Manny – Teil 2

Erschrocken starrte ich den Mann an, der sich vor mir aufgebaut hatte und mit einem weißen Umschlag vor meinem Gesicht wedelte.

„Bitte?“

„Falls ihnen finanzielle Probleme dadurch entstehen, hier ein kleiner Bonus, damit sie über die Runden kommen!“

Erst jetzt, als ich mir das Gesicht meines Gegenübers genauer ansah, bemerkte ich gewisse Ähnlichkeiten zu Levi und ich wusste sofort, wen ich da vor mir hatte. Wut stieg in mir auf, aber ich versuchte ruhig zu bleiben.

„Mr. Scott… sie sind doch Mr. Scott?“

Volltreffer! Darauf sagte Levis Großvater nichts, nur sein Gesicht nahm an Röte zu.

„Ich wüsste nicht, warum ich diesen Job kündigen sollte und vor allem, was sie das angeht?  Ich bin bei Mr. Levi Scott angestellt und nicht bei ihnen! Die Arbeit macht Spaß und die Zwillinge sind liebe Kids und ich werde…“

Der Herr schien wütend zu werden, holte schon tief Luft und wollte etwas sagen, aber dazu ließ ich es nicht kommen, denn ich redete einfach weiter.

„… Levi hiervon nichts erzählen! Ach … ihre Almosen, können sich sonst wo hin stecken! Guten Tag der Herr!“

Nachdem ich mir Luft verschafft hatte, ließ ich ihn einfach stehen und machte mich auf den Rückweg. Dann fiel mir noch etwas ein und ich drehte mich noch einmal zu ihm um. Er war immer noch da, wo ich ihn hatte stehen lassen.

„Eine Frage noch… haben sie die Nummer auch bei meinen Vorgängerinnen abgezogen?“

*-*-*

Ich saß auf meinem Bett und war fassungslos. Was bildete sich dieser Arsch überhaupt ein? Immer mehr konnte ich Levi verstehen, warum er mit diesem Mann im Klinsch lag. Sollte ich es Levi doch erzählen? Nein, das gab nur noch mehr Ärger und die Zwillinge mussten es dann ausbaden.

Aber mit irgendjemand, musste darüber ich reden. Mum wollte ich nicht schon wieder behelligen, auch wenn sie immer Rat wusste.

„Marcus?“

Das war Noah.

„Ja?“

Er kam in mein Zimmer.

„Ich habe alle Figuren ausgeschnitten und wollte sie hinten anmalen, aber die Farbe bleibt nicht drauf.“

In seinen Händen hielt er all die Figuren, die auf dem Karton abgebildet waren und seine Finger waren kunterbunt. Er ließ die Bilder einfach auf meinen Schreibtisch fallen. Ich sah erst zu dem Berg Tiere und dann zu Noah.

„Komm, erst mal Hände waschen“, sagte ich und zog ihn in mein Bad.

Ohne Murren kam Noah mit. Kurz verdrängt war der Vorfall von vorhin, denn es stellte sich als schwierig heraus, die Farbe abzubekommen.

Spätestens, als ich aber wieder ins Zimmer zurück lief und den vollen Rucksack sah, war die Erinnerung an Noahs Opa wieder da. Ich schloss kurz die Augen, atmete tief durch und besann mich Besseres. Noah hatte jetzt Vorrang!

„Noah, Tante Katie sagte doch etwas von einem Haus.“

„Da war keins drauf!“

Damit meinte er den Karton.

„Und wenn du eins selber malst und dann all die Figuren dazu klebst.“

Fragend schaute mich der Junge an.

„Dann hast du schon das erste Bild für dein neues Zimmer, das wir aufhängen können.“

„Kann kein Haus malen“, drang es aus Noahs Schmollmund.

Dann fiel mir etwas ein.

„Wo ist das Hasenbuch?“

„In Wohnzimmer…“

„Kannst du es holen, aber…“

Wiedermal war Noah schneller und ich konnte das „leise“ nicht mehr aussprechen. Natürlich war es nicht zu überhören, als er die Treppe hinunter rannte.

„Noah!“, hörte ich Levis mahnende Worte von oben und ich kniff mein Gesicht zusammen, weil ich zu langsam war.

Deutlich leiser und außer Puste kam Noah zurück und gab mir das Hasenbuch. Ich blätterte kurz darin und wurde fündig.

„Wo wohnen die Hasen?“

Ich hielt Noah das Buch hin.

„Haus…“, gab der Junge zur Antwort.

Ich schob die Figuren zur Seite und legte das Buch ab. Dann zog ich den großen Block hervor und bunte Bleistifte.

„Versuch es!“, meinte ich zu Noah und zog ihn zum Stuhl.

„Nimm den Bleistift und mal erst mal das Haus so. Wenn du einen Fehler machst, kannst du es neu malen und musst nicht immer von vorne anfangen.“

Zwei oder dreimal zeigte ich Noah, wie er mit dem Radieren einen Fehler korrekieren konnte. Danach machte er es von alleine. Es war mir schon beim Basteln aufgefallen, dass Noah ziemlich schnell lernte.

Warum hatte das bisher noch niemand fest gestellt? Hatte niemand den Jungen richtig gefordert? Leider wusste ich nicht, was in der Vergangenheit alles gemacht, oder versäumt wurde.

Ein weiteres Gespräch mit Levi stand also an. Aber mit dem Gedanken im Hinterstübchen, was sein Großvater sich heute geleistet hatte, konnte und wollte ich nicht mit ihm sprachen.

„Mach ich das richtig, Marcus?“

Der Junge riss mich aus den Gedanken.

„Äh…, ja, dass sieht wirklich gut aus.“

„Und was mache ich dann?“

„Wenn du es so lassen willst, dann nehmen wir den Stift“, ich nahm den schwarzen Filzstift, „und du fährst alle Linien, die du jetzt mit Bleistift gemalt hast nach. Guck, hier im Buch, da ist auch alles mit schwarzen Rand.“

Ich fuhr mit meinem Finger die Linien im Buch nach.

„Aber an deinem Bild fehlt noch etwas!“

„Was?“, fragte Noah und schaute mich mit großen Augen an.

„Wenn deinen Figuren kalt ist und möchten ein Feuer im Wohnzimmer machen…, wo geht dann der Rauch hin?“

Ich tippte auf das Bild im Buch.

„Der Kamin!“

„Und wo ist dein Kamin?“

„… den habe ich vergessen…, aber den kann ich doch nicht mehr hin malen.“

„Doch, kannst du!“

Ich nahm den Bleistift und zeichnete den Kamin hinter die Dachlinie, so dass es aussah, als wäre er auf der Rückseite. Noah strahlte mich an. Es dauerte noch eine weitere halbe Stunde, bis alle Figuren das Bild säumten.

„Morgen gehen wir einen Rahmen dafür kaufen, okay?“

„Ja!“, lächelte Noah stolz.

„So und jetzt Hände waschen, gleich gibt es Abendessen!“

*-*-*

Ich hatte Michael eine kurze Nachricht geschickt, sonst fiel mir auf die Schnelle niemand ein, mit dem ich jetzt reden konnte. Was mich geritten hatte, das zu tun, wusste ich auch nicht recht.

Wir waren uns die letzten Tage näher, als in den letzten fünf Jahren und doch hatte ich plötzlich das Gefühl, dass Michael hierfür der Richtige war. Er wollte mich in einer halben Stunde in einer Kneipe zwei Straßen weiter treffen.

Woher er die kannte, war mir nicht bekannt. Auch nicht, dass Michael hier in Brooklyn Hights verkehrte. Zugegeben, ich wusste recht wenig über meinen Bruder, wie bei den anderen beiden auch.

Aber ich konnte nicht sagen, dass es mich in der Vergangenheit auch groß interessiert hätte. In dieser einen letzten Woche, nach meinem Auszug, hatte sich plötzlich so viel geändert. Während Noah schon schlief und auch der Rest wohl in ihren Zimmer waren, schnappte ich mir meinen Schlüssel und lief leise nach unten.

„Nanu, du gehst noch weg?“, hörte ich plötzlich Levis Stimme.

Ich zuckte zusammen, wie ein kleiner Schuljunge, den man gerade bei etwas erwischt hatte.

„Ähm, ja… ich treffe mich noch mit meinem Bruder.“

„Hast du nicht gesagt, du stehst nicht so gut mit deinen Brüdern.“

„Manchmal geschehen eben Wunder…, er will mit mir über etwas Privates reden“, log ich.

„Dann wünsch ich dir noch einen schönen Abend!“

„Danke…, bye!“

„Bye!“

Und schon war ich aus dem Haus und atmete tief durch. Warum so eine Geheimniskrämerei, ich hatte nichts zu verbergen. Oder doch, Levi war ja der Grund, warum ich mit Michael reden wollte.

Zügig lief ich die zwei Straßen weiter, bis ich endlich die genannte Kneipe fand. Ich schaute mich um, aber kein Mike war zu sehen. Nervös tippelte ich von einem Fuß auf den anderen. Nicht weil ich auf Mike wartete, nein, weil mich plötzlich der Zweifel überkam, ob ich das Richtige machte.

„Hallo Kleiner!“, hörte ich es hinter mir und ich fuhr zusammen.

„He, warum so schreckhaft, hast du etwas angestellt?“

„Ähm hallo Mike, nein habe ich nicht, oder ich weiß nicht Recht.“

Mein Bruder verzog fragend sein Gesicht.

„Lass uns da hin sitzen…, was möchtest du?“, fragte Mike.

Ich folgte ihm, an einen der wenig freien Tische.

„Was gibt es hier?“

„Alles was dein Herz begehrt!“, grinste Mike.

„Als wüsstest du darüber Bescheid!“

Ich ließ mich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Sofort kam eine Bedienung. Mike bestellte einfach zwei Bier, ohne mich weiter zu fragen. Dann wartete er, bis die junge Dame verschwunden war und beugte sich etwas vor.

„So, wo drückt der Schuh?“

Ich schaute mich kurz um, als hätte ich etwas zu verbergen.

„Ich habe erfahren, dass Levi, mein Boss mit seinem Großvater zerstritten ist. Er hat ihn sogar wegen dem Sorgerecht wegen der Zwillinge vor Gericht gezehrt.“

„Na und, so etwas kommt in den besten Familien vor.“

„… aber eben dieser Großvater stand heute plötzlich vor mir, als ich einkaufen war.“

„Und was wollte er von dir?“

„Das ich kündige…!“, sagte ich etwas leiser.

„Was?“, kam es dann so laut von Mike, dass sich an den Nachbartischen einige zu uns drehten.

Ich verzog das Gesicht und schloss die Augen. Ich sehe euch nicht, ihr seht mich nicht, kroch es durch meinen Kopf.

„Ich glaube ich bin falschen Film“, kam es deutlich leiser von Mike, „fehlt nur noch, dass er dir Geld geboten hat!“

Die Bedienung kam zurück und servierte das Bier. Auch eine kleine Schale mit Erdnüssen wurde auf den Tisch gestellt.

„Ich habe noch nichts gegessen? Habt ihr noch diese leckeren Sandwiches?“

„Hühnchen oder Schwein?“, fragte die Dame.

„Hühnchen!“

„Kommt sofort!“

„Danke.“

Die junge Dame verschwand wieder. Mike nahm sein Bier und prostete mir zu, bevor er daraus trank.

„Das hat er…“, erzählte ich weiter.

„Was?“

„Geld geboten.“

Geschockt schaute mich Mike an.

„Wie viel?“

„Weiß ich nicht, ich habe nicht in den Umschlag geschaut.“

„Ich fass es nicht, an wen bist du denn da geraten?“

Auch ich trank einen Schluck Bier. Schön kühl, so richtig gut.

„Auch das ist mir nicht bekannt!“, sprach ich weiter, „Ella hat mir erzählt, dass sie gehört hat, dass der Großvater Levi die Schande und das berühmte schwarze Schaf der Familie genannt hat.“

Mike fing an zu kichern.

„Was?“

„Da seid ihr ja schon zwei!“

„Haha! Gar nicht lustig!“

„Finde ich schon! Warum erzählst du mir das überhaupt?“

Wieder wurden wir unterbrochen, Mike bekam sein Sandwich. Brav wartete ich, bis wir wieder alleine am Tisch waren.

„Weil ich nicht weiß, was ich machen soll?“

„Nimm das Geld und bleib trotzdem dort!“, antwortete mein Bruder trocken.

„Mike!“

Warum hatte ich die verrückte Idee, dass alles Mike zu erzählen?

„Ich meine das ernst, Mike. Soll ich das Levi erzählen, oder nicht?“

„Was hast du zu dem Alten gesagt?“, fragte Mike und machte sich über sein Sandwich her.

„Dass es ihn nichts angeht, mir die Arbeit Spaß machen würde und ich keinen Grund sehen zu kündigen. Und…, dass ich auf seine Almosen sonst wo hin stecken kann!“

Mittlerweile war das halbe Sandwich schon verschwunden.

„Älter, dem hast du es aber gegeben, wie hat er reagiert?“

„Weiß nicht, habe ihn einfach stehen lassen.“

Der Teller mir gegenüber war geleert.

„Sag mal, hat Mum zu wenig gekocht, weil du so einen Hunger hast?“, fragte ich verwundert.

„Weiß nicht, ich habe nichts zuhause gegessen.“

„Warum?“

„Weil ich keine Zeit dazu hatte. Der alte Herr meinte, mir euren Auftrag auf Auge drücken zu müssen! Ich solle mich darum kümmern, für so etwas hat er keinen Nerv!“

Ich wusste nicht, warum gerade diese Aussage plötzlich so weh tat.

„Bin ich dem Alten so zuwider, dass er nicht mal diesen Auftrag ausführen will?“

Mikes Stirn fiel in Falten.

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Du kennst das Verhältnis zwischen Dad und mir!“

„Das hat doch damit nichts zu tun! Es geht nur um Oliver, wie immer!“

Das war mir neu.

„Was hat Oliver dann damit zu tun?“

„Er führt sich jetzt schon auf wie der Chef! Und jetzt wo er ausgefallen ist, betreibt Dad Schadensbegrenzung!“

„Schadensbegrenzung?“

Mike seufzte. Davon hatte Mum mir bisher nichts erzählt. Ich wusste, dass es in der Schreinerei ab und wann Streit gab, aber dass es so schlimm war, hätte ich nicht gedacht.

„Er hat wohl ein paar Aufträge zu viel angenommen und sich nur halbherzig darum gekümmert und Dad versucht jetzt, alles gerade zu biegen.“

„Das wusste ich nicht.“

„Wie denn auch? Dich haben die Belange der Firma ja nie interessiert!“

„Habt ihr deswegen immer Streit mit mir angefangen?“, fragte ich traurig.

„Weiß nicht“, kam es tonlos von Mike.

Ich atmete tief aus und war den Tränen nahe. Warum nahm mich das auf einmal so mit? Als ich noch zuhause wohnte, war mir das egal gewesen.

„Vielleicht war es… keine so gute Idee, euch den Auftrag zu vermitteln. Ich will nicht noch mehr Ärger provozieren!“

Mike sah mich durchdringend an.

„Bist du verrückt? Das ist so ein geiler Auftrag und endlich kann ich mich mal austoben und es so machen, wie ich will.“

Das verstand ich jetzt nicht.

„Wieso, das ist doch nicht dein erster Auftrag…?“

„Ich sehe schon, du weißt wirklich nicht, was in der Firma läuft. Dann lass mich dich mal aufklären!“

Mit großen Augen sah ich meinen Bruder an.

„Wie schon gesagt, Oliver führt sich wie ein Chef auf, Dad hält alle Fäden in der Hand und William und ich sind“, Mike machte eine kurze Pause, „vielleicht besser gestellte Arbeiter, mehr nicht!“

„… und ich darf zuhause machen was ich will…“, sagte ich mehr zu mir, als zu meinem Bruder.

Darauf entgegnete Mike nichts, er schaute nur nachdenklich. Aber ich war auch über meine Entscheidung froh, nicht in die Schreierei mit einzusteigen.

„Ich habe dich eigentlich nur geärgert, um dich besser abzuhärten…, dass du den Attacken deiner Brüder standhältst.“

Ich wusste jetzt nicht, ob ich lachen sollte. Meinte er das ernst?

„Ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll?“, änderte ich das Thema.

„Weiter arbeiten, nur wenn der Alte dich nochmal belästigt, solltest du dir überlegen, ob du nicht doch mit deinem Chef darüber redest.“

„Um noch mehr Ärger zu provozieren?“

„Gibt es sonst niemanden, an den du dich in der Sache wenden könntest…, keine anderen Verwandten?“

„Eine Tante kenne ich noch…“

*-*-*

Im Gedanken versunken betrat ich das Haus. Es war still, nur die kleine Lampe auf dem Board brannte noch. Hatte Levi die für mich angelassen? Ich zog meine Schuhe aus, hängte meine Jacke auf und löschte das Licht.

Leise schlich ich mich nach oben. Mike wollte sich bei mir in den nächsten Tagen melden, wenn er die ersten Entwürfe fertig hatte. Etwas müde betrat ich mein Zimmer. Das Gespräch hatte doch mehr an mir gezehrt, als ich dachte.

Sollte ich wirklich mit Levis Tante darüber reden, wie Mike vorschlug. Ich schloss die Tür und ließ mich auf mein Bett fallen. Sollte sie nicht erfahren, warum so viele, vielleicht von diesem Job abgesprungen waren?

Eigentlich war es nur eine Vermutung meinerseits, dass Levis Großvater, mit meinen Vorgängerinnen, die gleiche Vorgehensweise vollführte, wie mit mir. Aber je länger ich darüber grübelte, umso sicherer war ich mir.

Zutrauen würde ich ihm das allemal. Ich setzte mich auf. Morgen wollte ich wieder früh aufstehen und laufen, also hieß es, mich bettfertig machen. Schnell durchlief ich das Bad und kam nur in Shorts zurück.

Als ich gerade ins Bett wollte, klopfte es leise an der Tür.

„Ja?“

Levi streckte seinen Kopf herein.

„Wollte nur sehen, ob du wieder gut zurück gekommen bist, schließlich kennst du dich ja noch nicht so gut aus.“

Was sollte das jetzt? Levis Blick wanderte an mir herunter.

„Kein Problem, wie du siehst, bin ich wohl behalten zurück gekehrt.“

„Alles klar jetzt mit deinem Bruder?“

„Ja! Wir haben uns überraschen gut unterhalten.“

„Freut mich zu hören…, ähm… dann mal gute Nacht!“

„Gute Nacht!“

Lächelnd zog er die Tür zu. Verwirrt starrte ich auf die geschlossene Tür.

*-*-*

Das Gespräch mit meinem Bruder, hätte mich wahrscheinlich um die halbe Nacht gebracht, wenn da nicht mein Boss aufgetaucht wäre und mir, mit seinem seltsamen Benehmen, Rätsel aufgab. Grübelnd schaute ich in das Dunkel der Nacht.

Da mein Zimmer hinten raus lag, gab es keine Beleuchtung von draußen, wie die vorderen Zimmer, die zur Straße zeigten. Trotzdem hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt.

Leicht konnte ich die Umrisse der Lampe an der Decke sehen. Wie schaffte es Noah, hier immer unbeschadet herüber zu kommen? Noah, der Bruder von Levi. Wieder hing mein Gedanke bei meinem Boss.

Bei jedem anderen Mann hätte ich gesagt, der versucht mit mir zu flirten! Aber warum schreckte mich der Gedanke im Bezug auf meinen Chef zurück? Levi schwul? Es würde zumindest erklären, warum sein Großvater ihn als Schande der Familie bezeichnete.

Aber ich sah keinen Grund, warum der Großvater auch die Geldnummer mit meinen Vorgängerinnen abgezogen hätte. Auch wenn ich mir sicher war, dass er das tat, denn es ist kein Zufall mehr, wenn zwanzig Personen hier nichts gehalten hat.

Mein Entschluss stand fest, ich musste mit Levis Tante, Mrs. Williams reden. Sie kannte sicher die Familienverhältnisse und es wäre gut, wenn ich irgendwie eine Verbündete in dieser ganzen Sache hätte.

Denn ich war mir sicher, es war sicher nicht das letzte Mal, dass ich diesen Herrn zu Gesicht bekam.

*-*-*

Levi hatte ich nur gesagt, das ich mit Noah einen Ausflug in die Stadt mache, wohin erzählte ich nicht. Meine wahren Beweggründe verschwieg ich natürlich. Außerdem wusste ich, dass Noah sich sicher freute, wenn er seine Tante sehen würde.

Aber etwas anderes machte mir gerade Sorgen, ich wusste nicht, ob ich es überhaupt bis zu Mrs. Williams schaffte. Was mir vorher aber nicht bewusst war, Noah war noch nie mit der U-Bahn gefahren und hatte dementsprechend Angst, überhaupt die Haltestelle zu betreten.

Sie war ihm einfach zu dunkel, zu laut und mit zu vielen Leuten bestückt. Mit Engelszungen musste ich ihn dazu überreden, mit mir die Rolltreppe hinunter zu fahren, um wenigstens die fahrenden Züge anzuschauen.

Es dauerte eine weitere dreiviertel Stunde, bis ich ihn dazu bewegen konnte, mit mir einen Waggon zu betreten. Ich gab ihm den Fensterplatz, damit er nach draußen sehen konnte. Aber außer den vorbei flitzenden Lichtern des Tunnels konnte er eh nichts sehen.

Zumindest hatte ich ihn aber vom Gang weg. Dass er immer noch Angst hatte spürte ich daran, dass er fast meine Hand zerquetschte, die er, seit Betreten der Haltestelle nicht losließ. Dieser Zustand musste ich wohl oder übel, noch fünf weitere Stationen ertragen.

Spätestens nach der dritten Station, entspannte sich Noah etwas, er lächelte ein wenig und schaute nun auch interessiert durch den Wagen. Ich hoffte, dass ich mir dieser Aktion nicht zu großen Ärger einhandelte, denn ich war mir sicher, Noah würde zu Hause wieder alles brüh warm erzählen.

Wir brauchten noch fast eine weitere halbe Stunde, bis wir den Wolkenkratzer erreichten, in dem sich die Agentur befand.

„Das tut weh“, meinte Noah plötzlich neben mir.

„Was tut weh?“

„Da hoch schauen!“

Er zeigte die Außenfassade des Gebäudes entlang nach oben.

