Love me, Save me, Free me

Das war er nun, der Tag. Endlich achtzehn. Der elfte November 2003, diesmal ein grauer Dienstag.

Auf diesen Tag hatte ich mich gefreut, aber auch davor gefürchtet. Heute hatte sich mein ganzes Leben geändert.

Ich war gerade auf dem Rückweg von meinem Anwalt. Endlich Schluss mit Vormundschaft, mit treuhändischer Vermögensverwaltung. Ich war mein eigener Herr.

Wer ich bin? Mein Name ist John Herckenrath. Mein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann, Unternehmer würde man heute sagen. Meine Mutter war eine begnadete Tänzerin. Sie hatten sich nach einer Ballett-Aufführung in New York kennen gelernt, während einer Dienstreise meines Vaters. Sie reisten viel, flogen durch die Weltgeschichte.

Bis vor drei Jahren… An meinem 15 Geburtstag. Meine Eltern besuchten eine Großtante von Mam in Sydney. „Auntie Martha“ hatte vor kurzem ihren Mann verloren. Sie riefen mich kurz vor ihrem Rückflug vom Flughafen aus an. Der Flieger sollte pünktlich starten. Um 12 Uhr MEZ würde er in Frankfurt landen, um 14 Uhr würden wir in einem Restaurant sitzen und meinen Geburtstag feiern.

Doch der Flieger kam nie an. Ein technischer Fehler, hieß es, nachlässige Wartung. Die Maschine stürzte ins Meer. Ein Bergungsschiff konnte nur noch die toten Körper meiner Eltern, und die von gut 70 anderen Passagieren, aus dem Flugzeug ziehen.

Dann ging alles ganz schnell. Das Vormundschaftsgericht bestellte einen Betreuer und ich „durfte“ ein Apartment in der Frankfurter City beziehen. Privater Unterricht. Dabei wäre ich eigentlich lieber in einem Heim, oder in mein altes Internat zurückgegangen. Einfach unter Menschen. Dann wäre ich in meinem Schmerz nicht so allein gewesen. Aber mir fehlte die Kraft zum Widerspruch. Ich akzeptierte diese Lösung, notgedrungen. Man sah es als Risiko, wenn ich als reicher Erbe in die Öffentlichkeit ging. Es gibt böse Menschen, Neider und Verbrecher.

Ich schluckte meine Trauer herunter, lernte, lernte und tobte mich im Fitnesskeller der Apartmentanlage aus. Immer alles allein, ohne Freunde. Mit 17 wurde ich per Sondergenehmigung zum Abitur zugelassen und bestand es als Jahrgangsbester. Als Sonderling. Immer schwarz gekleidet, immer eine ausdruckslose Mine, niemals ein Lächeln. Lachen kann man verlernen. Niemand schien mich zu mögen. Gut, das lag an mir, ich hätte es anders haben können. Auf Mädels wirkte ich wie ein Magnet. Sie fanden mich anfangs immer „supersüß“. Aber die wollte ich nicht und das ließ ich sie auch deutlich spüren.

Es dauerte nicht lange und man zeigte mit dem Finger auf mich und flüsterte über „diesen arroganten Schönling“.

Es war wieder soweit, der elfte November im folgenden Jahr, erneut ein grauer Tag. Ich schlenderte durch die City. Müde und lustlos. Niemand feierte mit mir, Freunde hatte ich keine und auch meine Verwandten in Australien hatten es irgendwann aufgegeben, mit mir reden zu wollen. Und abgesehen davon, ich wollte auch nicht feiern. Es war immerhin der Todestag meiner Eltern. Es war alles meine Schuld, ohne mich wären sie an dem Tag nie geflogen.

Ich lief einfach drauf los, entfernte mich immer weiter von meiner Wohnung und grübelte über mein weiteres Leben nach. Was sollte ich tun, so allein.

Ich bemerkte nicht, dass die Häuser um mich herum immer dunkler, älter und schmutziger wurden.

Irgendwann stand ich mitten auf einem riesigen Industriegelände, seit Jahren verlassen und umgeben von verfallenden Lagerhäusern. Und hinter den schmutzigen Fenstern sah ich Gesichter. Gesichter von Obdachlosen, Heimatlosen, alt und jung.

Ich erschrak über meine Zerstreutheit und drehte mich langsam um, wollte gehen und erstarrte. Mein Herz klopfte heftig, mir wurde schwindelig und ich sank auf die Knie. Wieder eine dieser kurzen Panikattacken. Ich wollte nicht mehr leben, aber ein Selbstmord kam für mich nicht in Frage, weil ich dann meinen Eltern im Jenseits Rede und Antwort stehen müsste. Ich wollte zurück in ihre Arme, nicht in verständnislose Vorwürfe. Ich träumte oft von ihnen. Meine Mutter nahm mich immer in den Arm und sagte ‚Du musst leben, John. Lebe für uns.’

Diese trostlose Umgebung erschien mir beinahe richtig zum Sterben. Plötzlich befand sich eine schlanke Hand vor meinen Augen. Eine schmutzige, schlanke Hand. Ich sah auf und blickte in die graublauen Augen eines jungen Obdachlosen. Das Gesicht war mit Staub verschmiert, aber er wirkte trotzdem so edel und aufrecht. Ich griff nach der Hand und ließ mir aufhelfen.

„Alles okay bei dir? Du siehst schlecht aus.“ Seine Stimme war klar, rein und sehr melodisch, angenehm zu belauschen.

Ich überwand den kurzen Moment der Überraschung und giftete zurück „Das musst du gerade sagen. Man, geh dich mal waschen!“ Ich riss meine Hand los und bemerkte kurz den verletzten Ausdruck in den Augen meines Gegenübers.

„Ich krieche wenigstens nicht am Boden rum“, flüsterte er leise.

Aus einem Impuls heraus stieß ich ihn einfach zu Boden, teils aus Wut über meine Panikattacke und weil er meine Schwäche sehen konnte. Doch ich war nicht schwach, redete ich mir ein.

„So schnell kann sich das ändern.“ Ich rannte weg und sah aus dem Augenwinkel, wie der Unbekannte langsam aufstand und sich notdürftig den Dreck aus den Klamotten klopfte. ich schickte gedanklich ein ‚es tut mir leid’ zu ihm. Er konnte ja nichts dafür.

Es dauerte eine Weile, bis ich wieder in meinem Loft war. Ich legte meine Klamotten zusammen und setzte mich unter das kalte Wasser in meiner Dusche. Nahezu manisch schruppte ich meine Hand sauber, als ob ich dadurch meine Schwäche abwaschen könnte. Sein Gesicht hatte sich unauslöschbar in mein Gedächtnis gebrannt, der traurige Ausdruck in den Augen und die kleine Träne im Winkel.

Das kalte Wasser brannte am wundgescherten Handgelenk und ich überwand meinen Anfall. Mit warmem Wasser brachte ich mich wieder auf Temperatur. Danach trocknete ich mich notdürftig ab, strich meine dunklen halblangen Haare nach hinten und verließ das Bad. Nasse Fußspuren folgten mir auf dem Parkett durch das Wohnzimmer, bis zum Anrufbeantworter. Zwei Nachrichten warteten.

„Nachricht eins: elfter November 2004, 14:55 Uhr: John? Bist Du da? Hier ist Erwin, Erwin Zinner. Melde dich bitte, es geht um eine weitere testamentarische Verfügung.“

„Nachricht zwei: elfter November 2004, 16:31 Uhr: John? Noch mal Erwin hier. Es ist wichtig, bitte ruf mich im Büro an. 998855663, falls du die Nummer nicht mehr hast.“

Ich nahm mein Handtuch von den Schultern und wickelte es um die Hüfte, bevor ich mich mit dem Telefon auf die schwarze Ledercouch legte.

„Büro Dr. Zinner, mein Name ist Wendiger.“

„Hallo Rita, John Herckenrath. Erwin wollte mich sprechen.“ Er war schon lange ein Freund und Geschäftspartner meines Vaters und wir duzten uns schon lange.

„Schön dass du anrufst, der Chef ist schon ganz aus dem Häuschen. Ich stell dich durch. Ach John: herzlichen Glückwunsch.“ Ihre Stimme klang betroffen.

„Dann stell mich bitte durch“, antwortete ich kühl.

„Hallo John, was war los?“ Erwin fragte gleich in so einem furchtbaren besorgten Tonfall.

„Was soll denn sein? Ich war spazieren. Um was geht es?“

„Ein Nachtrag zum Testament hat uns erreicht. Deine Eltern … konnten nicht wissen, dass du deinen Abschluss früher machst. Deswegen hatten sie verfügt, dass du nach deinem neunzehnten Geburtstag als Assistent in der Geschäftsleitung beginnst, wenn du die Schule beendet hast. Jedenfalls wollten sie dich in den nächsten zwei Jahren einarbeiten lassen und dann, je nach dem, in einen höheren Posten wechseln lassen.“

„Ich habe keine Lust, Erwin. Machs gut.“

„Verdammt John, jetzt hör mir mal zu! Seit vier Jahren ziehst du dich zurück, kaum einer hört was von dir. Nach der Schule wurde es immer schlimmer. Teilweise weiß niemand ob du überhaupt noch am leben bist. Die Arbeit wird dir gut tun, dich ablenken und festigen. Es war der Wunsch deiner Eltern. Bitte.“

„Sie sind TOT! Es gibt keinen Weg sie noch mehr zu enttäuschen. Meinetwegen sind sie tot.“ Ich schrie ihn durchs Telefon an. „Lasst mich doch alle einfach in Ruhe.“, schob ich flüsternd hinterher.

„Das ist doch Blödsinn! Dich trifft keine Schuld. John, schließ dich doch nicht vom Leben aus, sonst bist du innerlich bald so tot wie sie.“

Ich warf den Hörer wütend gegen die Wand und Plastiksplitter stoben in alle Richtungen davon, dann überkam mich ein regelrechter Weinkrampf und ich schlief irgendwann ein.

Ein wahrer Tumult weckte mich auf. Ich hatte keine Ahnung wie spät es war. In meinem Wohnzimmer standen zwei Polizisten, ein Arzt und Erwin. Der Arzt fühlte meinen Puls und nickte Erwin zu. Mir wurde bewusst, dass ich hier noch immer nur mit dem Handtuch lag und es war mir unangenehm.

„Was ist hier los, Erwin? Was machen die Leute in meiner Wohnung?“ Ich versuchte so unterkühlt wie möglich zu klingen.

„Das fragst du noch? Das Gespräch“, er zeigte Stirn runzelnd auf die verstreuten Reste, „wurde etwas plötzlich unterbrochen und ich bekam Angst um dich. Du warst in keiner guten Verfassung.“

„Mir geht es blendend. Danke. Würden die Herren jetzt bitte meine Wohnung verlassen? Wie sie sehen ist alles in Ordnung.“

Erwin nickte den Beamten zu und sie verschwanden nach einer knappen Verabschiedung. Der Arzt blieb allerdings noch.

