büro.

„Sie sind mehr als nur seine Begleitung. Keine Angst, von mir erfährt es keiner. Aber vielleicht können Sie mir einen Rat geben.“

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Sehen Sie, Mr. Zahradník, ihr Name kam mir irgendwie bekannt vor, nur wusste ich ihn nicht einzuordnen. Bis ich die Bestellung der Arrangements für die Dekoration durchsah. Sie sind wohl nicht mit Pavel Zahradník verwandt?“

 

„Er war mein Vater. Woher kennen Sie ihn?“

„Nun, ich habe zu Beginn meiner Zeit hier einen Kurs in Floristik belegt und Ihr Vater war einer der Dozenten. Wie geht es ihm? Ist er auch in London, ich würde ihn gerne wiedersehen?“

„Nein, er ist bei einem Verkehrsunfall gestorben.“

„Oh, das tut mir Leid.“

„Danke für ihr Mitgefühl, aber was kann ich für Sie tun?“

„Sie wissen wohl nicht, was Carsten heute Abend anziehen wird?“

„Doch, einen dunkelblauen Satinfrack, eine weiße Weste und Schleife, schwarze Lackschuhe…“

„Danke, das reicht mir schon. Die Gärtnerei hat mir ein Blumenarrangement zu wenig geliefert. Und keines der gelieferten passt zu jetzt zu seinem Outfit.“

„Wissen Sie was, darf ich mich um dieses eine Bouquet kümmern? Wann benötigen Sie es?“

„Das Konzert beginnt um 19:30 Uhr, es reicht wenn sie es mir vor dem Konzert überreichen.

Was ist mit dem Hund?“

„Sie kommt mit. Ich betreue sie.“

„Haben Sie schon einen Platz reserviert? Ich denke nicht, dass sie die ganze Zeit hinter der Bühne verbringen wollen.“

„Daran haben wir jetzt gar nicht gedacht.“

„Dann lassen Sie mich dafür sorgen.“

„Sie sind sehr freundlich, danke.“

Danach verließen Andreas und Max die Royal Albert Hall. Im Hyde Park wuselte und schnuffelte sie vor ihm her und in der Nähe eines Baumes war es dann soweit. Andreas griff in seine Hosentasche, wo er eine Tüte für diese Fälle erwartete.

Aber er wurde nicht fündig.

„Max, das ist jetzt äußerst dumm gelaufen. Du hättest nicht noch ein wenig warten können?“

Der Hund setzte sich vor ihm hin und grinste ihn glücklich an. Der Junge wuselte ihr den Kopf und sah sich um. Einen Mülleimer für ihre Hinterlassenschaften hatte er gesichtet, doch woher sollte er diese dämliche Tüte bekommen.

Als er sich wieder Max zuwandte stand ein Polizist neben ihm. Streng sah er Andreas und Max an. Andreas zog in Gedanken schon seinen Geldbeutel. Doch bevor der Junge was sagen konnte drückte dieser ihm grinsend so einen Beutel in die Hand.

„Danke.“

„Passiert meinem Jungen auch öfters, wenn er mit unserem Bobby Gassi geht. Sie haben einen schönen Hund.“

Andreas nahm den Plastikbeutel an sich und entfernte den Haufen. Danach warf er alles in den dafür aufgestellten Mülleimer. Der Polizist begleitet ihn noch ein wenig. Dabei erzählte er noch ein wenig von seinem Hund, einer kleinen Promenadenmischung.

Er fragte Andreas woher er komme. Andreas berichte ihm, dass er auf Besuch sei und dass er für einen Bekannten auf den Hund aufpasse. Da Max noch das Blindengeschirr trug und er ja eindeutig nicht blind sei.

Irgendwie kamen sie nach ein paar Minuten auf Carstens Konzert zu sprechen.

„Meine Frau und ich sind schon ganz gespannt auf das heutige Konzert. Im vergangenen Jahr waren wir auf einem der Parkkonzerte. Meine Frau hat die Karten für dieses Konzert schon sehr früh besorgt. Nur gut das Sir Wood die Idee gehabt hatte, diese Konzerte für jedermann zugänglich zu machen. Sonst könnten wir uns es nicht leisten.“

„Mir ist nicht bekannt, dass es etwas Vergleichbares in Deutschland gibt. Obwohl schon ein mehr an Konzertkultur dem Volk gut tun würde. Aber darf ich Sie etwas anderes fragen? Wo ist hier in der Nähe ein Florist? Ich benötige noch ein Bouquet, für den Pianisten.“

„Ich empfehle ihnen den Flower Corner in der Kensington High Street. Warten Sie einmal.“

Der Polizist holte seinen Schreibblock heraus und schrieb einige Zeilen darauf. Dann faltete er das Stück Papier und gab er den Zettel Andreas, mit den Worten, diesen im Geschäft abzugeben.

Andreas bedankte sich und verabschiedete sich von dem freundlichen Polizisten. Dann orientierte er sich und holte seinen Stadtplan heraus. Der Blumenladen lag nur ein paar Gehminuten von ihm entfernt.

Max schien gute Laune zu haben, mit federnden Gang und rotierender Rute lief sie neben Andreas her. Wie gewohnt, setzte sie sich an roten Ampeln und lief erst weiter, wenn das grüne Symbol leuchtete.

Im Blumengeschäft benahm sie sich vorbildlich. Andreas belohnte sie dafür mit einem Hundekeks. Eine Floristin kam auf sie zu, erst kommentierte sie Max Verhalten und wandte sich anschließend Andreas zu. Der übergab den Zettel.

„Ah, ich verstehe, kommen Sie einmal mit. Was genau benötigen Sie?“

„Ein Gebinde für einen Künstler, er trägt einen dunkelbauen Satinfrack, eine weiße Weste und Fliege. Ich denke etwas weißes, hellblaues und rosafarbenes wäre passend. Wobei ich als Grundton ein blasses rosa bevorzugen würde. An blau lediglich einen kleinen Tupfer, etwas grünes Beiwerk und alles in Folie eingepackt.“

„Das sind recht konkrete Vorstellungen, darf ich fragen, wie nahe Sie dem Künstler stehen? Bei roten Farbtönen…“

„Er ist mein Freund!“

„Dann würde ich vorschlagen, bei seinem Outfit, weiß zu präferieren, blau würde ich ganz weglassen. Bestehend aus vorwiegend Freesia alba und Gypsophila paniculata. Das macht sich in Folie sehr gut. Das Revers ist farblich abgesetzt?“

„Blau-schwarzes Samtrevers.“

„Gut, dann bekommen Sie von mir noch eine einfache Lilie, in blassrosa.“

„Haben Sie auch eine kleine Blüte von der Duchesse de Brabant für das Revers? Lilien haben wir im Strauß genug.“

„Sie gehen auf eine Gartenschule?“

„Nein, ich bin noch dabei mein Abitur zu machen.“

„Woher wissen Sie die wissenschaftlichen Namen und kennen sich in den Rosenarten aus? Die Duchesse de Brabant ist eine selten verwendete Teerosenart.“

„Mein Vater war Landschaftsarchitekt, ich bin mit den Pflanzenbezeichnungen aufgewachsen. Und diese Rosenart wächst im Garten meines Freundes.“

„Mein Onkel hat geschrieben, dass ich Ihnen vertrauen soll. Die Duchesse de Brabant besorge ich Ihnen.“

„Liefern Sie auch?“

„Ja, wohin?“

„Royal Albert Hall, geben Sie es bitte bei Mr. Miller ab und sagen Sie, dass dieses Bouquet von Mr. Zahradník für heute Abend bestellt wurde. Er weiß dann schon Bescheid. Bis wann schaffen Sie es?“

„18:30 Uhr, Versprochen.“

„Gut, hier ist meine Kreditkarte, machen Sie es so, wie wir besprochen haben. Da mein Freund nicht sehen kann, gestalten Sie das Gebinde so, dass er vorn von hinten unterscheiden kann.“

Die Floristin notierte sich alles. Dann legte sie Andreas den Kassenbeleg zur Unterschrift vor. Andreas sah sich den Betrag an, signierte die 45 £ und erhielt seine Karte zurück. Danach verabschiedete er sich höflich und gemeinsam mit Max gingen sie in den Hyde Park zurück. Dort wollte er Max laufen lassen und mit ihr Frisbee spielen.

*-*-*

Die Musiker grüßten Carsten, packten ihre Instrumente aus und arrangierten sich auf ihren Plätzen. Langsam erfüllte sich die Halle mit vielen durcheinander klingenden Instrumenten. Die zwar leise gestimmt wurden, doch bei der Fülle und dem durcheinander schon recht laut waren.

Einige spielten auch schon Teile aus dem Konzert oder machten sich wohl auf ihrem Instrument warm. Carsten wurde es etwas zuviel und er hatte ein dringendes Bedürfnis. Er stand auf und holte seinen Blindenstock hervor.

Einer der Musiker in seiner Nähe sah ihn, stellte sich als James vor und fragte ihn, wohin er denn wolle. Nachdem Carsten ihm sagte, dass er die Toilette aufsuchen wollte, bot sich der Musiker an ihn zu führen.

Als die Beiden nach etwa zehn Minuten wieder auf der Bildfläche erschienen, wurde ihnen die Nachricht zuteil, dass sowohl der Dirigent als auch der Konzertmeister sich verspäten würden.

„Da haben wir jetzt etwas Zeit, Carsten. Wir konnten uns ja noch gar nicht unterhalten. Wie sind Sie auf die Idee gekommen dieses Brahms Konzert spielen zu wollen?“

„Durch einen Pfleger im Krankenhaus. Ich war im Januar für einige Tage krank und eines Abends kam der Pfleger ins Zimmer und summte ein Motiv aus dem vierten Satz. Ich sagte ihm, dass es von Brahms wäre und er bedankte sich dafür. Er selber spielt in einer Freizeitband und verwendete immer wieder mal Themen anderer Komponisten. Das war wohl der Zeitpunkt, wo ich überlegt habe, dieses Konzert einmal wieder spielen zu wollen.“

„Interessant und wie sind Sie auf diese kleinen Variationen gekommen?“

„Nun James, mein Klavierlehrer hatte Geburtstag und mein Freund hatte die Idee ihm eine Klaviersonate für zwei Klaviere von Mozart zu schenken. Also er und ich spielten es ihm vor. Nun hatte er Noten, die einige Ergänzungen und Notizen enthielten, es waren Arrangementvorschläge, die ich vervollständigt habe. Dabei habe ich gelernt, dass eine kleine Kadenz die Stimmung des Stücks verändern kann. Dieses habe ich dann auf den Brahms angewandt. Warum möchten Sie das wissen, James?“

„Davon einmal abgesehen, dass ich mich beruflich mit Harmonielehre, Arrangements und dieser Thematik beschäftige, gebe ich Ihnen mit meinem Horn den Einsatz vor. Ich sage Ihnen, nach der ersten Probe in St. Luke’s habe ich jeden Tag diese paar Takte geübt, um diese Töne brillant zu spielen. Denn so wie Sie dieses Konzert spielen, ist es neu für mich. Spielen sie nur Klassik?“

„Nein, zwar bevorzuge ich die klassische Musik, aber für mich spiele ich auch etwas anderes, modernes.“

„Darf ich einmal hören was?“

Carsten setzte sich an den Flügel und gab einiges von seinem Können zum Besten. Als Beispiel nahm er eine kleine Melodie, gebildet aus den Tönen e” – a’ – c’ und machte aus dem Stehgreif einen kleinen Ragtime daraus.

Diese Aktion interessierte nun auch andere Musiker. Sie sahen einen lächelnden Carsten am Flügel sitzen, einen ihrer Kollege der daneben stand und aufmerksam zuhörte. In der Royal Albert Hall kehrte Ruhe ein und nur noch der Klang des Flügels erfüllte den Konzertsaal.

Nach dieser kleinen Kostprobe gab es für Carsten bewundernden Applaus. Der Musiker neben Carsten forderte ihn auf noch etwas anderes zu spielen. Doch sie wurden von einem Mitarbeiter gestört.

Es stellte sich heraus, dass es der leitende Toningenieur war, der die Zeit nutzen wollte, um die Mikrofone einzustellen. Also sammelten sich die Musiker. Carsten ließ nach Aufforderung vom Flügel den Kammerton erklingen und die Instrumente wurden danach gestimmt.

Dann wurde ihnen über einen Assistenten mitgeteilt, welche Instrumentengruppe spielen sollte. Der Spuk war nach wenigen Minuten vorbei und es sollten alle spielen. Carsten schlug vor ein wenig zu improvisieren.

Diese Idee kam bei dem Orchester an. Schnell einigten sie sich auf ein einfaches Stück von Dvořák. Carsten gab einen Takt vor. Als Mr. Mathew das Konzerthaus betrat, glaubte er sich zu irren.

Er hörte sein Orchester spielen. Er kam auf die Bühne und stellte sich neben Mr. Miller, der im Bühneneingang stand. Carsten und die Musiker spielten einen der Slavischen Tänze von Dvořák, aber mit einem jazzigen Anstrich.

Der Dirigent schmunzelte, Carsten hatte es geschafft die Zeit seiner Abwesenheit dazu zu nutzen, das Orchester in seinen Bann zu ziehen und mit der Musik regelrecht zu spielen. Er ging zu seinem Dirigentenpult nahm seinen Taktstock und brachte sich als Orchesterleiter ein.

So nach und nach ließ er sie einzelnen Stimmen verstummen, bis zuletzt nur noch der Pianist spielte und auch zum Ende kam. Mr. Mathew begrüßte die Anwesenden mit lobenden Worten.

„Wie ich feststellen musste, habe ich ein erstklassiges Orchester, das noch in der Lage ist, mit der Musik zu spielen. Das, was sie gemeinsam gespielt haben, hat Klasse. Darf ich die Frage stellen, wer die Idee dazu hatte?“

„Ich, William. Ich hoffe nur, dass ich Ihre Autorität nicht untergraben habe.“

„Es war eine hervorragende Übung, wie ich eingestehen möchte. Ich hoffe meine Kollegen sehen das genauso.“

Viele der Musiker nickten mit den Köpfen und hatten ein fröhliches Gesicht. Schien es so, dass der junge Mann am Klavier mit diesem kleinen Exkurs eine eingeschworene Gemeinschaft aufgebaut hat.

Dann ging es an, die Generalprobe endlich beginnen zu lassen. Einmal noch wurden die Instrumente auf das Klavier nachgestimmt und mit einer halbstündigen Verspätung begann die letzte Probe vor dem Konzert.

*-*-*

Andreas wartete keine fünf Minuten am Haupteingang. In der Hand das Blindengeschirr von Max. Als er seinen Freund sah, ließ er Max los, die sich sofort zu ihrem Herrchen begab. Andreas ging auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange.

„Wie war es Schatz?“

„Gut, die Probe hat zwar verspätet begonnen, aber diese Zeit konnten wir durch konzentriertes spielen wett machen. Ich habe ein sehr gutes Gefühl, dass dieses Konzert bei allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird. Wir haben sogar mehrmals den Weg vom Bühneneingang zum Klavier geprobt. Und was hast du gemacht?“

„Max Haufen beseitigt, einen Polizisten kennengelernt, der mit seiner Frau dein Konzert besuchen wird, ein paar Blumen gekauft, die später geliefert werden und viel mit Max gespielt. Obendrein hat sie noch ein Bad im The Serpentine – dem Parkgewässer -genommen, ich habe ihr zuvor das Geschirr ausgezogen. Gehen wir jetzt zum Hotel?“

„Können wir. Wir könnten auch einen Tea Room aufsuchen und ein paar Sandwiches essen. Gegen einen kleinen Imbiss habe ich nichts einzuwenden. Wie steht es mit dir?“

„Och, etwas Hunger habe ich auch. Komm lass uns schon einmal gehen. Unterwegs werden wir schon fündig. Ansonsten gehen wir in den Teesalon des Hotels.“

Andreas lachte. Eine Woche London hinterließ erste Spuren. Okay, Carsten war kein großer Freund von Tee, doch selbst im Hotel – Andreas hatte ihn probiert … der Kaffee war nicht wie in Deutschland.

Dafür gab es erstklassigen Tee. Warum sollten sie im Urlaub nicht auch einmal etwas anderes ausprobieren und munter machte er auch. Nachdem Carsten Max das Geschirr wieder angezogen hatte, machten sie sich auf.