„Moment“, meinte ich, zog ihn vor mich und lehnte seinen Hinterkopf gegen meine Schulter.

„Besser?“

„Ja“, kicherte er.

„Sollen wir da hinein gehen?“

„Dürfen wir das?“

„Ja, denn wir besuchen jemanden.“

„Wen?“

„Deine Tante Vanessa!“

„Tante Vanessa wohnt nicht in so einem Haus.“

Also kannte er das Haus in dem seine Tante wohnte.

„Nein, aber hier arbeitet sie!“

Wenig später bestieg ich mit Noah den Aufzug. Ich ließ ihn den Knopf drücken, um ihn etwas die Angst zu nehmen. Als das Ding losfuhr, klammerte er sich an mich. Aber wie immer war die Fahrt nach oben recht schnell zu Ende und die Tür öffnete sich wieder.

Mit dem Wissen, dass seine Tante hier arbeitete, ertrug er diese weitere Hürde, aber er strahlte bereits wieder. Ich lief mit ihm den Flur hinunter, den ich bereits letzte Woche genommen hatte, um bei der Agentur vorstellig zu werden.

Als ich die Glastür aufdrückte, wollte Noah schon lostürmen, aber ich hielt seine Hand eisern fest. Ich beugte mich etwas zu ihm hinunter.

„Noah, Moment, hier muss man sich, wie bei Levi in der Firma, erst anmelden, dann kannst du zu Tante Vanessa“, flüsterte ich.

Der Junge nickte und ging mit mir zur Theke, hinter der ein bekanntes Gesicht saß.

„Oh, hallo Mr. Brown, was führt sie zu uns, sie haben doch gar kein Termin?“

„Nein, ich bin privat hier, weil der Junge hier, Noah, seine Tante besuchen möchte.“

Das war zwar jetzt gelogen, aber irgendwie musste ich ja an mein Ziel kommen.

„Das ist Noah? Ich habe bei Mrs. Williams bisher nur Babybilder gesehen…“

Also wusste sie wohl auch, an welche Familie ich vermittelt worden war.

„Einen Moment bitte!“, sagte sie nur und griff nach dem Hörer vom Telefon.

Noah machte auf sich aufmerksam, in dem er an mir zog.

„Wann dürfen wir den endlich zu Tante Vanessa?“, flüsterte er.

„Gleich Noah, gleich!“

Dann ging alles recht schnell. Ich sah aus dem Augenwinkel heraus, wie jemand eines der Büros verließ und drehte mich in die Richtung. Anscheinend eine Arbeitssuchende, denn kurz hinter ihr tauchte Mrs. Williams auf.

„Noah!“, hörte ich sie rufen.

Jetzt war Noah wirklich nicht mehr zu halten. Er riss sich los und rannte zu Mrs. Williams.

„Hallo Tante…“, rief er dabei laut.

Die Dame hinter der Theke beobachte wie ich die Szene, lächelte kurz und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Noah kam mit seiner Tante auf mich zu.

„Das ist ja eine Überraschung, hat euch Levi hergefahren?“

„Nein, wir sind mit dem Zug im Dunkeln gefahren!“

„Ihr seid mit der U-Bahn hergekommen?“

Mrs. Williams war wohl Noahs Sprachstil gewohnt, weil sie sofort wusste, was er meinte. Die Frage galt wohl eher mir. Ich nickte ihr zu.

„Hallo Mrs. Williams.“

„Hallo Marcus, das ist wirklich eine Überraschung“, sagte sie laut, „oder hat dieser Besuch einen anderen Grund?“

Die Frage wurde leiser gestellt. Man war die Frau gut! Aber sie sagte ja bereits, dass sie über gute Menschenkenntnisse verfügte. Mit großen Augen schaute ich sie an.

„Clarissa wärst du so nett, würdest mir zwei Kaffee und eine heiße Schokolade für meinen Neffen besorgen.“

„Kommt sofort, Mrs. Williams und soll ich ihre Termine etwas verschieben?“

„Wenn du mir eine halbe Stunde verschaffen könntest…?“

„Kein Problem!“

„Danke Clarissa, du bist ein Engel!“!“

„Nichts zu danken, Mrs. Williams. Sie haben mir übrigens gar nicht erzählt, dass sie so einen feschen Neffen haben.“

„Nicht?“, fragte Mrs. Williams lächelnd und wuschelte dem ungeduldigen Noah über den Kopf, dessen Hand sie die ganze Zeit gehalten hatte.

Levi blieb unerwähnt.

„So und jetzt zeige ich dir, wo ich arbeite, Noah.“

„Au ja!“, kicherte Noah und schon war ich vergessen.

Schmunzelnd folgte ich den beiden.

*-*-*

Wo Vanessa, wie ich sie jetzt nennen durfte, so plötzlich ein Malbuch mit Buntstiften herzauberte, wusste ich nicht. Noah lag auf dem Boden, malte und im sicheren Abstand zu ihm, stand auf einen Tablett seine heiße Schokolade.

„So Marcus, was ist der wahre Grund, warum sie hier auftauchen?“, kam Vanessa gleich auf den Punkt.

„Warum muss ich einen Grund haben?“, fragte ich scheinheilig.

„Weil sie die beschwerliche Fahrt mit der U-Bahn auf sich genommen haben und nicht Levis Fahrdienst nutzen! Ich weiß aus eigener Erfahrung das der Junge nicht einfach zu führen ist!“

Da hatte sie Recht.

„Okay, sie haben gewonnen Vanessa, ich habe ein Problem, bei dem ich nicht weiter weiß.“

„Geht es um Levi?“

„Nicht direkt…“

Fragend schaute sie mich an.

„Es geht um Levis Großvater…“

Vanessas Gesichtsausdruck wurde ernst.

„Haben die beiden wieder das Streiten angefangen, oder…“

Sie wusste also Bescheid.

„Nein!“, fiel ich ihr ins Wort, „ich habe alleine ein paar Einkäufe getätigt und dann stand plötzlich Mr. Scott vor mir.“

„Bei ihnen?“, fragte Vanessa verwirrt.

„Ja… ähm… er meinte ich solle kündigen und bot mir Geld an.“

„WAS?“

Selbst Noah zuckte zusammen und schaute zu uns herüber, als Vanessas schrille Stimme erklang. Sie lächelte den Jungen an und dieser widmete sich wieder seinem Malbuch. Deutlich leiser Sprach sie weiter.

„ … und er hat ihnen wirklich Geld geboten?“

„Nicht nur das…, ich vermute mal, dass er dies auch so bei meinen Vorgängerinnen gehandhabt hat, oder warum sind so viele abgesprungen?“

„Da ist etwas dran, Marcus, und ich zweifelte schon an mir, dass ich gänzlich meine Menschenkenntnisse verloren habe.“

Ich musste bei der letzten Bemerkung grinsen.

„Warum kommen sie damit zu mir?“

„Weil ich nicht weiß, was ich machen soll.“

„Ich gehe davon aus, sie haben Levi nichts davon erzählt…?“

Ich nickte.

„Dieser Mensch, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, war noch nie ein nettes Individuum. Meine Schwester hat sehr unter ihm gelitten. Nach seiner Ansicht war sie nie gut genug für seinen Sohn, also der Vater von Levi und den Zwillingen.“

Sie schaute mitleidig zu Noah.

„Das Noah behindert ist, dafür gab er ihr auch die Schuld“, kam es noch leiser.

Fassungslos schüttelte ich den Kopf.

„… und das ging dann über auf Levi, weil er seiner Mutter so ähnlich war…?“, folgerte ich daraus.

„Nein, das hat andere Gründe, die Levi ihnen mal… irgendwann selbst erzählen sollte. Ich möchte da einfach nicht vorgreifen.“

Mein Handy klingelte.

„Moment“, meinte ich und zog es heraus.

Levi. Ich nahm das Gespräch entgegen.

„Ja… hallo Levi.“

Vanessa zog die Augenbraun hoch.

„… ähm wo wir sind…?“, brabbelte ich seine Frage nach.

Mein Gegenüber gab mir Zeichen, dass ich ihr das Handy reichen sollte. Ich drückte auf die Lauttaste und legte das Handy auf den Tisch.

„Hallo Levi“, sagte Vanessa grinsend.

„Tante Vanessa? Wie kommst du zu Marcus und Noah?“

„Du, ich war selbst überrascht, als die beide hier ankamen?“

„Sie sind bei dir, aber wie…?“

„Noah sagte er ist mit dem Zug im Dunkeln gefahren!“

„Sie sind U-Bahn gefahren…? Noah ist noch nie mit der U-Bahn gefahren!“

Der Junge, von der Stimme seines Bruders angelockt, stand plötzlich neben mir.

„Levi, fährst du auch mal mit mir in dem Zug im Dunkeln? Das macht Spaß, da sind so viele Lichter, die blinken“, fragte Noah.

Blinken? Ich verstand erst nicht, aber mir viel ein, dass bei der schnellen Fahrt, die vorbei huschenden Lampen aussahen, als würden sie blinken.

„Können wir machen, Noah…, ich würde ja jetzt selbst kommen, aber ich bin noch in der Firma…“

„Kein Problem, Noah und ich nehmen wieder die U-Bahn“, meinte ich.

„Wird dir das auch nicht zu viel, Marcus, der Junge wird schnell müde!“

Vanessas Augenbraun wanderten erneut nach oben. Noah lag bereits wieder bei seinem Malbuch.

„Nein, das ist kein Problem. Keine Sorge…“

„Okay, dann sehen wir uns zum Mittagessen wieder. Dir Tante Vanessa noch einen schönen Tag und ganz viele liebe Bewerberinnen!“

„Wie überaus lieb von dir Levi!“

Ich grinste. Der sarkastische Unterton war nicht zu überhören.

„Mal sehen, vielleicht schaue ich heut Abend noch vorbei.“

„Sollen wir etwas Feines kochen?“

„Nein lass mal, ich melde mich noch, wie ich es einrichten kann.“

„Dann vielleicht bis heute Abend!“

„Bye Levi!“

„Bye Tante Vanessa, Marcus und NOAH!“

„Bye Levi!“, sagte Noah und ich fast gleichzeitig.

Ich drückte das Gespräch weg und ließ das Handy wieder verschwinden.

„Ich bin überrascht, wie gut Levi mit ihnen zurechtkommt. Er hat zwar täglich mit Kundschaft zu tun, aber mit Fremden tut er sich eigentlich fast so schwer, wie Noah.“

„Wirklich? Das ist mir noch nicht aufgefallen!“

Dass es gerade das Gegenteil davon war, das Levi sich nur von seiner freundlichen Seite zeigte, ließ ich unerwähnt. Wieder kam der Verdacht auf, dass Levi wie ich schwul war. Auch Vanessas Bemerkung über die Gründe ließ mich darauf schließen.

„Aber wir werden uns dann mal auf den Weg machen…“, meinte ich, „wenn wir pünktlich zum Mittagessen zurück sein wollen.“

„Reden sie mit ihm!“, sagte Vanessa ernst, „es gibt nichts Schlimmeres, wie ungelöste Probleme.“

„Auch wenn es einen erneuten Streit mit seinem Großvater hinterher zieht?“

„Ich kenne meinen Neffen gut genug, dass er sich im Zaum halten kann. Es ist ja nicht die erste Provokation, die sein Großvater startet! Woher wissen sie eigentlich, dass die beiden im Streit liegen?“

„Am Sonntag kam Levi wieder zurück, als er die Zwillinge bei den Großeltern abgesetzt hatte. Auf meine Frage, warum er wieder dort geblieben sei, antwortete er, er ist dort unerwünscht. Und Ella erzählte mir, dass Mr. Scott und Levi sich oft streiten, dass er die Firma verkaufen wollte und das Sorgerecht für die Kinder beantragt hatte.“

„Das hat ihnen Ella erzählt? Was hat das Kind alles mitbekommen?“

„Ella ist fünfzehn, als kein Kind mehr. Sie ist schlau und hat bei dem Gehörten, einfach eins und eins zusammen gezählt.“

„Das tut mir leid. Ich bin froh, dass Ella mit ihnen darüber reden konnte, Marcus.“

„Für so etwas wurde ich angestellt.“

„Ja, da war meine Entscheidung ja richtig gewesen, sie in der Familie unterzubringen!“

„Und warum sagten sie mir dann nicht vorher, dass sie mit dieser Familie verwandt sind?“

*-*-*

Der Rückweg schien mir etwas leichter, auch wenn Noah bereits erste Ermüdungserscheinungen zeigte. Wir trafen zeitgleich mit Levi am Haus ein. Noah konnte ich gerade noch bremsen, als er sein Bruder bemerkte, der gerade auf der Gegenseite, den Wagen einparkte.

An seiner Shirtmütze zog ich ihn zurück.

„Noah immer erst schauen, ob ein Auto kommt, wenn du über die Straße läufst!“

„Sagt Levi auch immer“, schmollte der Junge.

„Warum machst du es dann nicht?“

Meine Ärgerlichkeit ließ den Jungen etwas zurückweichen. Ich atmete tief durch und beugte mich etwas zu ihm hinunter.

„Noah, wenn du nicht schaust, könnte ein Auto kommen. Du weißt wie schnell die sind und du könntest dich verletzten.“

Noah sagte darauf nichts und nickte nur. Ein Piepton verriet mir, dass Levi das Auto verschlossen hatte.

„Marcus hat Recht Noah! Ich könnte mir nie verzeihen, wenn dir etwas passiert!“

Er nahm seinen Bruder in den Arm.

„Komm gehen wir rein, Sofia wartet sicher schon mit dem Essen auf uns! Sie hat etwas von Spaghetti gesagt.“

„Spaghetti?“, schrie Noah laut und rannte schon die Treppe hinauf.

Dann sah Levi zu mir.

„Wir sollten uns mal später unterhalten!“, meinte er dann ernst.

Das hörte sich nicht gut an. Hatte ich wieder eine Grenze überschritten? Stirnrunzelnd folgte ich ihm die Treppe hinauf.

Natürlich war das Hauptthema beim Mittagessen die U-Bahn und ich hielt mich eher zurück, denn Noah konnte wie immer sehr detailreich erzählen. Ich half der Köchin noch abräumen, während Levi mit seinem kleinen Bruder schon ins Wohnzimmer gewandert war.

Als ich das Wohnzimmer kam, lag Noahs Kopf auf Levis Schoss und schlief. Leise ließ ich mich auf dem Sessel nieder.

„Marcus, es ist eine Sache, dass ich dir die Freiheit gebe, mit Noah das zu machen, was du für richtig hältst, aber in Sachen Familie möchte ich doch wissen, was du tust. Warum hast du mir nicht erzählt, dass ihr zu Tante Vanessa fahrt?“

Er sprach leise, um Noah nicht zu wecken. Trotzdem hörte er sich sauer an.

„… private… Gründe?“

„Du bist gerade mal eine Woche hier und man könnte meinen, du gehörst schon immer zur Familie. Hat dir niemand gesagt, dass es auch Grenzen gibt?“

Ich atmete tief durch, denn hier lief eindeutig etwas falsch. Ich wollte nie so in diese Familie involviert werden.

„Und wenn ich ohne mein tun einfach über diese Grenze gezogen werde?“

„Was meinst du, ich verstehe nicht?“

„Dass ich gegen meinen Willen in familiäre Angelegenheiten hineingezogen werde!“

Levi schaute mich verwirrt an. Klar, er konnte es ja nicht wissen und ich verstand auch, warum er so reagierte.

„Es geht um deinen Großvater…“

„Gerade das ist ein Thema, dass dich überhaupt nichts angeht!“

„Das weiß ich, Levi und du kannst mir glauben, wenn ich das am liebsten ungeschehen machen würde.“

„Was ist geschehen?“

„… gestern…, ich war drüben im Key Food Market einkaufen und als ich heraus kam…, stand dein Großvater vor mir.“

„Und was wollte er?“, fragte Levi plötzlich kühl.

„Dass ich meinen Job kündige…“

„Ich fass es nicht…“, sagte Levi plötzlich und schaute grinsend durch die Luft, „was heckt dieser Mann noch alles aus? Warst du deswegen bei Tante Vanessa?“

Ich nickte.

„Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte… auf keinen Fall einen neuen Streit zu provozieren! Er hat mir Geld angeboten und ich…“

„Was…?“, fiel er mir ins Wort, „er hat dir Geld angeboten?“

„Ja und ich kann mir vorstellen, dass er das bei meinen Vorgängerinnen auch gemacht hat.“

Wieder lachte Levi verächtlich und schaut durchs Zimmer. Sein Blick wanderte wieder zu mir.

„Warum hast du das Geld dann nicht genommen und gekündigt?“

Das tat jetzt weh! Gut Levi kannte mich nicht gut genug, trotzdem sollte er so etwas nicht einfach sagen! Warum es mir nun auch noch die Tränen in die Augen trieb, warum mich das plötzlich so mitnahm, war mir nicht bewusst.

„Weil mir der Job Spaß macht, ich die Kids mag und sie mir nicht egal sind!“, warf ich ihm sauer an den Kopf, stand auf und verließ das Zimmer.

„Marcus…?“, hörte ich seine Stimme, aber ich reagierte einfach nicht darauf.

Ich schnappte mir Jacke und Schlüssel, schlüpfte umständlich in meine Schuhe und rannte aus dem Haus. War es das jetzt gewesen? Hatte es überhaupt noch einen Sinn hier weiter zu arbeiten? Jemand rief „Hallo Mr. Brown“, aber auch darauf reagierte ich nicht.

Ich lief einfach weiter, ohne darüber nachzudenken, wohin mich meine Füße trugen. Erst als mir eine frische Brise um die Nase wehte, merkte ich, dass ich an den East River gelaufen war.

Wie schon in der Woche zuvor, hatte ich die künstliche Insel halb umrundet und war nun bei den Bänken direkt am Wasser. Zerknirscht ließ ich mich nieder. Mein erster richtiger Job und gleich so ein Reinfall.

Hätte ich nicht doch noch lieber einige Kurse mehr besuchen sollen, bevor ich mich direkt ins Berufsleben stürzte? Diese verdammten hundert Prozent, die ich immer gleich gab, wenn mich etwas begeisterte.

Wie oft hatte mich das schon auf die Fresse fallen lassen, weil ich einfach handelte und nicht über die Konsequenzen nach dachte. Aber halt, hier war ich ja nicht mal schuld! Unfreiwillig wurde ich in eine Situation bugsiert, auf die ich liebend gerne verzichten hätte können.

Dass mein Handy schon wieder klingelte, nahm ich nur am Rande wahr. Mir war jetzt nicht mehr nach reden. Ich wollte einfach alleine sein, versuchen einen klaren Gedanken fassen, wie es jetzt weiter ging.

Plötzlich musste ich lachen. Ich hätte wirklich das Geld nehmen sollen, so wie es Mike spaßeshalber gesagt hatte. Abrupt verstummte mein Lachen wieder, denn das war nicht ich. Das Geld welches ich einmal verdienen würde, war für mich immer zweitrangig gewesen.

Es ging mir immer nur um den Job, um die Kids, denen ich helfen wollte. Aber mich so in Zeug zu legen, war dies nun ein Fehler? Erneut klingelte das Handy. Genervt zog ich es heraus und wollte es ausdrücken. Mum? Warum rief sie jetzt an?

„Mum?“, sagte ich, als ich das Gespräch entgegen nahm.

„Junge, wo bist du?“

„Warum… warum fragst du?“

„Weil mich eben ein total aufgelöster Levi angerufen hat, er hätte einen riesen Fehler gemacht!

„Levi… hat… dich angerufen?“, blabberte ich ihr nach.

„Ja! Was in Teufels drei Namen ist zwischen euch vorgefallen?“

Ich war irgendwie gerade nicht fähig etwas zu sagen.

„Marcus?“

„Ja?“

„Wo bist du?“

„… ähm East River…“

„Du bleibst wo du bist, ich bin bereits unterwegs!“

„Aber Mum…“

„Nichts aber, du bleibst wo du bist und wehe du rührst dich von der Stelle! Verstanden?“

Ich sackte in mich zusammen. Warum das alles?

„Marcus?!“

„Ja…“, antwortete ich kleinlaut.

„Dann bis gleich!“

Und schon war das Gespräch unterbrochen und nur alles, weil dieser Mr. Scott seinem Enkel das Leben schwer machen wollte. Ich hätte es wirklich einfach vergessen sollen, wie ich es ihm gesagt hatte.

Aber jetzt war es zu spät. Das Beste wäre, ich würde meine Sachen zusammen packen und mit Mum nach Hause fahren. An meine restlichen Sachen würde ich schon irgendwie kommen.

Aber wäre es nicht das, was dieser Mr. Scott wollte? Hätte er dann nicht gewonnen? Ich ließ den Kopf sinken und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Und wenn ich nach Hause kommen würde, hätte auch mein Vater gewonnen.

Mit so einer Arbeit hatte man keine Zukunft! Seine Worte halten im meinem Kopf nach. Es war zum verrückt werden, eine Zwickmühle. Ich wusste nicht, wie lange ich so da gesessen hatte, aber plötzlich spürte ich eine Hand, die durch meine Haare fuhr.

„Musst du immer alles auf einmal machen? Immer mit dem Kopf durch die Wand?“

Erschrocken schaute ich auf, denn ganz unerwartet stand Mike vor mir.

„Was willst du denn h…?“

Weiter kam ich nicht, denn Mike drückte mir seinen Finger auf die Lippen. Er setzte sich neben mich und nahm mich in den Arm. Hinter ihm, am Ende des Peers, konnte ich Mum mit Levi sehen, wie sie mit Noah durch die aufgestellten Fernrohre aufs Wasser hinaus schauten.

„Ich habe die Pläne fertig und als ich von Mum mitbekam, was hier abgeht, habe ich beschlossen sie zu begleiten!“

„Woher wisst ihr eigentlich wo ich genau bin? Shit! Jetzt werdet ihr auch noch mit hineingezogen…, ich wollte das nicht!“

Wieder vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen, um die Tränen zu verbergen, die sich ihren Weg über mein Gesicht bahnten.

„Psssst Bruderherz! So darfst du auf keinen Fall denken! Dir ist jemand an die Karre gefahren und wir helfen dir jetzt! Für was sonst ist die Familie denn da?“

Ein sarkastisches Lachen drang über meine Lippen und ich verließ schützende Haltung.