„Herr Herckenrath, was ist mit Ihrem Handgelenk passiert? Es ist stark gerötet.“

„Aufgescheuert. Es heilt wieder.“ Ich schuldete ihm keine Erklärung.

Er ließ eine Tube mit Salbe auf dem Tisch und verabschiedete sich. „So, die Herren, meine Hilfe wird ja dann nicht mehr benötigt. Ihnen und Ihrer Frau noch einen schönen Abend, Doktor Zinner.“ Die beiden schüttelten sich noch die Hand und der Arzt verschwand.

Erwin griff neben sich zum Sessel und warf mir einen Pulli und eine Freizeithose zu. „Komm, zieh dir das über, es ist schweinekalt hier drin.“

Ich zuckte mit den Schultern und streifte beiläufig das Handtuch ab. Erwins Blick streifte mich und die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich zog mich vor seinen Augen an, während er mit mir sprach.

„Du bist gut in Form. Wo kommt der blaue Fleck auf deiner Brust her? Der sieht schmerzhaft aus.“

„Boxen“, antwortete ich knapp.

„Du hast extreme Hobbies.“

„Es ist nur Sport.“

„Wie auch immer, es ist dein Leben, John. Und was hast du vor? Dich die nächsten Jahre hier verkriechen, ist das dein Ziel? Klar, dein Erbe reicht sicher für ein vernünftiges Leben. Du hast ausgesorgt. Aber jeder Mensch braucht eine Aufgabe, um sich der Zukunft stellen zu können. Sonst überrennt dich deine Einsamkeit eines Tages. John, ich mochte deinen Vater sehr. Auch deine Mutter war eine fantastische Frau. Und ich mag dich. Du bist beinahe ein Sohn für mich … gewesen. Aber ich kenne dich nicht mehr. Und eins möchte ich ganz bestimmt nicht.“

„Und was möchtest du nicht?“

„Jemals wieder an einem frischen Grab eines Herckenrath stehen.“ Einige Tränen stahlen sich auf sein Gesicht.

„Ich … ach verdammt, ich weiß nicht wie es weitergehen soll. Ich habe keine Kraft mehr. Ich hab manchmal … Panikattacken. Alles um mich wird schwarz und ich denke immer dass sich so der Tod anfühlen muss. Heute hab ich jemanden gestoßen, nachdem er mir nach einer Attacke auf die Beine half. Ich hab ihn beschimpft und bin gerannt. Er sah traurig aus. Ich mache immer alle anderen traurig. Vielleicht wäre mein Tod nicht das Schlechteste.“

„Gott Junge, sag so was nicht! Das Leben ist unser höchstes Gut. Deine Eltern leben in dir und durch dich. Das hier, was du mit dir machst… sie hätten es nicht gewollt.“

„Du hast doch keine Ahnung. Sie sind tot, keinen da draußen kümmert es was sie wollen, oder wollten. Raffst du es nicht? Sie sind TOT verdammt!“ Ich brüllte ihn aus vollem Hals an und plötzlich brannte meine Wange. Er hatte mich geohrfeigt.

„Zieh das Andenken deiner Eltern nicht in den Schmutz, John.“

Ich konnte ihm nicht einmal böse sein und sank auf dem Sofa zusammen.

„Es tut mir sehr leid, Erwin. Ich hab schon wieder alles falsch gemacht.“

Er kam einen Schritt in meine Richtung, kniete auf dem Boden nieder und griff meine Hand.

„Nein, ich hätte das eben nicht tun dürfen. Es tut so weh wie du dich selber zerstörst. Du nimmst keine Rücksicht auf dich. Der Arzt meinte, dass der blaue Fleck vermutlich von einer Rippenprellung begleitet wurde. Stimmt das?“

„Kann sein. Ich konnte mich ein paar Tage nicht richtig bewegen. Aber der Schmerz ist nebensächlich. Er hilft mir. Ich kann mich auf ihn konzentrieren und es heilt mich von meinen Gedanken. Der Schmerz ist bei mir.“

„Hast du schon über professionelle Hilfe nachgedacht?“ Seine Augen glänzten besorgt.

„Bist du eigentlich bescheuert? Ich bin doch nicht irre!“ Meine Stimme hob wieder an.

„John, beruhige dich bitte. Es war nur eine Frage.“ Er schielte, wie er wohl glaubte unauffällig, auf seine Uhr. „Ich habe gleich noch einen wichtigen Termin. Kann ich dich allein lassen? Oder soll ich ihn absagen?“

„Ich bin okay. Geh ruhig. Ich will mich noch hinlegen.“

Erwin wirkte alles andere als beruhigt. Aber er wusste auch, dass ich für heute meine Ruhe wollte. Bevor er aufstand, griff er noch nach der Salbe auf dem Tisch und rieb mein Handgelenk damit ein. Es brannte wohltuend.

„Ich erwarte dich morgen um 10 Uhr in meinem Büro. Auch wenn es dir egal ist, mir ist der Wunsch deiner Eltern wichtig.“

Ich seufzte resignierend auf. „12 Uhr. Ich werde mich nachher betrinken, 10 Uhr schaffe ich nicht.“

„Wie du willst, John, du bist ja schließlich erwachsen, nicht wahr? Dann komm um 14 Uhr, ich habe um eins einen Termin.“ Erwin drehte sich ohne weiteren Gruß um und verließ mein Reich.

Sein letzter Kommentar hatte mir einen Stich verpasst. Aber das hielt mich natürlich nicht von meinem Vorhaben ab. Zwei Stunden und drei Flaschen Champus später schlief ich auf der Couch ein.

Die Novembersonne stand tief und leuchtete grell ins Wohnzimmer. Ich hatte mich während der Sauferei ausgezogen und war irgendwann von der Couch gekullert. Scheinbar ging wohl auch mein Glas dabei zu Bruch und ich lag nackt in den Scherben. Außer ein paar, leicht blutigen, Kratzern war aber nicht viel passiert. Mein Kopf dröhnte allerdings höllisch.

Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir die Zeit, es war kurz nach Mittag. Noch zwei Stunden bis zu dem Termin. Es mag merkwürdig klingen, aber Kopfschmerzen konnte ich nicht leiden, sie trübten den eigentlichen Schmerzgenuss. Also warf ich ein paar Aspirin ein und stellte mich unter die Dusche. Das warme Wasser löste das eingetrocknete Blut und ein rötliches Rinnsal verschwand im Ausguss. Mehr als ein paar feine Narben, kaum sichtbar, blieben nicht zurück. Das Wasser brannte auf der Haut. Das alles verursachte bei mir eine Erektion. Ich unternahm das Nötigste, bis ein Strom weißlicher Flüssigkeit ebenfalls im Abfluss verschwand.

Dabei musste ich an das Boxtraining denken. Der Arzt und Erwin lagen falsch, die Prellung war noch recht akut und spürbar, und sie entstand gerade einmal anderthalb Wochen zuvor.

Mein Boxpartner Frank hatte einen glücklichen Treffer gelandet. Ich sank erstmal auf dem Boden zusammen und er schleppte mich in die Umkleide.

„John, ist alles okay? Brauchst du einen Arzt?“ Seine besorgte Stimme brachte mich zum Lachen, oder eher zu einem gekeuchten Lachen.

„Der Treffer war gut, fick mich, jetzt“, befahl ich und er tat es. Ich stand mit der Brust zur Wand und er presste mich heftig dagegen. Ich wurde fast besinnungslos vor Schmerz und genoss jede Sekunde.

Ich lehnte mich noch einige Minuten erschöpft gegen die Wand, bis mich das Telefon aus meinen Gedanken riss.

Ich verzichtete gänzlich auf ein Handtuch und tapste mit nassen Schritten zum Apparat. Doch da war nur die Basisstation. Natürlich, das Telefon existierte nicht mehr. Aber der Anrufbeantworter sprang an.

„John, hier ist Erwin. Vermutlich wirst du nicht ans Telefon können, aber ich möchte dich nochmals an den Termin erinnern. Bis später.“

Die Kopfschmerzen ließen dank der ‚entspannenden’ Dusche langsam nach und ich war bereit für das Treffen. Ich gönnte mir ein kleines Frühstück und durchsuchte meinen Kleiderschrank. Am Ende fiel meine Entscheidung auf eine schwarze Tuchhose, ein tailliertes graues Hemd und ein schwarzes, gehrockartiges Jackett.

Ich entschied mich für ein Taxi, selber fahren kam für mich nicht in Frage, wegen dem Restalkohol. Wirklich fit fühlte ich mich noch nicht.

Erwin traf zeitgleich mit mir ein und wir stiegen schweigend in den Fahrstuhl.

„Rita, machen sie uns bitte zwei Kaffee, John könnte einen vertragen. Wir sind im Büro, keine Anrufe in der Zwischenzeit. Ich bin nicht da.“

„Wie Sie wünschen, Herr Doktor.“

Wir gingen in sein Reich und er deutete auf den freien Stuhl ihm gegenüber.

„John, ich weiß nicht wie ich anfangen soll.“

„Schon klar, du willst, dass ich hier anfange. Aber wozu? Ich hab keinen Plan von dem Kram. Ich bin nicht geeignet für den Job.“

Er schüttelte den Kopf. „Immer ist alles negativ. Du bist für alles Schlechte verantwortlich, kannst dies nicht, kannst jenes nicht. Und wie erklärst du deine Noten? Du warst immer ein erstklassiger Schüler.“

„Und was sagt das aus? Ich lerne gut auswendig. Toll.“ Ich schnaubte verächtlich.

„Ja, das tust du. Aber ohne das Wissen über die Zusammenhänge wird man nicht Jahrgangsbester.“ Er nahm seine Brille ab und massierte seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. „Dein Vater war immer wahnsinnig stolz auf dich und …“

„Mein Vater ist…“, wollte ich ihn unterbrechen.

„Ja John, dein Vater ist tot, ich habe verstanden. Zufälligerweise trug ich seinen Sarg mit.“ Er sprach mit leiser Verzweifelung.