Die Retrieverhündin führte ihr Herrchen sicher durch die Straßen, es schien als wolle sie sich für den freien Mittag bedanken. Langsam nährten sie sich dem Hotel. Ein Café oder etwas in der Art haben sie nicht gefunden und Fastfood musste man sich nicht jeden Tag antun.

Zumal es im Hotel ein hervorragendes Frühstückbuffet und abends ein exzellentes Dinner gab. Henry geleitet sie zu einem Tisch und servierte ihnen Tee und Häppchen und für Max ihre Abendration.

Als Andreas einen Moment nicht anwesend war, fragte Carsten bei Henry an, wie sie es am Abend handhaben sollten, da sie ja erst spät wiederkommen würden. Henry unterbreitete ihm den Vorschlag, eine kleine Mahlzeit im Restaurant der Royal Albert Hall zu sich nehmen.

Carsten war dieser Idee nicht abgeneigt. Der Oberkellner bat daraufhin, dass er sich um ein kleines Arrangement kümmern dürfe. Er unterhielt dorthin gute Kontakte. Carsten gestattete es und war froh, dass er sich heute nicht noch um ein Abendessen kümmern musste.

Dann klingelte Carstens Telefon. Sein Vater rief an. Er wünschte ihm vom Rest der Familie ein gutes Konzert und setzte ihn über die neuen Vorkommnisse daheim in Kenntnis. Carsten überlegte einen Moment und fragte an, ob Ercan denn länger aufbleiben dürfe, da das Programm geändert wurde.

Paul hatte nichts einzuwenden. Dann ließ Carsten ihn wissen, dass er sich als Zugabe etwas einfallen lassen werde. Die letzten Sätze bekam auch Andreas mit. Carsten richtete ihm Grüße aus und setzte ihn davon in Kenntnis, dass dieses Konzert in Germany sowohl im Radio als auch im Digitalen Kulturkanal live übertragen werden würde.

Dann gingen die beiden hinauf auf ihr Zimmer um sich für den Abend vorzubereiten. Als Carsten in seinem Konzertfrack in der Suite erschien, blieb Andreas die Spucke weg. Er sah in dem Frack schon nicht übel aus, aber Carsten setzte dem noch eine Nuance Eleganz auf.

Andreas ging auf ihn zu, richtete die Fliege etwas und sah sich die Manschetten des Hemdes an.

„Du hast ja noch keine Manschettenknöpfe angezogen.“

„Da gibt es ein kleines Problem.“

„Dann helfe ich dir. Streck deine Arme aus ich lege sie dir an.“

Carsten tat wie ihm geheißen und Andreas legte ihm sein Geschenk an.

„Andreas, darf ich dir eine Frage stellen?“

„Heraus damit!“

„Woher hast du diese Knöpfe? Mein Problem, meine eigenen habe ich daheim vergessen.“

„Sorry und ich habe mir gedacht du wolltest mir eine Chance geben. Ich habe sie schon am Montag bei Harrods gekauft. Sie sind silberfarben mit einer Retriever Gravur, die mit Diamantstaub belegt ist. Sie glitzern etwas im Licht. Bist du mir böse?“

„Geht zwar gegen unsere Abmachung, aber der Zweck heiligt die Mittel. Nein ich bin dir nicht böse.“

„Da gibt es aber ein anderes Problem: Sowohl dein als auch meine Frackärmel sind zu kurz.“

„Nicht im Geringsten oder glaubst du allen Ernstes eine Herrenschneiderei würde sich irren?

Laut Etikette sind sowohl beim Frack als auch beim Smoking die Ärmel des Jacketts circa ein Zentimeter kürzer als die des Hemdes. Darum auch Manschettenknöpfe. So genug geplaudert. Wir werden um halb sieben Uhr in der Royal Albert Hall erwartet. Max?“

Die Retrieverhündin wuselte um ihn herum. Carsten ging in die Hocke und kraulte ihr liebevoll das Fell. Wie üblich leckte Max Carsten die Hand. Leise sprach Carsten mit der Hündin. Dann stand er wieder auf.

„So Andreas, Max ist für den Abend fit. Das Kauseil nehme ich mit. Dann kann sie sich damit beschäftigen. Du musst nachher nur entscheiden, was du mit ihr machen möchtest, wenn ich auf der Bühne bin.“

„Du hast gesagt, sie kann sich im Theater benehmen! Dann nehme ich sie mit auf meinen Platz. Mr. Miller wollte einen für uns reservieren.“

„Ich hoffe nur, es wird nicht allzu eng werden. Falls doch, müsstest du eventuell in der Garderobe mit ihr bleiben.“

„Lass das einmal meine Sorge sein, dein Mädchen wird sich in meiner Obhut sicherlich entspannen.“

Andreas gab Carsten einen Kuss bevor sie ihre Suite verließen. Danach führte er Carsten hinunter zur Rezeption. Aus den Augenwinkeln sah er, wie manche Gäste sich nach ihnen umsahen.

An der Rezeption gaben sie ihre Zimmerschlüssel ab. Dann kam der Concierge hinter dem Tresen hervor und begleitete sie zum Eingang. Höchstpersönlich öffnete er ihnen das Hotelportal.

Andreas staunte nicht schlecht, womit sie zur Royal Albert Hall fahren sollten: Mr. Taylor öffnete ihnen die Wagentür zu einem Rolls-Royce Silver Wraith.

„Meine Herren, heute fahren wir mit Stil.“

„Mr. Taylor, wo haben Sie diesen Rolls-Royce aufgetrieben? Nein, sagen Sie es nicht, wir werden die Fahrt genießen.“

Andreas folgte Carsten und sie genossen die Fahrt mit diesem einmaligen Ambiente. An der Royal Albert Hall öffnete der Chauffeur die Wagentür und ließ die Jungen aussteigen. Andreas wartet bis Carsten seinen Blindenstock hervor holte, dann reichte er ihm seinen Arm und führte ihn zur Garderobe. Dort lagen auch schon die Platzkarten. Nur seltsam, dass es drei waren. Andreas steckte die Karten ein.

„So, da wären wir Schatz. Wie ich sehe, hat Mr. Miller die Reservierungen erledigt. Brauchst du noch etwas?“

„Etwas zu trinken und deine Gesellschaft, wenn ich mich nachher noch ein wenig warmspiele.“

„Wie läuft das denn hier heute Abend?“

„Da ich erst nach der Pause dran bin, möchte ich mir den ersten Teil gerne anhören. William wollte dafür sorgen, dass ich in einer Loge unterkomme. Zur Pause gehe ich in die Garderobe zurück und spiele mich warm. Dann kommt noch eine Maskenbildnerin, die mich etwas schminkt. Und dann geht es los.“

„Maskenbildner? Ach stimmt ja, die übertragen live. Aber ich finde an deiner Schönheit kann man nichts mehr verbessern. Ein Frevel daran etwas zu ändern. Was meinst du Max?“

Wuff!

„Danke Schatz, doch leider glänzt meine Haut etwas und wenn ich ins Schwitzen komme, macht sich das auch nicht so toll im Bild. War zumindest die Auskunft eines Technikers der BBC. Und da ich gerade dabei bin: Wir sollten los.“

„Hey, wir haben noch eine Stunde bevor es los geht.“

„Sorry, ich werde schon vergesslich. Wir müssen noch zu einem Interview.“

„Und was sollen Max und ich da?“

„Mich begleiten, das ist alles.“

„Dann mal los.“

Carsten stand gerade auf, als es an der Tür klopfte. Nach Aufforderung trat ein junger Mann ein, der ein Headset trug. Er war ein Assistent der Rundfunkstation, der Carsten zum Interview abholen sollte.

Die kleine Gruppe setzte sich in Bewegung und befanden sich nach wenigen Minuten in einem kleinen Studio wieder ein. Eine Dame begrüßte die Gruppe und stellte sich als die Moderatorin des Konzertes vor. Carsten stellte Andreas und Max vor.

„Guten Abend Mr. von Feldbach, Mr. Zahradník. Wie abgesprochen machen wir ein Interview von ca. fünfzehn Minuten. Darf ich fragen, ob wir einen Dolmetscher benötigen?“

„Ich denke, Mr. Zahradník wird diese Aufgabe übernehmen können. Wie steht es Andreas?“

„Gerne.“

Die Journalistin nickte, dann setzten sie sich an einen Tisch und jeder bekam Kopfhörer auf. Dann begann das kleine Gespräch. Carsten verstand zwar die Fragen, antwortete jedoch jeweils auf Deutsch, so dass Andreas die Phrasen sinngemäß ins Englische übersetzte.

Nach fast einer halben Stunde beendete die Moderatorin das Interview und bedankte sich bei den Beteiligten. Die Jungs verließen das Studio und wurden von dem jungen Assistenten in Empfang genommen.

Andreas holte die Karten hervor und fragte den jungen Mann wo sich ihre Plätze befänden. Kurzer Hand begleitet der Angestellte sie zu ihren Plätzen. Mr. Miller meinte es gut mit ihnen. Sie hatten Logenplätze. Wobei nur die Hälfte der Plätze darin belegt war.

„Ganz schön was los hier im Konzerthaus. Gut, dass Mr. Miller sich an meinen Vater erinnerte, sonst wäre es wohl noch schwer geworden Karten zu bekommen.“

„Das scheint mir auch. Ich hätte nicht gedacht, dass die Proms so ein Publikumsmagnet sind.“

„Ich glaube, das liegt an dieser Tradition der Konzertreihe. Zu Henry Woods Zeiten eine Notwendigkeit, Leute für die sogenannte „Ernste Musik“ zu interessieren. Nach den Kriegen des vergangenen Jahrtausends eine willkommene Ablenkung und – ich könnte mir vorstellen – auch eine moralische Unterstützung der Bevölkerung. Und heute ein Event der Tourismusbranche, die Ihresgleichen auf dem Kontinent sucht.“

„Es gibt doch auch in Deutschland Sommerfestivals.“

„Ja schon, doch hier in England beziehen sie sich auf Musik im Allgemeinen. Die Proms werden zeitgleich in vielen Teilen Großbritanniens abgehalten und schließen auch andere Sparten mit ein. Da gibt es Rockmusik, Oper, Kirchenmusik, Jazzkonzerte und und und.“

„Hey, du bist wirklich gut informiert.“

„Carsten, wer mit dir durch die Weltgeschichte schreitet, sollte schon wissen was ihn erwartet. Außerdem verstehe ich jetzt besser, worin dieser außergewöhnliche Reiz der BBC Proms liegt: Die Vielfalt, weil wirklich für jeden etwas dabei ist und obendrein für jeden erschwinglich! So die ersten Musiker kommen.“

Applaus für die eintretenden Musiker erhob sich. Dann wurden die Instrumente gestimmt und als das geschehen war, wurde es wieder still. Dann erschien der Dirigent auf der Bühne und erneut setzte Applaus ein.

Dieser verbeugte sich höflich vor dem Publikum und dem Orchester und dann wurde es wieder still. Die Ouvertüre war nicht so ganz Andreas Geschmack, dafür aber die Schottische Sinfonie von Mendelssohn-Bartholdy.

Nach einer guten Stunde war Pause. Sie verließen die Loge und begaben sich zu Carstens Garderobe. Carsten spielte sich an dem Klavier warm. Dann kam die Maskenbildnerin und machte Carsten zurecht.

Sie steckte ihm auch die bestellte Rose an das Revers. Währenddessen verließ Andreas den Raum und sah sich etwas Backstage um. Er hörte wie jemand den Flügel auf der Bühne stimmte.

Dann ging er zu Carsten zurück. Gerade als er die Tür schloss, hörte er eine Klingel.

„So Carsten, Max und ich gehen wieder auf unsere Plätze. William holt dich hier ab?“

„Ja, er begleitet mich bis zum Flügel und nachher auch wieder hier her zurück.“

„Schön. Wie sagt man so schön im Theatergewerbe: Hals und Beinbruch.“

„Danke. Kommst du nach dem Konzert wieder hierher?“

„Jep. Komm Max.“

Andreas ging mit der Retrieverhündin zurück auf ihre Plätze. Dieses Mal war die Loge gut besucht. Andreas wurde erst seltsam beäugt, weil er in Begleitung eines Hundes war. Doch durch eine höfliche Geste legte sich die Skepsis bei den anderen Gästen der Loge.

Obendrein betraten die Musiker wieder den Schauplatz. Der erste Violinist ging zu dem Flügel und gab der Oboe den Kammerton vor. Von dort aus wurden diesmal die Instrumente weitergestimmt.

Zuletzt waren die Hörner dran und es dauerte ein wenig. Dann betraten Carsten und der Dirigent die Bühne. Der Applaus klang etwas verhalten. Am Flügel begrüßte Carsten das Publikum und anschießend die Musiker durch eine angedeutet Verbeugung.

Andreas sah gespannt zur Bühne, während er mit einer Hand Max am Kopf kraulte. Carsten richtete sich am Flügel ein und schlug zuletzt leise seinen Akkord an. Jetzt erst wurde die Saalbeleuchtung heruntergefahren und die Bühne noch ein klein wenig mehr ausgeleuchtet.

Der Dirigent sah zu Carsten und schien etwas zu sagen, worauf Carsten leicht mit dem Kopf nickte. Jetzt wurde es außergewöhnlich still in dem riesigen Konzerthaus. Es waren auch keine Schritte oder ‘Huster’ zu hören.

Die Zeit schien für einen Bruchteil still zu stehen. Mr. Mathew gab den Einsatz. Leise ertönte ein Horn und Carsten setzt etwas später ebenso leise ein. Andreas bekam dabei eine Gänsehaut und ein wohliges, warmes Gefühl machte sich in seinem Körper breit.

Carsten, sein Freund, saß im Rampenlicht und spielte? Nein, das, was Carsten dort tat, hatte mit Klavierspielen nicht viel gemeinsam. Er zelebrierte eine romantische Geschichte in musikalischer Form.

Selbst die Besucher in der Loge waren scheinbar von diesem Pianisten begeistert. Viel zu schnell war dieses Konzert, welches ja mehr als eine dreiviertel Stunde in Anspruch nahm, vorbei.

Dem Applaus nach zu urteilen, waren die Zuhörer ebenfalls von diesem Pianisten beeindruckt. In seiner Loge gab es sogar Standing Ovations für die Akteure. Selbst Jubelrufe aus dem Publikum wurden laut.

Carsten stand auf, machte eine tiefe Verbeugung zum Publikum und eine zum Orchester. Der Dirigent kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Dann verließen sie gemeinsam die Bühne. Die Zuhörer erklatschten sich eine Zugabe und als Carsten und William die Bühne wieder betraten wurde der Applaus um noch einiges lauter.

Wieder verbeugte sich Carsten leicht zum Publikum und setzte sich an sein Instrument. Es wurde wieder still. Gemeinsam mit dem Orchester gaben sie eine Zugabe, welche Andreas nicht kannte.

Auch hiernach wurden die Musiker vom Publikum nicht entlassen. Nun wurden die Blumenarrangements auf die Bühne gebracht. Für den Dirigenten und die Solisten des Konzertes.

Zuletzt kam Carsten dran, mit einem wunderschönen Blumengebinde. Die Floristin hatte sich wirklich Mühe gegeben, ein Kunstwerk zu gestalten. Carsten überreichte die Blumen einer Assistentin und setzte sich noch einmal an den Flügel.

Wieder wurde es still in der Royal Albert Hall. Carsten konzentrierte sich und begann mit „Der Forelle“. Ein einfaches Lied. Carsten interpretierte es lebendig und, Andreas erster Gedanke: Lustig.

Die Zugabe endete damit, dass das musikalische Wasser immer leiser rauschte, bis zuletzt nur noch tropfenweise auf den Boden fiel. Den Zuhörern schien es zu gefallen, denn sie lachten und applaudierten.

Danach verließen alle Musiker die Bühne. Auch in der Loge machten sich die Gäste auf. Nur Andreas blieb noch eine kleine Weile sitzen und kraulte Max’ Fell. Er brauchte Zeit um dem Trubel auf den Gängen zu entgehen und das eben erlebte zu verarbeiten.

Nach weiteren fünf Minuten gingen sie auch. Vor Carstens Garderobe herrschte ein Gedränge. Mr. Miller kam auf ihn zu und lotste ihn erst einmal von der Garderobe weg.