„Entschuldige… Familie? Bisher habe ich nicht viel davon bemerkt! Einzig Mum stand immer hinter mir und ihr…, ihr habt doch mich immer nur runter gemacht.“

„Jetzt tust du uns aber Unrecht, auf alle Fälle mir und William. Oliver klammere ich bewusst aus, aber das ist ein anderes Thema! Aber warum denkst du, ist dir in der Schule nie etwas passiert?“

Ich schaute ihn mit großen verweinten Augen fragend an.

„Wie kommst du jetzt… auf die Schule?“

„Hast du dich nie gewundert, dass man dich in Ruhe ließ und nicht wie die viele andere, gemobbt wurdest?“

Ich schüttelte den Kopf. Bisher dachte ich immer, die anderen ließen mich in Ruhe, weil ich eben nicht schwächlich wirkte.

„Am Anfang habe ich…, auch William, wenn wir etwas mitbekamen, alles gleich im Keim erstickt und irgendwann ließen sie dich von alleine in Ruhe.“

„Das… das ward ihr?“

Mike nickte mir zu.

„Wa… warum?“

„Zum einen, weil Mum mir eingebläut hatte, ich soll ja auf meinen kleinen Bruder aufzupassen, zum anderen hast du mir leid getan, wie du da immer alleine durch den Schulhof gezogen bist, so ganz ohne Freunde!“

Ungehindert rannen die Tränen über mein Gesicht. Dieses Bekenntnis war jetzt wirklich zu viel für mich. Mike hob seine Hand, strich mir über die Wange und wischte die Tränen mit den Daumen weg.

„So und jetzt reißt du dich zusammen und wir schauen, wie du aus dem Schlamassel wieder heraus kommst. Ach übrigens, die freundliche Arzthelferin von der Praxis an der Ecke sagte uns, wo du hingelaufen bist.“

„Die?“

„Du scheinst ja schon gut bekannt zu sein!“, meinte er nickend und klopfte mir dabei auf die Schulter. Er packte meinen Arm und zog mich hoch. Ich schaute zu den drei anderen und sah noch, wie Noah gerade Richtung Ufer rannte, um wenig später wieder mit seiner Tante aufzutauchen.

Wen hatte Levi alles angerufen? Er stand immer noch bei Mum, die ihren Arm um ihn gelegt hatte. Als die zwei Frauen aufeinander trafen, gaben sie sich die Hand und schauten dann in unsere Richtung. Mike legte sein Arm um mich und zog mich zu den anderen.

*-*-*

„Es tut mir leid, Mrs. Brown, ich hätte gleich selbst etwas unternehmen sollen und Marcus nicht auch noch in die Schusslinie bringen dürfen.“

Wir saßen mittlerweile vor dem Peer an dem kleinen Cafe, das am Sport und Spielplatz angeschlossen war.

„Warum so förmlich…, Noah sagt doch auch Nora zu mir! Und ich gehe wohl recht in der Annahme, dass wir uns noch öfter sehen werden.“

Levis Tante lächelte und streckte erneut ihre Hand aus.

„Vanessa!“

„… und bei Noah, das ist mein Sohn Michael, er kümmert sich um den Umbau im Haus ihres Neffen!“

Vanessa schaute kurz zu Mike der Noah gerade Huckepack zum Spielplatz trug.

„Ihre Söhne können gut mit Kids!“, sagte Vanessa.

Auch Mum schaute nun den beiden hinter her.

„Bei Marcus wusste ich das, aber bei Michael bin ich allerdings selbst etwas überrascht.“

Ein Lächeln huschte über meine Lippen, verschwand aber wieder, als mein Blick Levi streifte. Er saß teilnahmslos bei uns und schaute auf die Tischplatte. Noah jauchzte und hatte wieder meine Aufmerksamkeit.

Hatte ich mich wirklich so in Mike getäuscht? Ich hätte nie für möglich gehalten, Mike einmal von dieser Seite zu sehen.

„… und was diesen… Mr. Scott Senior betrifft, da finden wir auch noch eine Lösung“, kam es von Mum.

„Wird er je damit aufhören?“, hörte ich es Levi leise sagen.

„Trete ich ihnen zu nahe, wenn ich frage, was der Ursprung dieses Streites ist?“, fragte Mum.

Sie schaute zwischen Vanessa und Levi.

„Nein tun sie nicht, Nora. Es liegt alleine an Levis Großvater. Grace, meine Schwester, war ihm nie gut genug. Er hat ihr von Anfang an das Leben mit Daniel, meinem Schwager, schwer gemacht. Auch das Noah behindert ist, schob er ihr in die Schuhe.“

Vanessas Augen wurden glasig.

„Als beide nach diesem schrecklichen Unfall ins Krankenhaus eingeliefert wurden, hat Daniels Vater nicht mal es für nötig gehalten, meine Familie und mich zu informieren, dass beide schwer verletzt im Krankenhaus lagen.“

Vanessa wurde immer leiser. Mum griff nach ihrer Hand.

„Ich konnte mich nicht mal von meiner Schwester richtig verabschieden. Er hatte einfach gesagt, sie hätte keine Angehörigen…, sie ist ganz alleine gestorben.“

„Was für ein schrecklicher Mann, wie kann man nur so sein?“, fragte Mum.

„Geld! Das liebe Geld ist schuld! Meine Schwester und ich stammen aus bescheidenen Verhältnissen, während dieser Mensch nur so vor Geld strotzte.“

Somit war die Frage nach dem Geld auch geklärt, wenn er meine Vorgängerinnen ebenso bezahlt hatte.

„Und Daniel, ihr Schwager?“

„War das totale Gegenteil seines Vaters. Er hatte mit dem Reichtum seines Vaters nichts am Hut.“

„Und die Firma?“

„Hat mein Vater ganz alleine aufgebaut, mit der Hilfe meiner Mutter. Er hat mit den zwielichtigen Geschäften meines Großvater nichts zu tun!“

Es war das erste Mal, dass sich Levi richtig an der Unterhaltung beteiligte.

„Und warum jetzt dieser Hass gegen sie?“

„Weil ich meiner Mutter ähnlich bin, anders denke wie er!“

„Er ging sogar so weit“, sprach nun Vanessa weiter, „dass er nach dem Tod der beiden, die Firma verkaufen und das Sorgerecht von Ella übernehmen wollte.“

„Nur von Ella? Aber Noah…?“

Genauso wie Mum schaute ich die beiden schockiert an. Dann wanderte mein Blick zu Noah, der gerade die Rutschbahn in Beschlag nahm.

„Tja, das beweist einmal mehr, was für ein Charakter dieser Mensch hat!“, sagte Vanessa.

„Aber er hatte keine Chance…“, meinte Levi, „es gab ein Testament meiner Eltern, in dem genau geregelt war, wie es weiter gehen sollte. Die Firma sollte ich nach meinem Studium übernehmen und das Erziehungsrecht meiner Geschwister auf mich übertragen werden.“

„Wahrscheinlich hatte er von dem Testament nichts gewusst“, meinte Mum und Vanessa nickte.

„Als das Urteil zu unseren Gunsten ausfiel, hat er dann sein wahres Gesicht gezeigt. Er wurde ausfallend und beschimpfte mich. Alle im Gericht haben das mitbekommen.“

„Und warum bringst du dann die Zwillinge jeden Sonntag zu ihm?“, fragte ich nun leicht angesäuert.

„Weil die Kids für ihn nichts können und es gibt ja schließlich noch meine Grandma.“

„Wie kann deine Grandma mit so einem Menschen leben? Warum lässt sie sich nicht von ihm scheiden?“

„Marcus, bitte!“, kam es von Mum.

„Lassen sie es, Nora, er hat ja recht, aber Grandma ist leider abhängig von ihm. Er hat alles so gedreht, dass alles ihm gehört. Und für eine Schlammschlacht, denn darauf würde eine Scheidung hinauslaufen, hat sie einfach keine Kraft mehr.“

Darauf konnte ich jetzt nichts sagen, ich war einfach sprachlos.

„… und um ehrlich zu sein, ich auch nicht mehr. Ich habe es einfach satt, mich ständig wehren und beweisen zu müssen. Die Zwillinge…, die Firma, ich weiß bald nicht mehr, wie ich das stemmen soll…“

„Wieso, du hast doch jetzt Marcus, als Unterstützung“, meinte Vanessa.

Mum grinste.

„Habe ich das?“

Er hob den Kopf und blickte direkt in meine Augen. Und plötzlich, irgendwo tief mir drin, machte es Klick, als hätte jemand den Schalter umgelegt. Schlagartig wurde mir bewusst, dass da vor mir, meine Zukunft saß.

Das ganze Puzzle, um ihn herum fügte sich Stück für Stück zusammen. Vanessa stand auf.

„Warum müssen Männer immer nur so kompliziert sein?“, sagte sie dabei.

„Sind sie das nicht immer?“, fragte Mum und beide liefen zum Spielplatz.

„Es tut mir leid, Levi, wenn ich dir zu Nahe getreten bin, aber ich wusste einfach nicht weiter! Das mich plötzlich ein wildfremder Mann auf der Straße auffordert, meine Job zu kündigen und dann auch noch Geld bietet, weil ich anscheinend minderbemittelt wirke, passiert nicht alle Tage…“

„Woher wusstest du überhaupt, dass es sich um meinen Großvater handelt?“

Es passte zwar nicht, aber ich musste schmunzeln.

„Eine gewisse Familienähnlichkeit ist nicht zu leugnen!“

„Leider!“

„He, so schlecht siehst du nicht aus!“

Scheiße, was sage ich da?

„Danke“, meinte Levi nur, ohne mich anzuschauen.

„Hör mal Levi, ich würde dir gerne auch weiterhin helfen, bei euch arbeiten, dafür habe ich die Zwillinge schon viel zu sehr ins Herz geschlossen. aber ich muss wissen, wie ich mich zu verhalten habe, denn ich bin mir sicher, nachdem was ich gerade gehört habe, dass dein Großvater nichts unversucht lässt, um mich loszuwerden!“

Wie sich das anhörte. Aber es hatte den Effekt, dass mich Levi nun anschaute.

„Du weißt das ich schwul bin, oder?“

Meine Augenbraun gingen nach oben.

„Woher soll ich das wissen? Es hat mir niemand gesagt!“

Das ich etwas vermutete, wollte ich ihm ja nicht gleich auf die Nase binden und dass ich in derselben Liga wie er spielte, schon gar nicht!

„Also hat Tante Vanessa nichts gesagt…“

„Nein, warum denn auch…, das ist deine Privatangelegenheit!“

Sein Blick wanderte Richtung Fluss.

„Weil ich dachte“, erste Tränen liefen über seine Wangen, „sie hat es denen erzählt… und sie sind deswegen nicht geblieben…“

Damit meine er wohl meine Vorgängerinnen.

„Das ergibt keinen Sinn, Levi. Wenn sie es den Damen erzählt haben sollte, warum hat sie die dann überhaupt zu dir geschickt? Dein Großvater könnte den Damen etwas gesagt haben…, mir hat er zwar nichts erzählt, er war eh recht wortkarg, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass er damit etwas zu tun hat!“

„Warum bist du dir so sicher, dass er das gemacht hat?“

„Weil alles so schön zusammenpasst?“

Levi schaute in die Höhe, klimperte mit seinen Augen und atmete tief durch. Ich stand auf, ging neben ihm in die Hocke und legte meine Hand auf seinen Arm.

„Ich weiß zwar nicht wie, aber wir schaffen das irgendwie, okay?“

„Du willst wirklich nicht gehen?“, fragte er weinerlich.

Oh Gott, Levi war völlig hinüber. Dann machte ich etwas, ohne mal wieder zu wissen, was sich nachziehen könnte. Ich ging auf die Knie, zog Levi in meine Arme und streichelte ihm über den Kopf.

„Nein, ich werde diese Familie sicher nicht im Stich lassen.“

Sein Kopf hob sich und er schaute mich mit seinen verweinten Augen an.

„Warum tust du das?“

Ich seufzte.

„… weil die Zwillinge und… du … mir nicht egal sind!“

*-*-*

Mum stand mit Vanessa in der Küche und kochte. Die beiden waren mittlerweile zum Du übergegangen, was mich nicht wunderte, denn die Rotweinflasche, die auf dem Küchentisch stand, war bereits zu zwei Dritteln leer.

Während ich mich, mit Noah im Wohnzimmer aufhielt, Noah auf dem Boden vor dem Fernseh, ich auf der Couch, waren Mike und Levi nach oben gegangen, um weitere Details zu besprechen. So ungefähr fand uns Ella vor.

Ich schaute erschrocken auf die Uhr. War die Schule schon aus? Hatten wir sie vergessen?

„Was ist denn hier los?“, fragte sie verwirrt.

„Mein Mum kocht mit deiner Tante das Abendessen… Schule schon aus?“

„Es sind wieder zwei Stunden ausgefallen…, ähm deine Mutter…?“

Ich stand auf und ging zu ihr.

„Willst du nicht mal erst ablegen?“, fragte ich und bot ihr an, den Rucksack abzunehmen.

Immer noch verwirrt, reichte sie mir ihren Rucksack, den ich neben der Treppe abstellte, während sie sich ihrer Jacke und Schuhe entledigte.

„Komm, ich stell dir meiner Mutter vor“, meinte ich nur und schob sie zur Küche.

„Hallo Ella, ich habe dich gar nicht kommen hören“, sagte ihre Tante zur Begrüßung und umarmte sie.

Dann wandte sich Vanessa zu Mum.

„Das ist meine Nichte Ella.“

„Hallo Ella, Marcus hat mir schon von dir erzählt…“, sagte Mum und streckte ihre Hand aus.

Schüchtern schüttelte diese die Hand.

„Warum… seid ihr alle hier…, ist etwas passiert?“

„Kann ich…?“, fragte ich die beiden Damen.

Beide nickten.

„Komm Ella, gehen wir hinüber zu Noah, bevor wir noch stören und denen beiden etwas anbrennt.“

Mum spielte plötzlich die Empörte.

„Junger Mann, habe ich je ein Essen von dir anbrennen lassen?“

Ich schaute in die Luft.

„Da müsste ich überlegen“, antworte ich und bereute es sofort, weil es in meinem Gesicht feucht wurde.

Mum hatte ein Spültuch geworfen. Ella neben mir und auch Vanessa, fingen beide gleichzeitig an zu lachen.

„Komm Ella, hier ist es gefährlich!“, sagte ich nur und zog sie aus der Küche.

Den feuchten Lappen, warf ich natürlich vorher zurück. Noah lag immer noch vor dem Fernseher und bewegte sich nicht. Als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass er eingeschlafen war. Ich ließ mich auf der Couch nieder und machte den Fernseh aus.

„Komm setz dich…!“

Dass Ella sich plötzlich unwohl fühlte, spürte ich deutlich.

„Wo ist Levi…?“, fragte sie fast ängstlich.

„Der ist oben, mit meinem Bruder und bespricht die Baupläne für dein Zimmer.“

„Aha…“

Langsam ließ sie sich auf einen der Sessel nieder.

„Du warst ehrlich zu mir, also will ich auch ehrlich zu dir sein…!“

Ihre Augen wurden groß.

„Du hast mir die Geschichte über deinen Bruder und dem Großvater erzählt…“

Ella nickte.

„… und eben dieser… stand plötzlich gestern vor mir?“

„Großvater war hier?“

„Nein, ich war einkaufen, drüben im Markt und als ich den verließ, stand er plötzlich vor mir.“

„Und was wollte er von dir?“

Ihre Stimme hörte sich nun leicht genervt an.

„Dass ich hier meinen Job kündige…“

Sie hielt kurz die Luft an, ließ sich dann aber in den Sessel zurückfallen und wusste anscheinend nicht, ob sie jetzt lachen oder weinen soll.

„Weiß Levi Bescheid?“

Sie schaute besorgt aus und ich mein Blick fiel auf meine Uhr.

„Bis vor einer Stunde nicht…“

„Wie hat er es aufgenommen?“

„Hm… es gab ein kleines Missverständnis und einen klitzekleinen Streit.“

Sie schaute Richtung Flur.

„So klein kann der Streit nicht gewesen sein, oder warum sind Tante Vanessa und deine Mutter da?“

„Naja, das Wort Streit hört sich vielleicht etwas zu hart an, vielleicht eine Meinungsverschiedenheit…“

Bevor Ella darauf reagieren konnte, wurde es im Treppenhaus laut. Mike und Levi kamen wieder herunter.

„Gut, ich versuche das einzuplanen und melde mich dann. Ich hoffe, es ist die letzte Änderung, sonst müssen wir, glaube ich aufstocken!“, hörte ich Mike lachend sagen.

„Ich habe nicht vor, deine Geduld weiter zu strapazieren!“

Der Ton war also vertrauter geworden.

„Tust du nicht!“, lachte Mike.

Beide kamen ans Wohnzimmer.

„Michael, ich weiß nicht, hast du schon meine Schwester Ella kennen gelernt?“

„Nur von ihr gehört…“

Ella schaute mich kurz an, diesen Blick aber konnte ich nicht richtig deuten. Noah regte sich, wahrscheinlich vom Lärm im Haus aufgewacht.

„Hallo Ella, ich bin einer der großen Brüder von dem da!“

Er zeigte auf mich.

„Und ich die große Schwester von dem da“, entgegnete sie und zeigte auf Noah, der sich gerade aufsetzte.

„Ihr seid Zwillinge!“

„Aber ich bin drei Minuten älter!“

„Okay, das lasse ich gelten“, meinte Mike und hob seinen Daumen hoch.

Ella strahlte.

„Wer hat den Fernseher ausgemacht?“, meckerte Noah plötzlich.

*-*-*

Überraschenderweise drückte mich Mike kurz, als er und Mum sich verabschiedeten. Auch Vanessa wollte nach Hause fahren. So stand man an der Straße und wartete bis die Wagen abfuhren.

„Willst du duschen, oder baden?“, fragte Levi Noah.

„Duschen“, strahlte ihn der Junge an.

„Dann ab mit dir nach oben, ich komme gleich nach!“

Levi drehte sich zu Ella.

„Hilfst du Marcus noch in der Küche?“

„Wenn es sein muss!“

„Du musst nicht! Das bisschen schaffe ich auch alleine!“, mischte ich mich in das Gespräch ein.

Ella strahlte nun genauso, griff nach der Hand von Noah und zog ihn ins Haus. Levi dagegen schaute mich nur an und schüttelte den Kopf.

„Wären wir beide jetzt verheiratet, würde ich zu dir sagen, Schatz, du verwöhnst die Kinder zu sehr!“, meinte er trocken und folgte seinen Geschwistern.

Etwas fassungslos schaute ich ihm hinterher, bevor ich eine leichte Lachattacke bekam. Nachdem ich mich einigermaßen wieder im Griff hatte, atmete ich noch einmal tief durch und lief ebenso die Treppe hinauf.

Oben angekommen, bekam ich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich drehte mich um und schaute die Straße entlang. Natürlich konnte ich niemand entdecken, der sich auffällig benahm.

Kopfschüttelnd betrat ich das Haus, schloss die Wohnungstür und schon war das seltsame Gefühl vergessen. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und lief in die Küche. Ich musste seufzen, es war doch mehr, als ich dachte.

So machte ich mich ans Werk. Zum Glück war das Essen meiner Mutter immer lecker und so gab es keine Reste. Von oben gelangte Gelächter zu mir herunter. Es tat gut und trotzdem hätte alles anders ausgehen können.

Vor allem, es war noch nicht vorüber. Mums Vorschlag, unabhängig unseren Familienanwalt einzuschalten, wurde nur langsam angenommen. Er sollte Möglichkeiten auskundschaften, wie man dieser Lage Herr werden konnte.

Beim Essen hatte ich auch erfahren, dass Levi erneut die Baupläne hatte ändern lassen.  Anstatt des großen Zimmers für alle, sollte ein weiteres Zimmer mit Bad an dessen Stelle entstehen. Levi hatte sich wohl meine Frage zu Herzen genommen, warum sich seine Grandma sich nicht scheiden ließ.

So schaffte er einen Rückzugsort, wo seine Grandma hin konnte, wenn es dann doch zum Äußersten kommen würde. All das hatte er kurzfristig entschlossen. Mike hatte die Pläne im groben so weit geändert, das praktisch ein spiegelverkehrtes Zimmer zum anderen entstand.

Dies brachte einen weiteren kleinen Speicher mit sich, denn auch diese Decke sollte abgehängt werden, wie in Ellas Zimmer. Ich wusste nicht, wann sich Levi dies alles ausgedacht hatte, aber wahrscheinlich auf dem Rückweg vom Fluss, wo er die ganze Zeit geschwiegen hatte.

Auf alle Fälle, stand nun eine größere Aktion an, die die Ruhe im Haus sehr reduzieren würde. Ich musste mir überlegen, was ich in der Zeit des Umbaus, mit Noah anstellte.

Es würden viele fremde Menschen im Haus unterwegs sein und ich wollte vermeiden, dass sich Noah in seinem Zimmer vergrub. Die Küche war fertig und hängte das Geschirrtuch an die Reling des Gasherds.

Oben war es nun auch ruhiger, so lag Noah wohl schon im Bett. Auch wenn er schon etwas geschlafen hatte, war ich mir sicher, dass er heute Abend schnell einschlief.

„Hast du Zeit, oder ziehst du dich in dein Zimmer zurück?“

Überrascht drehte ich mich zur Tür, Levi stand in der Türrahmen, nur in Shorts und Shirts. Mit den dicken Wollsocken sah er zum Anbeißen aus. Natürlich wusste er nicht, was er mir damit gerade antat.

War doch der Gedanke, von ihm zu schwärmen eigentlich tabu für mich. Und nun begannen meine Prinzipien gerade den East River hinunter zu schwimmen.

„Ähm… ich habe Zeit…, also ich meine, ich habe nichts Bestimmtes vor!“

Sein Gesicht wandelte sich in ein breites Lächeln.

„Willst du dir noch etwas Bequemes anziehen?“

Stimmt, ich hatte immer noch die Klamotten an, die ich schon unten am Fluss trug.

„… ich komm gleich wieder…“, sagte ich nur und drückte mich an ihm vorbei.

Sein Duft stieg mir ins Gesicht.