„Ich frage dich noch einmal, glaubst du sie hätten das hier alles gewollt? Glaubst du sie wollten dich einfach zurücklassen? Glaubst du allen Ernstes, sie wollten dass du dich so aufgibst?“

Ich spürte einen dicken Kloß im Hals und schüttelte mit dem Kopf. „Aber sie wären noch…“

„… am Leben wenn sie nicht in das Flugzeug gestiegen wären? Natürlich wären sie noch am Leben. Aber das war doch nicht deine Schuld. Du hattest Geburtstag, wie jedes Jahr. Und wie immer wollten sie an dem Tag bei dir sein. Es hat immer funktioniert. Sie waren traurig, weil du so oft ohne sie auskommen musstest und freuten sich immer auf ihre Heimkehr. Sie waren stolz auf ihren starken Sohn, der sich trotzdem so gut entwickelt hatte.“

„Sie würden mich hassen. Ich bin nicht so wie sie immer dachten. Ich bin anders. Ich habe sie enttäuscht, Erwin.“

„Warum glaubst du das? Warum denkst du so von dir? Vielleicht weil … du schwul bist?“

„Woher…“

„… ich das weiß? Nun, zum einen haben deine Eltern Vermutungen gehabt. Sie bemerkten gewisse Anzeichen. Unter anderem ein Video unter der Matratze. Und sie hielten es nicht für eine Phase. Doch sie kümmerte das nicht, du warst ihr Sohn. Ja, sie haben mit mir darüber gesprochen, schon vor über vier Jahren.“ Ich sank blass in den Stuhl, das Gespräch war mir peinlich.

„Und ich habe dich auch vor einiger Zeit aus einem eindeutigen Club kommen sehen, in Begleitung. Ihr habt natürlich nichts bemerkt… ihr wart beschäftigt.“

Ich rutschte weiter in den Stuhl zurück und meine Rippen wurden ungünstig belastet. Ein scharfer Schmerz durchzog meinen Oberkörper und ich stöhnte unwillkürlich auf. Das Gefühl machte mich an. Erwin deutete das Stöhnen glücklicherweise falsch.

„Das sollte sich ein Arzt ansehen.“

„Nein, alles okay.“ Ich richtete mich wieder auf und Rita klopfte an. In ihrer Hand befand sich ein Tablett mit den zwei Tassen, Milch und Zucker.

„Professor Heimlich, von der Holding, wünscht einen Rückruf, wenn Sie wieder im Haus sind.“

„Danke Rita.“ Er reichte mir den Kaffee und wartete, bis seine Sekretärin die Tür von außen geschlossen hatte.

„Ihr habt es gewusst?“

„Ja, haben wir. Mit großer Sicherheit zumindest.“ Er trank einen Schluck. „Ich sehe es an deinem Blick… ‚warum habt ihr nichts gesagt?’ Weil es deine Sache ist. Und es ist in Ordnung.“

Ich war tatsächlich sprachlos.

„Also, niemand hasst dich deswegen. John, wir möchten dir eine Zukunft bieten. Verantwortung. Eine Aufgabe. Du kannst es, davon waren wir immer überzeugt. Du brauchst kein Studium, um dich zu beweisen. Du kannst das alles lernen. Und wir werden dich fordern. Du wirst Stress haben. Viele Abende hier verbringen. Ich mache dir nichts vor, dein Posten wird dir am Anfang einiges abverlangen. Aber du wirst es schaffen.“

Und ich schaffte es. Beinahe zwei Jahre vergingen, Jahre voll Arbeit und Verdrängung. Mir fehlte die Zeit für mein ausuferndes Leben, weniger Männer, weniger Sex und weniger süße Qual. Die Arbeit machte sogar Spaß. Bis zum nächsten Schock. Erwins Wunsch erfüllte sich. Ein Hirnschlag verhinderte, dass er je wieder an einem frischen Grab der Herckenraths stand.

An einem warmen Augusttag 2006 verabschiedeten wir uns an seiner letzten Ruhestätte.

Mein väterlicher Freund fehlte mir und ich kapselte mich wieder ab. Kein privater Kontakt zu den Kollegen und ich distanzierte mich auch wieder von seiner Familie, wo ich herzlich aufgenommen worden war. Mein einundzwanzigster Geburtstag war einsam wie eh und je. Ich feierte ihn nackt auf meiner Couch und mit drei Flaschen Champagner.

Am nächsten Tag klingelte es gegen Mittag an der Tür, viel zu früh für einen Sonntag. Ich raffte mich von der Couch und trottete zur Videosprechanlage. Es war mein Boxpartner Frank. Ich hatte mich schon einige Wochen nicht mehr beim Training blicken lassen. Also betätigte ich den Summer und setzte mich aufs Sofa. Die Mühe, mich anzuziehen machte ich mir nicht.

Die Tür öffnete sich. „Hi John, wie geht…“ Er sah mich an und stockte. „Du siehst aus wie ausgekotzt.“

„Danke, du siehst auch toll aus“, säuselte ich.

Ich lief langsam auf ihn zu und begrüßte ihn mit einem leidenschaftlichen Zungenkuss. Er war total überrumpelt.

„John, ich … lass das bitte. Ich wollte sehen wie es dir geht. Aber irgendwie… das.“

„Nicht reden.“ Ich zeigte auf meinen Bauch. „Los, schlag zu und schlaf mit mir.“

„Du bist echt irre. Ich kann das nicht.“ Er wurde immer verstörter und mir platzte der Kragen.

„Dann mach, dass du fort kommst, du Schlappschwanz. Ich kann so ein Weichei jetzt echt nicht gebrauchen.“

„Okay, wie du willst. Ein schönes Leben noch.“ Er wandte sich zur Tür, drehte sich aber nochmals um. „John, ich meine es echt gut mit dir, geh mal zu einem Fachmann, du bist nicht normal.“

„Ich bin völlig okay und es geht dich nen Scheißdreck an!“ Ich griff eine der leeren Flaschen und feuerte sie in seine Richtung, aber er hatte die Tür schon längst hinter sich geschlossen. Wie in Trance lief ich zur Tür, stand inmitten der Scherben und gab mich meiner Lust hin.

Zurück an der Couch legte ich ein Handtuch unter meine Füße und schlief kurz darauf ein. Erst am späten Abend wurde ich wieder wach, kehrte die Scherben auf und wischte etwas Blut weg. Es waren nur kleine Schnitte an der Fußsohle, aber jeder Schritt schmerzte ein wenig. Ich schmierte etwas Jod auf die Wunden und wickelte die Füße in Mull. Splitter fand ich keine mehr. Ich zog mir meine Trainingssachen an und schleppte mich zum Aufzug Richtung Fitnesskeller. Ein wenig Muskeltraining schien mir ein gutes Ventil für meinen Frust. Zum Fachmann gehen. Als ob so einer etwas hätte ausrichten können. Ich nahm keine Drogen, trank auch nicht übermäßig, von speziellen Tagen mal abgesehen und tat auch niemandem weh. ‚Von dir mal abgesehen’, höhnte die böse Stimme in meinem Kopf. Gut, das mit Frank hätte böse ausgehen können, ich hatte die Kontrolle verloren.

Ich legte die Langhantel in die Halterung zurück. Die Kontrolle verloren? War ich am Ende zu einer tickenden Zeitbombe geworden? Ich powerte mich an der Hantel richtig aus, bis die Muskeln schmerzten. Zum einen nahm es mir die aggressiven Gefühle und zum anderen machte mich das wieder an. Ich sah mich um, wie so oft war niemand hier unten. Also beugte ich mich dem Schmerz und streichelte mich erneut zum Höhepunkt.

Wie lange würde das wohl noch gut gehen? Erste Zweifel an meinem Handeln kamen auf.

Meine Lust nach Schmerz nahm immer extremere Formen an und mein Verhalten Frank gegenüber war alles andere als fair. Ich beendete mein Training und fuhr wieder ins Loft rauf, zum Duschen. Das Wasser entspannte die überbeanspruchten Muskeln und brannte höllisch in den Fußwunden. Und ich ekelte mich vor mir selbst. Es machte mich diesmal auch nicht an, was vermutlich an den zwei ‚Übungen’ des Tages lag.

Erwin fehlte mir, ich hatte zum zweiten Mal meine Familie verloren. Wirkliche Freunde hatte ich auch nie, was mich nicht wunderte, bei meinem Verhalten.

Nach der Dusche untersuchte ich erneut meine Füße, sie waren soweit in Ordnung. Eine Heilsalbe und ein neuer Verband halfen. Ich entschied mich für einen Spaziergang am Main. Doch der Weg war mir zu weit, also holte ich mein Auto aus der Garage. Natürlich war der Tank fast leer, was aber nicht weiter schlimm war, die nächste Tankstelle war nicht weit entfernt.

„Säule fünf und den Schokoriegel bitte“, sagte ich zum dem jungen Kassierer.

„48,60 Euro bitte.“

Ich gab ihm 50 Euro und stutzte. Er kam mir irgendwie bekannt vor. „Stimmt so.“

Wortlos gab er mir das Wechselgeld.

„Der Rest ist für dich.“ Ich schob das Geld wieder rüber, aber stoppte meine Hand.

„Von dir nehme ich kein Trinkgeld.“ Seine graublauen Augen funkelten mich wütend an. „Du siehst besser aus als damals.“

Es war… er? Aber das konnte nicht sein, er war doch ein Straßenkind, obdachlos. Ich drehte mich um und floh erneut vor diesem Menschen. ‚Ihm hast du auch wehgetan’, höhnte die böse Stimme erneut. ‚Du verletzt Menschen, machst sie unglücklich!’

In Gedanken antwortete ich ‚Ihm geht es doch besser, es hat ihm nicht geschadet.’

‚Das ist nicht dein Verdienst, John. Du bringst Unglück über alle, denen du etwas bedeutest.’

‚Ich bedeute ihm nichts! Lass mich in Ruhe!’

‚Das kann ich nicht, John. Ich bin du. Ertrage mich. Du hast keine Wahl. Erinnere dich an sein Gesicht, damals. Er half dir auf, hatte Angst um dich. Du hast ihn verletzt!’

Ich stürmte zum Wagen, riss die Tür auf. „Halt deine verdammte Fresse!“ Ich brüllte es heraus und die Leute starrten mich an. Er starrte mich an, aus dem Kassenhaus heraus. Die Stimme in meinem Kopf lachte mich aus. ‚Los, tu dir doch weh, verdränge mich durch den Schmerz. Ich komme immer wieder, immer stärker.’

Ich startete den Motor und trat aufs Gas. Der Wagen schlingerte mit durchdrehenden Reifen von der Tankstelle los und ich schoss auf die Straße. Hinter mir quietschten die Bremsen eines anderen Autos und ich hörte den Fahrer hupen. Das Adrenalin pumpte durch meinen Körper und brachte die Stimme zum Schweigen. Erst an meinem Parkplatz am Fluss stoppte ich die Fahrt und sammelte mich einige Minuten. Dann umwehte mich die kalte Novemberluft.

Pierre, ein neuer Weg

Ich konnte es kaum glauben. Nach zwei Jahren traf ich ihn wieder. Ich konnte ihn nie vergessen, obwohl ich es immer versucht hatte. Der traurige Ausdruck in den Augen, der plötzliche Hass gegen mich und der Aufprall am Boden. Ich fühlte mich gedemütigt. Aber es war ein Ausweg in mein jetziges Leben. Mit ihm fing alles an.