„Mr. Zahradník, lassen wir Carsten einen Moment in Ruhe. Mr. Mathew und ein weiterer Herr sind noch bei ihm. Ich habe ja hier schon sehr viel erlebt, Mr. Zahradník, doch selten habe ich einem Konzert beiwohnen können, in dem rund sechseinhalb tausend Besucher mucksmäuschenstill waren.“

„Sechseinhalb Tausend? Wow! Es sah gar nicht nach so vielen Besuchern aus.“

„Von ihrem Platz aus konnten Sie ja nicht alles sehen. Doch die oberen Ränge waren komplett belegt. Lediglich die Galerie war recht leer.“

„Danke für die Reservierung der Plätze.“

„Nicht dafür, ich hatte zuvor bei den Verantwortlichen angefragt und die haben kein Aufhebens darum gemacht, dass ich Sie in einer Sponsorenloge unterbringe.“

„Ehm, ich habe Sie jetzt richtig verstanden, es waren Sponsoren des Proms in der Loge?“

„Ja und zwar die Wichtigsten. Ihretwegen wurde das Programm umgestellt. Einer davon ist jetzt bei Carsten und unterhält sich mit ihm.“

„Dann harren wir der Dinge die da kommen werden. Mr. Miller, Sie wissen nicht zufällig ob es auch einen Mitschnitt des Konzertes gibt?“

„Doch, möchten Sie eine Kopie? Warten Sie einmal, das haben wir gleich.“

Der Hallenwart nahm den Hörer seines Telefons ab und wählte eine Nummer. Nach kurzem Warten fing er an, sich mit jemandem zu unterhalten. Dann bedankte er sich wieder und legte auf.

„Die BBC lässt Ihnen eine Kopie ins Hotel bringen.“

„Danke, darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“

„Nur heraus damit.“

„Hunde in Konzerthäusern sind ja nicht üblich, die Damen und Herren in der Loge haben nichts gesagt. Doch angenehm war es Ihnen auch nicht unbedingt. Wie passt das zusammen?“

„Nun, man sagt uns Engländern eine gewisse Konservativität nach. In diesem Punkt steht Ihre erste Feststellung. Doch sind wir sehr tolerant, wenn es um Tiere geht, welche dem Menschen dienen.

Max trägt noch das Blindengeschirr und ist obendrein ein Golden Retriever. Das bringt ihnen hier in London Sympathiepunkte ein. So, jetzt sollte Carsten wieder allein sein. Kommen Sie Mr. Zahradník.“

Mr. Miller begleitet sie zu Carsten Garderobe, klopfte an und ließ Andreas und Max eintreten. Carsten lag auf dem Canapé und hatte die Augen geschlossen. Sein Frack hing auf einen Bügel am Kleiderständer. Max ging auf ihr Herrchen zu und leckte seine Hand.

„Hallo, da seid ihr ja.“

„Hi Schatz. Feierabend?“

„Feierabend! Reichst du mir bitte meinen Frack?“

„Gerne. Geht es jetzt zum Hotel zurück? Du siehst müde aus.“

„Ja und Nein. Ja, ich bin etwas müde. Das Konzert und mein Besuch vorhin waren anstrengend. Nein, wir gehen jetzt erst einmal hoch ins Restaurant und essen etwas. Henry hat uns ein kleines Arrangement bestellt und ich bin hungrig.“

Carsten stand auf und Andreas nahm ihn in den Arm und drückte seinen Freund mit viel Liebe. Danach half er Carsten in die Jacke und richtet noch einmal die kleine Rose an seinem Revers.

Er sah sich noch einmal um, die Blumen konnte er nirgends sehen. Schade, dachte er bei sich. Sie sind wohl irgendwie untergegangen in dem Trubel. Carsten nahm Andreas noch einmal in den Arm und gab ihm einen lieben Kuss.

Gemeinsam verließen die den Backstage Bereich und begaben sich ins Restaurant. Am Eingang stand der Empfangschef und fragte nach ihren Wünschen. Carsten nannte seinen Namen und dass für ihn etwas reserviert worden sein sollte.

Der Mann schaute in ein Buch, machte eine kleine Notiz und winkte einen Kellner zu sich. Der führte die kleine Gruppe an einen Tisch. Henry hatte für alles gesorgt. Ein einfaches Menü, die passenden Getränke und die Kellner des Restaurants sorgten dafür, dass sie ungestört blieben.

Als Carsten die Rechnung verlangte, wurde ihm mitgeteilt, dass er sie nur quittieren müsse, was Andreas in dessen Namen tat.

„So und nun Schatz?“

„Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang? Ich würde mir gerne noch einmal die Beine vertreten bevor ich ins Bett falle.“

„Glaubst du Max, macht das noch mit?“

„Wenn du mich führst, kann sie locker neben uns herlaufen. Das strengt sie nicht sehr an. Außerdem ersparen wir uns damit eine späte Gassirunde.“

„Gut, dann machen wir uns auf.“

Sie verließen die Royal Albert Hall und machten sich auf den Weg zum Hotel. Es war angenehm warm und für diese Zeit recht ruhig auf den Straßen. Großartig auffallen taten sie auch nicht in ihrer Konzertgarderobe, da ihnen immer wieder Menschen in festlicher Kleidung entgegen kamen.

„So Carsten, darf ich fragen, was der Sponsor bei dir wollte? Mr. Miller hatte mich davon unterrichtet.“

„Er möchte die Konzertaufnahme vermarkten. Er sagte, dass es schon seit längerem kein Konzert mehr gegeben hat, was die Zuhörer so gebannt hätte. Dazu benötigt er mein Einverständnis, beziehungsweise die Erlaubnis meiner Erziehungsberechtigten.“

„Und springt dabei war für dich raus?“

„Ja, er will mir ein Angebot unterbreiten. Obendrein möchte er mit mir noch weitere Konzerte mit den BBC Orchestern aufnehmen.“

„Das hört sich an, als würdest du demnächst noch weniger Zeit haben!“

„Höre ich da Traurigkeit heraus? Nein Schatz, die Aufnahmen werden erst nach dem Abitur gemacht. Nicht nur ich habe bis dahin einiges zu tun, sondern auch die Orchester sind für die kommenden zwölf Monate ausgebucht.“

„Aha! So und nun was waren das für Zugaben? Die erste würde ich dem Barock zuordnen. Sowohl von den Themen als auch von den Tempi und der Instrumentierung. Die Forelle, war von Schubert. Richtig? Hörte sich realistisch an.“

„Hey, für jemanden, dem klassische Musik nicht unbedingt liegt, bist du wirklich gut. Das erste war eine Sarabonde von Georg Friedrich Händel, gesetzt für Klavier und Orchester. Das Solostück war eine Transkription von Franz Liszt auf dieses Thema. Ich habe sie einmal für Ercan gespielt und der fand es ganz lustig. Es wirkt durch die Wiederholung des Motivs der rechten Hand sehr lebhaft und frisch. Ich habe es des Umstandes wegen gewählt.“

„Umstand?“

„Ja, Ercan hat sich einen Arm gebrochen, als er von einem Baum gefallen ist. Papa sagte, es ist ein sauberer Bruch, der laut des behandelnden Arztes gut verheilen wird. Ich habe mit Paul ausgemacht, dass Ercan heute aufbleiben und mich im Fernseher sehen darf. Es war mein kleines Trostpflaster für ihn.“

„Und mit diesem Wissen konntest du noch so ruhig das Konzert geben?“

„Aufregen bringt und hilft nichts, weder mir noch meinem Bruder. Da ich eine Zugabe frei wählen durfte, habe ich mich für die Familie entschieden. Punkt um.“

Andreas hielt an und gab Carsten einen zärtlichen Kuss. Nach wenigen Minuten ging es weiter. Es war spät, als sie wieder im Hotel eintrafen. Bevor Carsten seinen Schlüssel in Empfang nahm, kniete er sich zu Max hinunter, wuschelte ihre Flanke und strich ihr anschließend über den Kopf.

Danach richtete er sich wieder auf und bestellte das Frühstück für Zehn Uhr auf ihr Zimmer. Die drei gingen hinauf in ihre Suite. Nachdem Andreas das Licht eingeschaltet hatte, freute er sich. Stand doch sein Blumenarrangement in einer Vase auf dem Tisch.

„Wie kommen denn die Blumen hier her?“

„Ich habe der Assistentin gesagt, dass sie das Bouquet ins Hotel bringen lassen soll. Es wäre doch schade drum, wenn es verloren gehen würde. Es hat so ein sanftes Aroma und danke für die Blume, welche ich am Revers trage. Sie erinnerte mich mit ihrem Duft an Zuhause.“

„Nicht schwer Schatz, es ist die gleiche Rosenart wie bei euch im Garten. Ich dachte mir, es könnte dir gefallen.“

„Hat es mein kleiner Gärtner.“

Carsten hängte Max’ Halsband und Geschirr über eine Stuhllehne. Danach zogen sie die Festkleidung aus. Andreas hängte die kompletten Fracks auf Bügel und dann in der Zwischentür des Schlafzimmers zum Auslüften.

Carsten verschwand im Bad und dem Geräusch nach zu urteilen, duschte er sich. Andreas beließ es bei einer einfachen Abendtoilette, deckte das Bett auf und verschwand darin. Carsten kam bald nach.

Er kuschelte sich an seinen Freund und bald schon schlummerten sie glücklich beisammen.

Kapitel XIXL: Der Tag danach

Auf Max konnte sich Carsten verlassen, besonders wenn ihre erste Gassirunde anstand. Gegen Acht weckte sie auf ihre Weise den Jungen. Carsten wuschelte ihren Kopf und stand auf. Von der anderen Bettseite hörte er nichts, es war ja auch spät gewesen.

Carsten stand auf, zog sich seinen Morgenmantel über und gemeinsam gingen sie in das angrenzende Zimmer. Dort tastete sich Carsten den Weg zum Sekretär und zum Telefon. Er wählte die Rezeption und frage nach Mike.

Ihm wurde bestätigt, dass der Pet-Service Max in wenigen Minuten abholen würde. Obendrein bestellte sich der Junge auch Tee. Ihm war einfach danach und legte wieder auf. Anschließend ging er zum Tisch und entnahm dem Stuhl Halsband und Geschirr und legte es Max an.

Lange brauchten sie nicht zu warten, bis Mike Max in Empfang nahm. Wie tags zuvor abgesprochen, sollte Mike mit der Retrieverhündin eine große Gassirunde laufen und sie spielerisch beschäftigen. Carsten erwartete sie zum Frühstück zurück.

„Ach Mike. Sie gehen doch an der Rezeption vorbei?“

„Ja, Mr. Grand hat heute Dienst.“

„Gut, sagen Sie ihm doch bitte, dass wir nachher zum Frühstück auch die aktuelle Tagespresse erwarten.“

„Richte ich ihm aus.“

„Max benimm dich.“

Mike lächelte, Carsten sagte zwar jeden Morgen diesen Spruch auf, doch selbst wenn nicht, Max benahm sich bei ihm vorbildlich. Carsten ging, nachdem Mike ihre Suite verlassen hatte, zur Mediathek und schaltet mit der Fernbedienung das Radio ein.

Andreas hatte ihm erklärt wie alles funktionierte. Leise Popmusik erfüllte den Raum. Dann klopfte es und der Tee wurde serviert. Der Service platzierte ein Teegedeck auf dem Tisch und verabschiedete sich wieder.

Der Junge ging zum Flügel, wo er sein PowerBook hatte, nahm diesen an sich und stellte diesen auf den kleinen Couchtisch ab. Langsam tastete er sich wieder zu dem Tisch in der Mitte des Raumes.

Dort nahm er eine Tasse, hielt seinen Zeigefinger am Rand hinein und schenkte sich den heißen Tee ein. Er stellte die gefüllte Tasse auf eine Untertasse und ging zurück zur Sitzecke. Dort tastete er mit seiner freien Hand nach einer geeigneten Stelle und stellte sein Gedeck ab. Anschießend nahm er seinen Rechner, schaltete diesen an und rief seinen E-Mail Account auf. Kaum hatte er den Posteingang geöffnet, ertönte zigmal der Jingle für neue Mails.

Langsam scrollte er hinunter und ließ sich jedes Mal die Absender ansagen. Bei der Familienpost hielt er an und öffnete diese nacheinander. Sowohl seine Eltern gratulierten ihm zu dem Erfolg als auch seine Schwester, die es im Radio verfolgte.

Anschließend öffnete er die Post seiner Clique. Das Konzert war in ganz Europa übertragen worden. Chris und Marco, sowie Britta und Ralph beglückwünschten ihn. Dann die Post einiger Lehrer, die – dank ihrer Neugier – wissen wollten, was Carsten so fabrizierte. Die E-Mail von Herrn Kramer öffnete er zuletzt.

Neben dem Glückwunsch zum Konzert, brachte er auch konstruktive Kritik an. Carsten beantwortet diese Mail direkt und erläuterte seine Vorgehensweise mit den gegebenen Umständen.

Auch das die vorgebrachte Interpretation des Konzertes bis zur Generalprobe variiert werden musste, damit eben auch der lokalen Bedingungen der Royal Albert Hall Rechnung getragen wurde.

Doch im Großen und Ganzen war er mit dem Konzertabend sehr zufrieden.

„Hi Tiger, warum bist du nicht zurück ins Bett?“

„Morgen Schatz, ich war nicht mehr müde und ich wollte dich nicht wecken.“

„Okay, das Argument geht gerade noch durch. Wie ich sehe hast du Tee, ist noch etwas da?“

„Sieh mal auf den Tisch, dort sollte noch etwas sein.“

„Jep, ich bediene mich und komm zu dir. Liest du deine Post?“

„Ja, Grüße soll ich dir von deinen Großeltern, Mama und Papa, Andrea und Anhang und von unserer Clique ausrichten. Die Kritik ist überwiegend positiv. Ercan hat leider seine Zugabe verschlafen, Mama hat das Konzert aber konserviert, so dass er es sich heute noch ansehen kann.“

„Danke, hast du jetzt schon etwas vor?“

„Nichts Bewusstes, wieso?“

„Ich dachte mir bis zum Frühstück haben wir noch etwas Zeit und eventuell hättest du Lust auf eine Runde schwimmen im Hotelpool. So zum munter werden.“

„Andreas du bist genial.“

„Ich weiß…“

Carsten beendete seine Tätigkeit, nachdem Andreas seine Tasse Tee geleert hatte und schaltete den Rechner aus. Währenddessen suchte Andreas ihre Schwimmsachen zusammen. Gemeinsam machten sie sich zum Pool auf.

Munter und gut gelaunt kamen sie eine Stunde später zurück. Bis zum Frühstück hatten sie noch etwas Zeit und Max war auch noch unterwegs. Andreas wollte die Fracks wieder reinholen doch waren diese nicht mehr da.

Carsten meinte, dass es nicht schaden könnte, wenn die Festkleidung durch professionelle Hände aufgefrischt würde. Obendrein kommen sie dann auch in Schutzhüllen zurück, die sie vor Staub schützen.

Pünktlich um Zehn klopfte es und Andreas ließ den Zimmerservice herein. Der Tisch ward schnell vorbereitet und bald schon saßen die Jungs an einem reichlich gedeckten Tisch. Mike brachte Max kurz danach zurück und auch ihre Portion wurde serviert.

Carsten bedankte sich bei dem Jungen und wünschte ihm ein gutes Wochenende.

„Hast du die Tagespresse bestellt?“

„Jep, ich möchte gerne wissen wie die hiesige Kritiken zu dem Konzert sind. Aber das machen wir nachher. Jetzt wird erst einmal gemütlich gefrühstückt.“

„Schatz, ich würde heute Nachmittag gerne noch einmal die City unsicher machen.“

„Wenn wir mit dürfen, die Arbeit ist getan. Heute fasse ich kein Klavier mehr an. Und morgen hole ich den Beethoven hervor. Ach, ich habe heute Nacht noch etwas vergessen zu sagen. Egal was für ein Angebot mir gemacht wird, Andreas, ich würde es erst mit dir besprechen wollen, bevor ich eine Entscheidung treffe. Es betrifft uns beide, nicht mehr nur mich allein.“

„Wenn ich nein sagen würde, würdest du ablehnen?“

„Nicht unbedingt. Es kommt auf die weiteren Umstände an. Es würde meine Entscheidung sicherlich beeinflussen. Da sollten wir uns erst Gedanken machen wenn es soweit ist, Schatz. So und nun was steht in der Presse?“

Andreas nahm eine Zeitung nach der Anderen zur Hand und blätterte zum jeweiligen Kulturteil. Die Kritiken hielten sich die Waage. Einige fanden das Konzert – wenn es überhaupt kommentiert wurde – gelungen, berauschend, euphorisch und bezeichneten Carsten als einen neuen Stern. Wobei, darauf legte Carsten mehr Wert, ein Kritiker ihn als einen guten Pianisten bezeichneten, der aber bei diesem Konzert von dem hervorragenden Orchester profitierte. Carsten lachte darüber.