„Dann mach ich mal den Rotwein auf!“

*-*-*

Rasch etwas anderes anziehen, war nicht. Ich beschloss noch kurz unter die Dusche zu springen, hing doch noch der ganze Mief vom Mittag an mir. Es dauerte auch nicht lang und wenig später lief ich ähnlich wie Levi gekleidet, wieder die Treppe hinunter.

Es lief leise Musik, als ich das Wohnzimmer betrat. Levi saß auf der Couch und hatte zwei Gläser Rotwein auf dem Tisch stehen. Ich selbst ließ mich auf der anderen Ecke der Couch nieder.

Das Licht im Zimmer war leicht gedämmt und neben den Gläsern stand auch eine Kerze. Fast ein Tick zu romantisch. Ich nahm den Rotwein, der vor mir stand und atmete dessen Duft ein.

„Aus Deutschland, diesen Luxus habe ich mir mal gegönnt…“, meinte Levi plötzlich neben mir.

„Aber sicher doch für besondere Anlässe?“

Er schien zu überlegen und starrte dabei sein Glas an.

„Kann ich nicht sagen. Ich habe diesen bei einem Kunden probiert und war davon angetan.“

Darauf sagte ich nun nichts, was konnte man dazu auch erwidern? Auch ich sah auf mein Glas und ließ den Wein im Glas ein wenig rotieren.

„Ich…“, fing Levi erneut an zu reden, „ich… wollte mich für heute Mittag noch entschuldigen.“

„Für was? Du hast nichts gemacht, wofür du dich entschuldigen müsstest! Eigentlich sollte ich mich bedanken, dass du mich ins Vertrauen gezogen hast!“

Natürlich war ich am Mittag noch anderer Meinung, aber meine Wut auf ihn hatte sich schon beim Gespräch am Peer gelegt. Er schüttelte den Kopf

„Doch! Ich habe mich gehen lassen und so etwas sollte nicht passieren!“

Ich schaute ihn nun direkt an. Er trug wieder Brille und zum ersten Mal bemerkte ich seine grünen Augen, die im Kerzenschein nun leicht funkelten. Ich stellte mein Glas ab.

„Levi, du hast in der Vergangenheit genug Negatives erlebt, dass bei anderen, für ein ganzes Leben reichen würde! Das es Tage gibt, an denen du nicht besonders drauf bist, ist doch nicht verwunderlich!“

Er hielt meinem Blick noch ein wenig stand, bevor er seinen kopf wegdrehte.

„Ach ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Es ist plötzlich alles irgendwie anders…“

„Was ist anders?“, fiel ich ihm ins Wort.

Wieder schaute er mich an.

„Du!“

Das kam schnell und gestochen scharf.

„Ich?“, fragte ich verwundert und zeigte auf mich.

„Ja, seit du da bist, ist alles anders…“

„Tut mir leid, wenn ich dein Leben so durcheinander bringe, das war nicht meine Absicht!“

Er winkte ab.

„So meine ich das nicht…“

Wie dann?

„… ich…, ich habe plötzlich das Verlangen… nach Nähe…“

Hatte das nicht irgendwie jeder?

„… nach jemand, der auch für mich da ist! Ich habe die Firma…, die Zwillinge… ist das egoistisch?“

Ich schüttelte den Kopf. Entwickelte er etwa Gefühle für mich? Wir kannten uns doch gerade mal erst eine Woche.

„Und diese Gefühle habe ich bei dir ausgelöst?“, fragte ich nun neugierig.

„Ja! Ich fühle mich wohl, wenn du in der Nähe bist. Ich kann einen Gang zurück schalten und auch mal alle fünf gerade sein lassen.“

„Aber dafür bin ich doch eingestellt worden, um dich bei den Zwillingen zu entlasten, damit du, wie du es ausdrückst, einen Gang zurück schalten kannst.“

„Ja, aber doch ist es irgendwie anders…, also ich meine im Vergleich zu deinen Vorgängerinnen.“

„Du sagst es selbst. Ich bin eben keine Frau und geh deswegen, manche Dinge anders an!“

Levi nahm einen Schluck seines Rotweins und kratze sich anschließend am Hinterkopf.

„Dir… dir macht es wirklich nichts aus, dass ich schwul bin?“, fragte er kleinlaut.

Eigentlich sollte ich hier das Thema stoppen. Mein Kopf sagte, lass die Finger davon, aber mein Herz schrie, schnapp ihn dir, solange er noch auf dem Markt ist. Ihm hier jetzt eine Abfuhr zu geben, wäre der falsche Weg.

Zu sehr hatte er schon gelitten, gerade unter seinem Großvater. Wenn ich ihn jetzt auch noch zurückstoße, wer weiß, was dann passieren würde. Trotzdem blieb der Vorbehalt, Finger weg vom Chef.

„Du zögerst…, entschuldige bitte, ich hätte nicht davon anfangen sollen!“

„Nein, nein! Du verstehst das falsch! Ich habe nichts gegen dein Schwulsein, warum sollte ich?“

Er stellte wieder das Glas auf den Tisch.

„Oh man, warum ist das so schwer…?“

„Was ist schwer?“

Er schnappte nach Luft und versuchte etwas zu sagen. Aber mehr als ein „ähm“ bekam er nicht heraus. Auch ich stellte das Glas ab und griff nach seiner Hand. Sein Blick wanderte nach unten und schaute unsere Hände an.

„Levi, ich will ehrlich zu dir sein, du warst es ja schließlich auch! Der simple Grund, warum ich nichts dagegen habe, was deinem Großvater auch bitter aufstoßen wird, wenn er davon erfahren sollte, ich stehe wie du ebenso auf Männer!“

Die Reaktion war göttlich. Wie weit konnte man Augen überhaupt aufreißen?

„Du…?“

Es fiel mir schwer ein Grinsen zu verbeisen.

„Ja, ich bin auch schwul!“

Ich hatte mittlerweile seine Hand in beide Hände genommen.

„Du…?“, fragte er erneut.

Ich lächelte ihn an und nickte. Plötzlich ließ seine Anspannung nach und sank ein wenig in sich zusammen. Seine Hand zog er nicht zurück. Dafür ließ ich sie aber nun los.

„Das…, das wusste ich nicht…, oder habe es ich nicht bemerkt…!“

Müde strich er sich über sein Gesicht.

„Ich… ich habe mich schon gewundert, warum ich mich in deiner Gegenwart so sicher und wohl fühle, als würde ich dich schon ewig kennen.“

Darauf sagte ich jetzt nichts und versuchte aber seinem Blick nicht auszuweichen. Er dagegen setzte sich nun richtig hin und fing an wie wild über seine Haare zu rubbeln.

„Ändert das jetzt was zwischen uns?“, fragte ich vorsichtig.

„Quatsch! …ähm… ich weiß nicht recht…, du bist wirklich…?

„Ja, bin ich!“, lächelte ich ihn an, „muss ich dir das jetzt beweisen, oder was?“

Mit offenem Mund starrte er mich leicht kopfschüttelnd an. Dann nahm er sein Glas und trank es in einem kräftigen Zug aus.

„Sorry, ich krieg das gerade irgendwie nicht auf die Reihe…“

War mein Geständnis doch unangebracht gewesen?

„Du findest es… nicht gut?“

„Das meine ich nicht! Da bin ich jahrelang auf der Suche, stolpere von einer Enttäuschung in die andere…“

Das hätte ich jetzt nicht gedacht.

„… und da schickt mir meine Tante einen Manny, der verdammt gut aussieht und bei dem alles stimmt!“

„Mach mal langsam, ich bin ganz normal…, Durchschnitt…“

„Hast du mal in den Spiegel geschaut?“, unterbrach er mich.

„Ähm… täglich, aber was meinst du mit Enttäuschung?“

Er zog seine Beine an und setzte sich wieder im Schneidersitz hin, dieses Mal deutlich näher zu mir, als zu vor. Tief zog er die Luft ein und atmete wieder aus.

„Spätestens, wenn von den Zwillingen die Rede war, im speziellen, von Noah, haben sie sich von Acker gemacht.“

„Unsympathisch!“

„Das meinte ich mit stimmt alles! Du bist nur eine Woche hier und kümmerst dich liebevoll um Noah und bist auch für Ella da….“

Verlegen kratzte ich mich nun am Hinterkopf.

„… ähm, das ist mein Job…!“

„So wie du handelst, geht weit über deinen Job hinaus! Du kümmerst dich nicht nur um die Zwillinge, du denkst weiter über ihre Belange nach! Ich hätte selbst darauf kommen müssen, dass zum Beispiel Ella mehr Freiraum für sich braucht. Und ich denke für Noah hast du auch einiges im Hinterkopf!“

„Hör auf mich auf ein Podest zu stellen, das mag ich nicht“, sagte ich verlegen und nahm ein Schluck Wein.

Konnte er Gedanken lesen? Nein, sonst hätte er ja sofort gewusst, dass ich schwul bin.

„Was ich am Anfang als Überschreitung deiner Grenzen empfand, wandelt sich immer mehr in Bewunderung um, wie du Dinge in Angriff nimmst. Je näher ich dich kennen lerne, umso mehr gewinne ich den Eindruck, du weißt ganz genau was du willst.“

Jetzt war ich derjenige, der dumm in die Wäsche schaute. Eine Woche. Eine Woche hatte er gebraucht, um zu dieser Erkenntnis zu kommen.

„Darf ich dich umarmen?“

Ohne auf meine Antwort zu warten, setzte er sich in Bewegung, krabbelte umständlich zu mir und fiel mir um den Hals.

„Danke…, danke dass du da bist!“

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Mein Körper fühlte sich an, als würde er unter Strom gesetzt werden und sein Geruch begann mir die Sinne zu vernebeln.

„Ähm…“, war das einzige, was ich über die Lippen bekam.

Sofort ließ es mich los, blieb aber direkt neben mir sitzen.

„Sorry, da hab ich jetzt wohl die Grenze überschritten!“

Eigentlich sollte man beim Vorstellungsgespräch auch ein Resümee über seinen Chef erhalten, dass man wusste, was einen erwarten würde.

„Ähm, nein, das hast du nicht…, ich war nur etwas überrascht!“

Er wirkte nun wie ein kleiner Schulbube. Das gleiche Grinsen wie Noah überzog sein Gesicht, der sich megamäßig über etwas freute. Seine Augen funkelten nach wie vor im Kerzenschein und sein Geruch steckte mir immer noch in der Nase.

Warum wurde ich das Gefühl nicht los, als würde er darauf warten, dass ich den nächsten Schritt mache. Wir kannten uns doch erst eine Woche.

„Was denkst du?“, fragte er plötzlich.

„Wie… es jetzt weiter geht?“, war meine ehrlich Antwort.

„Es ist schon spät… vielleicht sollten wir schlafen gehen…“

Meine Augenbraun zuckten nach oben. Zusammen?

„… jeder in seinem Bett!“, fügte er an.

Ich atmete tief aus, als ich merkte, dass ich kurz die Luft angehalten hatte.

*-*-*

Es war eine unruhige Nacht gewesen und wachte deswegen leicht gerädert auf. Soviel Mist hatte ich noch nie geträumt. Nur teilweise konnte ich mich daran erinnern, was für bizarre Gedankengänge mein Hirn fabriziert hatte.

Von einen Großvater, der mir auf allen Arten nach dem Leben trachtete. Von einem Chef, in dessen Armen ich morgens erwachte. Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir durchs Gesicht. Der Tag fing ja gut an.

Mühsam rappelte ich mich auf, schlug meine Decke zurück, um dann wieder inne zu halten. Es war nichts mehr passiert, nach der Unterhaltung mit Levi. Trotzdem benahmen wir uns wie zwei frischverliebte, schüchterne Teenager, die nicht wussten, was sie machen sollten.

Man sollte eigentlich meinen, Levi hätte in solchen Dingen Erfahrungen. Für mich dagegen, war das absolute Neuland. Zu sehr hatte ich mich um meine Ausbildung gekümmert. Da war für amouröse Liebesabenteuer kein Platz gewesen.

Klar hatte ich anderen Kerlen hinterher geguckt, oder auch etwas geflirtet, aber eine feste Bindung mit jemand einzugehen, der Gedanke kam nie auf. Und auch jetzt war ich mir nicht sicher, so etwas mit Levi an zu fangen.

Die berühmten Engel und Teufel auf meiner Schulter kamen mir in den Sinn, die sich  wahrscheinlich schon jetzt deswegen in den Haaren lagen. Ich schüttelte den Kopf und besann mich, dass ich aufstehen sollte.

Noch müde schlüpfte ich in meine Laufklamotten und verließ leise mein Zimmer. Wie jeden Morgen, war es um die Zeit noch ruhig. Unten angekommen, war ich dann doch überrascht, das in der Küche bereits Licht brannte.

Sofia war bereits zu Gange und mit was ich überhaupt nicht gerechnet hatte, dort saß Levi, vor einer Tasse Kaffee. Er war ähnlich wie ich gekleidet.

„Darf ich mitlaufen?“

Mit großen Augen schaute ich ihn an.

„Ähm… natürlich…“, antwortete ich, was hätte ich auch anderes sagen sollen.

„Gut, dann bis nachher Sofia!“, sagte er dann und stand auf.

Nun etwas verschüchtert, nickte ich Sofia zu und folgte ihm nach draußen. Nach kurzen Lockerungsübungen lief er einfach los. Er schlug wie ich so oft den Weg zu den Docks ein.  Leicht versetzt lief ich hinter ihm.

Ich fühlte mich etwas überrumpelt, war es doch die einzige Zeit am Tag, die ich für mich und meine Gedanken hatte. Nun aber lief dieser überaus sympathische Mann vor mir und verwirrte meine Denkweise.

Seine enganliegenden Klamotten, waren da auch keine große Hilfe. Nein, ich musste ehrlich sein, es war eigentlich die Zeit, die ich bisher immer über Levi nachdachte, welche Probleme es zu lösen gab, und was ich in der Zukunft machen oder ändern wollte.

Selbst jetzt hatte er mich total eingenommen. Seine dunkelbraunen Haare wippten bei jedem Schritt mit und wenn ich ihn bisher noch keinen Sport hatte treiben sehen, hatte ich das Gefühl, als wäre es nicht das erste Mal, dass er joggen ging.

Nachdem wir die letzte Querstraße überquerten, wechselte er vom Gehsteig auf die Straße. Ohne etwas zu sagen, folgte ich ihm einfach. An den Docks angekommen, hüpfte er einfach über den niedrigen Zaun, der den Stadtbereich und die Uferpromenade trennten.

Wie sonst ich auch, schlug er dann den Weg zum Peer fünf ein, den einzigen Peer, den ich bis jetzt kannte. Die anderen Fünf hatte ich bisher noch nicht betreten. Dieser Peer war auch der Größte, weil er mit dem kleinen Anleger verbunden war, wo die Reichen der Gegend, ihre Jachten oder Segelboote parken konnten.

Am Wasser angekommen, verlangsamte er sein Tempo, bis er plötzlich stehen blieb, sich leicht nach vorne beugte und sich auf seine Knie abstütze.

„Boah, ich habe das viel zu lange schleifen lassen!“, hörte ich sagen, während ich ein paar Dehnungsübung machten.

„Bist du früher mehr gelaufen?“, fragte ich neugierig.

Er richtete sich auf und drehte sich zu mir.

„Jeden Morgen, bevor die Kids aufstanden. Man bekommt einfach den Kopf frei, für den Tag der ansteht. Ich habe sogar versucht, die Zwillinge dazu zu bewegen, mitzulaufen. Ella ist aber viel zu faul, bleibt lieber die halbe Stunde länger liegen…“

„Für Noah wäre es aber wichtig! Er hat zwar Kraft, wird aber schnell müde.“

„Dafür fehlte mir echt die Zeit…, leider!“

Ich lächelte ihn an.

„Dafür bin ich ja jetzt da.“

Wieder zeigte er mir sein hinreisendes Lächeln.

„Danke!“

„Nicht dafür. Laufen wir zurück?“

*-*-*

Wie versprochen, war ich mit Noah vor auf die Atlantic Avenue gelaufen und betrat mit ihm nun den Laden Picture Room. Der Junge hatte wie immer meine Hand umklammert, wenn etwas für ihn neu war.

Aber wenigstens vertraute er mir soweit, dass er nun überall hin folgte. Sein Bild hatten wir vorsichtig in eine große Mappe gelegt und mitgenommen. Ehrfürchtig schaute sich Noah um, denn natürlich gab es für ihn fiel zu sehen. Die Wände hingen voll mit Bildern, bis unter die Decke.

„Guten Morgen, sie wünschen?“, kam ein junger Mann fragend auf uns zu.

Noah verschwand sofort hinter mir, ohne aber meine Hand loszulassen.

„Wir würden gerne ein Bild Rahmen lassen“, antwortete ich und schaute auf die Mappe.

„Sie haben es gleich mitgebracht? Das ist gut! Viele Kunden kommen und wissen dann nicht einmal die genauen Maße und sind dann später enttäuscht, wenn das Bild nicht zum Rahmen passt. Haben sie bestimmte Vorstellungen?“

„Es sollte einfach und kindergerecht sein…“

Ich wollte das Bild aus der Mappe nehmen, aber mit Noah an der Hand, war das schier unmöglich. So reichte ich dem Mann die Mappe und drehte mich zu Noah.

„Willst du dir nicht noch ein paar Bilder anschauen? Vielleicht gefällt dir noch eins!“

Noah nickte und ließ endlich los. So konnte ich mich wieder dem Verkäufer widmen, der mittlerweile die Mappe geöffnete hatte. Sein Finger fuhr leicht über die bemalte Fläche und blieb kurz vor Noahs Namen stehen.

„Noah Scott? Der Bruder von Mr. Levi Scott?“

„Sie kennen die Scotts?“, fragte ich überrascht.

„Kennen ist übertrieben, wir beziehen von Mr. Scotts Firma einige unserer Verpackungen und weiß von einem Bruder…“

„Das ist Noah“, meinte ich und zeigte auf den Jungen, der vor einer der Bilderwände stand.

„Ich kann ihnen einen einfachen einfarbigen Rahmen, oder aber, was das Bild mehr in Szene setzt, einen bunten Rahmen empfehlen.“

„Haben sie diese vorrätig?“

„Ja, einen Moment bitte.“

Der junge Mann verschwand in den hinteren Räumen. Ich ging zu Noah, der vor einem etwas größeren Kunstdruck stand. Darauf war der Hafen bei Nacht abgebildet. Man sah die vielen Lichter am Ufer, aber auch den Sternenhimmel über der Stadt. Der Vollmond spiegelte sich auf dem Wasser.

„Gefällt dir das?“

„Ja!“

„Wäre das etwas für dein Zimmer?“

Er schüttelte den Kopf und ich sah ihn fragend an.

„Levi mag Wasserbilder.“

„Ein Bild für Levis Zimmer?“, fragte ich.

Ich kannte Levis Reich nicht, bisher hatte ich ihn immer in seinem Büro angetroffen. Der Rest des zweiten Stocks hatte ich noch nie betreten und wusste auch nicht, wie die Zimmer ausgestattet waren.

„Ja!“, antwortete Noah nickend.

„Sollen wir es für Levi kaufen, ihm das schenken?“

Levi hatte mir erklärt, dass Noah über eigenes Geld verfügte, dass ebenfalls von seinen Eltern angelegt worden war. Ich fand es sehr vertrauensvoll, dass er mir überließ, dieses Geld für Noah zu nutzen und zu verwalten, wenn dieser einen Wunsch äußerte.

Der Blick auf das Preisschild, ließ mich kurz innehalten. Hundertzwanzig Dollar waren nicht ohne. Konnte ich das wirklich einfach so entscheiden? Noah war da keine große Hilfe und meine Frage beantwortete er auch nicht. Der Verkäufer kam mit zwei Kartons zurück.

„Mister…?

„Mr. Brown!“

„Mr. Brown, hier sind die zwei Rahmen von den ich gesprochen hatte.“

Einer nach dem anderen kam zum Vorschein. Der bunte Rahmen war mir eine Spur zu heftig, aber der war ja für Noah, nicht für mich.

„Noah, kommst du mal?“, rief ich den Jungen, der immer noch vor dem blauen Bild stand.

Er lief zu mir und versteckte sich wieder schüchtern hinter mir.

„Noah, welchen Rahmen sollen wir nehmen, der mit dem schwarzen Rand, oder der mit dem bunten?“

Noah lugte vorsichtig hinter mir hervor und schaute auf die Theke, wo beide Rahmen lagen. Seine Hand erschien und tippte auf den bunten Rahmen. Dann verschwand sie so schnell wieder hinter meinem Rücken, wie sie aufgetaucht war. Der Verkäufer lächelte mich an. Natürlich freute der sich, war der bunte Rahmen doch um einiges teurer.

„Würden sie mir das Bild auch gleich rahmen?“

„Aber natürlich Mr. Brown! Schauen sie sich ruhig noch ein wenig um, das dauert etwas!“

Ich nickte lächelnd. Während der Verkäufer, den einfachen Rahmen wieder in seinen Karton verfrachtete, ging ich mit Noah die anderen Bilder anschauen. Klar, waren einige dabei, die mir persönlich gefielen, war mein Zimmer im Haus der Scotts ja noch bilderlos.

Aber die Preise waren doch etwas heftig und hinderte mich daran, den Laden leer zu kaufen. Letzt endlich, entschloss ich mich dann doch, zwei abstrakte Kunstdrucke für mich zu erwerben.

Der Verkäufer hatte mittlerweile Noahs Bild gerahmt und ich trat wieder an die Theke. Er hatte recht, der bunte Rahmen ließ das Bild noch fröhlicher wirken. Noah machte plötzlich auf sich aufmerksam, in dem er an meiner Jacke zupfte.

Ich drehte mich zu ihm und er zeigte auf den blauen Kunstdruck.

„Willst du das wirklich für Levi kaufen?“, fragte ich ihn und Noah nickte.

Das Noah seinem Bruder das Bild schenken wollte, machte meine Entscheidung nicht einfacher. Aber dem Jungen gefiel das Bild so sehr, dass ich ihm eigentlich den Wunsch nicht abschlagen konnte.

„Könnten sie mir diesen Kunstdruck mit dem Fluss bei Nacht ebenfalls einpacken?“

„Sonst noch einen Wunsch?“, fragte der junge Mann.