Meine Eltern trennten sich als ich sechzehn wurde. Mein Vater, gebürtig aus Toulouse, wollte das alleinige Sorgerecht und mich nach Frankreich mitnehmen. Doch ich wollte in Deutschland bleiben, bei meiner Mutter. Ein erbitterter Kampf vor Gericht entbrannte. Mein Vater stritt um mich wie um eine Sache. Meine Mutter hatte kaum eine Chance gegen ihn. Ich sagte den Richtern, dass ich hier bleiben wollte, aber das Gericht fand, es würde mir in Frankreich besser gehen. Noch bevor ein Urteil gefällt werden konnte, riss ich von zuhause aus und lebte über ein Jahr auf der Straße, mehr schlecht als recht. Dann kam er und änderte alles.

Ich ging wieder heim, wollte mich ändern, nicht mehr ein Fußabtreter sein. Mein Vater hatte den Kampf um mich aufgegeben und war bereits in Frankreich. Meine Mutter heulte nach meiner Rückkehr, tagelang. Aber sie nahm mich wieder auf. In der nächsten Zeit holte ich meinen Realschulabschluss nach und fing danach mit der Suche nach einer Ausbildung an, hatte aber wenig Glück. Ich unterstützte meine Mutter mit kleinen Aushilfsjobs. Und dieses Jahr fällte ich eine weitere Entscheidung und machte mich an mein Abitur. Die Abendschule war nicht kostenlos, also suchte ich einen festen Job und fand ihn, hier an dieser Tankstelle.

Es war nicht viel Geld, aber es reichte für ein normales Leben.

„Spinner gibt es… den sollte man von der Straße holen.“ Eine fremde Stimme unterbrach meine Gedanken.

„Was meinen Sie?“ Ich sah den Kunden fragend an.

„Der Typ, der hier gerade raus ist. Der war doch nicht zu überhören!“

„Ach der … ja, mag sein. Haben Sie getankt?“

„Die vier bitte. Und eine Schachtel Marlboro.“

„Gerne. Macht 81,63 Euro.“ antwortete ich freundlich.

Er gab mir hundert. „82 Euro, das passt.“

Ich bedankte mich und verabschiedete ihn. Dann kam auch schon Martina herein, meine Schichtablösung.

„Hi Pierre, sorry, ich bin etwas zu spät dran. Naja, mein Freund fährt doch morgen wieder nach Münster.“

„Kein Thema, es war recht ruhig. Ich hab schon alles aufgefüllt. Ich mach nur eben noch die Zwischenabrechnung. Und wie war es mit ihm?“

„Wir waren heute ganz romantisch essen. Es war toll. Und wie sieht es bei dir aus an der Liebesfront? Mr. Right schon in Sicht?“

„Nein“, seufzte ich. „Eher Mr. Wrong. Kennst du das, du siehst jemanden, absolut geiler Typ, aber irgendwie hat der nen kompletten Schaden. So ein Psychoarschloch? Dabei sprechen seine Augen eine andere Sprache?“

„Ne du, sowas kenne ich nicht, zum Glück.“

„Ich hab dir doch von damals erzählt.“ Ja, wir waren eng befreundet, Martina wusste alles.

„Du hast viel von dir erzählt. Welches damals meinst du?“

„Mein Leben auf der Straße.“ Martina guckte betroffen.

„Ja, ich erinnere mich.“

„Ich hab ihn wieder gesehen, heute. Vor ungefähr dreißig Minuten, hier.“

„Du meinst doch nicht den Wichser von damals?“

„Nenn ihn nicht so. Doch, ihn meine ich.“

„Ich nenne ihn wie ich will. Das war damals eine miese Aktion.“

„Ich weiß nicht, es muss doch einen Grund haben. Er war vorher doch ganz anders.“

Martina antwortete nicht darauf. Sie wusste, dass ich auch heute noch manchmal von ihm träumte. Ich erzählte ihr die komplette Geschichte von vorhin.

„Sorry Pierre, aber irgendwas tickt bei dem nicht richtig. Wir sollten dich schnellstens unter die Haube bringen, damit du den Kerl vergisst.“

Ich nickte seufzend und machte mich an die Abrechnung, schließlich wollte ich noch lernen.

Als ich heimkam war meine Mutter unterwegs. Dreimal in der Woche ging sie Kellnern, um ihr Gehalt als Empfangsdame etwas aufzubessern. Mir war auch nicht nach Gesellschaft, also machte ich mich nach einem kurzen Imbiss ans Lernen.

Ich konnte mich nicht richtig konzentrieren und legte mich zur Entspannung kurz ins Bett. Mit seinem Bild vor Augen schlief ich dann überraschend ein.

John

Ich passierte eine Bank am Ufer, auf der eine ältere Frau saß. Ich nahm sie kaum wahr und versuchte die Stimme in meinem Kopf zu bändigen.

„John? Junge, warte doch“, hörte ich eine vertraute Stimme rufen.

Es war Irene Zinner. Ich blieb stehen und sah sie schweigend an. Die Erinnerung an Erwin, und der Schmerz über seinen Tod kehrten langsam zurück.

Sie kam auf mich zu und umarmte mich fest. Ich ließ es geschehen und blendete die schmerzlichen Erinnerungen aus.

„Warum hast du dich nicht mehr bei uns gemeldet? Wir haben es versucht, aber seit Erwins Tod warst du nicht mehr erreichbar.“

„Ich hatte keine Zeit. Seit er weg ist, ist viel liegen geblieben.“ Meine Stimme klang emotionslos.

Sie rückte ein Stück ab und sah mich zweifelnd an. „Ist das alles, was dir dazu einfällt?“

Ich hob die Schultern. „Ich bin an die Einsamkeit gewöhnt. Wenn wir uns heulend in den Armen liegen, kommt er auch nicht wieder. Es hat bei meinen Eltern auch nicht funktioniert. Also warum nicht gleich zur Tagesordnung übergehen? Ändern kann man es ja sowieso nicht.“

Sie fing an zu schluchzen. „Wie kann man nur innerlich so tot sein.“

Ich drehte mich wortlos um und ging ein kleines Stück weiter. Eine einzelne Träne wischte ich weg. ‚Gut gemacht, John. Lass sie in Ruhe, dann kannst du ihr auch nicht schaden. Lass alles hinter dir, du bist nicht für andere Menschen gemacht.’

‚Du irrst, ich habe ihr schon geschadet.’

‚Sie kommt drüber hinweg.’

‚Was weißt du schon?’

‚Interessante Frage, ich weiß was du weißt.’

„Irene, bitte verzeih mir. Ich habe mich schrecklich verhalten. Wir können uns in den nächsten Tagen sehen, wenn du noch möchtest.“

‚John, was tust du? Lass sie in Ruhe, am Ende bringst du sie auch noch um.’

‚Ich habe niemanden umgebracht! Lass mich doch einfach, bitte.’

‚Alle sterben, John, alle sterben, jeder und jede einzelne, ob du willst oder nicht!’

‚Das tun doch alle, verdammt. Es liegt in der Natur!’

Diese Gedanken tobten durch meinen Kopf, mir wurde schwindelig und ich torkelte zum Flussufer. Eine Hand hielt mich fest, bevor ich in das kalte Wasser stolperte. Meine Knie gaben nach und ich übergab mich in den Main. Eine Hand strich mir beruhigend über den Kopf. Irenes Hand.

„Natürlich verzeihe ich dir, mein Junge. Ich bin für dich da, wann immer du mich brauchst. Lass mich dir beim Trauern helfen. Ich habe ihn auch geliebt, weißt du?“

Ich nickte leicht und Irene umarmte mich von hinten, bis mein Körper zu zittern aufhörte. Sie begleitete mich zurück zum Auto. Dummerweise taten irgendwann auch die Füße höllisch weh.

„Hast du dich verletzt? Du humpelst“, stellte sie fest.

„Ich hab nur eine Scherbe übersehen und bin hinein getreten, nichts Schlimmes.“

„Kommst du klar?“

„Aber klar, danke, es geht wieder. Ich melde mich auch bei dir.“

Irene gab mir einen Kuss auf die Wange und winkte mir nach, als ich, diesmal langsam, vom Parkplatz rollte. Aber Irene war nur der Anfang. Ich wollte mich auch bei dem Kassierer entschuldigen, für alles. Ich rollte auf die Tankstelle zu, sah aber nur noch ein Mädel an der Kasse. Von ihm war nichts mehr zu sehen. Also startete ich durch und fuhr heim. Morgen war auch noch ein Tag.

Diese innere Stimme machte mir Angst, aber ich wusste, diesmal hatte ich gewonnen. Natürlich sterben Menschen, egal ob sie mich kennen oder nicht. Ich war kein Todesbote.

Körperlich völlig erschlagen begab ich mich früh zu Bett und schlief auch recht bald ein, von wirren Träumen geplagt. Vieles drehte sich um den Jungen von damals. Und er blieb auch in meinem Kopf, beim Aufstehen.

Ich verschwand in der Dusche und fühlte mich danach völlig erfrischt. Vor dem Spiegel griff ich nach dem Rasierschaum und der Klinge, ein altmodisches Rasiermesser, ein Erbstück meines Vaters. Ich brachte es regelmäßig zum Schleifen.

‚Guten morgen, John. Ein schönes Messer hast du da. Wie wäre es mit ein wenig Schmerz, komm, lass mich verschwinden.’

‚Verschwinde doch einfach so.’

Mit zittrigen Fingern verstaute ich das Messer im Badschrank und holte tief Luft. Der Trockenrasierer musste reichen.

‚Du kannst nicht ewig vor dir selber weglaufen. Ich bin immer bei dir, ob du willst oder nicht. Ich bin du, vergiss das nie!’

„Du bist ein verdammtes Arschloch, lass mich in Ruhe!“ Ich brüllte mein eigenes Spiegelbild an. Mir war, als grinste es boshaft, für einen kurzen Moment. Ich schloss kurz meine Augen und atmete mehrmals tief durch. Der Spiegel zeigte nur noch mein verstörtes Gesicht.

Vielleicht brauchte ich wirklich Hilfe? Nein, ich würde mit ihm fertig werden, ganz allein. Er war nur ein Hirngespinst. Plötzlich spürte ich einen kurzen Schmerz an der Hand. Ich traute meinen Augen nicht: das Messer ruhte aufgeklappt in meiner linken Hand und ich hatte einen kleinen Schnitt am rechten Handballen. Ich ließ es ins Waschbecken fallen und versorgte die Wunde, wie üblich mit etwas Jod und einem ausreichenden Pflaster.