„Hey, Carsten was ist los? Diese Kritik ist nicht sehr vorteilhaft!“

„Doch, das ist sie. Da die reguläre Bezeichnung Symphonisches Konzert mit obligatem Klavier ist, stehen eigentlich alle im Mittelpunkt. Der Brahms hat sich schon dabei etwas gedacht und seine Klavierkonzerte beschäftigen mich schon länger. Dieses Konzert habe ich schon einmal gegeben, damals mit unserem Schulorchester unter Herrn Walz. Seinerzeit hatte er Einfluss auf mein Spiel genommen und es war okay. Es befriedigte mich aber nicht.“

„Wie, es befriedigte dich nicht?“

„Sieh’ mal Andreas. Ich habe es so gespielt wie es Herr Walz wollte. Doch nicht so wie ich es empfunden habe. Dieses Mal bin ich meinen Empfindungen schon recht nah gekommen und doch, es fehlte noch ein Quäntchen. Es war für mich noch nicht perfekt!“

„Gibt es das überhaupt: Perfekte Interpretation?“

„Nein, die gibt es nicht. Genauso wenig wie den perfekten Garten.

„Touché, Schatz.“

„Danke, da jeder Pianist respektive Dirigent dieses Konzert anders hört und wahrnimmt, wird es so interpretiert, wie sie es empfinden und es war jedes Mal für sich genommen perfekt.“

„Hmm, da ist was Wahres dran. Nun, für mich war es gestern mehr als gelungen. Ich habe gedacht, du erzählst eine romantische Geschichte. Es hat mich gebannt und meine Phantasie angeregt.“

„Das ist die beste Kritik die ich gehört habe und ich denke, das ist es, was Brahms damit bezwecken wollte. Danke Tiger.“

„Gern geschehen. Wie ich sehe hast du das Frühstück beendet, sollen wir uns aufmachen?“

„So kann man auch ein Thema beenden. Hebe bitte die Zeitungen auf, die nehmen wir mit und ja, lass uns London unsicher machen.“

Carsten verzog sich wieder ins Bad und vollendete seine Morgentoilette, indem er seine Zähne reinigte. Andreas sagte dem Zimmerservice Bescheid, dass sie ihr Frühstück beendet haben und folgte Carstens Beispiel der Zahnpflege.

Danach ging es hinunter. An der Rezeption wurden sie noch einmal aufgehalten. Mr. Grand war erfreut über den positiven Verlauf des Konzerts zu hören. Wobei Carsten den Eindruck hatte, dass ihm diese Musikrichtung nicht so liegt.

Dann wurden ihm einige Kuverts überreicht. Carsten bedankte sich und gemeinsam verließen sie das Entree des Hotels.

„Wie weit ist es bis zur City?“

„Etwas mehr als eine halbe Stunde zu Fuß und wenige Minuten mit der Tube. Ich bräuchte Bewegung, Zeit haben wir, daher präferiere ich den Fußweg.“

„Abgemacht, ich gebe mich ganz in deine erfahrenen Hände. Nur pack diese Dinger erst einmal in den Rucksack.“

Damit übergab er die Briefumschläge Andreas, der sie in besagtem Objekt verstaute. Gemeinsam stürzten sie sich in die Einkaufs- und Touristenwelt Londons. Sie besuchten kleinere Sehenswürdigkeiten am Rande ihres Weges.

Hin und wieder schilderte Andreas Carsten kleine Gärten und Parkanlagen, an denen sie vorbeigingen. Andreas machte dutzende Fotos. Er wollte viele Eindrücke sammeln und dieses Reise festhalten.

Da kam es auch schon mal vor, als er ein Portrait von Max machen wollte, dass sie ihre Nase direkt auf die Linse des Objektivs setzte. Und in einem riesigen Store suchten sie nach Musikkonserven, Büchern und Klamotten.

Selbst für Max fiel einiges an Nützlichen und Spielzeug ab. Zur Tea Time gingen sie in ein kleines Café, bestellten sich anregende Tees und Sandwiches, da sie ihr Lunch wegen des späten Frühstücks haben ausfallen lassen.

„So was sind das für Briefe?“

„Warte einmal Schatz, ich hole sie. Darf ich sie öffnen?“

„Sicher doch, ich glaube es wird wohl keiner in Braille geschrieben sein.“

„Doch hier ist einer, von der Royal Blind Society steht noch einmal in Tinte drauf. Wie die darauf kommen?“

„Wenn schon mal ein blinder Pianist spielt, spricht sich das in unseren Kreisen sehr schnell herum. Den lese ich dann zuletzt vor.“

„Also es sind überwiegend Telegramme und Glückwunschschreiben.“

„Woher haben die meine Adresse?“

„Sieht so aus, als ob sie zu deinem engeren Musikerkreis gehören. Hier ist einer von einem Cellisten. Der sich bei dir für etwas entschuldigen möchte.“

„Lies mal vor.“

Verehrter Mr. Von Feldbach, nach dem gestrigen Konzert möchte ich mich in aller Form bei Ihnen für meine Bemerkung während der ersten Probe in St. Luke’s entschuldigen. Mir lag es fern, Sie – als Musikerkollegen – zu kränken. Meine Absicht war die Stimmung aufzulockern, das ist mir gründlich misslungen. Dafür haben Sie mich wie einen Gentleman behandelt. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich und mein Orchester noch öfters mit Ihrer Inspiration beglücken würden. Denn ein Anfänger sind Sie sicherlich nicht und nein, ich kann mein Violoncellopart nicht in einem stockdunklen Raum spielen, weil ich auf die Noten angewiesen bin. Ich habe es noch am gleichen Tag ausprobiert. Hochachtungsvoll, Ihr Lewis Tropper, Cellist des London Symphony Orchestra.“

„Ein netter Brief.“

„War da was?“

„Mr. Tropper meinte bei der ersten Probe einen Scherz auf meine Kosten machen zu müssen, indem er feststellte, dass ich die weißen von den schwarzen Tasten nicht unterscheiden kann. Der Schuss ging nach hinten los. Er ist der Cellist gewesen, der in dem Konzert das Solocello spielte. Wenn er bei uns auf dem Internat Lehrer wäre, würden unsere Musiker entweder aufgeben oder noch besser spielen.“

„Aha. Dann ist hier noch einer von Mr. Mathew, von einem Mr. McDouglas, Mrs. Fisher und aus Deutschland Telegramme von Herr McCollins und Mitgliedern seines Orchesters.“

Andreas las die Glückwünsche nacheinander vor. Den von der Royal Blind Society las Carsten vor. Es handelte sich ebenfalls um ein Glückwunschschreiben. Doch durch die Brailleschrift, fiel es etwas größer aus.

Nach dem Tee gingen sie hinunter zur Themse und dort den Fußweg entlang. Carsten hielt sich an Andreas und Max wuselte um sie herum. Langsam schlenderten sie Richtung Hotel zurück.

Das letzte Stück fuhren sie mit der Underground. Dieses Mal erklärte Andreas Carsten ein wenig, wie das U-Bahnsystem aufgebaut ist, wie er zu einem Ticket kommt und wie er sich orientieren konnte.

Obwohl Carsten zuhörte, verstand er doch nur Bahnhof. Es würde wohl ein längerer Lernprozess werden. Etwas später erreichten sie lachend und gut gelaunt das Hotel. Ihre positive Ausstrahlung schien sich auch auf das Hotelpersonal zu übertragen.

„Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Nachmittag Mr. Zahradník, Mr. Von Feldbach?“

„Ja, den hatten wir Mr. Grand. Wie wird denn das Wetter morgen? Ich habe den Eindruck, dass es sich etwas abgekühlt hat.“

„Ihr Eindruck täuscht nicht. Wir erwarten morgen leider Regen.“

„Das ist nicht tragisch, mein Hund wird sich freuen.“

„Darf ich Sie fragen, ob Sie ihr Dinner in ihrer Suite zu sich nehmen zu wünschen?“

„Nein, ich denke, wir speisen heute wieder im Restaurant! Einverstanden Andreas?“

„Gerne. Sagen wir um Neun?“

„Ich lasse ihnen einen Tisch reservieren.“

„Danke Mr. Grand.“

Die Jungen nahmen ihre Zimmerschlüssel und gingen hinauf. Max, von dem Führgeschirr befreit, verzog sich auf den Balkon, wo sie ein Nickerchen zu machen gedachte. Andreas schaute nach dem Wasser im Wassernapf, um es sich danach gemeinsam mit Carsten auf dem Sofa gemütlich zu machen.

Andreas lehnte sich rücklings an Carsten und legte seinen Kopf auf dessen Brust. Mit sanften Händen streichelte dieser über seinen Kopf. Keiner sagte etwas und auch sonst war es in ihrer Suite sehr ruhig.

Die Atmosphäre, die Ruhe, irgendwann merkte Carsten, dass Andreas eingenickt war und lächelte innerlich. Dennoch führte er seine Tätigkeit weiter fort. Hin und wieder atmete er tief ein, um Andreas’ persönliches Aroma zu kosten.

Sie merkten nicht, wie dabei die Zeit verging, denn irgendwann gesellte sich Max zu ihnen und schubste jeden einmal an. Andreas wachte auf und nahm die Gelegenheit wahr den Kopf der Hündin zu kraulen.

„Max?“

„Wieder unter den Lebenden?“

„Bin ich eingeschlafen?“

„Muss wohl.“

„Wie spät haben wir?“

„Etwa um sieben?“

„Nope, es ist kurz nach Acht. Danke für die vielen Streicheleinheiten.“

„Habe ich gern gemacht. Meinst du wir könnten aufstehen?“

„Och es ist gerade so gemütlich.“

„Finde ich ja auch, doch …“

„Doch?“

„Doch meine Blase platzt gleich.“

„Dann mal los bevor du und dein bestes Stück explodieren.“

Anstelle eines Kommentars, gab er seinem Freund einen Kuss. Andreas schälte ich aus der bequemen Stellung und ließ Carsten aufstehen. Dieser verschwand im Bad. Andreas ging hinaus auf den Balkon, gefolgt von Max, die sich an ihn schmiegte.

Andreas ging in die Hocke und knuddelte die Retrieverhündin. Max hielt für einen Moment Andreas’ Blick stand. Dann drehte sie ihren Kopf und leckte die eben noch streichelnde Hand. Andreas verstand diese kleine Geste ihres Vertrauens.

Aus dem Zimmer hörte er Carsten etwas fragen.

„Wir sind auf dem Balkon Tiger. Was meintest du?“

„Glaubst du es reicht heute, wenn wir nur mit dem Internatslook zum Essen aufkreuzen?“

„Allemal. Was meinst du, sollten wir, wenn wir schon einmal hier sind, uns auch noch weitere formale Garderobe besorgen? Es muss ja nicht gerade ein Smoking sein…“

„Ach das meinst du Schatz!“

„Ich habe mir da mal Gedanken in dieser Richtung gemacht. Ich meine, wenn wir zu einer Abendgesellschaft oder der Gleichen eingeladen werden, würde es sich lohnen. Ich habe ja die Fracks gesehen, doch für ein formales Abendessen wäre es wirklich overdressed.“

„Weißt du was, wir gehen am Montag noch einmal zu diesem Herrenausstatter und du guckst einfach mal.“

„Danke. Das machen wir. Dürfte ich nachher mal deinen Mac benutzen? Ich müsste mal meiner Oma eine Mail schreiben.“

„Du weißt ja wie der funktioniert, steht auf dem Sekretär. So es wird Zeit.“

„Kommt Mike nachher noch?“

„Nein, der hat heute Abend und morgen frei. Nach dem Dinner gehen wir in den kleinen Park. Noch ist es angenehm warm.“

Andreas stand wieder auf und ging mit Carsten ins Schlafzimmer zurück. Dort zogen sie sich fürs Dinner um und wenig später sah man die Drei im Restaurant. Andreas nahm sich das Recht heraus, das Menü für sie zu wählen.

Carsten ließ sich gern mal überraschen und gab sich dem hin. Enttäuscht wurde er nicht. Andreas Wahl war einfach und im Geschmack erlesen. Zum Dessert wählte er eine Mousse de champagner.

Einen Nachtisch, den selbst Carsten im Gaumen überraschte. Sie ließen das Dinner gemütlich mit einem Glas Wein ausklingen. Als Carsten sich zu dem Spaziergang aufmachen wollte, beschrieb Andreas, dass Max einen erschöpften Eindruck auf ihn mache.

Carsten strich seiner Hündin über den Kopf. Ihre Haltung verriet ihm, dass Andreas’ Eindruck nicht täuschte und stimmte ihm zu. Daher beließen sie es bei einer kleinen Gassirunde durch den Garten.

Auf ihrer Suite nahm Carsten ihr das Halsband und Geschirr ab. Max drehte noch eine Runde und verzog sich anschließend in ihre Gästekudde.

„Tja Andreas, der Spaziergang fällt wohl aus. Ich möchte sie jetzt nicht allein lassen.“

„Schon gut Tiger. Nicht nur dein Mädchen hatte heute genug an Bewegung. Wir können diesen Abend auch auf dem Balkon bei einem guten Glas beenden.“

„Danke Schatz. Wolltest du nicht noch eine E-Mail versenden?“

„Das kann ich auch morgen noch machen. Du weißt doch, auf dem Kontinent ist es jetzt eine Stunde später. Die liegen längst im Bett.“

Andreas holte aus der Bar einen guten Tropfen Wein und zwei Gläser und stellte diese auf den kleinen Balkontisch. Danach schaltete er leise Musik ein. Als er sich zu Carsten auf den Balkon gesellte, hatte dieser schon den Wein eingeschenkt.

Sie saßen beieinander, hielten sich einfach nur die Hände, genossen diese ruhige Atmosphäre inmitten von London.

„Ich glaube meine Großeltern möchten Deutschland verlassen.“

„Wie kommst du darauf?“

„Bei meinen letzten Besuch vor dem Urlaub betonten sie immer wieder, dass sie sich freuen, Mamas Eltern wiederzusehen. Und auch sonst hatte ich den Eindruck… ich weiß nicht, ihr Verhalten war anders.“

„Und wie denkst du darüber?“

„Ich weiß nicht so richtig. Auf der einen Seite, ihr Bekanntenkreis in München ist nicht so riesig und die, die sie noch haben, sterben. Sie verstanden sich schon immer gut mit meinen italienischen Großeltern.

Und nach dem tödlichen Unfall hat sie das noch mehr zusammen geschweißt. Alle vier haben Sprachkurse belegt, damit sie sich unterhalten konnten. Sie besuchten sich regelmäßig gegenseitig und immer wenn ich Geburtstag hatte waren alle da.“

„Ich verstehe. Und die andere Seite?“

„Beide leiden an Rheuma. Ich befürchte, dass sie in Italien auf einiges in der medizinischen Versorgung Verzichten müssten.“

„Das ist nicht der Grund warum du skeptisch bist. Glaubst du, das zwei Menschen, welche gemeinsam viel durchgemacht haben, sich so etwas nicht genau überlegen? Denk doch nur einmal an den ganzen Umzugsstress der auf sie zukommt. Und sie würden wohl zum zweiten Mal ihre Heimat verlassen.“

„Ich könnte sie nicht so oft sehen und – bitte lach mich jetzt nicht aus – mir käme es vor, meine Eltern ein zweites Mal zu verliere.“

„Siehst du sie denn wirklich so oft? Wenn ich mich recht erinnere, bist du ungefähr alle zwei Monate für einige Tage nach München gefahren. Das kannst du auch in Mailand. Von Deutschland gehen regelmäßige Flüge und Züge nach Mailand und wenn du einen Führerschein hast, meine Eltern würden dir auch gern ihr Auto leihen. Nein, ich denke du bist jetzt ein wenig egoistisch. Sie haben sich um dich gekümmert und haben ihr Leben hinten angestellt. Glaubst du nicht, dass sie jetzt mal an der Reihe sind? Du hast eben selbst gesagt, ihr Bekanntenkreis schrumpft. Da liegt es doch nahe, sich an diejenigen zu wenden, mit denen man etwas gemeinsam hat. Warum sollen sie also allein in München bleiben? Du bist doch mitten in der Ausbildung. Hast mich, die Clique und meine Familie.“

„Hey, du solltest als mein Freund zu mir stehen.“

„Tu ich doch. Du hast mich um meine Meinung gebeten, diese habe ich dir gesagt. Wenn du glaubst, dass ich dir in lebensentscheidenden Dingen einfach so zustimme, da hast du dich getäuscht. Ich sehe es als meine Pflicht an, deine Ansicht ruhig einmal auf den Kopf zu stellen. Sonst wäre ich ein schlechter Freund. Um jetzt wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen, schlaf ruhig ein paar Nächte darüber. Wenn sie dich dann konkret darauf ansprechen, bist du vorbereitet.“

„Das werde ich tun. Ich gehe nämlich jetzt ins Bett. Bin doch ganz schön geschafft.“

„Nimmst du mich mit?“

„Nö, dich parke ich jetzt hier auf dem Balkon.“

„Schuft, dann werde ich Max wohl bitten neben mir im Bett zu schlafen…“

„Untersteh dich. Komm’ begleite mich, sonst verliere ich mich in dem großen Bett. Bist doch mein Freund.“

„Dann will ich mal nicht so sein. Mein Schatz.“

Andreas half Carsten auf, schmiegte sich an ihn und gab ihm einen dicken Kuss. Es dauerte, bis sie sich ins Innere des Zimmers verzogen. Andreas schloss die Balkontür und zog die Vorhänge zu.