Ohne groß darüber nachzudenken, ob ein Kauf der Bilder für mich mein Konto dezimieren konnte, nickte ich.

„Da wären zwei Kunstdrucke, für die ich mich interessieren würde!“

Eine viertel Stunde später und um einiges ärmer, verließen wir schwerbepackt die kleine Galerie. Während Noah nun sein Bild trug, war ich mit den drei anderen Kartons und der Mappe beladen.

Noahs Bild war mit Plexiglas besetzt, dass nicht so leicht brechen würde, falls Noah irgendwo damit anstieß. Ich dagegen spürte schnell das Gewicht, der restlichen drei Bilder, die natürlich mit den schwereren Glasscheiben versehen waren.

Noah sagte kein Ton, aber strahlte dafür die ganze Zeit. Etwas später, froh wieder zuhause zu sein, stelle Noah sein Paket vorsichtig ab. Er entledigte sich seiner Sachen und rannte ohne etwas zu sagen, die Treppe hinauf.

„Was habt ihr denn da alles gekauft?“, fragte Sofia, die aus ihrer Küche heraus getreten war.

„Da drin ist Noahs Bild…“, antwortete ich, „dort eine Geschenk für Levi, das Noah ausgesucht hat und die zwei sind für mein Zimmer.“

Sofia betrachtete die Bilder genau.

„Noahs Bild ist wirklich gelungen und der bunte Rahmen passt wirklich gut dazu“, sagte sie.

Weiter kam sie nicht, denn im Treppenhaus wurde es laut. Ich hörte nur Noahs Stimme, wie er „komm!“, sagte.

Er hatte es anscheinend nicht ausgehalten und wollte wohl Levi sein Bild zeigen. Beide erschienen oben an der Treppe in ersten Stock und ich sah, wie Noah Levi hinter sich herzog. Ich schaute Sofia hinter her, die wieder in die Küche verschwand.

„Das habe ich für dich gekauft!“, hörte ich Noah sagen, was mich wieder zu den beiden schauen ließ.

Beide waren nun unten angekommen und Noah zeigte sofort auf das blaue Bild. Levi schaute mich kurz überrascht und fragend an, folgte aber dann den Blicken seines Bruders. Ich zog nun auch meine Jacke aus und schlüpfte aus meinen Schuhen.

„Das da?“, hörte ich Levi fragen.

„Levi liebt Wasser!“, sagte Noah.

„Das ist aber schön! Hast du das alleine ausgesucht?“

Noah nickte stolz und auch ich nickte, als Levi mich anschaute.

„Und wo soll ich das hinhängen…? Komm lass uns mal nachschauen!“

Levi schnappte sich das Bild und lief mit Noah wieder nach oben. Na toll und ich konnte den Rest nach oben schleppen. Noahs Bild lehnte ich an die Wand im Flur, vor Noahs Zimmer. Mit meinen zwei Kunstdrucken, verschwand ich in meinem Zimmer. Schnell waren sie ausgepackt, aber dafür, wo ich die Bilder aufhängen sollte, dauerte etwas länger.

„Marcus…!“, hörte ich Noah rufen.

„Ja?“, antwortete ich.

Lautes Poltern verriet mir, dass Noah auf unser Stockwerk herunter kam und wenig später erschien er auch in meiner Tür. Aber er sagte nichts weiter, sondern schnappte sich meine Hand und zog mich hinter sich her.

Ich folgte ihm einen Stock höher, wo er mich ins Levis unbekanntes Zimmer führte. Erst jetzt fiel mir auf, dass diese Wand, wo Noah und ich darunter unsere Räume hatten, hier nur eine Tür war.

Dort zog mich Noah hinein. Wo Noah und mein Zimmer durch eine Wand getrennt waren, war hier ein Mauerdurchbruch, der beide Räume verbannt. Im hinteren Teil konnte ich Levi entdecken, der auf eine der Wände schaute.

„Marcus, was meinst du, wo passt das Bild besser hin?“

Erstaunt schaute ich mich in dem großen Zimmer um. Mittelpunkt war das große Bett. Viel zu groß für eine Person. Wie unten im Wohnzimmer, war auch hier ein offener Kamin. Es gab eine kleine Sitzgruppe mit Fernseher und eine kleine Schrankwand.

Levi hüstelte und gewann so wieder meine Aufmerksamkeit. Erst jetzt sah ich direkt zu ihm und bemerkte die Bilder, die an den freien Stellen hingen. Wie Noah schon erzählte, schien er Wasser zu lieben.

Auf jedem Bild war Wasser zu sehen. Entweder war es ein See im Morgengrauen, oder ein alter Kutter auf einem Fluss. Levi stand davor und hatte Noahs Geschenk in der Hand.

„Ähm, wenn du die zwei Bilder dichter zusammen hängst und dieses…“, ich zeigte auf das Bild über dem Bett, „… dazu hängst, kannst du das East River bei Nacht, über das Bett hängen.“

Levi drehte sich um und schaute wohl meinen Vorschlag an.

„Stimmt, da kommt Noahs Bild besonders gut zur Geltung und ich sehe es jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe!“

Noah strahlte. Sein großer Bruder stellte vorsichtig den Kunstdruck ab und kletterte auf sein Bett. Schnell war das Bild über dem Bettkopf abgehängt. Ich trat heran und nahm es ihm ab, damit er nicht wieder heruntersteigen musste.

Noah gab ihm das neue Bild, das Levi stolz an der gleichen Stelle aufhängte, wo vorher das andere hing.

„Hängt es gerade?“

Ich stellte mich mit Noah ans Bettende und schaute.

„Könntest du etwas zur Seite gehen?“, fragte ich.

Levi nickte und trat ein Schritt zurück. Dabei verfing er sich an der Tagesdecke, mit dem das Bett abgedeckt war und fiel nach hinten. Zum Glück war das Bett so groß, denn er kam noch auf dem Bett auf.

Aber er hatte so viel Schwung drauf, dass er doch vom Bett kullerte. Noah fing laut an zu lachen und auch ich musste mir ein Grinsen verbeisen, weil es so lustig aussah.

„Hast du dir weh getan?“, fragte ich nun doch etwas besorgt, weil Levi sein Gesicht verzog.

„Nein…, mein Ego ist angekratzt…!“

Noah half seinem Bruder auf.

„Das Bild hängt übrigens gerade!“

*-*-*

Mum hatte angerufen und mir vom Anwalt ausgerichtet, dass ich erst einmal still halten sollte. Wenn es aber noch einmal zu einer Konfrontation mit dem Großvater kommen würde, müsste man gerichtliche Schritte einleiten, um ihm Einhalt zu gebieten.

Ich saß an meinem Schreibtisch und dachte über das Gehörte nach. Ich war mir sicher, dass Mrs. Scott Senior es nicht darauf beruhen ließ, mich zum kündigen zu bewegen. Die Sorge, er könnte irgendwie zu anderen Mitteln greifen, kam in mir auf.

Aber nicht wegen mir, sondern wegen den Zwillingen, dass ihnen irgendetwas deswegen zu stoßen könnte. Nachdem was ich bis jetzt alles gehört hatte, traute ich diesem Menschen alles zu.

Aber ich fragte mich auch, warum er das alles tat? Was brachte es ihm ein? Nur um Levi seinen Hass zu zeigen, denn etwas anderes war es nicht, was diesen Mann wahrscheinlich antrieb.

Noah war in seinem Zimmer und spielte, während Levi sich ins Büro verzogen hatte. Dank seiner Umhängaktion, konnte auch ich meine Bilder aufhängen, da sich die Frage nach Werkzeug erübrigte.

Sie kamen gut und passten auch zum Rest des Zimmers. Ich rief meine Mails ab und war verwundert, dass neben den vielen Werbungen auch eine von Mike dabei war. So öffnete ich diese zuerst.

Er schrieb, dass ich mir das doch kurz anschauen und ihm mitteilen sollte, was ich davon hielt. Ich sah auf den File und wunderte mich, ob ich das überhaupt öffnen konnte. Ich klickte das Datenpaket an und siehe da, es öffnete sich wirklich.

Ich wusste nicht, dass ich dieses Programm der Raumausstattung noch auf meinem Laptop hatte. Ich musste schmunzeln, als Ellas Raum sichtbar wurde und es mich an die Bastelei mit Noah erinnerte.

So sah ich mich in diesem virtuellen Raum um, schaute ins Bad und konnte sogar den Raum verlassen. Ich befand mich jetzt Flur, der zum Treppenhaus und dem anderen Zimmer mündete.

Auch hier schaute ich kurz hinein und stellte fest, dass Mike einige Möbel vom Dachboden verwendet hatte. Ob das seine Idee, oder die von Levi war, wusste ich nicht. Auf alle Fälle würde es Ellas wünschen entsprechen, mehr Möbel ihrer Eltern zu behalten.

Ich schnappte mir kurzerhand den Laptop und begab mich ein Stockwerk höher. An Levis Büro angekommen, klopfte ich am Türrahmen, um auf mich aufmerksam zu machen. Levi schaute auf.

„Hast du kurz Zeit?“

„Für dich immer“, grinste er mich an.

Ich zog lächelnd die Augenbraun nach oben und lief zu ihm an den Schreibtisch.

„Mike hat mir etwas geschickt…“, meinte ich, beugte mich vor und stellte mein Laptop vor ihn hin.

Mit einem Tastenklick öffnete ich erneut das Programm und Ellas Zimmer wurde sichtbar.

„Das ist ja cool“, meinte er und nahm mein Laptop in Besitz.

Ich stellte mich wieder gerade hin und beobachtete Levi, wie sein Finger über das Touchpad jagte. Das Strahlen in seinem Gesicht wurde dabei nicht weniger. Er schien begeistert zu sein.

„Das zweite Zimmer mit den vorhandenen Möbeln auszustatten, finde ich eine gute Idee!“

Ganz meine Meinung!

„Das wird Ella bestimmt gefallen… du kennst nicht zufällig noch ein Maler, Fliesenleger und

Installateur?“

„Ähm, nein, aber ich kann Mum fragen, mit welchen Firmen sie zusammenarbeiten. Warum fragst du?“

„Ellas Bad ist der einzige Raum, der nach… dem Tod meiner Eltern nicht renoviert worden ist. Bevor Noah aber Ellas altes Zimmer beziehen kann, sollte das erledigt werden.“

„Gut, ich werde mich mit Mum kurz schließen, welche Firmen dafür in Frage kommen…, aber wird das… alles auf einmal nicht zu teuer?“

Levis Grinsen war nicht gewichen.

„Du arbeitest nicht für eine arme Familie! Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich übernehme mich schon nicht. Anders ist es mit der Arbeit. Mir wäre recht, wenn du dich um alles kümmern würdest!“

Ich griff nach einem Notizzettel und dem Kugelschreiber, der vor Levi lag.

„Nicht der!“, meinte er nur und zog mir den Kuli aus der Hand.

Dafür reichte er mir einen anderen Stift. Etwas verwundert notierte ich mir das, was er gesagt hatte.

„Was für eine Farbe?“

„Weiß!“

„Dusche und Badewanne?“

„Nur Dusche, Noah duscht für sein Leben gern und falls er doch mal baden möchte, kann er das auch hier oben machen!“

Ich nickte, wieder etwas dazugelernt.

*-*-*

Ich hatte Mike eine kurze Mail zukommen lassen, dass mir sein Entwurf gut gefiele und meinem Boss auch. Mum wollte ich später selbst anrufen. Wie schon an den anderen Tagen, war ich aber nun mit Noah auf dem Weg zur Schule, um Ella abzuholen.

Ella schien es nicht zu stören und Noah hatte an diesem täglichen kleinen Sparziergang sogar Spaß. Wir liefen auch nicht alleine, sondern wurden meist von Schülern aus Ellas Klasse zurückbegleitet, weil sie den gleichen Schulweg hatten.

Noah lief dann immer an meiner Hand und wich mir nicht von der Seite.

„Mr. Brown, haben sie eigentlich einen Kurs in Malerei belegt?“, fragte Elijah, der neben Ella lief.

„Das war in meinem Studium enthalten, warum fragst du?“

„Wir haben die Aufgabenstellung bekommen, ein Tier entweder realistisch oder abstrakt zu malen, aber wir können uns nicht entscheiden, welche Richtung wir nehmen sollen.“

„Hm, wenn du es realistisch malst, wird die Bewertung sicher darauf hinauslaufen, wie sehr du dich an die genauen Details und Charakterzüge des Tieres hältst!“

„Charakterzüge?“

„Ja, auch Tiere haben einen Charakter, nicht nur wir Menschen und wenn du das Tier abstrakt malst, läuft es darauf hinaus, wie gut dein Lehrer…“

„Lehrerin!“

Ich lächelte ihn an

„… wie gut deine „Lehrerin“ im interpretieren ist, wie sie das Abstrakte auslegt und auffasst.“

„Dann ist das Abstrakte einfacher!“, sagte nun Ella.

„Kommt auf dich und deine Fantasie an, Ella. Wenn jemand die Detailtreue liebt, ist das Reale besser.“

„Oh, hört auf, ihr macht mich noch unischerer, was ich machen soll“, beschwerte sich nun Evelyn.

„Wann müsst ihr die Arbeit fertig haben?“, fragte ich nun.

„Ende nächster Woche“, antwortete Elijah.

„Wenn Ellas Bruder nichts dagegen hat und ihr Lust habt, können wir gemeinsam in den Zoo gehen.“

„Ich will auch in den Zoo!“, meldete sich Noah zu Wort.

„Wieso Zoo, im Internet gibt es doch genug Tierbilder!“, sagte Evelyn.

Erneut blieb ich stehen.

„Ein lebendiges Tier zu beobachten, ist immer noch besser als nur eine leblose Fotografie im Internet zu betrachten.“

Am Haus angekommen, verabschiedeten sich die beiden von uns. Natürlich stürmte Noah, kaum stand die Haustür offen,  zu Levi nach oben. Worte wie Zoo, Tiger und Bär drangen an mein Ohr. Ich musste schmunzeln. Ella wirkte nachdenklich, während sie sich ihrer Schuhe entledigte.

„Über was denkst du nach?“, fragte ich einfach.

„Wie ich abstrakt ein Tier malen kann.“

„Wenn du es auf die Farben beziehst, kannst du mit den Farben spielen. Zum Beispiel ein Tiger, da hast du weiß, schwarz und goldgelb bis rotbraun. Jeder kennt dieses Farbenspiel, die in bestimmter Form an einen Tiger erinnern. Spielst du aber mit dem Licht, sind Schattenspiele wichtig, welches das Tier und seine Umwelt wirft.“

Sie schien über mein Gesagtes nachzudenken und nickte nur. Mein Blick glitt wieder die Treppe hinauf, denn Noah schien wieder herunter zu kommen. Zwar deutlich leiser als vorhin, aber für mich immer noch hörbar.

Wenig später erschien er auf den obersten Stufen zum Erdgeschoss. Seine Jacke hatte er immer noch an. Nur seine Schuhe trug er nun in der Hand. Da hatte sein Bruder wohl ein Machtwort gesprochen. Ihm folgte, wie nicht anders zu erwarten, Levi selbst.

„Ich habe gehört, wir gehen in den Zoo?“

„Wir?“, stellte ich als Antwort die Gegenfrage und schmunzelte.

„Ja, Noah sagte, „WIR“ gehen in den Zoo.“

Er hätte das wir nicht betonen müssen, ich verstand den Wink auch so.

„Ja, ich habe Ellas Schulfreunden vorgeschlagen, mit ihnen in den Zoo zu gehen, da sie als Aufgabestellung eine reale, oder abstrakte Darstellung eines Tieres abliefern sollen.“

Mittlerweile war Levi unten angekommen und stand auf der letzten Stufe. Somit war er nun fast ein Viertel Kopf größer wie ich. So musste ich dieses Mal hinaufschauen, nicht er.

„Das ginge dann nur Samstag, wenn keine Schule ist.“

„Da habt ihr aber keine Zeit, weil ihr einkaufen geht und samstagmittags ist Zoo bekanntlich voll“, grinste ich.

Ella, die neben uns stand, schaute zwischen uns hin und her.

„Man könnte aber an der Schule anrufen und eine am Mittag stattfindende Exkursion vorschlagen!“

Verunsichert schaute ich ihn nun an.

„Ähm, das geht?“

„Ja, die Saint Ann Schule ist eine private Schule, mit besonderen Programmen, die den Schülern erlaubt, themenbezogen Ausflüge zu gestalten.“

Mist, ich hatte mir vorgenommen, mich mit der Schule zu befassen und deren Homepage zu studieren. Bisher hatte ich aber noch keine Zeit gefunden, besser gesagt, ich hatte es schlichtweg vergessen.

„Vielleicht sollte ich morgen früh gleich dort anrufen und den Vorschlag unterbreiten.“

„Du willst mit?“, fragte nun auch Ella.

„Du weißt doch, wie froh die Schule ist, wenn Eltern, oder Erziehungsberechtige sich einbringen und schließlich muss ja jemand auf euch Rasselbande aufpassen!“

„Dann würde ja Marcus reichen, der kann uns wenigstens mit Rat und Tat zur Seite stehen!“

*-*-*

Ich hatte mit kurzerhand entschlossen, nach dem Abendessen, noch zu meinen Eltern zu fahren. Ich saß mit Mum am Esstisch und redete mit ihr über Levis Pläne.

„Mum, das habe ich auch gefragt und er sagte nur, dass ich nicht für eine arme Familie arbeiten würde.“

„Gut, ich frage bei unseren Partnern nach, ob sie es einrichten könnten, bei euch jemand vorbei zu schicken.“

Ich lächelte sie an.

„Danke!“

Sie legte ihre Hand auf meine.

„Dir scheint es dort wirklich Spaß zu machen.“

„Ja, mit den drei Geschwistern, erlebe ich jeden Tag etwas Neues!“

Sie schien trotzdem besorgt zu sein, das ließ ihr Gesichtsausdruck vermuten.

„Vanessa hat mir noch ein bisschen mehr über Levi erzählt…“

Das war mir neu.

„… unter anderem auch, dass er wie du auf Männer steht.“

Das wunderte mich jetzt allerdings, dass Vanessa gerade dies Mum erzählt hatte und ich vermutete, dass mich auch Mum vor ihr geoutet hatte.

„Ja und, damit habe ich keine Schwierigkeiten!“

„Marcus, ich auch nicht! Ich möchte nur nicht, dass dir irgendwer weh tut…!“

„Mum, er ist mein Boss…!“

„…und es gibt viele Chefs, die ihre Sekretärin geheiratet haben!“, fiel sie mir ins Wort.

„Ich bin nicht seine Sekretärin!“

Sie verdrehte die Augen.

„Du weißt, wie ich das meine! Levi ist ein gutaussehender und sehr sympathischer Mann. Ich möchte nur, dass du auf dich aufpasst.“

Weiter kam sie nicht, denn die Haustür wurde aufgeschlossen und Mike kam herein.

„Oh hallo, welche seltener Glanz in unser ach so bescheidenen Hütte!“

„Michael!“, kam es mahnend von Mum.

Darauf grinste Mike nur und hing seine Jacke auf.

„Hallo Mike!“, sagte ich.

„Was führt dich her, wieder Probleme?“

„Nein, ich bin rein beruflich hier, Levi möchte noch etwas ändern.“

Leicht geschockt, blieb Mike abrupt stehen.

„Gefällt ihm mein neuer Entwurf jetzt doch nicht?“

„Nein, das hat nichts mit deinem Entwurf zu tun! Ellas Bad soll renoviert werden, bevor Noah ihr Zimmer bezieht.“

„Man, erschreck mich doch nichts so. Ich habe Levi schon gesagt, wenn er noch eine Änderung bringt, müssen wir das Stockwerk aufstocken!“

„Das hast du ernst gemeint?“, fragte Mum.

„Liebe Mutter! Du müsstest wissen, über so etwas mache ich keine Witze!“

Warum plötzlich so förmlich?

„Ist ja okay. Falls du Hunger hast, in der Küche steht euer Essen! Wo sind überhaupt dein Vater und William?“

Jetzt erst fiel mir auf, dass ich Oliver gar nicht gesehen hatte. Müsste er mit seinem gebrochenen Arm eigentlich nicht zuhause sein?

„Die sind noch ein Bier trinken gegangen.“

„Warum bist du dann nicht bei ihnen?“, wollte Mum wissen.

„Du weißt, ich kann mit William nicht so…“

Mum seufzte.

„Wo ist überhaupt Oliver, ich dachte er liegt zuhause auf der Couch und jammert?“

„Oliver war seit zwei Tagen nicht zuhause…“, antwortete Mum tonlos.

„Er könnte dir wenigstens sagen, wo er ist, damit du dir keine Sorgen zu machen brauchst… auch wenn du…!“

„Michael!“, fiel Mum ihm hart ins Wort.

Was war hier am Laufen?

„Mum, wie lange willst du noch darüber schweigen? Du hast viel zu lange gewartet, du musst es Marcus endlich sagen!“

„Was soll sie mir sagen?“, fragte ich verwundert

Jetzt war ich doch etwas beunruhigt. Mum seufzte erneut und ihr Gesicht verschwand hinter ihren Händen. Mike setzte sich zu ihr an den Tisch und legte seinen Arm um sie.

„Marcus ist sechsundzwanzig, findest du nicht, es ist etwas übertrieben, ihn immer noch in Schutz zu nehmen, er ist kein Kind mehr!“

Fassungslos schaute ich die beiden an. Was gab es Schlimmes, was man mir verheimlichen musste? Mum ließ ihre Hände sinken und nahm erneut meine Hand.

„Ich bin nicht die leibliche Mutter von Oliver und William!“

Geschockt sah ich Mum und Mike an, der mir zu nickte.

„Wie… was?“

„Als ich deinen Vater kennen lernte, hatte er aber bereits zwei Kinder…“

„Oliver und William sind…“

Mum nickte.

„… nur deine und ja meine Stiefbrüder“, beendete Mike meinen Satz.

„Aber warum habt ihr mir das nicht schon früher gesagt, das ändert doch nichts daran, dass sie meine Brüder sind?“

„Hast du dich nie gewundert, warum die beiden so sind, wie sie sind, uns beiden auch nicht ähneln?“, fragte Mike.

Immer noch schockiert, schüttelte ich leicht den Kopf.