„Herr Herckenrath, Professor Heimlich möchte Sie sprechen. Es geht um den letzten Auftrag, den Sie von Doktor Zinner übernommen haben.“

„Danke, stellen Sie ihn durch.“

Wir gingen noch die letzten Details durch und ich verabschiedete mich in den Feierabend. Bald würde nichts mehr an Erwin erinnern, keine Anfragen mehr, wo ständig sein Name erwähnt wurde. Ich packte meine Sachen und marschierte zum Auto. Die Krawatte pfefferte ich auf den Beifahrersitz. Mein nächstes Ziel war die Tankstelle.

Er war nicht da. Diesmal ging ich aber hinein, es war eine andere Kollegin als gestern.

„Hallo, ich würde gerne mit dem Kollegen von gestern sprechen. Wann ist er wieder hier?“

Sie beäugte mich misstrauisch. „Was wollen Sie denn von ihm?“

Das war eine gute Frage. Ich erinnerte mich düster an ein Mathebuch, das vor ihm auf dem Tresen lag. Immerhin war er mal obdachlos, vielleicht holte er die Schule nach? Innerhalb von Sekunden hatte ich eine Idee und lächelte sie an, alles oder nichts.

„Wir haben uns gestern über die Schule unterhalten. Er kann wohl etwas Nachhilfe gebrauchen. Jedenfalls habe ich Zeit und wollte das mit ihm durchsprechen.“

Sie nickte erleichtert. „Ja das stimmt, Pierre hat leichte Probleme mit dem Stoff. Er kommt morgen wieder zur Frühschicht, bis 16 Uhr. Er ist vor einer halben Stunde erst heim.“

„Danke. Dann werde ich etwas früher kommen.“ Es war fast schon zu einfach. Jedenfalls schien er sich gut mit ihr zu verstehen, sonst würde er kaum mit ihr darüber reden. Frühschicht, also ging er wahrscheinlich zur Abendschule. „Hoffentlich kriegt er mit der Nachhilfe keine Terminprobleme. Der Job, die Abendschule, die Freundin und irgendwann braucht er ja auch Zeit für sich.“

„Ach, mit Job und Schule hat er keine Schwierigkeiten.“ Sie lachte kurz. „ Eine Freundin ist auch keine da, dabei könnte er schon einige haben.“

Sie kicherte. Ich fand die zusätzliche Info interessant. Also schien er auch noch schwul zu sein. Fand ich ihn eigentlich attraktiv? Ja, zugegeben, er war mein Fall. Aber er war wütend auf mich, mit Recht. Aber das wollte ich ja noch klären…

„Gut, ich halte sie mal nicht weiter auf. Bis dann.“ Ich nickte ihr zu und verabschiedete mich.

„Bis dann, und ich finde es toll, dass Sie Pierre helfen wollen.“

„Kein Ding.“

Im Auto wunderte ich mich über mein Verhalten. Ich kam mir vor wie ein Stalker, aber das Mädel war einfach zu mitteilsam. Dennoch, ich hatte was ich wollte und fuhr zufrieden heim. Noch während der Fahrt verabredete ich mich mit Irene und löste damit mein Versprechen ein.

Pierre

Ich war etwas in Eile, ein Bus fiel aus und ich war zwanzig Minuten später daheim. Ich warf ein Fertiggericht in die Mikrowelle, packte meine Schulsachen zusammen und sprang unter die Dusche. Ich war kaum damit fertig, da klingelte auch schon das Telefon.

„Hi Pierre, Karina hier.“

„Hi Kari, na, wie läuft die Schicht?“

„Alles ruhig. Aber sag mal, warum hast du mir nichts von der scharfen Schnitte erzählt? Er hat heute nach dir gefragt, wegen der Mathenachhilfe. Du Schlawiner, habt ihr auch praktische Biologie auf dem Plan?“

„Bitte wer? Ich weiß nix von Nachhilfe.“

„Na komm, du erinnerst dich nicht an den großen Dunkelhaarigen? Geile Figur und sehr gepflegt? Ihr habt euch gestern über Mathe unterhalten.“

Die Beschreibung passte nur auf einen, der gestern bei mir war. Was für ne abgefuckte Geschichte hatte er ihr bloß aufgetischt? Und woher wusste er von meinen Matheproblemen? Echt unheimlich, der Typ. Aber woher kam sein Interesse an mir?

„Pierre?“

„Sorry, Kari, ich erinnere mich, bin etwas im Stress.“ Ich wollte es mal drauf ankommen lassen.

„Er kommt morgen wieder, während deiner Schicht.“

„Danke für die Info. Ich mach mich mal schnell fertig. Bis morgen!“

„Gerne. Und erzähl mir alles, auch die schmutzigen Details! Bye mein Hübscher.“

Wir beendeten das Gespräch und ich verdrückte den Mikrofraß. Ich stand wirklich unter Zeitdruck und konnte nicht lange über die Situation nachgrübeln. Für heute stand eine Englischklausur an.

Einige Stunden später dröhnte mir der Kopf. Die Klausur war machbar, doch danach stand Mathe auf dem Plan. Ich kam mit dem Lernen einfach nicht mehr nach und ständig neuer Stoff.

Und dann war da noch mein unbekannter ‚Freund’. Ich war schlichtweg nervös und hatte sogar ein wenig Angst. Dieser seltsame Ausraster auf dem Tankstellengrundstück, wo er plötzlich losgebrüllt hatte. Ich konnte den Grund dafür nicht erkennen, hatte aber auch erst spät reagiert. Seine Flucht mit dem Auto war gefährlich. Über Mathe hatten wir ja wirklich kein Wort gewechselt, vom handfesten Wechselgeld-Clinch mal abgesehen. Immerhin ein cleverer und treffender Vorwand, um Kari auszuquetschen. Sie gluckte manchmal schon stark und versuchte mich zu schützen.

Ich ließ das Buch auf den Schreibtisch fallen und rieb über meine Augen. Sofort war sein Bild wieder da. Dieser erkennende Blick, dieser Ausdruck von Schuld, Reue und Zweifel. Ich hatte ihn sofort wieder erkannt. Er hatte sich eigentlich nicht wesentlich verändert. Sein Gesicht wirkte härter, seine Figur irgendwie straffer, erwachsener und gereift. Er hielt sich gut in Form. Er war schon irgendwie faszinierend, schon damals.

Natürlich war es falsch, ihn vor zu verurteilen, nach den zwei kurzen Momenten, die er in mein Leben getreten war. Es gab ja vielleicht auch einen Grund für sein … merkwürdig feindseliges Verhalten.

Meine Grübeleien setzten sich bis in meine Träume fort. Dementsprechend fertig war ich auch nachdem mein Wecker die kurze Nacht beendet hatte. Die Wechseldusche brachte ein paar meiner Lebensgeister zurück. In der Küche wartete bereits meine Mutter.

„Guten Morgen, Großer. Du siehst furchtbar aus.“ Sie stand auf und brachte mir eine Tasse Kaffee, schwarz wie die Nacht.

„Hab schlecht geschlafen. Die Schule… und sowas“, murmelte ich.

„Wir kriegen das auch ohne deinen Job hin. Ich kann noch eine Extraschicht pro Woche einlegen.“

„Mama, das Thema hatten wir doch schon. Du tust mehr als genug für mich. Ich will nicht wieder versagen. Du hattest schon soviel Kummer wegen mir.“

„Den Starrsinn hast du von deinem Vater.“

Ich hasste die Vergleiche mit ihm, aber die Diskussion wollte ich mir ersparen. Es war eh an der Zeit.

„Ich muss los, wir sehen uns.“ Nach einem weiteren Schluck Kaffee gab ich ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und stieg in den Bus zur Arbeit. Die Schulkinder waren unerträglich laut, wie immer. Aber die Fahrt dauerte ja nicht besonders lang.

„Moin Chef!“

„Hi Pierre, perfektes Timing. Ich muss auch gleich zur anderen Filiale rüber, denen geht das Kleingeld aus.“

„Muss ich noch irgendwas auffüllen?“ Ich sah mich flüchtig um.

„Nein, alles erledigt. Meine Frau war bis eben hier und hat mich unterstützt. Du siehst ja den Spritpreis, es war schon ziemlich was los. Der Tanklaster kommt auch gegen Mittag.“

„Okay, dann wird’s wohl stressig heute.“

„Du packst das schon. So, ich bin dann weg. Bis morgen!“

Es wurde wirklich stressig. Richtig hart wurde es um die Mittagszeit herum. Die Autos drängelten sich dicht an dicht und der Tanklaster blockierte einen großen Teil der Zufahrt. Der schaffte es auch irgendwie immer zur Stoßzeit.

Die Zeit ging natürlich schnell rum und eine halbe Stunde vor Feierabend war es dann soweit, sein schwarzer Wagen rollte aufs Gelände. Allerdings machte er keine Anstalten um hereinzukommen.

Im Gegensatz zu Karina.

„Hi Kari, den größten Ansturm hast du verpasst. Die Preise sind vorhin wieder etwas hoch gegangen.“

„Das macht nichts, es war gestern heftig genug. Und, wo hast du die Nachhilfe versteckt?“

Ich deutete auf seinen Wagen. „Er ist da drin. Bisher ist er aber noch nicht ausgestiegen.“

Sie schaute angestrengt nach draußen. „Klar, er telefoniert, sieht man doch.“

Ich sah wohl schon Gespenster, natürlich hatte sie Recht. Alles hatte eine logische Erklärung. Trotzdem verursachte er bei mir eine Gänsehaut.

John

Das Treffen mit Irene und ihrer Familie war nett, im weitesten Sinne. Natürlich war die Stimmung noch sehr gedrückt. Auf der Kommode im Wohnzimmer stand ein Bild von Erwin, mit einem schwarzen Band verziert. Ein rotes Grablicht und ein kleines Blumengesteck lagen daneben. Nach dem Abendessen saßen wir noch eine Weile zusammen und tranken gemütlich das ein oder andere Glas Wein. Am Ende siegte die Vernunft und ich ließ mein Auto stehen.

Das Taxi lieferte mich gegen 23 Uhr vor meiner Haustür ab und ich ging recht zügig schlafen. Immerhin erwartete mich noch eine Verabredung mit Pierre.

In dieser Nacht träumte ich schlecht, sah seltsame Bilder von Tod und Leiden. Pierre und mich, beide mit Blut überströmt, schrille Schreie und der Himmel brannte. Ich wachte schweißgebadet auf und schleppte mich ins Bad. Im Spiegel erwartete ich fast, mein mit Blut verschmiertes Gesicht zu sehen, aber ich blickte nur in mein blass-müdes Antlitz.

In meinem Kopf erklang ein leises, hämisches Kichern. ‚Halte bloß dein Maul‘, murmelte ich leise. Ich warf mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und nahm mir vor mit diesen irrsinnigen Selbstgesprächen aufzuhören. Es war nur in meinem Kopf, nichts weiter, nur im Kopf, pure Einbildung.