Er sah sich um, löschte das Licht. Dann folgte er Carsten. Im Schlafzimmer schlupfte sein Freund gerade unter die Decke. Andreas beeilte sich mit dem Besuch im Bad. Langsam zog er die Decke hoch und tastete nach Carsten.

Doch im Tasten und Finden war sein Freund besser. Jetzt stellte er sich die Frage, warum sie überhaupt ein so großes Bett hatten, die Hälfte hätte für sie beide gereicht. Langsam machte sich der Wein bemerkbar und Andreas duselte in Carstens Armen hinweg.

Kapitel L: Sonntags in London

„Na Max, möchtest du raus? Dann komm, gehen wir gemeinsam und lassen Carsten noch ein Weilchen Schlafen.“

Die Hündin grinste Andreas an. Dass sie ihn verstanden hatte, lag wohl an dem kleinen Wörtchen ‘raus’. Denn sie ging dem Jungen ins angrenzende Zimmer voraus. Andreas zog sich seinen Jogginganzug an, dann folgte er dem Hund.

Andreas legte ihr das Halsband und Geschirr an. Die Leine war mehr obligatorisch, denn als sie hinunter in den Garten gingen, lief sie locker neben ihm her. Im Garten ließ er sie ohne laufen.

Er kannte ja schon ihre Gewohnheit. Erst die Geschäfte, dann ein kleines Spiel. Nach wenigen Minuten hatte sie genug und gesellte sich an die Seite Andreas’. Der knuddelte sie zwischen ihren Ohren, machte die Leine wieder am Geschirr fest und gemeinsam gingen sie zurück in ihre Suite.

Nachdem er die Tür von innen geschlossen hatte, lauschte er einen Moment. Nein, Carsten war noch nicht auf. Zumindest war es still. Er löste die Leine ein weiteres Mal und Max lief zur Balkontür.

Sie war noch geschlossen, also setzte sie sich davor und sah hinaus. Andreas öffnete ihr die Tür. Auf dem kleinen Tisch standen noch die Gläser. Er schnappte sie sich und stellte sie auf den Bartresen.

Dann ging er ins Schlafzimmer, zog den Jogginganzug aus und huschte wieder unter die Bettdecke.

„Du hast kalte Füße, Schatz. Komm, ich wärme sie dir. Danke, dass du dich um Max gekümmert hast.“

„Woher weißt du das? Waren wir laut?“

„Ich war eben im Bad, du weißt schon warum und als ich ins Bett zurück bin, habe ich dich vermisst. Da nun auch Max nicht um mich herum gewuselt ist, habe ich eins und eins zusammengezählt…“

„Gut, sie ist jetzt auf dem Balkon und relaxt in der Morgensonne. Du weißt, dass sie sich scheinbar glücklich fühlt?“

„Nicht nur scheinbar, sie ist glücklich. Auch wenn ihr dieses Abenteuer einiges abverlangt, sie genießt den Erfolg einer jeden kleinen Hürde die sie meistert. Wenn sie träumt verarbeitet sie ihre neuen Eindrücke.“

„Wie kommst du darauf?“

„Sie bewegt sich mehr und macht mehr Geräusche, wenn sie in der Kudde liegt. Hör ihr mal zu, wenn sie schläft.“

„Tiger, du bekommst viel mit.“

„Wundert dich das? Ich bin für sie verantwortlich. Wenn sie ungewöhnliche Geräusche von sich gibt, höre ich das auch mitten in der Nacht.“

„Ich gebe mich geschlagen.“

Während des Gesprächs strich Andreas seinem Freund übers Haar. Lange konnten sie aber nicht liegen bleiben, denn Max kam mit einem fragenden Blick durch die Tür. Carsten entschied sich, wegen der fortgeschrittenen Zeit aufzustehen.

Fast eine Stunde später betraten sie das Frühstückszimmer. Henry empfing sie und geleitete sie zu ihrem Tisch. Als sie sich gesetzt hatten, bestellten sie sich beide ein Frühstück von der Karte.

Zusammen mit Max’ Ration wurde das Frühstück serviert. Die Jungs ließen sich viel Zeit. Im Gegensatz zu der Hündin, die mit ihrer Ration kurzen Prozess machte. Mitten im Frühstück kam der Concierge zu ihnen.

„Guten Morgen Mr. Zahradník, guten Morgen Mr. Von Feldbach.“

„Guten Morgen Mr. Grand.“

„Ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Er gab mir seine Visitenkarte.“

„Andreas würdest du bitte?“

„Gerne. Oh, es ist Dr. Gabriel. Was der von uns möchte?“

„Das bekommen wir am besten heraus, wenn wir mit ihm sprechen.“

„Mr. Grand führen Sie den Herrn herein.“

„Sehr wohl.“

Ihr Englischlehrer wurde von dem Concierge zu ihrem Tisch geführt. Andreas stand auf und begrüßte den Besuch. Dem schloss sich Carsten an. Er war es auch, der Dr. Gabriel aufforderte, sich zu ihnen zu setzten. Er bot ihm an, eine Tasse Tee mit ihnen zu trinken.

Henry brachte dem überraschenden Gast ein Teegedeck.

„Ich muss schon sagen, Ihr logiert sehr vornehm in London. Das Three Golden Stars ist eine sehr gute Adresse.“

„Danke, was machen Sie hier?“

„Ich besuche meine Schwiegereltern, Ihr wisst doch, dass meine Frau eine geborene Engländerin ist.“

„Nein, das wusste ich nicht. Du Andreas?“

„Kann ich nicht sagen, schließlich bin ich ja ein paar Tage später ins Internat gekommen.“

„Ich habe meine Frau in Oxford kennengelernt, als ich dort promovierte. Sie lehrt ebenfalls Sprachen in Deutschland, nur an der Universität. In den Sommerferien besuchen wir regelmäßig ihre Eltern hier in London.“

„Aha und was ist jetzt Ihr Anliegen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie eine so große Sehnsucht hatten, ausgerechnet hier Ihre Schüler zu besuchen, wo wir mit Ihnen doch das ganze Schuljahr teilen.“

„Es ist ein privates Anliegen. Darf ich weiter ausholen? Also, meine Frau und ich leben mit unseren Kindern in Deutschland. Vor zwei Jahren hat unser Jüngster sich dazu entschieden, hier in England ein Internat zu besuchen. Meine Frau meinte, dass ihm die Schulbildung in England nun mal besser liegt, als die deutsche. Meine Schwiegereltern haben sich bereit erklärt, sich um ihn zu kümmern und ein wachsames Auge auf ihn zu werfen. Das machen sie wirklich toll. Doch vor sechs Monaten änderte sich etwas in seinem Verhalten und wir wussten nicht, was diese Veränderung ausgelöst hat. Nun haben wir einen Verdacht. Vor wenigen Tagen ist der Rechner meiner Frau abgestürzt. Sie bat ihn, an seinem Computer einige wichtige Korrespondenz erledigen zu dürfen. Er willigte ein. Dabei stieß sie durch Zufall auf eine Internetseite, die Geschichten mit homosexuellen Inhalten hat.“

„Sie glauben, Ihr Sohn ist schwul?“

„Es würde einiges erklären. Wir glauben, er vertraut sich uns nicht an. Schon gar nicht meinen Schwiegereltern.“

„Und wie kommen wir nun ins Spiel?“

„Ihr seid meine Schüler. Dass Ihr ein Paar seid, respektiere ich.“

„Und wenn Ihr Sohn homosexuell wäre?“

„Es ändert nichts. Er ist mein Sohn und bleibt mein Sohn.“

„Und transsexuell?“

„Er heißt Billy…“

„Okay, wie mir scheint sind Sie mit allen Wassern gewaschen.“

„Hast du etwas anderes erwartet? Aber weiter im Text. Du Carsten, hast dieses Konzert gegeben, es wäre daher nicht abwegig, dass meine Frau euch einmal kennenlernen möchte. Sie hat ein Faible für Klaviermusik und war ganz begeistert von deiner Vorstellung.

Unsere Idee war nun, euch zum Tee einzuladen, um meinem Sohn zu zeigen, dass wir keine Vorurteile gegenüber jeweiliger sexueller Orientierung haben.“

„Hört sich plausibel an. Was meinst du Carsten?“

„Wir haben Zeit und wenn wir mit unserem Erscheinen helfen können.“

„Danke Jungs. Kommt so gegen 16 Uhr, formlos gekleidet.“

„Gut, Ihre Adresse auf der Visitenkarte stimmt?“

„Nein, warte einmal, ich schreibe sie euch auf. Wir wohnen nicht bei meinen Schwiegereltern.“

Herr Gabriel drehte die Karte um und schrieb seine Londoner Adresse darauf, bedankte sich noch einmal und verabschiedete sich von seinen Schülern. Andreas sah noch eine Weile auf die Karte und schüttelte seinen Kopf.

Henry trat an ihren Tisch und fragte an, ob sie zum Lunch im Hotel seien. Andreas schaute zu Carsten. Der saß in Gedanken verloren auf seinem Platz und es schien, dass er die Frage nicht verstanden hätte.

Daher sagte Andreas dem Oberkellner zu, dass sie zum Lunch anwesend seien.

„Tiger, woran denkst du.“

„Hättest du gedacht, dass unser Englischlehrer unsere Hilfe in Anspruch nehmen würde?“

„Nein. Ich denke auch, dass sein Sprössling zu was auch immer bereit ist.“

„Wie kommst du darauf?“

„Na, er hat doch seinen Computer zur Verfügung gestellt. Wenn er nicht gewollt hätte, dass seine Mutter diese Seite bemerkt, hätte er wohl die Speicher gelöscht.“

„Da ist was Wahres dran, Mr. Holms.“

„Danke Mr. Watson.“

Carsten beendete, wie schon fast üblich, mit einer letzten Tasse Tee das Frühstück. Gemeinsam gingen sie auf die Terrasse, um sich die Beine zu vertreten. Es war recht frisch gegenüber den Tagen zuvor und ein kühler Wind blies ihnen um die Nasen.

Mit Max drehten sie einige Runden und in dem besonderen Bereich hockte sich die Hündin hin. Anschließend gingen sie hinauf, um danach den kleinen Stadtteilpark aufzusuchen. Dort spielten sie mit Max, ließen den Hund in einer Sandkuhle buddeln und Äste sammeln.

Andreas lachte, als sie mit einem gigantischen Ast angelaufen kam. Aber nach einiger Zeit ließ sie ihn wieder fallen, um sich einen neuen zu suchen. Der ‘kleine’ Park war recht groß und es wunderte keinen, dass sie erst eineinhalb Stunden später wieder an dem Eingangstor eintrafen.

Dort legte ihr Carsten wieder das Führgeschirr an. Ihre letzte ‘Beute’ ließ sie fallen. Andreas nahm diesen Ast und legte ihn abseits des Weges ab. Im Hotel nahmen sie ihren Lunch ein. Während Carsten sich die Aufnahme von dem nächsten Konzert in Mailand anhörte, erledigte Andreas seine elektronische Post.

Er bat seine italienischen Großeltern, etwas für ihn zu organisieren. Wo er schon dabei war, erledigte er seine weitere Korrespondenz in verschiedenen Foren.

„Darling?“

„Meinst du mich Carsten?“

„Nein, den Geist von Hamlet, sicher meinte ich dich. Hast du schon in Erfahrung bringen können, welches Shakespeare Stück du sehen möchtest?“

„Ja, wir können Hamlet, Wie es euch gefällt oder Romeo und Julia besuchen. Macbeth wird zwar auch gegeben…“

„Nach der Geschichte im Internat, muss das nicht sein, finde ich sehr verständlich. Also haben wir zwei Tragödien und eine Komödie zur Wahl. Ich plädiere für die Komödie. Die haben wir nämlich im Unterricht durchgenommen. Ich kenne die Handlung und den Dialogtext.“

„Gut, ich werde bei der Shakespeare and Company zwei Karten für As you like it buchen.“

Als das erledigt war, recherchierte er bei der Royal Blind Society über einen Dialogtext in Braille und wurde recht schnell fündig. Dann wurde es Zeit, sich für den Tee vorzubereiten. Carsten wählte eine legere Kleidung, bestehend aus einer Jeans, einem Poloshirt und einem Sweatshirt.

Andreas wählte ähnliches. Sie waren der Meinung, dass sie schon einmal rein äußerlich den Eindruck eines Paares vermitteln wollten. Dann bestellte Andreas den Chauffeur. Zu dritt fuhren sie zu der besagten Adresse in einem Londoner Vorort.

Andreas beschrieb Carsten die Gegend. Der Ort zeugte – wenn man davon überhaut ausgehen konnte – von einem gehobenen Niveau. Vor einem kleinen Reihenhaus hielten sie an. Der Chauffeur öffnete ihnen die Tür und ließ sie aussteigen.

Da sie keine Ahnung hatten, wie lange dieses Meeting dauern würde, ließen sie sich vom Fahrer die Telefonnummer geben. So waren sie flexibel genug, um wieder zurück in die Londoner City zu kommen.

Andreas öffnete eine kleine Vorgartenpforte und betraten das gemütlich wirkende Grundstück. An der Haustür brauchten sie nicht lange zu warten. Eine kleine Frau öffnete ihnen die Tür und strahlte förmlich die Jungs an.

„Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten, uns zum Tee zu besuchen. Jetzt lerne ich nicht nur Markus’ beste Schüler persönlich kennen, sondern auch einen begnadeten Pianisten. Kommen Sie doch hinein.“

„Die Ehre dieser Einladung liegt ganz auf unserer Seite, Mrs. Gabriel. Man könnte denken, dass Lehrer in ihren geheiligten Ferien nicht unbedingt ihre Schüler zu sich zum Tee bitten.“

„Ich sehe schon, Markus hat Ihnen genug englische Flausen in den Kopf gesetzt.“

Die Dame des Hauses lachte über Andreas Antwort und gab den Jungen den Weg frei. Nachdem auch Max eingetreten war, schloss sie die Tür.

„Mein Mann ist im Livingroom, folgen Sie mir bitte.“

Carsten ließ das Geschirr los und hielt sich an Andreas fest. Max trotte hinter ihnen her. Im Wohnzimmer wurden sie von Mr. Gabriel empfangen, der sich sichtlich freute, dass die Jungs da waren.

Höflich bot er für die Retrieverhündin eine Schüssel Wasser an. Carsten bedankte sich. Dann gingen sie hinaus in den Wintergarten des Hauses, wo der Tee serviert werden sollte.