„Mum wollte nur nicht, dass du sie hasst, wenn sie sich in der Vergangenheit gegenüber unserer Mutter so unfair benommen haben!“

Das konnte ich nicht glauben, aber immer mehr Erlebtes und Erinnerungen ploppten in meinem Denkapparat  auf. Das beantwortete natürlich viele Fragen, die ich mir früher stellte.

„Es tut mir leid, Marcus, dass ich dir das nicht schon früher gesagt habe.“

„Mum, du musst dich bei mir nicht entschuldigen! Du hast deine Gründe dafür gehabt! … es ist nur so, dass sich jetzt vieles erklärt…“

*-*-*

Schweigend saß ich neben Mike. Er bestand darauf, mich zurück zu fahren. Er wollte nicht, dass ich um diese Zeit noch mit der U-Bahn fuhr. Er fand das zu gefährlich.

„Darf ich dich etwas fragen?“, kam es von Mike.

„Warum fragst du, tust du sonst doch auch nicht…!“

„He komm, jetzt sei nicht so…“

„Wie bin ich denn? Bis zu meinem Auszug, war ich immer das Ziel von euch drei. Keine scherte sich darum, ob mir das vielleicht weh tun könnte. Gut bei William und Oliver verstehe ich jetzt, ich bin ja nur der kleine Halbbruder. Aber du warst auch nicht anders, obwohl ich dein realer Bruder bin.“

„Vielleicht hatte Mum doch recht, es dir nicht sagen zu wollen.“

„Ach lass Mum aus dem Spiel! Es ändert nichts daran, ob wir Brüder oder Stiefbrüder sind…, es erklärt einiges, aber wir wechseln nicht in einen anderen Modus!“

Mike schaute stur auf die Straße vor sich.

„Ich vermiss dich eben…“, sagte er plötzlich.

„Bitte was?“

Ich glaubte mich verhört zu haben.

„Sorry, es tut mir leid, Marcus. Ich wusste nicht, dass ich dich damit verletzte…, es hat halt einfach Spaß gemacht dich aufzuziehen. Das Abendessen war auch die einzige Zeit wo wir alle zusammen waren.“

So hatte ich Mike noch nie reden hören.

„Und jetzt, wo du weg bist…“, er blies kräftig seine Luft aus.

Er schien zu lächeln, aber seine feuchten Augen sagten etwas anderes.

„… mir kommt es vor, als warst du derjenige, der die Familie zusammen gehalten hast.“

„Die Aufgabe kam Mum zu Teil…“, sagte ich leise.

„Mum hat dich nur unterstützt, du warst aber der Hauptgrund, warum wir abends zusammen saßen.“

Ich verstand nicht und sah ihn fragend an. Mittlerweile waren wir am Haus der Scotts angekommen. Mike parkte ein und stellte den Motor ab. Dann sah er zu mir herüber.

„Das Abendessen fand nur wegen dir statt, weil du der einzige warst, der an unserem täglichen Leben, nicht teilgenommen hat. Jeder wollte wissen, was du den Tag über gemacht hast.“

„Man hätte ja fragen können?“

„Du weißt, dass du Dads Liebling bist?“

„Ich?“

Ich fing laut an zu lachen.

„Sicherlich nicht!“

„Doch bist du!“

„Also ich habe das anders in Erinnerung!“

„Dad wollte immer, das wir vier in der Firma arbeiten, weil er uns alle um sich haben wollte.“

„Deswegen bin ich auch die Enttäuschung der Familie!“

„Quatsch! Dad ist nur traurig, weil er an deinem Leben nicht mehr teilhaben darf. Seit du weg bist, fragt er Mum ständig, ob sie etwas von dir gehört.“

Das konnte ich jetzt irgendwie nicht glauben.

„…  und Oliver und William haben sich nur so auf dich eingeschossen, weil sie neidisch auf dich sind.“

„Neidisch?“

In meinem Kopf herrschte bereits Chaos, aber diese Anmerkung setzte dem Ganzen die Krone auf.

„Du bist der jüngste in der Familie und doch hast du dich mit deiner Entschlossenheit durchgesetzt, etwas anderes machen zu wollen, als es Dad geplant hat.“

„Das hätte jeder von euch!“

„Für Oliver und William gab es keine andere Option, für sie war es nur natürlich, in Vaters Fußstapfen zu treten. Die Idee vielleicht etwas anders machen zu wollen, kam erst gar nicht auf.“

„Und warum sind sie jetzt neidisch?“

„Weil du ihnen gezeigt hast, dass es auch anders geht!“

„Und du? Auch neidisch…, hasst du den Job so sehr?“

Mikes Hände lagen auf dem Lenkrad. Er schaute nach vorne und schüttelte den Kopf.

„Nein, ich liebe meinen Beruf und liebe Holz. Ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen!“

„Und trotzdem bist du auf mich losgegangen, wie die beiden anderen auch.“

Mike drehte sich zu mir und schaute mir direkt in die Augen.

„Ja, weil ich sauer war. Du hast mich einfach ausgeblendet, mir nichts mehr erzählt, mich nicht mehr um Rat gefragt!“

„Ich wusste nicht, dass dir das so wichtig ist!“

„He, du bist mein kleiner Bruder, klar ist mir das wichtig!“

Ich atmete tief aus und schaute nach oben. Warum war alles so kompliziert?

„Du wolltest etwas fragen?“, kam ich auf den Anfangspunkt zurück.

Mike wollte gerade etwas sagen, als es plötzlich an meiner Scheibe klopfte. Heftig fuhr ich zusammen und schaute nach draußen. Dort stand Levi. Mike ließ grinsend meine Scheibe herunter.

„Alles klar mit euch zwei?“, fragte Levi besorgt.

Ich atmete scharf aus, denn der Schreck saß mir immer noch in den Gliedern.

„Alles im grünen Bereich!“, lachte Mike neben mir.

„Wollt ihr nicht herein kommen, ist doch viel gemütlicher!“

„Ähm, ich sollte mich langsam auf den Weg machen, es ist schon spät!“

„Wirklich? Du kannst auch hier schlafen…, also… ich meine, wenn dein Bruder nichts dagegen hat.“

Beide sahen nun mich an.

*-*-*

Mike stand bei mir unter der Dusche. Auf meinem Bett lagen Sachen, die er danach anziehen konnte. Ich selbst war auf dem Weg nach unten. Levi hatte noch einen Wein aufgemacht. Wie am Abend zuvor hatte er es sich auf der Couch  bequem gemacht. Nur das dieses Mal drei Gläser auf dem Tisch standen, auch die Kerze fehlte.

„Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“, fragte Levi erneut, „… deine Augen sind so traurig.“

Fertig ließ ich mich ebenfalls auf die Couch nieder und atmete tief durch.

„Ich habe heute Abend nur etwas erfahren…, das hat mich etwas aus der Bahn geworfen.“

„Ähm, trete ich dir zu nahe, wenn ich frage – was?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Mein Vater war schon einmal verheiratet und hatte mit dieser Frau zwei Kinder.“

„Du hast noch mehr Geschwister?“

„Nein! Oliver und William stammen aus dieser Ehe, sie sind also meine Stiefbrüder.“

„Das wusstest du nicht?“

Erneut schüttelte ich den Kopf.

„… bis heute nicht.“

„Heftig, wie konnten die das so lange vor dir verheimlichen? Ändert das jetzt was?“

„Nein, das ändert nichts! Es erklärt nur, warum… ich mich bisher… nicht so gut mit ihnen konnte.“

„Und Michael, er ist doch dein richtiger Bruder?“

„Der hat seinem Brüderchen im Auto eben den Kopf zu Recht gesetzt!“

Mike stand in der Tür, ich hatte ihn nicht kommen hören. Sein muskulöser Body füllte meine Klamotten besser aus, wie meiner. Levi neben mir, bemerkte das natürlich auch und hüstelte leicht verlegen.

„Boah, gleich zwei von euch…“, flüsterte Levi leise.

Aber nicht leise genug. Mike wurde rot und ich fing an zu kichern. Klar war mein Bruder eine Augenweide.

„Ähm…, ich hab gehört… wie deine Tante erzählt hat… dass du…ähm…, sorry ich steh nach wie vor auf Frauen!“

Dabei wedelte er abwehrend mit seinen Händen. Das war jetzt zu viel für mich, ich fing an zu lachen.

„Setzt dich“, meinte Levi und schenkte nun Wein in sein Glas ein, „und sorry, ist mir nur so heraus gerutscht.“

Mike schaute unsicher zwischen uns hin und her.

„Ist… da etwas zwischen euch?“, fragte Mike und zeigte auch auf uns beide.

Mein Lachen verstummte.

„Nein Mike“, antwortete Levi, „auch wenn das Klischee oft verwendet wird, nicht jeder Schwule springt gleich mit einem anderen ins Bett. Da gehört schon etwas mehr dazu… ist so, wie bei euch Heten auch!“

Ich hätte nie gedacht, dass Levi so frei und ungehemmt über so etwas sprechen konnte. Aber gleichzeitig ließ es mich auch erröten, weil er ein Zusammensein nicht ganz ausschloss.

„Sorry, ich wollte euch nicht zu nahe treten“, entschuldige sich Mike.

„Tust du nicht, also ich spreche für mich, ich kenne Marcus Meinung nicht.“

Beide sahen wieder zu mir, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Dann setzte ich mich wieder anständig hin und nahm mein Glas Wein.

„Ich meine auch nur…, ihr wirkt so vertraut miteinander.“

„Ja, Marcus hat in kürzester Zeit geschafft, dass meine Geschwister und ich ihn ins Herz geschlossen haben.“

„Ja, so ist der Kleine…, immer alles mit hundert Prozent und wenn es geht noch mehr!“

„Ähm… redet nicht so, als wäre ich nicht da!“, beschwerte ich mich, unwohl fühlend.

„Dann solltest du dich an der Unterhaltung beteiligen!“, meinte Mike und Levi fing an zu kichern.

„Ich habe dir schon im Auto gesagt, du erzählst zu wenig!“

In Nu war meine bessere Stimmung wieder dahin. Auch Levi grinste nicht mehr.

„Marcus hat erzählt…, dass er heute Abend erfahren hat…“

„Ja ich weiß, heftige Sache“, fiel ihm Mike ins Wort.

Nun schwiegen beide.

„He, es ist alles gut, es wird sich nichts ändern! Wobei ich nicht weiß, wie ich mit dem jetzigen Wissen auf sie reagieren soll.“

„Also ändert sich doch etwas?“, warf Levi ein und nahm einen Schluck.

Auch Mike sah mich fragend an.

„Nein, so meinte ich das nicht.“

Ich sah zu Mike.

„Oliver und William sind nach wie vor meine Brüder… nicht Stiefbrüder. Aber du hast gesagt, sie wären neidisch auf mich, weil ich mich als jüngster anders entschieden habe, als die beiden.“

Mike nickte.

„… und ich weiß jetzt nicht, ob ich etwas tun kann, um diesen Zustand zu ändern!“

„Du warst schon immer harmoniesüchtig! Schon als kleiner Kerl… wie oft bin ich morgens aufgewacht und du hast neben mir im Bett gelegen!“

„Da kenn ich noch einen…“, meinte Levi grinsend und ich spürte, die leichte Hitze, die von meinem Gesicht Besitz ergriffen hatte.

„Sorry… wir reden nur von uns“, meinte Mike plötzlich.

„Nicht schlimm! Ich lerne dadurch Marcus auch besser kennen und ich sehe, dass nicht nur ich Probleme habe, die es zu bewältigen gilt.“

Er spielte sicher auf seinen Grandpa an.

„Wenn es Probleme gibt, meine Mutter und ich helfen gerne!“, sagte Mike lächelnd.

*-*-*

„Levi… da liegt einer in Marcus Bett“, weckte mich Noahs Stimme.

Erschrocken fuhr ich hoch. Die zwei Brüder standen an der offenen Zimmertür. Ich hatte sie doch gestern geschlossen.

„Das ist doch Michael, den kennst du doch!“, meinte Levi.

Da Mike auf dem Bauch lag, konnte ihn Noah natürlich nicht erkennen. Mike wurde endlich wach.

„Onkel Michael?“, fragte der Kleine strahlend, kam ins Zimmer und hüpfte aufs Bett.

Onkel? Wie kam Mike zu den Ehren zum Onkel aufzusteigen.

Unter dem Gewicht von Noah stöhnte Mike natürlich auf. Ich wusste selbst, dass der Junge nicht leicht war.

„He, was soll das?“, rief Mike gespielt empört..

Er drehte sich leicht und begann Noah durch zu kitzeln. Levi schüttelte den Kopf und lächelte.

„Ich bring dann Ella zur Schule bis gleich!“

Er winkte uns zu und verschwand aus unserem Blickfeld.

„Was ist denn da los?“, hörte ich Ella fragen.

„Marcus Bruder ist zu Besuch!“

„Oh, da will ich hallo sagen!“

„Nein, komm, wir sind schon spät dran!“

Und schon hörte ich die Treppe. Vielleicht besser so. Ich wusste nicht, ob Ella geballte Männlichkeit ertragen würde, denn er hatte nur seine Shorts an.

„Ja stimmt, ich muss auch aufstehen… hast du etwas für mich zum Anziehen, ich möchte ungern die Sachen von gestern anziehen.“

Schwer atmend, lag Noah nun in seinen Armen, aber er strahlte.

„Hinter der Tür dort, sind meine Klamotten und du Noah stehst auf und ziehst dich auch an!“

Ohne zu Murren flitzte der Junge in dein Zimmer.

„Der hört dir aufs Wort! Cool! Du hast gar nichts gesagt, dass du einen begehbaren Kleiderschrank hast.“

„Du hast auch nicht gefragt, sondern nur die Kisten unten abgestellt!“

Es dauerte eine Weile bis wir alle drei angezogen unten in der Küche eintrafen.

„Oh, guten Morgen Mr. Brown, sie sind auch da“, begrüßte ihn Sofia.

„Ja, es ist gestern etwas spät geworden“, meinte er verlegen.

„Auch einen Kaffee?“, fragte ich und mein Bruder nickte.

Die Haustür wurde aufgeschlossen und Levi kam zurück.

„Das mit dem Ausflug geht klar, ich habe Ellas Hauslehrer vor der Schule getroffen“, hörte ich ihn im Flur sagen.

„Okay…“, sagte ich mehr zu mir.

Ich stellte Mike eine Tasse Kaffee hin, während Noah seine heiße Schokolade von Sofia serviert bekam. Levi kam herein und nahm auf seinem Stuhl Platz. Grinsend sah er zu Noah, der dicht an Mike saß.

„Ich bin immer wieder fasziniert, wie der Kleine sich euch gegenüber benimmt“, meinte Levi zu Mike.

*-*-*

Daran könnte ich mich wirklich gewöhnen, dass Mike mich zum Abschied umarmte.

„Ich melde mich“, hatte er noch gesagt.

Während ich Mike noch hinter her sah, war Levi bereits losgefahren, unterwegs zu seiner Firma. Noah war bei mir geblieben und winkte immer noch Mike hinter her.

„Lass uns hinein gehen, Noah“, sagte ich und zog leicht an dessen Schulter.

„Onkel Mike ist nett!“, sagte der Junge plötzlich.

Überrascht sah ich den Jungen an. Wann hatte Mike ihm die Erlaubnis gegeben, ihn so zu nennen? Er drehte sich und lief zur Treppe. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Noah etwas geändert hatte.

Ich konnte nicht beschreiben, wie diese Änderung aussah, aber er wirkte auf mich, als wäre er gewachsen. Nicht in seiner Größe, sondern in seinem Handeln. Er wirkte immer noch wie ein Kind, aber eins, dass wie andere dazu lernte.

Kopf schüttelnd lief ich ihm hinter her. Drinnen steuerte er geradewegs aufs Wohnzimmer zu. Ich dagegen ging zur Küche, wo Sofia bereits dabei war, das Mittagessen vorzubereiten.

„Sofia, kann ich sie etwas fragen?“

„Aber sicher doch!“

„Es geht um Noah. Wann wurde bei ihm die Behinderung festgestellt?“

„Lassen sie mich überlegen…, da muss er sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Warum fragen sie?“

„Ist der seitdem noch einmal richtig untersucht worden?“

„Das übersteigt meine Kenntnisse, da müssten sie Levi schon selbst fragen.“

„Danke, Sofia!“

Nachdenklich verließ ich die Küche und lief zu Noah hinüber. Der Junge hatte gegen meine Erwartung kein Fernseh an, sondern saß nur auf dem Boden und blätterte in einem Buch.

„Was schaust du dir an?“, fragte ich.

„Tiere im Zoo.“

Ich musste lächeln. Da freute sich einer aber ganz gewaltig auf den Zoo. Da fiel mir etwas ein.

„Noah, möchtest du schon heute Tiere sehen?“

„Au ja! Gehen wir jetzt schon in den Zoo?“

„Nein, wir besuchen Tante Nora!“

„Und was für Tiere gibt es da?“

„Ich habe dir doch erzählt, dass der Nachbar meiner Mutter Hasen besitzt.“

„Rote Hasen?“

Ich grinste ihn an.

„Wenn einer eine rote Hose anhat, ja! Aber da gibt es eine Kleinigkeit, die du tun müsstest!“

Noah stand auf und kam zu mir.

„Was?“

„Wir müssten mit dem Zug im Dunkeln fahren.“

„Der Zug im Dunkeln…“

Er schien zu überlegen. Dann atmete er tief durch.

„Will die Hasen sehen…!“

„Also Zug im Dunkeln! Gut, dann zieh dir eine richtige Hose an und ich rufe deinem Bruder an und sage ihm Bescheid.“

„Oki doki!“

Und schon stürmte er die Treppe hinauf.

„Noaaah!“, hörte ich nun Sofia rufen.

Ich folgte dem Jungen die Treppe hinauf, aber wesentlich leiser. Ich zog mein Handy heraus und drückte die Taste zu Levis Durchwahl. Es dauerte auch nicht lange und Levi nahm das Gespräch an.

Er saß natürlich noch im Auto, deutlich waren Fahrgeräusche zu hören.

„Nein, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich mit Noah zu mir nach Hause fahre und beim Nachbarn Hasen an zuschauen.“

„Wusstest du das vorhin noch nicht?“

Die Frage hörte sich nicht vorwurfsvoll an.

„Nein, ich kam drauf, weil Noah gerade eine Sendung mit Tieren angeschaut hat.“

„Schafft ihr das, wieder pünktlich zum Mittagessen da zu sein?“

„Hm, könnte etwas knapp werden. Ich weiß nicht wie fit Noah ist.“

„Weißt du was, wenn ich hier fertig bin, komme ich einfach nach und wir können mit dem Auto zurück fahren.“

„Wenn dir das nicht zu viel wird…?“

„Ach wo, sicher nicht und außerdem sehe ich einmal etwas anderes, als die Firma und unser Zuhause.“

„Okay, dann bis später.“

„Schickst du mir noch die Adresse, damit ich weiß wo ich hin muss?“

„Werde ich sofort machen, wenn du aufgelegt hast.“

„Danke!“

„Also dann, bis nachher.“

„Bis nachher und viel Spaß!“

„Danke…bye!“

*-*-*

Natürlich hatte ich mich telefonisch bei Mum angemeldet, aber die zweite Überraschung des Tages war, dass Noah dieses Mal keinerlei Angst zeigte, als wir zur U-Bahn Station hinunterliefen. War es die Vorfreude auf die Hasen, oder weil er wusste, was ihn hier unten erwartete.

Auch wenn diese Fahrt etwas länger dauerte, schien es ihm nichts auszumachen. An der Forrest Hill Avenue verließen wir die U-Bahn und liefen zum Bahnhof hinüber. Meine Sorge Noah könnte erneut Angst bekommen, war unberechtigt.

Für ihn waren das Züge im Hellen. Sein Gesicht klebte an der Scheibe, um ja nichts zu verpassen. In Holis verließen wir wieder den Zug und zu meiner Verwunderung stand dort Mum, um uns abzuholen.

Ich hatte etwas Sorge, dass Levi vielleicht Probleme hatte, uns zu finden, aber dank der Technik, dem Navi, dürfte er eigentlich keine Schwierigkeiten haben. Der Großteil der Strecke lief über die Interstate 278, dem Brooklyn Queens Expressway.

„Hallo Jungs!“, rief sie uns entgegen.

„Hallo Tante Nora!“, rief Noah laut.

Wie vorher abgesprochen, blieb er aber an meiner Hand und rannte nicht los, als er Mum sah.

„Und? Irgendwelche Probleme hier her?“, fragte Mum mich.

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann alle einsteigen“, sagte Mum lächelnd und öffnete Noah die hintere Tür.

Als sie an mir vorbei lief, fragte ich leise nach Oliver, aber sie schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen. Die restliche Fahrt zu unserem Haus verlief eher ruhig. Noah war damit beschäftigt, die Gegend anzuschauen und Mum und ich schwiegen uns an.

Ich verstand nicht, warum Oliver so war. Was Mike mir alles in Kurzform erzählt hatte, passte nicht zu dem Bild, welches ich von meinem ältesten Bruder hatte. Es war eben ein falsches Bild, wie es sich heraus stellte.

Das Bekenntnis meiner Mutter schien wohl doch Änderungen heraufzubeschwören. Dies war mir gar nicht recht. Mein Auszug von zu Hause hatte schon genug Änderung gebracht und dies schien wohl nun auch dazu zu gehören.

Schnell waren wir am Haus angekommen und Mum fuhr die Einfahrt hinauf. Ein anders Auto konnte ich nicht ausmachen.

„Hier wohnst du?“, fragte Noah meine Mutter.

„Ja! So aussteigen.“

„Das ist größer als unser Haus.“

„Ihr seid drei und wir sind sechs!“

Augenblicklich wurde Noah wieder unsicher und versteckte sich hinter mir, als er das hörte.

Ich beugte mich zu ihm hinunter.

„Ich habe dir doch gesagt, ich habe noch drei Brüder… Onkel Mike kennst du doch schon.“

„Noch mehr Onkel?“

Mum kicherte.

„Ja, noch mehr Onkel, aber die sind alle nicht da!“

„… und die Hasen?“

*-*-*

Ich saß mit Noah auf der großen Verandaschaukel. Sein Kopf ruhte auf meinem Schoss. Zu viele Eindrücke hatten ihn müde werden lassen. Gleichmäßig ging sein Atem. Mum kam zurück mit einem Tablett in der Hand.