Mach dir nichts vor, John‘, höhnte es, aber ich ignorierte die Stimme. Nur Einbildung, sonst nichts.

‚Du bist so erbärmlich, John. Alles geht den Bach runter, ich bin dein einziger Freund‘

Wütend wischte ich die Seifenschale aus Keramik vom Waschbecken. Als sie mit einem lauten Knall am Boden zerschellte, brachen auch bei mir die Tränen aus. Ich presste ein ersticktes „Lass mich doch bitte endlich in Ruhe“ hervor und rutschte zu Boden.

Ich wusste nicht, wie lange ich auf den Fliesen hockte, aber das Telefon riss mich aus meiner Apathie.

„Ja?“

„Schneider-Riem hier. Hallo Herr Herckenrath, alles in Ordnung mit Ihnen?“

Na prima, das war der Empfang, ich wurde in der Firma vermisst.

„Hallo Frau Schneider-Riem. Mir geht es heute nicht gut, habe völlig verschlafen. Wie spät ist es eigentlich?“

„Kurz nach 11 Uhr. Machen Sie sich keine Gedanken, wir haben Ihre Termine bereits abgesagt. Gute Besserung.“

„Danke. Bis morgen dann.“ Ich musste wohl Stunden im Bad verbracht haben.

Ich besorgte mir einen Besen mit Kehrschaufel aus der Abstellkammer und beseitigte die Reste der Seifenschale. Den dringenden Wunsch, mich zu verletzen, bekämpfte ich eisern und entsorgte die Splitter ohne blutigen Zwischenfall. Der Anblick des Scherbenhaufens sendete dennoch ein wohliges Kribbeln in die Leistengegend.

Es war nicht mehr viel Zeit bis zum ‚Date‘, also entwickelte ich einen Schlachtplan. Zuerst war Fit- und Wellness angesagt. Erst verausgabte ich mich im Keller an den Geräten und legte mich danach in den vorbereiteten Whirlpool, eine der neueren Annehmlichkeiten in meinem Loft.

Pünktlich um 15 Uhr stand ich gestriegelt und gebügelt im Wohnzimmer und suchte nach freien Plätzen in einem etwas besseren Restaurant. Es ging überraschend schnell und ich reservierte einen Tisch für zwei Personen.

Langsam steigerte sich meine Nervosität und ich hatte keine Ahnung warum. Erwartete ich etwas von diesem Treffen? Optisch sagte er mir jedenfalls zu. Aber das war nicht alles. Er war konsequent, hatte Prinzipien. Mit dem Trinkgeld hatte er mich sauber auflaufen lassen. Er verdiente bestimmt nicht wahnsinnig viel und konnte sicherlich jeden Euro gebrauchen. Das nennt man dann wohl ‚Charakterstärke’.

Damit kam ich dann zum nächsten Punkt, er verachtete mich. Aber das hoffte ich ja korrigieren zu können. Mein Verhalten tat mir ja nun wirklich Leid. Ich warf einen Blick auf die Uhr und seufzte, es war beinahe 15:30.

Daheim hielt ich es nicht mehr aus und fuhr deswegen vorzeitig los. Die Fahrt war viel zu kurz und meine Hände waren nass geschwitzt. Offensichtlich war mir sein Wohlwollen sehr wichtig.

Von meinem Parkplatz aus beobachtete ich ihn, wie er mit seiner souveränen Freundlichkeit einen Kunden nach dem anderen bediente. Zwischenzeitlich warf er schwer deutbare Blicke in meine Richtung. Ich horchte in mich hinein und spürte etwas wie ein warmes Kribbeln in meinem Bauch. Wie er sich wohl anfühlte? Seine Haut wirkte so weich und zart und er hatte einen ganz leichten Bartschatten, was ihm einen sehr erotisch-männlichen Touch gab. Alles passte an ihm. Rational betrachtet fand ich ihn wahnsinnig anziehend.

Ich hatte eine spontane Idee. Von meinem Handy aus rief ich einen Blumenlieferservice an, der sich auch schon für die Firma als zuverlässig erwiesen hatte. Ich bestellte zweiundzwanzig Rosen in das Restaurant, zwei Bündel mit jeweils elf Blumen. Ein Symbol für den elften November, für den ich mich entschuldigen wollte.

Ich beendete das Gespräch nach der Terminabsprache und sah wieder in die Tankstelle hinein. Pierre unterhielt sich mit einer jungen Frau, die Kassiererin von gestern. Beide sahen zu mir herüber. Also hatte sie ihn ‚vorgewarnt’. Nun gut, damit hatte ich rechnen müssen. Dann wusste er vermutlich schon, dass ich sie angelogen hatte. Sie klopfte ihm auf die Schulter und streckte den Daumen hoch. Offensichtlich hatte er sie nicht aufgeklärt, worüber ich insgeheim dankbar war. Er verabschiedete sich mit einem Kuss auf ihre Wange und trat heraus.

Zögerlich und mit langsamen Schritten kam er auf mich zu. Er drehte sich leicht zur Seite und warf einen unsicheren Blick zu seiner Kollegin, die auflachte und ihm eine ermutigende Geste zuwarf. Er straffte sich und lief etwas schneller in meine Richtung. Direkt vor der Tür atmete er sichtbar durch und öffnete die Beifahrertür, ohne jedoch einzusteigen.

„Was willst du? Warum tischt du ihr diese Nachhilfestory auf?“ Er wirkte nervös und versuchte das mit schlecht gespieltem Ärger zu überdecken.

„Hallo … Pierre. Ich … würdest du dich bitte kurz zu mir setzen? Ich möchte nicht in aller Öffentlichkeit …“ Das hatte ich ja toll hinbekommen. So sprach man als wirrer Teen, aber ich doch nicht.

„Okay, aber nur kurz. Ich gebe zu, du machst mich neugierig.“ Er setzte sich hin und schloss die Tür. „Also? Und sag mal, wie kamst du eigentlich ausgerechnet auf Mathenachhilfe? Gut geraten, echt.“

„Ja, also nicht direkt geraten. Das Buch lag am Sonntag auf dem Tresen, mit Klebezettel gespickt. Vermutlich schlägst du öfter verschiedene Sachen nach.“

„Wow, gut beobachtet. Aber warum das Ganze?“

„Weil ich mich entschuldigen möchte. Ich will dich für mein Verhalten um Verzeihung bitten, für damals, auf dem Industriehof. Es tut mir Leid.“ Pierre schluckte leicht und sah nachdenklich aus.

„Damit hätte ich nicht gerechnet. Das war damals schon ziemlich heftig von dir. Aber ich habe mir immer eingeredet, dass du deine Gründe gehabt haben wirst… trotzdem war es totale Scheiße von dir.“

„Schuldig“, grinste ich schief. „Ja, ich hatte meine Gründe, aber es war falsch von mir das an dir aus zu lassen.“

„Seit diesem Tag frage ich mich, was dich so aus der Bahn geworfen hat. Du hast echt grausam ausgesehen.“

Ein undefinierbares Gefühl von Ärger stieg in mir auf und ich kämpfte es mühsam nieder.

„Es war mein neunzehnter Geburtstag. Und der vierte Todestag meiner Eltern.“ Ich unterdrückte eine Träne und sah aus dem Augenwinkel heraus, wie sich seine Hand kurz in meine Richtung bewegte, in Richtung meiner Schulter. Er zog sie aber sofort wieder zurück.

„Das tut mir wirklich sehr Leid. Also, wie ist es denn passiert, wenn ich fragen darf. Ich will dir nicht zu Nahe treten.“ Er sah mich mit leicht gesenktem Kopf an.

Vor der Frage hatte ich mich gefürchtet und war mir nicht sicher, ob ich diese Geschichte ohne Zusammenbruch erzählen könnte. Doch sein Blick war so warmherzig, dass ich es wagen wollte.

„Es gibt nicht viel zu erzählen. Sie waren zu Besuch bei einer Großtante meiner Mutter, in Australien. Sie bestiegen rechtzeitig das Flugzeug zurück und … alles meine Schuld…“ Mein Hals schnürte sich schmerzhaft zu und ich verstummte. Pierre bemerkte es sofort und diesmal legte er seine Hand tatsächlich auf meine Schulter. Die Berührung fuhr durch meinen gesamten Körper und löste einen wohligen Schauer in mir aus und meine Augen füllten sich schlagartig mit einem Meer aus Tränen. Ich schluchzte hemmungslos drauf los. Pierre war sichtbar überfordert und zog meinen Kopf reflexartig an seine Schulter. Sein Arm lag nun auf meinem Rücken und streichelte ihn vorsichtig.

„Hey, pssssscht. Du kannst doch nichts dafür, hey, es war ein Unfall.“ Er wiegte mich sanft in seinen Armen und es beruhigte mich tatsächlich.

„Das ist nicht wahr, natürlich ist es meine Schuld gewesen. Ohne mich …“ Außer zu Erwin hatte ich noch mit keinem über meine Selbstvorwürfe gesprochen.

„Und was ist mit den anderen Menschen in dem Flugzeug? Ist das auch deine Schuld?“ Unfälle, egal wie schrecklich, passieren.“ Seine Stimme drang beruhigend in mein Ohr und schenkte mir ein wohlig-wattiges Gefühl im Kopf. Ich dachte über seine Worte nach. Irgendwo klang es logisch.

„Die anderen Passagiere sind aber nicht meinetwegen eingestiegen.“

„Wart ihr eine glückliche Familie?“

„Ja, sehr. Auch wenn sie oft unterwegs waren, sie hatten immer ein Ohr für mich und gaben mir immer das Gefühl wichtig zu sein.“

„Dann wären sie ohne dich vielleicht auch nicht besonders glücklich gewesen. Es ist schwer was dazu zu sagen, ich kannte euch ja nicht. Und auch deinen Namen kenne ich nicht.“

„John. Ich heiße John. Und entschuldige meinen Ausbruch eben. Ich wollte dich bestimmt nicht vollheulen.“

„Ist okay. Dieses Treffen hat sich ziemlich merkwürdig entwickelt. Eigentlich wollte ich dich zum Teufel schicken, ein für alle mal.“

„Und warum tust du es nicht einfach?“ Meine Stimme klang patziger als ich es wollte.

„Hey langsam. Ich wollte es, okay? Im Moment weiß ich nicht was ich gerade will.“

„Also, vielleicht möchtest du ja etwas essen? Ich habe einen Tisch bestellt.“

Er sah mich erstaunt an.

„Du bist wohl auf alles vorbereitet, was? Was soll die Show, was ziehst du hier ab?“ Pierre langte an den Türgriff und wollte das Auto verlassen.

„Nein, bitte bleib sitzen. Ich habe den Tisch reserviert, ja. Aber ich … ich hab gehofft…“

„Du hast was gehofft?“ Der Zauber der letzten Minuten war verflogen und er sah mich extrem misstrauisch an.