 

„Schön haben Sie es hier. Eine exzellente Pflanzensammlung wie ich sehe.“

„Sie verstehen etwas von Pflanzen?“

„Ein wenig Mrs. Gabriel.“

„Lass dich nicht auf den Arm nehmen Veronika. Andreas hat dieses Beet vor dem Internat gestaltet, welches du so wunderbar fandest.“

„Oh, dann sind Sie ein Künstler der Gartenfreuden. Möchten Sie später einmal etwas in der Richtung machen?“

„Ich möchte gerne in die Fußstapfen meines Vaters treten. Er war Landschaftsarchitekt.“

„Ich verstehe. Und Sie Carsten möchten sicherlich auch Ihrem Vater folgen?“

„Nein, das wäre etwas schwierig. Er ist Veterinär von Beruf. Ich sollte schon etwas sehen können, wenn ich mich der Tierheilkunde widmen würde.“

„Dann ist sicherlich Ihre Mutter Ihr Vorbild?“

„Nein, oder nicht ganz. Sie ist Anthropologin und lehrt an der Universität.“

„Wie kommen Sie dann auf die Musik?“

„Durch meine Mutter. Sie hat mir das Klavierspielen schmackhaft gemacht und meine Entwicklung immer gefördert. Sie selbst spielt etwas Klavier und ist des Violinenspiels mächtig.“

Max machte es sich bei ihrem Herrchen gemütlich und legte ihren Kopf auf einen seiner Füße ab. Der Smalltalk dauerte nicht lange und ein Junge erschien im Wintergarten. Andreas betrachtet ihn.

Er hatte mit vielem gerechnet, doch der Teenager in der Tür entsprach bei weitem nicht seinen Vorstellungen. Obwohl er einem Punk nicht unähnlich war, waren seine Gesichtszüge weich. Etwas bleich im Teint.

„Oh, wie ich sehe habt Ihr Gäste, dann möchte ich euch nicht stören.“

Bevor einer etwas sagen konnte, stand Max auf. Sie gesellte sich zu dem Jungen und forderte Streicheleinheiten ein. Carsten vertraute ihrem Verhalten und ließ aber den Schein wahren, nicht damit einverstanden zu sein.

„Max!“

„Lassen Sie nur, ich mag Hunde. Darf ich Sie anfassen?“

„Wenn es dir nichts ausmacht, ja. Schließlich hat sie dich ja gewählt und nenn mich bitte Carsten.“

Das Eis war gebrochen. Bereitwillig ließ sich der Teenager darauf ein und blieb zum Tee. Mrs. und Mr. Gabriel servierten. Die drei Jungen kamen ins Gespräch. Dabei stellte sich heraus, dass Billy durchaus Ahnung von Musik hatte.

Mit Carsten konnte er sich sogar ausgezeichnet über Klaviermusik unterhalten. Andreas fasste sich gedanklich an die Nase, dass er sich von dem Äußeren des Jungen hatte beeinflussen lassen. Er war ein sehr angenehmer Gesprächspartner.

Neben Teegebäck wurde auch Toast serviert und von Minute zu Minute wurde die Atmosphäre entspannter. Carsten wagte einen Versuch. Als sie auf die Unterschiede der Internate zu sprechen kamen.

„Da hast du es Schatz. Unsere Lehrmethoden sind doch nicht ganz so weit auseinander.“

„Stimmt Tiger, die Parallelen sind nicht zu übersehen. Haben Sie seiner Zeit auch Ihre Vorstellungen mit hineingebracht Herr Gabriel?“

Ihr Englischlehrer berichtete von seinem Einfluss auf die Unterrichtsmethoden in seinen Fächern. Das einige seiner Kollegen diese teilweise von ihm übernommen haben. Billy sah von einem zum anderen und sein Blick blieb nachdenklich bei seinen Eltern hängen.

Sie machten keinerlei Anstalten, ihre Gäste auch nur ansatzweise mit Argwohn zu begegnen. Vielleicht lag es daran, dass die beiden Jungen etwas Besonderes darstellten. Währenddessen mischte auch Frau Gabriel lässig mit.

Gerade an der Universität bemängelte sie, dass viele ihrer Studenten nicht in der Lage seien, selbständig etwas auf die Beine zu stellen. In der modernen Linguistik sei es, ihrer Meinung nach, wichtig flexibel und innovativ zu sein.

Das interessante Gespräch zog sich hin. Vom Internat kamen sie irgendwie auf das Proms Konzert zu sprechen. Andreas berichtete von der Disziplin der Besucher in der Konzerthalle während des Konzertes, was von Carsten bestätigt wurde.

Mrs. Gabriel beklagte spaßeshalber, dass ihr Göttergatte in dieser Hinsicht kein großes Interesse zeigte. Was sich aber nur auf die Musik bezog, denn ins Theater ging er für sein Leben gern. Andreas brachte ihre Gastgeber auf den neusten Stand der Theaterbesuche.

As you like it? Eine gute Wahl die Ihr getroffen habt. Die Shakespear and Company halten sich sehr eng an die Vorlage des Dichters.“

„Glauben Sie, dass ich das alles verstehen werde?“

„Warum denn nicht Carsten? Deine Abschlussarbeit zu diesem Stück im Internat war mehr als ordentlich. Einzig was ich zu bemängeln gehabt hätte, wäre das dir eben die Praxis fehlt. Du wirst den Sinn der altenglischen Dichtkunst mit dem Besuch verstehen. Es hilft dir auch, dich in der heutigen Zeit besser auszudrücken.“

„Da muss ich meinem Vater zustimmen. Zum reinen Lernen ist der Stoff einfach zu trocken. Doch sobald ihr das Stück auf der Bühne gesehen habt, werdet ihr erkennen, dass diese Literatur noch lange sehr lebendig bleibt.“

„Du kennst dich in dieser Literaturgattung gut aus. Möchtest du Schauspieler werden?“

„Nein, dazu habe ich kein Talent.“

„Wozu dann Literatur?“

„Sorry, dass ich euch unterbreche. Carsten ich glaube Max will raus. Sie ist etwas unruhig.“

„Max, Gassi?“

Wuff.

„Tut mir leid, aber wenn Sie nicht wollen, dass sie ins Haus macht…“

„Schon gut. Geht ruhig, ich helfe Veronika ein wenig im Haus.“

„Darf ich mit kommen?“

„Nur wenn du sie nachher noch knuddelst Billy.“

Die Jugend machte sich bereit mit dem Hund eine Runde zu drehen. Das Billy dabei war, fand auch Andreas nicht schlecht, da er sich doch in der Gegend auskannte. Ein paar Minuten gingen die Jungen nebeneinander her. Max folgte ihnen.

„Darf ich euch etwas fragen?“

„Nur raus damit, Billy.“

„Seid ihr schwul?“

„Etwas direkt, aber ja. Stört es dich?“

„Nein, es ist nur ungewohnt. Ihr seid ehrlich.“

„Warum auch nicht?“

„Ihr wurdet von Papa meinetwegen eingeladen. Ich weiß, der macht nämlich in seinen geheiligten Ferien einen weiten Bogen um seine Schüler. Mama ist da ganz anders. Sie fliegt auch schon mal in den Semesterferien zur Uni, um ihren Studenten zu helfen.

Nur ist sie dann beschäftigt und ich stehe hinten an. Seht, das Internat hier ist toll, aber ich habe das Gefühl, meine Eltern unterstützen mich nicht.“

„Billy, ich kenne dich ja nicht richtig, doch glaub mir, deine Eltern stehen zu dir. So wie sie sich mit dir unterhalten, respektieren sie dich. Du bist ihnen auch nicht schnuppe, sonst hätte dein Vater uns wohl kaum zu sich eingeladen. Sie wissen eben nicht, was Sache ist.“

„Dem kannst du glauben. Carsten hört so etwas heraus. Nur Eltern haben manchmal ein Brett vor dem Kopf. Da solltest du ihnen auf die Sprünge helfen.“

„Ich weiß, meine Eltern vertrauen mir, dass ist auch nicht mein Problem. In meiner Clique gibt es seit einigen Wochen Probleme. Ich bin besserer Durchschnitt und habe Spaß am Lernen. Ich möchte gerne einmal Programmierer werden, also mag ich Mathe und Sprachen. Nun in meiner Arbeitsgruppe Mathe bin ich der Auserwählte eines Mädchen. Während ich im Programmierkurs der eines Jungen bin. Mich hat das Geschlecht meiner Freunde bis dato nicht Interessiert. Jetzt weiß ich halt nicht mehr weiter. Papa und Mama haben andere Sorgen und mit meinen Großeltern kann ich über so etwas nicht reden.“

„Jetzt möchte ich gern einmal deine Gedanken zurechtrücken. Du bist ihnen wichtiger als alles andere.“

„Du meinst?“

„Ja, ich meine es genau so.“

„Und wenn ich Carstens Worten noch etwas hinzufügen darf. Du hast sie ja schon mit einbezogen. Als deine Mutter deinen Computer benutzen durfte.“

„Ups, da habe ich gar nicht mehr dran gedacht. Sie wittern etwas?“

„Sie haben eine Idee, daher auch die Einladung, ansonsten fischen sie im Trüben.“

„Dann sollte ich diesen Schritt heute wohl wagen. Bleibt ihr noch zu Abend?“

„Nein Billy, unser Abend ist schon verplant. Danke für die Einladung.“

„Hat euch schon einmal jemand gesagt, dass ihr für euer Alter recht reif seid?“

„Nicht so direkt. Was macht mein Hund?“

„Pieselt ins städtische Blumenbeet. Wir sollten langsam zurückgehen, es fängt gleich an zu regnen.“

Da Max ihre Bedürfnisse erledigt hatte, stand dem nichts mehr im Weg. Andreas rief den Chauffeur an, dass er sie in einer halben Stunde abholen könne. Bei den Garbriels wurde die kleine Gruppe schon erwartet. Gerade als sie ins Haus gingen, fielen die ersten Regentropfen.

„Da habt ihr jetzt Glück gehabt.“

„Würde ich so nicht stehen lassen. Billy hat uns vorhin zur Umkehr aus genau diesem Grund überzeugt.“

„Wenn das so ist. Danke Billy.“

„Nicht der Rede wert. Ich mag es einfach nicht nass zu werden.“

Dr. Gabriel lachte über diese Bemerkung. Gemeinsam gingen sie wieder in den Wintergarten. Die Regentropfen trommelten leise auf das Glasdach. Mrs. Gabriel fragte, ob ihr Mann sie zurück bringen sollte.

Andreas verneinte und unterrichtete die Eheleute davon, dass ihr Chauffeur bereits verständigt sei. Es dauerte auch nicht mehr sehr lange und der Fahrer des Hotels stand vor der Tür. Dr. Gabriel brachte seine Schüler unter einem großen Regenschirm bis zum Wagen.

„Danke Jungs. Ihr habt uns einen großen Gefallen getan.“

„Haben wir gern gemacht. Nicht wahr Carsten?“

„Aber hallo. Ich hoffe, es renkt sich alles wieder ein. Sie sollten vielleicht mehr Zeit mit ihrem Sprössling verbringen.“

„Das werde ich tun. Veronika und ich haben vorhin beschlossen, Billy öfters zu besuchen und ihn in den Ferien öfters zu uns nach Deutschland einzuladen.“

„Dann würde ich sagen: Mission erfüllt.“

Dr. Gabriel stand noch einen Moment am Straßenrand und sah den fortfahrenden Van hinterher. Ob diese Mission schon erfüllt war? Er war der Meinung, sie hätte gerade erst begonnen.

Nur eines konnte er mit Gewissheit sagen. Sein Billy kam mit einem entspannten, fröhlichen Gesichtsausdruck zurück und dies war ein gutes Zeichen.

„Tiger, was machen wir heute Abend?“

„Was du machst? Kann ich nicht sagen, ich werde mich nachher mit Bach’s Klavierspiel beschäftigen.“

„Wolltest du denn nicht mit Beethoven anfangen?“

„Tu ich ja Andreas. Brahms Konzert gehört zur Romantik und Beethovens zur Frühromantik. Die liegen zwar vom Stil her nicht weit auseinander, doch die Spieltechnik ist eine andere.“

„Und wie passt jetzt der Bach dazwischen? Der war doch Barock.“

„Richtig, doch Bachs Technik ist sowohl dem Beethoven als auch dem Brahms gemeinsam. Ich habe mir einige Stücke aus dem Wohltemperierten Klavier ausgesucht, weil es die Tonarten B-Dur (Brahms) und Es-Dur (Beethoven) verbindet.“

„Wird das lange dauern?“

„Nein, ich denke eine Stunde oder so. In der kommenden Woche wird sich das auch auf täglich zwei Stunden begrenzen.“

„Gut, dann kann ich mich ja zur gleichen Zeit mit Mathe beschäftigen. Und was essen wir heute zu Abend?“

„Ehrlich? Ich hätte Lust auf eine Pizza.“

Andreas grinste. Der Wagen hielt vor dem Hotel und der Portier öffnete ihnen die Tür. Er begleitet sie auch beschirmt zum Eingang. Nachdem Andreas sich die Zimmerschlüssel hat geben lassen, gingen sie hinauf auf ihre Suite.

Carsten befreite Max von dem Führgeschirr und öffnete ihr die Balkontür. Andreas schaute nach dem Wassernapf. Dann ließen sie sich in die Couch fallen und kuschelten sich aneinander.

Gemeinsam ließen sie den Nachmittag Revue passieren, bis Max ihre Aufmerksamkeit einforderte. Andreas knuddelte, sie während Carsten sich später mit ihr am Boden wälzte. Als die Hündin genug hatte, verzog sie sich in ihrem Gästekörbchen.

Carsten stand auf und ging zum Klavier hinüber.

„Glaubst du nicht, dass es etwas laut ist?“

„Nein, die hätten mir kein Klavier hier hineingestellt, wenn es andere Gäste stören würde. Und wenn ich den Deckel nicht öffne, ist es recht leise.“

Damit setzte sich Carsten hin und öffnete die Tastaturabdeckung. Erst spielte er sich mit einigen Etüden warm. Andreas hörte ihm gerne zu. Dann aber setzte er sich selbst an den Schreibtisch und beschäftigte sich etwas mit seinem Problemkind Trigonometrie.

Da er das MacBook von Carsten benutzen durfte, waren auch schnell die Unterrichtsmaterialien geladen. Zu den einzelnen Funktionen suchte er sich plastische Beispiele und siehe da, sie waren nicht mehr ganz so „geheimnisvoll“.

Im Hintergrund hörte er Carsten einige Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach spielen. Dann, ganz aus dem Thema, spielte er etwas völlig anderes. Es klang modern.

„Das passt jetzt aber so gar nicht zu dem Bach.“

„Mag sein Schatz, aber es ist das Thema, was du seit einiger Zeit summst.“

„Tu ich das?“

„Jep. Ich habe da so eine Idee, was es sein könnte. Wie wäre es damit?“

„Ja, Endless Love. Etwas tief.“

„Nicht unbedingt, Schatz. Deine Stimmlage ist Tenor und ich komme mit meinem Bariton nicht ganz so hoch. Kennst du den Text? Willst du mal probieren die Ballade zu singen?“

Andreas stand auf ging zu Carsten hinüber und legte seine Hände liebevoll von hinten auf dessen Schultern. Carsten spielte noch einmal den Anfang und begann die erste Strophe zu singen.

Andreas setzte dann etwas später mit der zweiten Strophe ein. Nach wenigen Minuten beendeten sie ihr Duett. Andreas setzte sich neben seinen Freund. Er sah in Carstens glückliches Gesicht.

Er konnte nicht anders. Sie küssten sich gefühlvoll, mit sehr viel Vertrauen.

„Danke Carsten, das war lieb von dir.“

„Für meinen kleinen singenden Gärtner? Kann ich denn meine Liebe zu dir noch besser zur Geltung bringen?“

„Ich lasse mich gerne von dir überraschen. Woher kennst du dieses Lied?“

„Ich bin nicht nur ein Klassik Freak. Obendrein hatte Volker in seinem Musikunterricht ein eigenes Kapitel dazu. Im Nachhinein tat es meinem Verständnis für die Musikgeschichte außerordentlich gut. Vor allem die Entwicklung des Komponierens war interessant.“

„Schön Schatz. Darf ich jetzt einmal das Thema wechseln. Wie steht es mit Nahrungsaufnahme?“

„Gerne, glaubst du ich bekomme eine Pizza?“

„Ich denke, du kannst dir sogar den Belag aussuchen.“

Carsten rief Max zu sich, machte die Leine an ihr Geschirr und gemeinsam verließen sie ihr Zimmer. Henry empfing sie und brachte sie zu einem freien Tisch. Als er die Karten brachte, räusperte sich Andreas und brachte ihre Wünsche vor.