„Ist er wirklich eingeschlafen?“, fragte sie leise.

„So aufgedreht er sein kann, so schnell schläft er aber auch. Er kann überall schlafen.“

„Er sieht richtig süß aus!“

Mum stellte das Tablett ab. So ungefähr fand uns Levi vor, der gerade die Auffahrt hoch fuhr.

„Euer Taxi ist da“, lächelte Mum.

Der Motor verstummte und Levi stieg aus. Er sah müde aus.

„Hallo zusammen…“, rief er, aber verstummte, als er Noah schlafen sah.

„Hi!“, meinte er leise, als er zu uns auf die Veranda trat.

„Hallo Levi, auch einen Kaffee?“, kam es von Mum.

„Gerne, den kann ich jetzt gebrauchen!“

Er ließ sich auf den anderen freien Holzsessel nieder. Lächelnd schaute er zu seinem Bruder.

„War wohl doch zu viel für ihn…?“

„Aber er hatte seinen Spaß daran“, antwortete ich.

Mum stellte ihm eine Tasse Kaffee hin.

„Danke!“

Ich schaute kurz zu Mum, aber sie nickte nur. Im Vorfeld hatte ich mich mit ihr wegen Noah unterhalten. Sie bekräftige mich sogar, unbedingt mit Levi über meinen Verdacht zu sprechen.

„Levi…, darf ich dich etwas Privates fragen?“, begann ich.

Er stellte seine Tasse ab und schaute mich kurz an.

„Gibt es überhaupt noch etwas Privates, was du nicht weißt?“

Das klang weder vorwurfvoll, noch verärgert.

„Ich denke, da gibt es sicher noch vieles, aber was ich dich fragen möchte…, es geht um Noah. Wann wurde bei Noah diese Behinderung festgestellt?“

Auch wenn ich die Antwort schon wusste, stellte ich ihm diese Frage auch.

„Da muss er ungefähr sieben oder acht gewesen sein. Mum machte sich Sorgen, wegen seinem unnormalen Verhalten.“

„Wurde er seit dem noch einmal untersucht?“

Levi nahm erneut einen Schluck und schüttelte dann den Kopf.

„Warum fragst du?“

„Ich weiß nicht recht, wie ich es erklären soll… Ich bin jetzt zehn Tage jeden Tag mit Noah zusammen gewesen und ich werde das Gefühl nicht los, dass mit dieser Diagnose vor acht oder neun Jahren etwas nicht stimmt.“

„Wie kommst du darauf?“

Noah machte auf sich aufmerksam, in dem er sich noch mehr bei mir einkuschelte.

„Von seiner Motorik mal abgesehen… es geht um seine Lernfähigkeit. Alles was ich ihm zeige, wird sofort angenommen und umgesetzt und ich rede jetzt nicht nur vom Basteln. Hast du dir mal seine Zeichnungen angeschaut?“

„Ja, öfters, aber ich weiß nicht, was du meinst?“

Ich schaute zu Mum und sie reichte Levi den Block, in dem Noah gemalt hatte. Drauf war ein Hase zu sehen.

„Kein Sechsjähriger kann so einen Hasen zeichnen. Der würde eher verspielt, oder comichaft wirken, aber nicht so genau und detailliert!“

„Das hat wirklich Noah gezeichnet?“

Mum und ich nickten. Überrascht, aber auch verwirrt schaute er sich die Zeichnung länger an.

„Ihr meint also…“ begann er, verstummte aber dann wieder.

Wieder sah er auf die Zeichnung und schüttelte den Kopf. Das Blatt sank nach unten und Levi selbst, sackte etwas in sich zusammen.

„Levi, wir sind beide keine Ärzte“, begann Mum zu reden, „ weiß Gott nicht, aber Marcus und ich denken, dass mit dieser Diagnose etwas nicht stimmen kann.“

Levi atmete tief durch und rieb sich durchs Gesicht.

„Du hättest ihn heute sehen sollen, wie er mit den Hasen gespielt hat. Sein ganzer Bewegungsapparat… ist der eines fünfzehn jährigen Teenagers… und ich weiß wovon ich spreche! Ich habe vier von dieser Gattung groß gezogen!“

Mein Boss schaute zwischen uns hin und her. Er wirkte plötzlich sehr zerbrechlich auf mich.

Seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Dann war alles…, was ich mit ihm bisher gemacht habe, falsch gewesen?“

„Um Himmels Willen, Levi! So etwas darfst du nicht denken!“

Mum war aufgesprungen, war zu Levi gegangen und hatte ihn in den Arm genommen. Mir tat es weh, Levi so zu sehen. Gerne wäre ich zu ihm gegangen und hätte ihn getröstet, aber dank Noah war das nicht möglich.

„Du liebst deinen Bruder und hast sicher nichts unversucht gelassen, um ihm zu helfen.“

Levi nickte, aber die Tränen rannen weiter ungehindert über seine Wangen.

„Warum… warum habe ich das nicht gemerkt? Bei Ella habe ich schon versagt und…“

Weiter kam er nicht, denn Mum nahm sein Gesicht ihn ihre Hände und zog es in ihre Richtung. Er war kurz davor zusammenzubrechen.

„Du hast nichts falsch gemacht, Levi! Ella und Noah sind zwei wundervolle Menschen! Du hast sie mit all deiner Liebe und den Mitteln, die dir zur Verfügung standen, groß gezogen.“

„… und trotzdem habe ich ihre Bedürfnisse übersehen…“

„Nein hast du nicht!“

Mum ließ sein Gesicht los.

„Du kümmerst dich um deine Geschwister…, teilweise um den Haushalt und dann ist da auch noch die Firma…! Kein Mensch ist perfekt! Ich frage mich oft selbst, wie ich in der Vergangenheit diesen Haushalt mit fünf Männern schmeißen konnte, ohne daran zu verzweifeln. Du hast nichts falsch gemacht!“

„Aber was soll ich jetzt tun?“

*-*-*

Ich fuhr den Expressway zurück nach Brooklyn. Levi saß neben mir und war eingeschlafen. In seinem Zustand wollte und konnte ich ihn nicht fahren lassen. Das war jetzt schon der zweite Zusammenbruch in kürzester Zeit.

Ich machte mir richtig Sorgen. Wie lange würde Levi das Ganze durchhalten? Er hatte schon Recht, die Belastung mit der Firma und seinen Zwillingen war immens. Er war wie ich erst sechsundzwanzig und hatte diese große Verantwortung zu tragen.

Und nicht genug damit, der Ärger mit seinem Großvater tat sein Übriges. Es wunderte mich, warum er nicht schon viel früher zusammen gebrochen war. Da fiel mir unser Gespräch ein, wie er erzählte, dass seit ich hier wäre, sich so viel geändert hätte.

War dann nicht ich der Grund? Wieder begann ich zu zweifeln. Meine Wenigkeit konnte ihn nur unterstützen, aber würde ihm das wirklich helfen? Was er brauchte, war ein richtiger Partner, der ihn auffing, wenn es nötig war.

Jemand der die Initiative ergriff und sich schützend vor ihn stellte. Aber war das die Lösung aller Probleme? So konnte es nicht weitergehen, es lag viel zu viel im Argen. Noah, der hinter mir saß, zog meine Aufmerksamkeit auf sich, weil er ständig hüstelte.

Hatte er sich etwas eingefangen? Das wäre noch etwas, was Levi belasten würde. Wieder sah ich zu meinem Boss hinüber und sah, wie eine einzelne Träne, an seiner Wange herunter kullerte. Es tat mir weh, ihn so zu sehen.

Auch wenn ich wieder meine Grenzen überstreiten würde, ich musste ihm helfen, auch wenn ich die Konsequenzen, die daraus entstehen würden, später zu tragen hätte. Ich versuchte mich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren.

Zu lange war ich nicht mehr selbst gefahren und der New Yorker Verkehr hatte es wie immer in sich. Vielleicht war ich es auch einfach nicht mehr gewohnt. Natürlich hatten wir das Mittagessen verpasst. So schnell wollte uns Mum nicht gehen lassen.

Ich hatte Sofia aber informiert, dass es bei uns später werden würde und sie einfach das Essen warm stellen sollte. Vielleicht war es auch besser so, wenn Sofia Levi in diesen Zustand nicht zu sehen bekam.

Ich machte mir aber nichts vor, sie war nicht dumm und wusste sicher, dass etwas nicht in Ordnung war. Froh endlich unsere Straße zu erreichen, atmete ich tief durch.

„Noah, würdest du Levi wecken, aber bitte leise!“, fragte ich, bevor ich den Wagen einparkte.

Noah schnallte sich ohne etwas zu sagen ab und krabbelte hinter Levi. Aber nicht wie erwartet, rief er seinen Namen, sondern wuschelte ihn sanft durch seine Haare. seinem Bruder durchs Haar. Die Reaktion kam prompt.

Levi schlug die Augen auf. Natürlich reagierte er erst etwas desorientiert.

„Wir sind zu Hause!“, meinte ich und stellte den Motor ab.

„Sorry, ich bin wohl eingeschlafen…“

Darauf sagte ich nichts, sondern stieg aus. Danach öffnete ich Noahs Tür, die von innen vorsichthalber durch die Kindersicherung geschlossen war. Auch hier überraschte mich der Junge.

Friedlich stieg er aus und blieb neben mir stehen. Ich schnappte mir seine Hand, schaute kurz die Straße entlang und folgte dann Levi hinüber zum Haus. Drinnen angekommen entledigten wir uns der Jacken und Schuhe.

„Marcus, wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mit Noah essen, ich fühl mich nicht wohl und lege mich etwas hin.“

„Kein Problem!“, sagte ich nur.

Besorgt schaute ich ihm hinter her, bevor ich die Küche betrat. Noah war gerade dabei, drei Teller auf den Tisch zu stellen.

„Hast du Hunger?“

„Ja!“

„Dann lass uns mal schauen, was uns Sofia Leckeres gekocht hat.“

Ich öffnete den Backofen und fand darin eine Auflaufform mit überbackenen Nudeln. Mit den Topflappen zog ich die Form heraus und stellte sie auf den Tisch.

„Wo ist Levi?“

Noah wollte schon hinausstürmen.

„Halt Noah, Levi hat sich etwas hingelegt, weil er müde ist.“

„Dann hat er sicher nicht genug geschlafen“, behauptete Noah und setzte sich an den Tisch.

„Wie kommst du darauf?“

„Levi arbeitet, wenn ich schlafe.“

„Woher weißt du das, wenn du schläfst?“

Etwas verlegen schaute Noah weg. Wurde der Junge tatsächlich gerade rot?

„Wenn… wenn ich bei Levi schlafen will und er nicht in seinem Bett liegt.“

Ich musste grinsen.

„Kommt das oft vor?“, fragte ich und legte Noah eine Gabel hin, bevor ich das Essen schöpfte.

Der Junge nickte. Auch ich setzte mich nun. Ohne weiter etwas zu sagen, begann ich zu essen. Bevor ich hier anfing, musste sich Levi wohl um seinen Bruder kümmern und hatte somit wenig Zeit für seine Büroarbeit.

Kein Wunder wenn er dann nachts seine Arbeit nachholte. Also war es nur eine Frage der Zeit, dass er zusammenbrechen würde. Und ich? Ich war wahrscheinlich derjenige, der das Fass zum überlaufen brachte.

„Schmeckt es dir nicht?“

„Hm?

Noah hatte mich aus den Gedanken gerissen.

„Schmeckt es dir nicht? Du isst gar nicht.“

Ich war wohl so im Gedanken, dass ich nicht mehr weiter gegessen hatte.

„Doch, doch. Ich habe nur über etwas nach gedacht!“

„Levi denkt auch viel“, sagte Noah und schob sich die nächste Gabel Nudeln in den Mund.

Auch ich füllte meinen Mund. Der Junge bekam mehr mit, als man vermuten würde. Mein Entschluss stand fest. Es musste etwas geschehen und das möglichst bald.

*-*-*

Ich hatte Noah vorsichtshalber zu mir ins Zimmer genommen und ihn vor meinen Fernseher gesetzt. Der war zwar kleiner, wie unten im Wohnzimmer, aber änderte nichts an der Reaktion von Noah.

Der saß vor meinem Bett und sah gebannt auf die Mattscheibe. Dafür konnte Levi unten im Wohnzimmer ungehindert schlafen. Ich hätte es zwar vorgezogen, er wäre in sein Zimmer gegangen, aber dies war seine Wahl gewesen.

Etwas entmutigt, saß ich vor meinem Laptop. Die Suche nach Möglichkeiten, um Noah zu helfen, war sehr umfangreich. Mit was fing man da an? Zu viele Vorschläge wurden eingeblendet.

Ob diese auch seriös waren, war eine ganz andere Sache. Ich machte mir Notizen und schnell wurde mir klar, dass alles keinen Sinn hatte, wenn Noah nicht vorher erneut untersucht werden würde.

Mein Blick wanderte über die kleine Zeitanzeige meines Laptops und ich bekam einen Schreck. Schon so spät? Ellas Schule war bald aus und wir mussten uns auf den Weg machen. Ich drehte meinen Kopf zu Noah und wollte sagen, dass wir gehen müssen, stellte aber fest, dass auch er eingeschlafen war.

Sein Kopf lehnte an mein Bett. Ich musste schmunzeln.

„Noah…“, sagte ich leise, aber er reagierte nicht.

So setzte ich mich auf mein Bett und wuschelte ihm durch sein wirres Haar.

„Noah, wir müssen Ella abholen!“

Noah öffnete die Augen.

„Ich will nicht… bin müde…“, kam es leise von ihm.

Der Junge hatte wirklich keine Kondition, oder war es etwas anderes? Es half nichts. Ihn hier liegen lassen und alleine Ella abholen ging nicht. So rüttelte ich ihn etwas.

„Komm, sonst ist Ella traurig, wenn wir nicht da sind!“

Er meckerte etwas, was ich aber nicht verstand. Mühsam stand er auf und ging in sein Zimmer hinüber. Geht doch! Auch ich schaute kurz auf mich hinunter und befand, Straßentauglich zu sein.

Ich klappte mein Laptop zu und lief in den Flur. Noah kam gerade aus seinem Zimmer heraus und hatte ein Kaputzenshirt übergezogen.

„Wir müssen leise sein, wenn Levi noch schläft!“

„Warum muss der nicht aufstehen?“

„Weil er wahrscheinlich heute Nacht wieder gearbeitet hat und deswegen so müde ist!“

Darauf sagte Noah nichts und lief leise die Treppe hinunter. Wir wollten gerade das Haus verlassen, als sicher hinter uns jemand bemerkbar machte.

„Wo wollt ihr denn hin?“

„Ähm… Ella abholen…“, antwortete ich.

„Mist…, ist es denn schon so spät?“

Ich nickte.

„Wartet, ich zieh mir nur schnell was anderes über.“

„Lass doch, du kannst ruhig ins Büro sitzen, Noah und ich machen das schon!“

„Nein, ich muss etwas an die frische Luft!“

Ohne etwas weiter zu sagen, rannte er polternd die Treppe hinauf.

„Leiser!“, rief ich ihm nach.

Noah fing neben mir an zu kichern.

*-*-*

Leise schloss ich Noahs Tür. Heute war er erst nach der dritten Geschichte eingeschlafen. Ob er nun aufgeregt, wegen dem geplanten Zoobesuches war, oder aufgewühlt, durch das komische Verhalten seines älteren Bruders, konnte ich nicht sagen.

Mein Blick wanderte die Treppe hinauf. Dort oben saß Levi, seit dem Abendessen. Schon dort war er recht schweigsam gewesen. Ich wuschelte mir durch die Haare und beschloss hinauf zu gehen.

Als ich an der Tür von Ella vorbei kam, hörte ich gedämpft, Musik. Kurz lächelte ich, bevor ich die ersten Stufen nach oben nahm. Wie schon vermutet, saß Levi hinter seinem Schreibtisch, in irgendwelchen Akten vertieft.

Der Wunsch ihm auch hier irgendwie helfen zu können, wurde meinerseits immer größer. Ich trat einen Schritt vor und klopfte vorsichtig an den Türrahmen.

„Ähm… wollte nur sagen, Ella ist in ihrem Zimmer und Noah liegt bereits im Bett und schläft!“

„Danke…!“, meinte er ohne aufzusehen.

„Alles okay mit dir?“

„Ja… ja alles im grünen Bereich!“.

Wieder wurde ich keines Blickes gewürdigt.

„Okay…, dann gute Nacht…“, meinte ich und ließ ihn alleine.

Aber auf der obersten Stufe blieb ich wieder stehen. Levi war alt genug und wusste wo mein Zimmer war, falls er doch eventuell reden wollte. Aufdrängen? Auf keinen Fall! Dazu hatte ich weder Lust, noch den Nerv.

Mein Denkapparat gab die Anweisung, weiter die Treppe hinunter zu laufen, als plötzlich auf beiden Seiten Hände erschienen und ich von hinten umarmt wurde.

„Ich weiß, nun überschreite ich eine Grenze…, aber darf ich kurz so stehen bleiben…, bitte…, nur für einen Moment?“

Starr, als wäre ich eingefroren, stand ich da und war zu keiner Antwort fähig. Einerseits fühlte es sich verdammt gut an, aber der Grund dafür, war unheimlich traurig. Leise hörte ich Levi wimmern.

Mir brach es fast das Herz. Ich musste irgendetwas tun! Er hatte angefangen, also konnte er mir für mein weiteres Handeln keinen Vorwurf machen. Ich hob meine Hand, legte sie auf seine und löste seine Umarmung etwas.

Gerade so viel, dass ich mich drehen konnte und ihn meinerseits in den Arm nehmen zu können. Er vergrub sein Gesicht in meiner Halsneige. Sanft strich ich über seinen Hinterkopf. Ich weiß nicht, wie lange wir so gestanden haben, plötzlich atmete er tief durch und drückte sich von mir weg.

„Entschuldige…“, kam es leise über seine Lippen.

„… ich sehe keinen Grund, wofür du dich entschuldigen müsstest!“

Er sah immer noch nach unten. Traute er sich nicht mich anzusehen? Mir der Hand drückte ich langsam sein Kinn nach oben, bis ich ihm in die Augen schauen konnte. Sie waren rot vom Weinen.

„Levi…, mag sein, dass du mich für die Kids eingestellt hast, aber ich bin auch für dich da.“

„Warum tust du das?“

Ich schenkte ihm ein Lächeln.

„Du könntest mich egoistisch nennen… ein gutgelaunter Boss ergibt gut gelaunte Kids…, oder ich bleibe bei der Wahrheit…, du bist mir nicht egal!“

Dies hatte ich mit einem Lächeln gesagt, er schenkte mir aber keins. Dafür schaute er mir lange in die Augen. Doch plötzlich kam er näher und ehe ich reagieren konnte, spürte ich seine Lippen auf meinen.

Total überrumpelt, hätte ich fast mein Gleichgewicht verloren, wäre da nicht seine Hand gewesen, die mich am Rücken zu sich heran zog. Leicht entsetzt schaute ich ihn an, während er mich immer noch mit geschlossenen Augen küsste.

Was soll jetzt das? Ich war für so etwas nicht bereit, noch nicht. Oder war ich es doch? Meine Augen schlossen sich ebenfalls und ich ergab mich seinem Kuss. Meine Hände wanderten ungeniert auf seinen Rücken und fing an, ihn zu streicheln.

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Meine Knie wurden weich, mein Magen fühlte sich seltsam an und mein Herz fing an zu rasen. Was machte ich hier? Ich ließ mich von meinem Chef küssen und es gefiel mir! Hin und her gerissen, drückte ich Levi etwas von mir weg. Fragend  und schwer atmend schaute mich mein Gegenüber an.

„Sorry…, ich weiß nicht, ob das jetzt gut ist…“, flüsterte ich.

Seine Augen wurden traurig.

„Nein…, so meinte ich das nicht, Levi. Ich möchte nur nicht…, dass du später etwas bereust…“

„Das bereue ich bestimmt nicht!“, sagte er nur, bevor er mich wieder zu sich zog und erneut küsste.

Aber nicht nur das. Er wanderte rückwärts und mir blieb gar nichts anders übrig, als ihm weiter küssend zu folgen. Mit halb geschlossenen Augen und verwirrten Sinnen war das gar nicht so einfach.

Dieses Gefühl in mir, dass sich langsam über den ganzen Körper ausbreitete, kannte ich noch nicht. Wir drehten uns und ich lief nun, nein stolperte mehr rückwärts. Wenig später landeten wir auf seinem Bett und er blieb einfach auf mir liegen.

Natürlich hatte das Fallen unseren Kuss unterbrochen. Nur unser heftiger Atem war zu hören.

„Zum Entschuldigen… ist es jetzt wohl zu spät…!“, grinste er.

Ich wollte darauf etwas sagen, aber er sprach einfach weiter. Sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernst.

„Mag sein, dass ich etwas egoistisch bin, aber ich fühle mich wohl bei dir… und gut aufgehoben. Ich will jetzt einfach nicht alleine sein,  bitte bleib bei mir… ich brauche dich, Marcus…!“

Darauf wusste ich erst recht nicht, was ich erwidern sollte, zu dem kam hinzu, dass ich mich immer mehr in diesen herrlichen grünen Augen verlor.

„… ich weiß nicht mal… ob du ähnlich fühlst, wie ich…, aber ich hatte plötzlich das Bedürfnis, dich zu umarmen…“

Sollte ich ihm über meine Prinzipien erzählen? Aber die hatte er eigentlich schon zu Nichte gemacht, als wir uns kennen lernten. Langsam wurde mir bewusst, dass ich für diesen Mann schon mehr fühlte, als mir gut tat.

Sämtliche bisherigen Gedanken und Bedenken lösten sich langsam in Wohlgefallen auf. Diese plötzliche Offenheit seinerseits, hatte mich einfach total überrascht.

„… und zu küssen!“, fügte ich an.

„Bist du jetzt böse auf mich?“

Ich verzog etwas mein Gesicht. Die Stirn wurde faltig, mein Gesichtsausdruck fragend. Meinte er die Frage jetzt wirklich ernst?

„Hätte ich dich mich sonst weiter küssen lassen, wenn ich böse wäre?“, fragte ich leise.

Und schon lächelte er wieder.