„Vergessen wir das. Sorry. Ich wollte dich nicht bedrängen.“

„Jetzt rück endlich mit der Sprache raus!“

„Ich … also falls du mir verzeihen kannst…“ mein Gestammel wurde langsam sogar mir peinlich und er sah mich fragend an.

„Ich hab gehofft wir könnten uns etwas besser kennen lernen.“ Er zog eine Augenbraue nach oben.

„Warum willst ausgerechnet du mich kennen lernen?“

Ich entschied mich für den frontalen Angriff.

„Weil ich dich sehr anziehend finde. Du wirkst sehr stark auf mich, einfühlsam, selbstbewusst und ziemlich attraktiv.“

Ihm fiel zuerst die Kinnlade herunter und dann wurde er rot.

„Sorry, ich bin normal nicht so direkt, zumindest nicht außerhalb der Szeneclubs. Aber deine Kollegin hat indirekt was angedeutet.“

„Oh Kari mit ihrer großen Klappe. Du hast die Andeutung richtig verstanden. Und es haut mich ziemlich um. Das muss ich erstmal verdauen.“

„Darf ich dich zum Essen einladen?“

„Ich kann nicht. Die Abendschule…“

Die Enttäuschung stand mir ins Gesicht geschrieben.

„Jetzt guck nicht so. Ich würde gerne mit dir essen gehen… Ach verdammt, ich hab jetzt eh keinen Kopf für die Schule. Also gut, lass uns den Abend zusammen verbringen und etwas beschnuppern.“

„Ist das wirklich dein Ernst?“

Er nickte nur stumm. Um diese Kari zu erlösen, die mittlerweile ihre Nase an der Scheibe platt drückte und ihre Augen mit einer Hand gegen das Sonnenlicht abschirmte, startete ich den Motor und rollte Richtung Innenstadt.

„Ich hätte nie gedacht, dass du auch schwul bist … John.“

„Dir steht es auch nicht gerade auf die Stirn geschrieben.“

„Punkt für dich. Aber was will ein Typ wie du von mir? Du wirkst nich gerade so, als ob du am Hungertuch nagen würdest und ich… ich bin irgendwo am untersten Mittelfeld.“

„Und was sagt das über dich aus? Ich erinnere mich noch gut daran, wer du damals warst. Und ich sehe auch, wo du jetzt stehst. Du bist ein Kämpfer. Vermutlich mehr, als ich es je sein werde und du arbeitest hart um voran zu kommen. All das hier hab ich, mehr oder weniger, geschenkt bekommen. Mich interessiert deine Geschichte, was damals war und wie du es hierher geschafft hast.“

Er lächelte verlegen. „Irgendwie tun mir deine Worte gut. Es ist nicht wirklich besonders leicht, aber ich bin schon einmal fortgelaufen und habe nicht vor, diesen Fehler zu wiederholen.“

Er erzählte mir die Geschichte mit seinen Eltern und dem Wendepunkt, der mit meinem unrühmlichen Verhalten fest verknüpft war. Seine Gegenwart tat mir gut, ich fühlte mich unbeschwert, er benahm sich so natürlich und schenkte mir sein Vertrauen.

„Und verzeihst du mir?“

Er guckte mich schief an. „Ob ich dir verzeihe, dass dein Verhalten mich wieder vernünftig gemacht hat?“

Ich musste zum ersten Mal seit Jahren wieder richtig herzhaft und ehrlich lachen, so wie er mich dabei ansah.

„Hey du Trampel, das ist nicht komisch“, grinste er und knuffte mir in die Rippen. „Aber gut, ja. Es ist vergeben und vergessen.“

Kurz darauf erreichten wir das Restaurant. Pierre stieg vor der Tür aus und ich fuhr noch auf den Parkplatz, stellte den Wagen ab und verschloss die Türen.

Der Lieferservice wartete bereits vor der Tür und ich deutete dem Fahrer, mir unauffällig zu folgen.

Pierre und ich betraten das Restaurant. Sofort kam ein Ober auf uns zu.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich habe einen Tisch für zwei Personen reserviert, auf den Namen Herckenrath.“

Der Ober brachte uns zu unserem Tisch, in einer ruhigen Ecke. Pierre sah sich neugierig um.

„Toller Laden. Sieht ziemlich teuer aus.“

„Keine Sorge, du bist mein Gast“, lächelte ich ihn an. Er erwiderte mein Lächeln.

„Ich habe noch eine kleine Überraschung vorbereitet.“

Wieder zog er eine Braue nach oben, was von Mal zu Mal niedlicher aussah.

Ich gab dem Blumenboten einen Wink und deutete auf Pierre, der die Rosen mit einem fragenden Blick entgegennahm.

„Was ist das?“ Er verbesserte sich sofort, „Ich mein klar, es sind Rosen, aber wofür?“

„Zwei mal elf Rosen. Der 11.11. war der Tag an dem wir uns trafen.“

Er schaute mich verlegen an.

„Das Datum wusste ich überhaupt nicht. Aber danke. Das ist eine süße Idee.“

Der Lieferant fühlte sich in der Situation etwas unwohl und ich entließ ihn mit einem Kopfnicken, natürlich nicht ohne ihm vorher ein angemessenes Trinkgeld zu geben.

Der Ober fragte uns nach den Getränken und brachte die Karten. Pierre wirkte etwas unsicher bei der Auswahl. Die Karte war doch eher speziell, also sprang ich ein.

„Also, ich nehme ein Rumpsteak, medium, mit Zwiebeln und Kräuterbutter. Als Beilage Kartoffelröstis und einen kleinen Salat.“

„Sehr wohl. Und Sie, mein Herr?“

„Ich nehme das auch.“

„Vielen Dank.“

Der Ober verschwand und ließ uns allein.

„Danke für die Starthilfe, ich war noch nie in so einem Schuppen.“

„Macht nichts. Mir geht dieses affektierte Gehabe auch ziemlich auf die Nerven, aber das Essen hier ist absolute Spitzenklasse. Der Koch beherrscht die Steaks perfekt.“

Pierre nickte leicht, erwiderte jedoch nichts. Das Gespräch kam zum Erliegen und ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.

„Sag mal, wie steht es eigentlich um deine weiteren Pläne, also nach dem Abi?“ Ich hielt die Stille nicht aus, fürchtete die Einmischung meiner inneren Stimme. Und die würde alles ruinieren.

„Ich bin mir nicht ganz sicher. Du weißt ja von meiner Vergangenheit. Am liebsten würde ich mich um die soziale und psychologische Betreuung Obdachloser kümmern, die Jungs aus der Stricherszene, zum Beispiel.“

„Hast du damals auch … angeschafft?“ Der Gedanke behagte mir nicht.

„Nein, keine Sorge. Ich habe mich mit betteln und kleineren Diebstählen über Wasser gehalten. Das Anschaffen ist ein merkwürdiger Teufelskreis. Anfangs denkst du dir ‚leichtes Geld‘. Die meisten hatten vorher schon ein kleines Drogenproblem und finanzieren sich darüber, aber der Verbrauch steigt ja stetig. Ich habe niemals Drogen genommen und kam natürlich auch so relativ gut über die Runden. Und mein Körper war mir schon immer zu schade, um ihn zu verschachern. Sex ist etwas Besonderes für mich.“

Seine Worte ließen mich ein wenig nachdenken. Sex war für mich so normal wie Essen und Trinken, ohne eine tiefere Bedeutung. Und das galt auch für die Wahl meiner Partner bisher, auch sie war ohne Bedeutung. Er deutete mein Schweigen allerdings total falsch.

„Ich wollte dich nicht langweilen. Ich bin immer ziemlich redselig, wenn … ich jemandem vertraue.“

„Nein, du langweilst mich überhaupt … du vertraust mir?“ Seine Aussage löste ein weiteres Kribbeln in mir aus. Ich war einfach nur noch fasziniert von ihm.

„Ja. Ich weiß nicht warum, verdient hast du es eigentlich nicht. Aber… all der Aufwand hier, das alles. Du gibst mir irgendwie das Gefühl besonders zu sein.“

Er stockte kurz, lachte leise und schüttelte den Kopf. „Ich begreife dich nicht. Vor nicht mal einer Stunde wollte ich dich noch zur Hölle wünschen und nun entlockst du mir vermutlich noch das letzte Geheimnis. Du hast es geschafft, ich möchte dich wirklich besser kennen lernen.“

„Trinkst du ein Glas Champagner mit mir? Ich würde gerne auf unseren Neubeginn anstoßen.“

Er nickte und ich bestellte zwei Gläser der teuren Brause.

„Also dann, Pierre, auf unseren Neuanfang. Cheers.“ Unsere Gläser stießen mit einem leisen Klingeln aneinander und ich sah ihm tief in die Augen, welche mich freudig anstrahlten.

Auch wenn es vielleicht viel zu früh war, doch ich, für meinen Teil, hatte mich in den atemberaubenden Halbfranzosen verliebt.

Pierre

Ich war hin und her gerissen. John stellte sich als sehr facettenreicher Typ heraus. Aber gerade die unterschiedlichen Seiten machten ihn interessant und beängstigend zugleich. Manchmal wirkte er sehr kalt, hatte einen eisigen Schutzmantel um sich gehüllt, dann wieder sehr warmherzig, aufmerksam und zuvorkommend. An diesen Zwischenfall vom Sonntag dachte ich überhaupt nicht mehr. Im Großen und Ganzen präsentierte er sich mir als ein perfekter Gentleman. Und nicht zu vergessen, er war verdammt attraktiv.

Das Essen war wirklich wahnsinnig gelungen und die Atmosphäre umwerfend. Er zeigte sich sehr interessiert an mir und meinen Wünschen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber ich hatte mich scheinbar ein wenig in diesen Menschen verschossen, vielleicht auch mehr als ein wenig.

Aber ein Blick auf die Uhr riss mich zurück in die Wirklichkeit.

„John, du hast mich wirklich positiv überrascht und der Nachmittag mit dir war wirklich schön. Aber ich muss wirklich noch was für die Schule machen, wenn ich schon nicht dort war. Mathe steht bald an.“ Ich war deswegen wirklich frustriert und wollte den Abend eigentlich nicht so beenden. John sah mich für einen Moment so seltsam an, so frostig. Dieser Blick ließ mich zittern. Doch dann änderte es sich schlagartig.

„Kein Problem. Du erinnerst dich noch an meinen Vorwand? Zufälligerweise bin ich wirklich ganz gut in Mathe. Ich würde dich gerne unterstützen.“ Mit einem Mal war sein warmes Lächeln zurück.