„Ihr Wunsch ist etwas ungewöhnlich, meinen Herren. Doch ich werde sehen was ich tun kann. Sie wünschen also zwei Pizzen, einmal Vegetarisch und einmal Hawaii. Darf ich ihnen dazu einen leichten Rosé servieren und zum Dessert ein Tiramisu?“

„Ja bitte Henry. Und für Max ihre Abendration.“

Der Oberkellner bedankte sich und ging. Wenig später kam der Chefkoch zu ihrem Tisch. Wie er sagte, wollte er sich selbst davon überzeugen, dass Gäste eines vier Sterne Restaurants sich Pizza bestellen. Andreas widmete sich der Beantwortung.

„Wir wissen sehr wohl, dass Ihre Künste bei weitem über das hinausgehen, was wir uns wünschen. Doch vergessen Sie nicht, dass sich ein Mann Ihres Wissens und Faches an einem einfachen Gericht messen lassen kann.“

„Oh entschuldigen Sie bitte. In Ihren Worten liegt eine ehrliche Philosophie. Ich werde Ihnen Ihre Wünsche gerne erfüllen und hoffe, Sie zufrieden stellen zu können.“

„Das war echt genial von dir Schatz. Ich dachte schon der wirft uns raus.“

„So sah er ja auch aus, als er uns aufsuchte. Ich habe Pizzabacken in Italien bei meinem Nonno gelernt. Du darfst mir glauben, da steckt mehr dahinter, als nur eben mal ein paar Zutaten zusammen zu rühren. Und es kommt vor, das renommierte Köche im Restaurant meines Großvaters Pizza bestellen und genießen. Opa hat immer gesagt, Pizzabacken hat eine eigene Philosophie, die sich nur demjenigen erschließt, der mit Herz bei der Sache ist. Von ihm habe ich auch den Ausspruch mit dem Messen lassen gelernt.“

„Dann bin jetzt einmal gespannt, was jetzt ein vier Sterne Chefkoch fabriziert.“

„Ich auch.“

Henry brachte den Wein und Max’ Futter. Carsten stellte den Napf auf den Boden und gab das Fressen mit einem Kommando frei. Es dauerte eine Weile, bis sie selbst ihr Menü bekamen.

Dem kritischen Genießer Andreas rang seine Pizza ein „gut“ ab. Der Chefkoch hatte sich Mühe gegeben. Als Beilage bekamen sie einen italienischen Tomatensalat und die Dekoration machte aus einem einfachen Pizzagericht ein gehobenes Menü.

Und spätestens beim Dessert übertraf sich die Küche. Zum Abschluss bestellte Andreas noch zwei Averna als Digestif. Anschließend gingen die drei noch mit Max Gassi. Zwei Stunden später trafen sie wieder im Hotel ein.

Zuerst ging es in den Baderaum, um Max wieder Ladylike zu machen. Als waschechter Retriever hatte sie in dem Park jede Schlammpfütze aufgesucht, um sich darin zu wälzen. Als die Hündin später ihre Gästekudde aufsuchte, sah sie wieder gepflegt aus.

Die Jungen begnügten sich mit einem kurzen Duschbad.

„Was machen wir heute Abend noch?“

„Max schläft? Ich denke, wir können sie ruhig allein lassen. Sonntags gibt es in der Hotelbar Livemusik.“

„Gut, hättest du Spaß an eine Schachpartie?“

„Haben wir schon lange nicht mehr gespielt.“

„Ich weiß, gegebenenfalls sage ich dir auch die Position deiner Figuren.“

„Komm, gehen wir.“

In der Bar war mäßiger Betrieb. Andreas suchte sich einen Tisch und führte Carsten dorthin. Kaum saßen sie, als auch schon ein Kellner kam. Sie bestellten sich zwei alkoholfreie Cocktails und fragten nach einem Schachbrett.

Der Kellner brachte beides und die Jungen ließen sich bei einem gemütlichen Spiel die Getränke schmecken. Die Musik der Liveband fanden beide ordentlich, aber sie hätte sie nicht vom Hocker gerissen.

Zwischenzeitlich verließ Andreas die Bar, um seiner Blase einen Gefallen zu tun.

„Ich frage mich zwar immer, wie du es anstellst Tiger, aber über ein Remis kommen wir nicht hinaus.“

„Ist doch bloß ein Spiel. Ob nun Remis oder Schach Matt, was für mich nebensächlich ist, es hilft mir bei der Konzentration. Kannst du mir einmal sagen, wo ich hier eine Toilette finde?“

„Wenn du die Bar verlässt, links herum den Gang entlang. Nach zwanzig Meter noch einmal Rechts und dann die linke Tür.“

„Okay, begleitest du mich?“

„Mach ich.“

Die Jungen standen auf und verließen die Bar, nicht ohne zuvor dem Kellner zu signalisieren, dass sie wiederkommen würden. Wenig später betraten sie wieder die Bar und der Tisch war belegt, obwohl noch ihre Gläser und das Schachspiel darauf standen.

Wieso sich der Herr diesen Tisch ausgesucht hatte, konnte Andreas sich nicht erklären, denn es waren noch weitere frei. Also gingen sie hin.

„Entschuldigen Sie mein Herr, dieser Tisch ist noch belegt.“

„Interessiert mich nicht, nun sitze ich hier.“

„Oh, dann übernehmen Sie auch unsere Rechnung?“

„Wie komme ich dazu? Wer seid ihr eigentlich? Wissen eure Eltern, dass ihr in der Bar seid und alkoholisches trinkt?“

„Nein, aber es macht auch keinen Unterschied, da wir Gäste des Hotels sind. Komm Carsten, suchen wir uns einen anderen Tisch aus. Dieser Herr ist nicht sehr kooperativ.“

„Bist wohl der Lakai des Behinderten?“

„Nein, Andreas ist mein Freund und er begleitet mich, um mich vor Leuten mit Ihrem Charakter zu bewahren. Wer von uns der Behinderte ist? Nun, ich bin es sicherlich nicht und wir haben Ihnen nicht erlaubt, uns zu duzen. Eventuell sollten Sie in Erwägung ziehen, diese Bar zu verlassen. Ihr Benehmen lässt wahrlich zu wünschen übrig.“

„Frech werden auch noch. Ich bin der Pianist…“

„Ach, sie machen also diese mittelmässige Klaviermusik?“

„Als ob du großartig Ahnung hast, du Schnösel.“

„Carsten, lass es sein. So wie ich es gehört habe, habt Ihr nicht das gleiche Niveau.“

„Mag sein, doch er hat uns beleidigt und ich verlange Satisfaction. Jetzt am Piano forte.“

„Angenommen, wen wählst du als Schiedsrichter?“

„Das Publikum hier. Aus den Kategorien Klassik, Jazz und Tanzmusik spielt jeder von uns ein Stück. Wer mehr Applaus auf sich vereinen kann, hat gewonnen. Ich lasse Ihnen den Vortritt.“

„Einverstanden. Meine Damen und Herren, gleich beginnt ein musikalisches Duell zwischen dem Jungen hier und meiner Wenigkeit. Sie entscheiden durch Ihren Applaus, wer von uns der Gewinner sein wird. Der junge Mann schlug vor, drei Stücke frei zu wählen aus den Kategorien Klassik, Jazz und Tanzmusik.“

Der Pianist setzte sich an den Flügel und begann mit dem Walzer in A-Dur Op. 10 Nr. 2, von Sergei Rachmaninov, danach folgte ein Arrangement von Arthur Tatum (13.10.1909 – 5.11.1956, war einer der bedeutendsten US-amerikanischen Klaviervirtuosen und Erneuerer des Jazz).

Zuletzt ertönte An der schönen Blauen Donau von Johann Baptist Strauss. Jedes Mal, wenn er mit einem neuen Teil begann, setzte er ab und begann von neuem. Zum Schluss beurteilten die Gäste seine Darbietungen mit einem guten Applaus.

Dann war Carsten an der Reihe. Er wählte zu Beginn die Barcarolle Fis-Dur op. 60 von Fryderyk Chopin. Ohne das es jemanden auffiel, wechselte er in den Jazzstil von Thelonious Sphere Monk (10.10.1917 – 17.02.1982, war ein US-afromerikanischer Jazzpianist und Komponist) und spielte sein 52nd Street Theme.

Andreas sah, dass sich einige Musiker der Band zurückhalten mussten, um nicht mitzuspielen. Doch spätestens als er fließend in einen Samba wechselte, setzte die Band mit ein und einige Gäste begaben sich auf die Tanzfläche der Bar.

Als Carsten langsam zum Ende kam, begann schon leichter Applaus und nach dem letzten Ton stand der Sieger fest. Der Pianist wandte sich an Andreas und siehe da, auch sein Ton zeugte von einem gewissen Respekt gegenüber den Jungs.

„Sie haben sich geirrt, als sie zu mir sagten, wir hätten nicht das gleiche Niveau. Ihr Freund ist sehr gut.“

„Wer sagt das, das ich mich irre? Lassen Sie mich es einmal so erläutern. Sie spielen in der zweiten Liga, mein Freund in der Ersten. Wenn Sie dachten, ich meinte, dass Sie besser sind, haben Sie sich geirrt. Carsten spielt mit renommierten Orchestern Konzerte und hat Ihnen gegenüber den Vorteil, an dem was er tut, Spaß zu haben.“

„So, ich denke, das Publikum hat entschieden. Wenn Sie möchten, können wir noch etwas zusammen trinken. Wir bevorzugen im Übrigen alkoholfreie Getränke in der Öffentlichkeit. Was meinst du Andreas?“

„Noch so ein Tropical Dream wäre nicht schlecht, für Sie auch?“

„Nein, ich habe noch zu arbeiten und bitte verzeihen Sie meine Arroganz.“

„Nicht der Rede wert. Wir haben nur gespielt…“

Der Pianist verabschiedete sich aufs höflichste von den Beiden, um sich wie ein begossener Pudel seiner Aufgabe zu widmen. Nachdem die Jungs ihre Cocktails getrunken hatten, zeichnete Andreas die Rechnung gegen und gingen hinauf auf ihr Zimmer.

„Schatz, du warst spitze. Allein diesen Typen mit dem Niveau Spruch in Sicherheit zu wiegen, genial.“

„Du hast ihn verstanden?“

„Ja! Ich habe ihn doch spielen gehört. Wobei ich eingestehen muss, er ist wirklich kein schlechter Klavierspieler. Aber sein Talent liegt bei der Salonmusik, den Walzer vom Strauss hat er echt gut interpretiert. Da wäre ich nicht dran gekommen.“

„Daher der Samba?“

„Genau und ich improvisierte bei den Übergängen. Dank an den guten alten Bach.“

„Wie kommt der jetzt schon wieder dazu?“

„Sein wohltemperiertes Klavier, wenn man diese Übung regelmäßig spielt, ist es nicht schwer, zwischen den verschiedenen Tonarten und Rhythmen zu wechseln. So konnte ich fließend von einem Stück zum anderen gelangen.“

„Lass dich knuddeln Tiger. Mein ehrenwerter Sieger an den Tasten.“

Andreas knuddelte Carsten nicht nur, sondern bedeckte ihn mit seinen Liebkosungen. Bis sie irgendwann in der Nacht endlich Arm in Arm einschliefen.

Kapitel LI: Das Vorspiel

Mike holte Max morgens zur gewohnten Zeit ab und brachte sie anschließend zu den Jungs am Frühstückstisch. Je nach Wetter saßen sie am Fenster im Salon oder im Freien auf der Terrasse.

Henry sorgte für Abwechslung beim Frühstück. Und Max genoss die ihre geschenkte Aufmerksamkeit, wenn es nach dem Breakfast erst einmal ausgiebig spazieren ging. Wie Carsten schon angedeutet hatte, widmete er sich dem Klavierkonzert am Vormittag bis zum Lunch und am Abend nach dem Dinner.

Diese Zeit nutze Andreas meist, um Mathe zu lernen. Es kam auch vor, dass er es sich auf dem Balkon gemütlich machte und einfach nur seinem Freund lauschte. Die Nachmittage verbrachten sie gemeinsam.

Sie besuchten Parks, schlossen sich im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussauds einer Führung an. An einem ganzen Nachmittag besuchten sie den Tower of London. Über die Royal Blind Society hatte Carsten eine spezielle Führung buchen können, so dass sie vielen Ausstellungsstücken sehr nahe kamen.

Und sie durften im Maschinenraum dabei sein, als die beiden Brückenteile der Towerbridge für eine Schiffspassage geöffnet wurden. Mit Carsten war Andreas immer mitten im Geschehen.

Ihr Dinner nahmen sie an diesem Abend in einem Restaurant mit Blick auf die Brücke ein, die in der Dämmerung noch imposanter aussah. Neben dem kulturellen kam auch das kommerzielle nicht zu kurz.

Bei Harrods staunte Andreas nicht schlecht, welch erlesenen Geschmack sein Freund hat. In der Strickwarenabteilung wählte dieser einen V-Pullover, der sein Outfit um eine weitere Nuance unterstrich.

Lediglich beim Design entschied Andreas, dass bei ihm ein Rautenmuster gegenüber Querstreifen von Vorteil wäre. Dann besuchten sie noch einmal den Herrenausstatter, wo sie die Konzertgarderobe erworben hatten.

Der ältere Herr war erfreut zu hören, dass die Jungen mit seiner Arbeit zufrieden waren. Nachdem sie ihm ihr Anliegen, ihre Garderobe weiter auszuweiten, vorgetragen hatten, führte er einige Suits vor.

Er hatte Andreas und Carsten von einem Smoking abgeraten, da sie seiner Ansicht nach noch zu jung dafür waren. Aber die Anzüge waren erlesen. Der Stoff war aus einem Wolle-Seide Mischgewebe und figurbetont gearbeitet.

Neben dem dunklen Grundton, waren auch hier die Revers farblich abgesetzt. Carstens war, wie schon beim Frack, schwarzblau und Andreas’ schwarzgrün. Dieser ulkte noch ein wenig darüber, da die Schattierungen ihnen Augenfarben entsprach.

Aber chic sahen sie aus. Auch hier musste der Schneider leichte Änderungen vornehmen, der den Sitz der Suits noch etwas perfektionierte. Irgendwie kamen sie auf Mailand zu sprechen und siehe da, der ältere Bedienstete brachte sich mit ein.

„Darf ich fragen, wie lange sie in Mailand verweilen?“

„So um die drei Wochen.“

„Dann müssen sie dort unbedingt einen Kollegen von mir besuchen. Ich gebe ihnen gleich seine Adresse und eine Empfehlung mit. Ich finde, er ist auf dem Kontinent einer der besten Couturier für Herrenmode. Meine Herren, Sie haben das gewisse etwas, so dass selbst vorgefertigte Kleidung, wie ihre Fracks oder die Suits, an Ihnen exzellent aussehen.“

„Warum nicht? Danke.“

Nachdem noch ein Termin ausgemacht wurde, wann die Anzüge ins Hotel gebracht werden sollten, ging es zur Kasse. Dieses Mal zahlten sie getrennt, weil Carsten seinem Freund schwer erklären konnte, dass es sich noch um Konzertkleidung handelte.

Andreas nahm es gelassen und bestätigte seinem Freund, dass seine Großeltern einer solchen Aktion zugestimmt haben. Die Shakespeare Vorstellung hatte Andreas für den Mittwochabend gebucht. Im Vorfeld hatte er sich erkundigt, ob Hunde überhaupt mit ins Theater durften.

Die Company hatte keinerlei Einwände und reservierten ihnen Logenplätze im Shakespeares Globe. Die Vorstellung übertraf ihre Vorstellungen. Andreas hatte zwar Carsten die Braillebroschüre gegeben, doch glaubte er, dass sein Freund diese nicht wirklich brauchte.

Es schien, als ob er den eigentlichen Sinn der Worte ohne Schwierigkeiten verstand. Die Einschätzung ihres Englischlehrers traf zu, dass Carsten dem Theaterstück folgen könne. Da das Theater etwas abseits des Hotels lag und die Vorstellung spät endete, ließen sie sich von Mr. Taylor abholen.

Auf ihrer Suite ulkten beide noch im Sprachstil des 16. Jahrhunderts herum. Erst als Max ihr Futter vertilgt hatte und sich schlafen legte machten sich auch die Jungs bettfein.