„Aber…“, begann ich.

Seine Augen wurden groß und das Lächeln verschwand erneut.

„Aber…?“, stammelte er nach.

„Könnten wir das bitte langsam angehen? Wir kennen uns gerade mal zehn Tage. Ich will nicht, dass irgendetwas kaputt geht, was gerade vielleicht seinen Anfang nimmt!“

Er schaute mich an, als hätte er nicht begriffen, was ich gerade gesagt habe.

„Ich möchte dich einfach besser kennen lernen…, gibst du mir die Zeit?“

„Du… du hast nichts dagegen?“

„Gegen was?“

Ich bekam keine Antwort. Er zuckte leicht zusammen und stieg etwas umständlich von mir herunter. Dann setzte er sich im Schneidersitz neben mich. Ich richtete mich auf und sah ihn weiter fragend an. Er griff nach meiner Hand.

„Dass…, dass ich mich in dich…verliebt habe…“, meinte er leise.

Wurde er jetzt tatsächlich rot? Zwar etwas verschüchtert, hielt er trotzdem unserem Blickkontakt stand. Was sollte ich darauf antworten?

„Seit wann weißt du das?“, fragte ich stattdessen.

„Annahme oder Wissen?“, bekam ich als Gegenfrage, was ich nicht verstand, aber er schien zu merken, dass ich damit nichts anfangen konnte.

„Annahme…, als ich feststellte, wie gut du mit Noah kannst.“

„Ähm… das war am ersten Tag!“, sagte ich verwundert.

Verlegen nickte er.

„Ich… ich war fasziniert von dir und fiel etwas ins Träumen…, versuchte es aber dann damit zu verdrängen, dass das dein Job ist.“

„Ist es auch, aber ich gebe zu, ich habe Noah auch sofort ins Herz geschlossen, als ich ihn kennen lernte. Das ist mir bisher noch nicht passiert.“

„Bisher? Ich dachte, wir sind deine erste Stelle.“

„Seid ihr auch, aber ich habe im Vorfeld auch Praktikas absolviert und somit schon mit anderen Kindern zu tun gehabt.“

„Ach so…“

„Was hast du mit Träumen gemeint?“, fragte ich neugierig.

Er schaute in die Luft und schien zu überlegen, bevor er mir eine Antwort gab.

„Warum die anderen nicht so waren, wie du? Interessiert an Noah, gutaussehend… charmant und hilfsbereit und zudem viel im Köpfchen.“

Ich hatte bei der Antwort etwas die Luft angehalten, denn das hatte noch keiner zu mir gesagt. Langsam verließ die Luft meinen Körper wieder.

„Ähm… ich bin ganz normal!“

Levi grinste nur. Ich ließ es dabei und fügte nichts an.

„Wissen…“, sprach Levi weiter, „unten an Peer fünf, als du mich umarmt hast. Da wusste ich plötzlich, dass du genau das bist, was mir fehlt. Ein Mensch, der für mich da ist, wenn ich ihn brauche. Ein Mensch mit dem ich alles teilen kann…“

Ich schaute ihn nur an und unterbrach ihn nicht. Seine Augen waren feucht und glänzten im Schein der Nachtischlampe.

„…, wie heißt es so schön wenn jemand heiratet… bei Freud und Leid…! Auf dem Weg nach Hause wurde mir bewusst, dass das, was ich suche, bereits direkt vor meiner Nase war. Je mehr Zeit ich mit dir verbrachte, wuchs dieses Gefühl, dich schon ewig zu kennen und mit dir über alles reden zu können… „

Gerührt hatte ich ihm zugehört und war verwundert, dass er plötzlich stockte.

„Aber?“, fragte ich.

Er lachte kurz auf.

„Ein Gedanke drängte sich plötzlich auf… wie groß war die Möglichkeit, dass du auch schwul sein könntest? Das war einfach zu perfekt, du bist einfach zu perfekt, um wahr zu sein!“

Ich musste kurz lachen.

„Ich bin alles andere als perfekt! Wie andere, habe auch ich meine Fehler! Warst du deswegen so schweigsam, als wir zurück liefen?“

Levi nickte und hielt meine Hand immer noch fest. Sein Daumen strich sanft über meinen Handrücken. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Dann sackte er wieder leicht in sich zusammen. Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über seine Wange.

Ich hob meine freie Hand und wischte sie mit dem Daumen weg. Dabei legte Levi seinen Kopf schief und schmiegte sich in meiner Handfläche. Seine Augen öffneten sich wieder.

„Danke…“, hauchte er leise.

„Nicht dafür!“

„Doch Marcus! Gerade dafür! Es ist das erste Mal in meinem Leben, wo ich das Gefühl habe, nicht mit dem Rücken an der Wand zu stehen, nicht in die Enge getrieben zu werden!“

„Levi?“, meldete sich eine Stimme im Flur und hinderte mich daran etwas zu erwidern.

„Hier Noah“, antwortete Levi.

Ich versuchte meine Hand zurück zu ziehen, aber Levi hielt sie fest. Wenige Sekunden später kam Noah ins Zimmer. Er war aber nicht wie erwartet erstaunt, mich auf Levis Bett sitzen zu sehen, sondern lief ganz normal weiter.

Er krabbelte aufs Bett und ließ sich mit seinen Kopf auf Levis Schoss fallen.

„Ich geh dann mal lieber…“, meinte ich leise.

„Bleiben!“, kam es von Noah und um es wohl zu bekräftigen, legte er seine Hand auf mein Bein und versuchte mich festzuhalten.

Grinsend wuschelte ihm Levi durch die Haare.

„Kannst du wieder nicht schlafen?“

„Böser Traum…“, nuschelte Noah, schüttelte dabei den Kopf und kuschelte sich anschließend noch mehr an seinen Bruder.

Fragend schaute ich Levi an, aber der schüttelte ebenso den Kopf.

„Kann ich mich wenigstens noch umziehen?“, fragte ich.

„Aber wieder kommen!“

Ich verdrehte die Augen und löste mich von Noahs Hand.

*-*-*

Nur in Shorts stand ich vor dem Spiegel. Bist du dir ganz sicher, fragte ich im Gedanken mein Gegenüber. War es die richtige Entscheidung? Ich zog mir mein Shirt über und löschte die Lampe über dem Badspiegel.

Aber jetzt noch einen Rückzieher machen? Ich schaute mich kurz im Zimmer um und machte auch hier das Licht aus. Langsam im Gedanken, lief ich die Treppe hinauf. Das Büro war bereits dunkel, nur ein leichter Schein drang aus Levis Zimmer.

Als ich das Zimmer betrat, lag Noah bereits zugedeckt, in der Mitte von Levis Bett. Er selbst saß am Bettrand. Er stand auf und lief zu der kleine Sitzgruppe und ließ sich nieder. Ich folgte ihm und setzte mich zu ihm.

„Du hast dich sicher gefragt, was Noah mit Bösen Traum gemeint?“, begann Levi leise zu sprechen.

Zu meiner Schande hatte ich daran gar nicht mehr gedacht. Ehrlich wie ich war, schüttelte ich den Kopf.

„Nicht?“, fragte Levi erstaunt.

„Nein…, ich habe über uns nach gedacht“, antwortete ich nun doch etwas verlegen, „auch wenn Noah eigentlich der Mittelpunkt sein sollte. Man krieg schließlich nicht jeden
Tag gesagt, dass sich jemand in einen verliebt hat.“

Levi grinste mich breit an.

„… und darf ich deinen Gedankengängen folgen?“

„Was soll ich da groß sagen…? …Unsicherheit … Selbstzweifel ….“

Levi schaute mir tief in die Augen.

„Selbstzweifel? Du? Bisher hatte ich die Meinung, dass du mit beiden Beinen fest im Leben stehst und ganz genau weißt, was du machst oder willst!“

Etwas zerknirscht versuchte ich zu lächeln und atmete tief durch.

„Weit gefehlt…“, entgegnete ich ihm und ließ den Kopf sinken, „ …immer wieder musste ich mich vor der Familie beweisen…, halt das stimmt nicht ganz. Wäre meine Mutter nicht gewesen, wäre ich nie so weit gekommen.“

„Und das macht dir zu schaffen?“, fragte Levi.

Ich schaute auf und nickte.

„Wie oft habe ich gedacht, ist das gut genug, was ich mache, vor allem ist es richtig meinen Traum vor all den Wünschen anderer, zu stellen.“

„Natürlich ist es richtig seinen Traum zu folgen!“

„Bist du deinem Traum gefolgt?“

Levi schien kurz zu überlegen.

„So gesehen habe ich den Traum meiner Eltern übernommen…, aber die Firma macht Spaß!“

„Hattest du nie eigene Träume?“

Wieder versank Levi kurz in seinen Gedanken. Dann fing er an zu lächeln.

„Wenn man Feuerwehrmann oder Lokführer mitzählen kann, das wollte ich nämlich als Kind werden, dann hatte ich Träume.“

Tja, als Kind sagte niemand etwas gegen deine Träume, erst wenn du das entsprechende Arbeitsalter erreicht hattest, dann wurde dir auch dieser Zahn gezogen. Levis Fröhlichkeit verschwand plötzlich.

„Nach dem Tod meiner Eltern, gab es nur eins für mich! Die Firma weiterführen, und das um jeden Preis. Schuld war vielleicht das Handeln meines Großvaters, was mich darin bestärkte, aber bereut habe ich es bis heute nicht.“

Ich griff nach seiner Hand, weil seine Augen feucht wurden.

„Nur konnte ich mir damals nicht vorstellen, dass es so schwierig werden könnte, nebenbei mich auch noch um die Zwillinge zu kümmern.“

„Du hast es aber bisher doch gut gemeistert…“, meinte ich leise.

„Machen wir uns nichts vor, Marcus. Du siehst selbst die Probleme, die ständig irgendwo auftauchen.“

„Hat aber nicht jede Familie ihre Probleme, die sie bewältigen muss?“

„Familie? Du kannst uns schlecht eine Familie nennen…, denn da gehören wohl auch Eltern dazu…, die ich nicht mehr habe.“

Erste Tränen rannen über seine Wange.

„Sag so etwas nicht“, sagte ich sanft und versuchte die Tränen weg zu wischen.

„Ihr drei seit eine kleine Familie! Die Familie Scott und wenn ich ein Teil dieser Familie werden dürfte, würde mich das sehr freuen, Levi.“

Trotz seiner Traurigkeit lächelte er ein wenig.

„Komm, lass uns versuchen zu schlafen, es ist schon spät. Wir können morgen weiter reden… übermorgen und an jedem Tag, an dem du willst!“

*-*-*

Ich wurde von etwas in meinem Gesicht geweckt. Als ich die Augen aufschlug, musste ich mich erst kurz orientieren. Stimmt, ich lag in Levis Bett, die Erinnerung an gestern Abend füllte so langsam die Windungen meines Gehirns.

Das, was mich geweckt hatte, war Noahs Hand, die halb auf meinem Gesicht ruhte. Vorsichtig griff ich nach ihr und führte sie zu ihrem Besitzer zurück. Noah selbst, war von seinem Bruder in Besitz genommen worden.

Levis Arm lag über Noahs Bauch und auch ein Bein des großen Bruders, ruhte besitzergreifend über Noahs Beinen. Ein Bild für Götter, das man eigentlich verewigen müsste.

Meine Blase meldete sich und ich beschloss, die zwei alleine zu lassen. Leise stand ich auf, um mich dann in aller Ruhe in mein Zimmer zu begeben.

„Wo gehst du hin?“, hörte ich es hinter mir.

„Toilette…“

„Hast du nicht was vergessen?“

„Hä?“

„Den Gumoku!“

„Den Gumokwas?“, fragte ich verwirrt.

„Meinen Guten Morgen Kuss“, grinste Levi frech.

Warum musste dieser Kerl nur so verdammt süß sein? Ich umrundete das Bett, wo schon ein Kussmund auf mich wartete. Aber auch ich konnte frech sein und küsste anstatt auf den Mund, seine Stirn.

„Auch einen!“, brummelte es von der Bettmitte, bevor Levi sich äußern konnte.

Geschockt schaute ich Levi an, der darauf aber wieder nur frech grinste. So beugte ich mich etwas umständlich nach vorne und drückte auch Noah einen Kuss auf die Stirn. Dieser quittierte das mit einem Strahlen.

Boah, zwei von der Sorte, wie konnte man da seine Sinne beieinander halten?

Ich richtete mich auf, weil meine Blase noch mehr drückte, als vorher.

„Ich bin dann mal auf der Toilette und lief Richtung Tür.

„Du kannst meine benutzen!“, sagte Levi.

Ich schaute kurz über meine Schulter und grinste ihn nur an, bevor ich in den Flur verschwand.

*-*-*

Hatte ich nur das Gefühl, oder kuschelte sich Noah heute mehr als sonst an mich. Wie jeden Morgen saßen wir am Frühstückstisch und warteten, dass Levi zurück kam.

„Ihr Bruder hat vorhin angerufen, er möchte später vorbei kommen“, riss mich Sofia aus den Gedanken.

„Wegen mir?“, fragte ich verwundert.

„Nein, er meinte, die Pläne sind fertig, ebenso die Kostenaufstellung.“

„Ach so…“

„Onkel Mike kommt?“, fragte Noah neben mir.

Ich nickte, bevor ich an meinem Kaffee nippte. Warum strahlte der Junge jetzt noch mehr und warum wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Familie ganz schön vereinnahmend war? Die Haustür wurde aufgeschlossen.

„Bin wieder da!“, hörte ich Levis fröhliche Stimme.

Ein Augenblick später betrat er die Küche.

„Levi! Mr. Brown hat vorhin angerufen, er will vorbei kommen, wegen den fertigen Plänen und der Kostenzusammenstellungen…, er frage, ob das möglich wäre“, wiederholte sich nun Sofia.

„Kein Problem, ich hatte heute nicht vor, in die Firma zu fahren.“

„Du sollst ihm eine kurze Nachricht schicken, wenn es möglich ist!“, sagte Sofia und widmete sich wieder ihrem Herd.

Nun wanderte Levis Blick zu mir. Verwundert schaute ich ihn an.

„Würdest du…?“

„Was?“

„Deinem Bruder Bescheid geben, ich habe seine Nummer nicht abgespeichert!“

„Ach so.“

„Noah, nicht alles auf einmal!“, sagte Levi plötzlich, „kauen und runter schlucken!“

„Aber es schmeckt so gut!“

Sofias Kopf drehte sich und ich konnte ein Lächeln sehen. Dann besann ich mich wieder an Levis Order und nahm mein Handy, das neben meinem Teller lag. Ich gab kurz die Nachricht ein und legte es wieder ab.

Ich griff nach dem Toast, als es sich bemerkbar macht. Die Antwort kam aber schnell. Ich drückte die entsprechende Taste und das Display leuchte auf.

„Danke Bruderherz, ich einer knappen Stunde bin ich da!“, sendete er.

Etwas verwirrt schaute ich aufs Handy. Bruderherz? Was war das jetzt? Mein Blick wanderte zu Levi, der mich fragend anschaute.

„In einer knappen Stunde ist er da.“

Er nickte, schaute mich aber weiterhin fragend an. Ich zuckte mit den Schultern und biss in meinen Toast.

„Levi, darf ich nachher mit Onkel Mike spielen?“

„Du, ich denke, der hat heute keine Zeit“, antwortete Levi, worauf Noah enttäuscht dreinschaute.

„He, ich bin auch noch da!“, sagte ich und stupste Noah in die Seite.

„Noah spielt gerne mit Onkel Mike.“

Ich schaute Noah durchdringend an.

„Also soll ich ausziehen und Onkel Mike einziehen?“, fragte ich unschuldig.

„Nein!“

Ich fing an zu lachen, weil beide Brüder dieses „Nein!“ zeitgleich gesagt hatten. Selbst Sofia grinste.

„Gut! Sonst wäre ich jetzt hoch gegangen zum Packen!“

Noah griff nach meinem Arm und zog daran.

„Nein, du hast gesagt, du gehst mit mir in den Zoo!“

Soso, dafür war ich jetzt wieder gut. Grinsend trank ich von meinem Kaffee.

„Was habt ihr heute vor?“, fragte Levi und ich schaute zu Noah, ob dieser etwas sagen würde, aber es kam nichts.

„Es ist nichts geplant“, antwortete ich.

Erneut meldete sich mein Handy, aber es war keine Nachricht. Mike rief an.

„Ja?“, sagte ich, als ich das Gespräch entgegen genommen hatte.

„Marcus Planänderung…, ich brauche dringend deine Hilfe!“

„Meine? Weswegen?“

„Wegen Oliver…!“

„Oliver?“, blabberte ich nach und hatte sofort Levis volle Aufmerksamkeit, „was ist mit Oliver?“

„Was schon, er macht wieder Ärger, aber alleine pack ich das nicht und William kann jetzt nicht vom Geschäft weg.“

Levis fragender Blick durchbohrte mich fast.

„Okay…Moment…“

„Kleine Planänderung, ich müsste kurz mit Mike… es geht um meinen Bruder Oliver …, geht das?“

„Soll ich mit?“, kam es lediglich von Levi.

„Nein, ich möchte nicht, dass Levi da mit hinein gezogen wird“, hörte ich Mikes Stimme, weil ich das Handy immer noch am Ohr hatte.

„Ist er das nicht schon sowieso?“, fragte ich zurück. „und zudem hat sich etwas geändert…, aber das will ich jetzt nicht am Telefon sagen.“

Wieder eine Änderung, ich…“

„Nein, das hat mit dem Umbau nichts zu tun!“, fiel ich Mike ins Wort.

„Okay…“

„Wann bist du da?“

„So in zwanzig Minuten, schätze ich.“

„Wir warten draußen auf dich, bis gleich!“

„Bis gleich!“

Das Gespräch war beendet. Ich seufzte laut.

„Was ist mit Oliver?“, fragte Levi.

„Ich weiß es nicht, aber er scheint Ärger zu haben…“

„Das hat er wohl öfter?“

„Auch das weiß ich nicht…“

Die Sache wurde mir plötzlich etwas peinlich.

„Sofia, könnten sie sich um Noah kümmern?“

„Selbstverständlich!“

„Ich will aber mit“, kam es von Noah.

„Da kannst du nicht mit“, sagte Levi.

Sofia kam an den Tisch.

„Noah, gehst du mit mir einkaufen?“, fragte sie den Jungen.

„Au ja, einkaufen“, strahlte Noah.

Somit war wenigstens dieses Problem vom Tisch.

*-*-*

Schweigend saß ich neben Mike, Levi hatte hinten Platz genommen.

„Es tut mir wirklich leid, Levi. Ich wollte nicht, dass du da mit hinein gezogen wirst!“

„Schon gut Mike, mir macht das wirklich nichts aus. Es ist ja nicht so, als wüsstest du über mich gar nichts! Also keine Familiengeheimnisse!““

Ich schaute zu Mike hinüber, der aber darauf nichts sagte. Aber diese Vertrautheit zwischen den beiden gefiel mir.

„Darf ich fragen, was Oliver angestellt hat?“, fragte Levi.

„Meine Mutter hat mir nur so viel erzählt, dass er wohl jemand eins mit seinem Gips übergezogen hat und jetzt auf der Polizeiwache ist…“

Das ist heftig und wir sollen ihn jetzt da raus holen?

„Den Grund weißt du nicht?“

„Was für einen Grund?“

„Warum euer Bruder das gemacht hat?“

„Ich weiß nicht, ob Oliver überhaupt einen Grund braucht, um sich mit jemand zu prügeln.“

„Es scheint, du hast keine gute Meinung über deinen Bruder…“

„Entschuldige bitte, Levi. Nicht jeder hat so einen lieben Bruder wie du. Aber Oliver frägt nicht, sonder schlägt gleich zu. So ist er nun mal und dementsprechend sieht er auch aus. Man sieht eigentlich nicht wirklich, dass er unser Halbbruder ist…, es besteht so gut wie keine Ähnlichkeit.“

„Das kann ich nicht beurteilen, ich habe ihn noch nicht gesehen.“

Ich drehte meinen Kopf zu Levi.

„So wie unser Vater, nur wuchtiger, größer und blond“, meinte ich zu ihm.

„Okay, aber das werde ich sicher gleich selbst sehen.“

Dort angekommen, fragten wir uns durch, bis wir bei dem zuständigen Cop angelangten. Am Tisch bei ihm saßen Oliver und ein grauhaariger Mann. Plötzlich hielt Levi neben mir inne.

„Großvater?“

 

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7 Kommentare

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  1. Wollte Pit noch fünf Sterne geben: *****
    Danke
    Mario

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  2. Menno, wie kann an dieser spannenden Stelle Schluss sein? Hoffentlich kommt bald die Fortsetzung!
    Echt Pit, da ist alles drin, von zuckersüßen Momenten bis Crime, unerwartete Veränderungen, absolut nicht vorhersehbar und dann der Einblick in die Gefühlswelt der ganz unterschiedlichen Charaktere. Ich liebe diesen Roman jetzt schon!

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  3. Was eine tolle und mitreissende Gechichte. Ich schaffe es kaum, das Smartphone aus der Hand zu legen. 😊 Hoffen kommt der nächste Teil schnell, sonst bekomme ich einen Herzinfarkt.
    Ich lese hier sehr viel und gerade deine Geschichten mag ich besonders.
    Bleib gesund
    Nobby

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  4. Hallo Pit,

    Danke, der 2. Teil hat mir auch wieder sehr gut gefallen – weiter so. 🙂
    LG Leo

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    • Sonntagskind55 auf 2. März 2023 bei 09:01
    • Antworten

    Hallo Pit,

    danke für den zweiten Teil von Manny und wieder mit so einem fiesen Cliffhänger wie am Ende des ersten Kapitels.

    Ich habe momentan den Eindruck, dass deine Story süchtig macht, Ich kann es schon jetzt nicht mehr erwarten, bis es eine Fortsetzung gibt.

    Ich hoffe auf eine baldige Fortsetzung!

    Schreib schnell weiter, damit ich deine wundervolle Geschichte weiter verfolgen kann.

    LG Hans

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    1. ich liebe einfach Cliffhänger… 🙂 macht das Ganze ein bissel spannender Gruß Pit

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  5. Tolle Geschichte, aber …..
    fieser Cliffhanger….
    Ich freue mich auf den nächsten Teil!

    HG Andreas

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