„Sag einmal Andreas, hast du eigentlich schon deine Unterlagen zurück?“

„Wie kommst du darauf? Und nein, die sind wohl weg.“

„Fiel mir gerade so ein und ich finde es auch schade. Du weißt doch, dass Mutti für neue Gartenideen offen ist. Vielleicht hätten sie deine Skizzen inspiriert.“

„Ist ja nicht der Weltuntergang und für deine Mutter und ihren Garten habe ich noch viele Phantasien. Tiger?“

„Ja?“

„Hättest du nicht einmal Lust die Royal Academy of Music zu besuchen?“

„Wozu?“

„Na, sooft sind wir nun auch nicht in London und diese Hochschule für Musik ist ja wohl weltweit gefragt. Habe ich zumindest im Netz gelesen.“

„Stimmt Andreas, aber ein Studienjahr kostet mehr als ich mir leisten kann. Das ist für mich einfach nicht zu bewältigen. Warum soll ich mir Hoffnungen machen?“

„Ich meinte ja auch nur.“

„Sicherlich, es wäre schön hier ein oder zwei Jahre zu studieren, doch es geht einfach vom Finanziellen nicht.“

„Die Hoffnung stirbt zuletzt. Also besuchen wir morgen die Royal Academy of Music und keine Widerrede.“

„Du bist unmöglich, aber wenn ich dir einen Gefallen damit tun kann.“

Andreas kuschelte sich dicht an ihm. Mit dem Gedanken ‘Wer weiß…’ schlief er zufrieden in Carstens Armen ein. Dieser lag noch eine Weile wach neben Andreas. Seine Gedanken kreisten um seine Ausbildung.

Die Finanzen waren eine Seite der Medaille. Aber wollte er eine Fernbeziehung führen wollen? Hätte der Besuch der Academy nicht zur Folge, seinen Freund lange nicht treffen zu können?

War ihre Liebe zueinander so stark, dass sie es aushalten würde? Allein diesen Gedanken empfand Carsten als Belastung. Andreas gab ihm, was er benötigte: Den Rückhalt, alles meistern zu können.

Am folgenden Morgen fühlte sich Carsten nicht wirklich ausgeschlafen. Nach dem Frühstück und der morgendlichen Spielstunde mit Max ging es in die Marylebone Road, wo sich das Hauptgebäude der Royal Academy of Music befand.

Andreas beschrieb Carsten das wuchtige Portal des rot-weißen Backsteingebäudes. Max führte Carsten über sechs breite Stufen in den Eingang des Gebäudes. Andreas beschrieb auch hier seinen Eindruck.

Es hatte etwas Biederes und doch, man konnte sich wohl fühlen. An einem der beiden Tresen saß ein Mann und sah die Jungs mit der Hündin kommen. Ein älterer Herr kam gerade die Treppe hinunter, die dem Entrée gegenüberlag.

„Guten Morgen, Hunde sind hier nicht erlaubt.“

„Guten Morgen, auch keine Blindenführhunde?“

„Ich weiß nicht… da frage ich erst bei der Verwaltung an. Einen Moment bitte.“

„Danke, wir warten…“

„Welch eine Ehre für die Academy, Mr. Von Feldbach!“

„Sie kennen den jungen Mann Professor?“

„Haben Sie denn nicht das Konzert in der Royal Albert Hall vergangenen Freitag gesehen, Mr. Parker? Das ist der Pianist, der mit dem London Symphony Orchestra das wunderbare Brahms Klavierkonzert gegeben hat.“

„Tut mir Leid, Professor. Ich hatte Dienst und konnte es nur am Radio verfolgen.“

„Dann sei Ihnen verziehen. Mr. Von Feldbach, schön, dass Sie es einrichten konnten, uns zu besuchen.“

„Entschuldigen Sie bitte, doch wer sind Sie?“

„Verzeihen Sie bitte, Sie haben völlig Recht. Ich bin Mr. Shoemaker und Dekan der Studienrichtung Musik hier an der Academy. Würden Sie mir die Ehre geben, Ihnen unser Haus zeigen zu dürfen?“

„Gerne, darf ich Ihnen Mr. Zahradník vorstellen und meine Blindenführhündin Max.“

„Bitte folgen Sie mir.“

Die Jungs schlossen sich Mr. Shoemaker an. Während sie durch die unterschiedlichen Etagen und Abteilungen geführt wurden, unterhielt sich der Dekan mit Carsten. Der Junge hatte schon fast den Eindruck, von dem Mann interviewt zu werden.

Nach zwei Stunden betraten sie nun die letzte Station, den Concert Room im Basement des Gebäudes. Andreas sah sich um, der Raum war an den Wänden mit Vorhängen behängt, obwohl es keine Fenster gab.

Auf der einen Seite lag ein großer Webteppich, auf dem ein Flügel stand. Im hinteren Bereich waren einige Stühle und Tische aufgestellt. Andreas Eindruck war, dass es sich um einen Raum handelte, in dem Abschlussprüfungen abgehalten wurden.

„Wir sind noch etwas früh, die Kollegen sind noch nicht anwesend.“

„Wozu?“

„Hat man Ihnen das nicht gesagt, dass Sie für diese Woche zu einem Vorspiel eingeladen wurden?“

„Nein, das hat mir keiner gesagt. Wusstest du davon Andreas?“

„Nun, Herr Professor würden Sie uns bitte einen Moment allein lassen?“

„Ja, gerne.“

„Andreas?“

„Setzt dich bitte einmal hier hin.“

„Ich warte.“

„Also, ich wusste davon und sollte dich heute hier her lotsen. Volker hatte mir eine E-Mail geschrieben, dass du heute hier ein Vorspiel haben könntest.“

„Aber wozu?“

„In seiner E-Mail hatte er mir gesagt, dass er deine Bewerbungsunterlagen auch hier her geschickt hat. Er hatte gehofft, du würdest ihn darum bitten. Da du keine Ambitionen hattest hier studieren zu wollen, hatte er die Initiative ergriffen.“

„Dann wusstest du das schon länger?“

„Erst seit ich die letzten Tage deinen Rechner für meine E-Mails benutzen durfte. So wie ich ihn verstanden habe, kam diese Einladung sehr spät und er hatte alles in Bewegung gesetzt, den heutigen Vorspieltermin zu machen. Er sagte auch, dass du bestens vorbereitet bist, um den Termin auch wahr zu nehmen.“

„Du weißt aber auch, dass ich von dir erwartet hätte, mit offenen Karten zu spielen?“

„Carsten, das ist mir schon bewusst und ich habe es sicherlich nicht gern getan. Doch ich glaube nicht, dass du allein wegen der Finanzen eine ablehnende Haltung einnimmst. Der andere Aspekt ist doch wohl der, das wir uns auf eine Fernbeziehung einlassen müssten, wenn du hier angenommen werden würdest. Aber das würde ich in Kauf nehmen, weil für mich jetzt erst einmal deine Ausbildung im Vordergrund steht. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn du meinetwegen auf diese Chance verzichten würdest.“

Carsten wollte noch etwas sagen, wurde aber durch eine Reihe eintretender Leute daran gehindert. Als sie sich gesetzt hatten, übernahm Mr. Shoemaker die Moderation. Er stellte einen nach dem anderen die Dozenten vor.

Es waren wirklich alle Bereiche der Musik vertreten, die an der Academy gelehrt wurden. Im Anschluss wurde Carsten gebeten, an dem Flügel Platz zu nehmen und sein Vorspielprogramm zu beginnen.

Andreas führte ihn zu dem Instrument und bat ihn leise und mit aufrechter Stimme es nicht zu verderben. Danach setzte er sich auf einen freien Stuhl und Max legte sich neben ihm ab. Carsten überlegte einen Moment und wusste wohl nicht so recht, was er von der ganzen Situation halten sollte.

Andreas schien, dass sein Freund verunsichert war. Wie konnte er ihm helfen? Er sah zu Max hinunter, die ihn anblickte. Dann machte er die Leine los und das Geschirr ab. Die Jury sah den Golden Retriever zu Carsten hinüber gehen, einmal den Jungen mit der Schnauze anschubsen und sich dann ganz gemütlich unter dem Flügel hinlegen.

Diese Aktion lenkte Carstens weiteres Handeln. Ganz routiniert begann er damit, seine Sitzposition zu korrigieren. Danach schlug er seinen gewohnten Akkord an. Als er damit fertig war, sah Andreas Carsten lächeln.

Dann begann Carsten damit, in dem er ankündigte, was er zu spielen gedachte. Wie bei seinem Klavierlehrer gelernt, fing er damit an, ein bestimmtes Programm zu absolvieren. Selbst Andreas hörte, dass es nicht perfekt war.

Gerade das Stück aus der modernen Zwölfton Musik war ein Graus für sein harmonisches Musikverständnis. Nach einer halben Stunde beendete Carsten sein Spiel und stellte sich den Fragen der Professoren.

Eine weitere halbe Stunde später waren auch die meisten Fragen beantwortet. Carstens Antworten interessierten auch Andreas, obwohl er sicherlich nur ein Bruchteil von dem verstand, was da gesprochen wurde.

Zum Beispiel stellte eine Professorin, die historische Instrumente dozierte, eine Frage zu dem Klavierkonzert der Proms.

„Mr. Von Feldbach, Sie haben das Brahms Konzert auf einen Konzertflügel des 19. Jahrhunderts mit einer sogenannten Stoßzungenmechanik gespielt. Mich interessiert, warum Sie diesem Instrument den Vorzug gegeben haben?“

„Nun, ich hatte tatsächlich die Auswahl zwischen diesem Instrument und einem modernen Grandpiano mit Repetitionsmechanik. Bei der Interpretation dieses Konzertes habe ich den Schwerpunkt auf den Klang gelegt. Es gibt in diesem Konzert kaum schnelle Läufe, so dass die Mechanik vollkommen ausreicht. Jedoch erlaubt mir diese direktere Klaviertechnik mehr Vielfalt in der eigentlichen Tonerzeugung. Im Gegenzug werde ich in Kürze das fünfte Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven spielen. Bei dem Konzert, obwohl früher entstanden, kommt es nach meiner Auffassung auf die Präzision der Töne und Abfolge der Läufe an. Um einen brillanten Klang zu gewährleisten, würde ich ein Instrument mit moderner Repitationsmechanik wählen.“

Andreas sah, wie die Dozentin sich etwas notierte und zufrieden über diese Antwort nickte. Dann passierte etwas Unerwartetes. Eine weitere Frage bezog sich auf die Zugabe Carstens bei dem Konzert.

„Mr. Von Feldbach, Sie haben die Liszt Variation über das Forellenthema von Franz Schubert als Zugabe am vergangenen Freitag gewählt. Können Sie mir die Melodie der zweiten Geige aus dessen Quintett vorspielen?“

„Nein, das kann ich nicht.“

„Darf ich fragen warum nicht?“

„Weil es keine zweite Geige gibt. Das Quintett besteht aus einer Geige, Viola, Violoncello, Kontrabass und einem Klavier.“

„Danke Mr. von Feldbach, Sie kennen sich gut in der Musikgeschichte aus.“

Andreas zog seine Brauen hoch. Carsten ließ sich nicht aufs Glatteisführen und woher kannte er die Besetzung eines Quintetts? Er sah die meisten Mitglieder der Jury grinsen. Mr. Shoemaker sah seine Kollegen an und wollte gerade seine Stimme erheben, als sich noch einmal ein Herr meldete. Als er seine Frage gestellt hatte sahen alle gespannt zu Carsten.

„Mr. Von Feldbach, was empfinden Sie, wenn Sie Klavierspielen?“

„Was ich empfinde? Das ist schwer zu beschreiben, am ehesten trifft ein Vergleich aus der Natur zu. Die Musik ist mein Wind. Wie ein Vogel sich mit offenen Schwingen davon tragen und treiben lässt, fühle ich mich frei. Ja, frei.“

Die Antwort stand einen Moment lang im Raum und keiner sagte etwas dazu. Dann schloss Mr. Shoemaker das Vorspiel ab.

„Danke. Mr. Von Feldbach, Sie werden von uns hören. Wir danken Ihnen für Ihr Erscheinen.“

Die Jury verließ nach und nach den Raum, bis nur noch Andreas, Carsten und Max anwesend waren. Carsten schloss den Tastaturdeckel und stand auf.

Andreas legte Max das Führgeschirr an und die Hündin gesellte sich an Carstens Seite. Gemeinsam gingen sie hinaus. Carsten war die ganze Zeit still und nachdenklich. Andreas tat sich etwas schwer damit, doch wusste er, dass er jetzt erst einmal den Mund halten musste.

„Schatz, ich habe Hunger.“

„Spezielles?“

„Irgendetwas Warmes. Asiatisch oder so.“

„Ah, ich sehe da ein vietnamesisches Schnellrestaurant.“

„Ist okay.“

Die Jungs begaben sich dorthin. Bestellten sich Tee und Ente süß-sauer und für Max eine Schüssel Wasser. Auch das Essen nahmen sie überwiegend schweigend ein. Erst als sie das Restaurant verließen, fing Carsten an und seine Wortwahl befreite Andreas.

„Tiger, wo sind wir jetzt eigentlich?“

„Noch immer in der Nähe des Regent Parcs.“

„Dann lass uns einmal dahin gehen. Soweit ich weiß, haben die da einen See, wo Max spielen und baden könnte.“

„Und was danach?“

„Rufen wir Mr. Taylor an und lassen uns dort abholen. Ich möchte heute noch einiges erledigen und an meinem Konzert habe ich auch noch nicht geübt.“

„Bist du sauer auf mich?“

„Weil du das mit dem Vorspiel wusstest und mir verschwiegen hast? Nein!“

„Warum hast du dann so lange nichts gesagt?“

„Du hast meine Argumentation auf den Kopf gestellt. Du kennst mich recht gut. Ich habe über eine mögliche Fernbeziehung nachgedacht und wie ich im Grunde dazu stehe. Ich glaube nicht, dass ich für so etwas schon bereit bin.“

„Würde das bedeuten, wenn du hier studieren könntest, würdest du unsere Beziehung beenden?“

„Eher würde ich das Studium absagen. Nein, wir haben ja noch mehr als ein Jahr Zeit uns dazu Gedanken zu machen. Nur wir sollten uns auch damit auseinandersetzten, nicht auf den letzten Drücker. Obendrein, noch bin ich nicht angenommen.“

„Ich verstehe. Darf ich Fragen, was du noch zu erledigen hast?“

„Och, das ist kein Geheimnis. Ich werde unseren Klavierlehrer Volker zu dem Konzert nach Mailand einladen und ihm dort die Leviten lesen. Er hat mit seiner Bemerkung, er würde sich freuen wenn ich auf die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden ginge, ganz schön veralbert. Du sagtest ja, er habe meine Bewerbung hier her geschickt, ergo hatte er vor mich hier unterzubringen.“

„Wie kann denn Herr Kramer auf deren Entscheidung Einfluss nehmen?“

„Das ist für ihn nicht schwer. Er und Mr. MacCollins haben hier gemeinsam studiert und werden regelmäßig zu den Sommercamps der Royal Academy of Music eingeladen.“

„Dann verstehe ich nicht, warum er nicht auch in der Jury war?“

„Einmal weil ich sein Protegé bin. Keine Einflussnahme bei Bewerbungen! Ist sein Prinzip. Daraus ergibt sich auch Zweitens: Er kennt meine Fähigkeiten und vertraut mir. Nicht jedem seiner Schüler würde er diese Hochschule empfehlen.“

„Aber warum will er dich hier her schicken?“

„Andreas, er kann mir nicht mehr sehr viel beibringen. In seinem Musikunterricht geht es nicht mehr nur um die Spieltechnik an sich, sondern um die Philosophie die hinter einer jeden Komposition steht. Hier in London lerne ich Musik und Musiker aus aller Welt kennen. Sie können mich sowohl technisch als auch philosophisch weiter bringen, als es in Deutschland – seiner Meinung nach – möglich wäre. Außerdem möchte er mich einfach ins kalte Wasser schubsen, damit ich die Welt kennenlerne.“

„Langsam dämmert es mir.“

Carsten grinste nur. Max schien auch schon ihr Bad beendet zu haben, denn sie kam entspannt auf die Jungs zu. Noch einmal kräftig schütteln und sich das feuchte Fell kraulen lassen. Andreas holte sein Handy hervor und bestellte den Chauffeur.

Während sie warteten, balgte Carsten mit Andreas und Max auf der Grünfläche herum. Sie endeten erst, als sich Mr. Taylor räusperte. Andreas sah in eine verschmitzte Miene. Dann packten sie ihre Sachen und räumten das Feld.

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