„Echt? Das ist lieb von dir. Hast du denn heute noch Zeit?“

„Ich habe nichts geplant. Wir können eigentlich sofort zu dir.“

„Das ist keine gute Idee. Meine Mutter arbeitet nebenbei in einem Lokal und hatte letzte Nacht lange Dienst und ist heute wieder sehr früh zur Arbeit. Sie schläft vermutlich.“

„Dann komm zu mir, ich hab Platz und es schläft auch niemand.“

„Okay, das klingt gut.“

John verlangte nach der Rechnung und bekam eine Ledermappe gereicht. Er kritzelte etwas hinein, legte eine Kreditkarte dazu und gab dem Kellner die Mappe zurück.

„Vielen Dank, Herr Herckenrath. Beehren Sie uns bald wieder.“

John stand auf und stellte sich hinter mir auf. Er forderte mich auf aufzustehen und zog dann den Stuhl ein wenig zurück. Dann schnappte er sich meine Jacke.

„Darf ich bitten?“ Seine Augen blitzen schelmisch auf und er half mir in die dicke Jacke.

„Vielen Dank, der Herr“, erwiderte ich und hielt ihm scherzhaft den Arm hin. Doch John hakte sich sofort ein. Im ersten Augenblick war mir das furchtbar unangenehm, wegen der ganzen Leute um uns herum, aber er zog mich dicht an sich heran und seine Wärme und Nähe beruhigte mich.

Beim Auto angekommen öffnete er mir auch die Tür und schloss sie leise hinter mir, bevor er hinter dem Auto entlang ging und sich ebenfalls hinein setzte.

„Wohin darf ich Sie bringen?“

Ich lachte. „Ich habe Nachhilfe bei John Herckenrath.“

„Sehr wohl!“ Auch er konnte sich das Grinsen nicht mehr verkneifen.

Wir fuhren ein ganzes Stück und näherten uns dabei auch meiner Tankstelle, die in einem recht teuren Teil Frankfurts residierte. John hatte seinen Arm lässig auf die Mittelkonsole gelegt und wirkte recht entspannt. Ich betrachtete seine Hand. Er hatte schöne Hände, sehr gepflegt. Bei genauerer Betrachtung sah ich einen weißen Zipfel unter dem Handballen hervorlugen. Es sah sehr nach einem Pflaster aus.

„Hast du dich verletzt?“ Ich zeigte auf die Stelle.

„Ach das… ja, ich hab etwas ungeschickt in mein Rasiermesser gegriffen. Ist aber eigentlich nur ein Kratzer.“

„Oh, tat sicher weh.“

Er nickte leicht und wirkte etwas verunsichert. Ich rutschte mit meinem kleinen Finger näher an seinen, bis sie sich ganz leicht berührten. Er warf mir einen ermutigenden Blick zu und ich berührte seinen Handrücken mit meinen Fingerspitzen. Die Haut war warm und wahnsinnig weich. Meine Finger folgten seinen Adern bis zum Handgelenk und wieder zurück. Im Licht der vorbeihuschenden Laternen sah ich die Haut unterhalb des Jackenärmels, welcher leicht verrutscht war. Er hatte eine Gänsehaut. Ich legte meine Hand auf seine. Er drehte sie um und hielt meine leicht fest. Mit dem kleinen Finger strich ich sanft über den verletzten Handballen.

„Pierre, du machst mich grad ziemlich nervös.“

Sofort zog ich die Hand zurück und merkte überhaupt erst, was ich da angestellt hatte. Die Situation war irgendwie erregend.

„Tut mir Leid, ich weiß nicht, warum ich das überhaupt gemacht habe. Das ist sonst nicht meine Art.“

„Nein, so meine ich das nicht. Es fühlt sich toll an. Aber du lenkst mich ziemlich ab und wir wollen ja heil bei mir ankommen.“

Er strich mir zärtlich über die Wange und konzentrierte sich die letzten Minuten auf den Verkehr, bis wir in eine Tiefgarage rollten.

Kurz darauf betraten wir den Aufzug, wo er einen Schlüssel unterhalb der Knopfleiste einsteckte und fuhren in den zehnten und letzten Stock.

„So, hier ist mein Reich.“ Er ließ mir den Vortritt und ich sah in sein traumhaftes Penthouse-Loft. Dann marschierte er an mir vorbei und verschwand in ein angrenzendes Zimmer, um kurz darauf mit einem Tablett zurück zu kommen.

„Sorry, ich wusste nicht was du haben möchtest. Also hier sind Wasser, Cola, Orangensaft und ein paar Energydrinks. Und komm ruhig rein, die Couch ist bequemer.“

Er machte ein paar Schritte auf mich zu und hielt mir lächelnd die Hand entgegen. Ich griff spontan zu und er führte mich zum Sofa.

„So, setzt dich bitte. Was möchtest du trinken?“

„Ein Wasser bitte.“

„Kommt sofort. Dann können wir ja gleich loslegen.“

„Ach Mist“ entfuhr es mir.

„Was ist denn?“

„Meine Bücher liegen zu Hause. Ich hole sie mir meistens nach der Arbeit von daheim.“

„Okay, macht nichts. Jetzt trink erstmal einen Schluck und komm zu Ruhe. Ich habe im Keller noch eine Kiste mit Schulbüchern, dein Lehrbuch sollte auch dabei sein. Ich hole es kurz. Fühl dich in der Zwischenzeit wie zuhause und schau dich ruhig etwas um, wenn du magst.“

Er wuschelte kurz über meinen Nacken und verschwand in Richtung Tür. Die angenehme Gänsehaut ließ bald nach und ich sah mich tatsächlich etwas um. Die Einrichtung war modern und bestimmt sauteuer. Es dominierten Chrom, schwarzes Leder, hellgraue Wände und viel Glas. Normalerweise empfand ich sowas als kühl und steril, doch farbige Bilder an den Wänden lockerten die Atmosphäre auf. Der helle Parkettboden wirkte ebenfalls wie ein Stilbruch, fügte sich dennoch harmonisch in das Gesamtbild ein. Das riesige Badezimmer erstrahlte in einem tiefen Blau und erinnerte mich sehr an Lapislazuli. Im Bad selber war noch eine weitere Tür. Dahinter fielen mir dann fast die Augen aus den Höhlen. Ein weiterer Raum gab die Sicht auf einen großen Whirlpool frei.

„Nicht schlecht“, murmelte ich vor mich hin.

„Ja, darin lässt es sich aushalten. Du bist herzlichst eingeladen.“

Ich wirbelte erschrocken herum und sah direkt in Johns Augen.

„Man, du hast mich ganz schön erschreckt.“

„Ich weiß“, lachte er. „Komm, der Pool hat Zeit.“ Er hielt mir sein Mathebuch vor die Nase.

„Ja, das ist das Richtige.“ Ich folgte ihm ins Wohnzimmer.

„So, dann leg mal los, wo klemmt es?“

„Integral- und Differentialrechnung“, antwortete ich zerknirscht. „Ein Albtraum.“

„Okay, na das kriegen wir bestimmt hin. Gut, wir haben gleich 19 Uhr. Mal schauen, wie weit wir kommen.“

Und dann ging es los. Er suchte sich ein paar Aufgaben aus einem Übungsbuch und  testete meine Kenntnisse. Hier und da verbesserte er meine Ansätze, erklärte das ein oder andere und ich fing an den Stoff zu begreifen. Er war ein total begnadeter Erklärer. Er steigerte den Schwierigkeitsgrad etwas und nach ein paar Startschwierigkeiten klappte auch das.

Wir rückten unmerklich immer näher zusammen. Die nächsten Aufgaben waren wieder ein Stück schwerer, gingen mir aber relativ locker von der Hand. Doch je näher er mir kam, desto intensiver roch ich seinen Duft. Langsam verging mir die Lust auf Mathe und ich wollte ihm dafür ganz nah sein.

„Noch eine letzte Aufgabe? Ich halte nämlich nicht mehr lange durch. Gleich ist Mitternacht.“ brummte er mir zu, nur wenige Zentimeter von meinem Ohr entfernt. Ein wohliger Schauer durchfuhr meinen Körper und ich ließ den Stift fallen. Sein Gesicht schwebte in geringer Entfernung vor meinem. Meine Hand griff langsam hinter seinen Nacken und ich zog ihn näher an mich heran. Er wehrte sich nicht und ich berührte seine Lippen zu einem zärtlichen Kuss.

Seine Lippen lagen warm und weich auf meinen, sein Kuss war zärtlich, unaufdringlich und raubte mir fast den Verstand. Und plötzlich schoss mir sein Satz durch den Kopf.

„Mitternacht? Verdammt, ich muss heim, sonst komm ich morgen nicht…“ Er legte mir seinen Finger auf den Mund.

„Psssscht. Du kannst hier schlafen, es ist auch nicht weit zur Tankstelle.“

„Das ist wirklich okay für dich?“

„Was für eine Frage! Du kannst natürlich auf der Couch schlafen, wenn du willst, aber ich würde mich freuen, wenn du heute Nacht bei mir bleiben würdest. Doch bevor du das entscheidest, möchte ich lieber noch eine Fortsetzung von eben.“

Seine Hände legten sich sanft auf meine Wangen, er beugte sich ein Stück vor und sog meine Unterlippe spielerisch zwischen die seinen.

Seine kontrollierte Zurückhaltung machte mich schier wahnsinnig und ich steigerte mich weiter in den Kuss hinein, schickte meine Zunge auf Erkundungstour. Ich verlor völlig mein Zeitgefühl, bis er den Kuss unterbrach. Mir entfuhr ein frustriertes Keuchen, ich wollte nicht aufhören, ganz im Gegenteil. Mein Körper sehnte sich nach ihm und ich wollte mit ihm schlafen, so gänzlich untypisch für mich, gleich am ersten Abend.

„Pierre, sei mir nicht böse. Lass dir etwas mehr Zeit, um mich kennen zu lernen, bevor du diesen Schritt gehst. Ich möchte nicht, dass du am Ende vielleicht etwas bereust.“

Ich sah ihn erstaunt an, unfähig sauer über die Unterbrechung zu sein. Seine Worte waren überlegt und sehr vernünftig.

„Sorry, du hast Recht. Du machst mich einfach verrückt nach mehr.“

Er lachte leise. „Und du mich erst. Hätten wir nicht aufgehört, dann hätte ich eine Sekunde später für nichts mehr garantieren können.“

Seine ausgebeulte Hose unterstrich diese Worte mehr als deutlich.

Die Geilheit verflog und wich einer inneren Wärme und auch mein Verstand arbeitete wieder.

„John, ich habe aber noch ein ganz anderes Problem. Ich kann die Sachen hier morgen nicht wieder anziehen.“

Er überlegte einen Moment und verschwand in einem der Räume, die ich bisher noch nicht besichtigt hatte.

„Hier, ein Shirt und eine Retro. Du kannst dich im Bad umziehen und mir dann die Sachen geben. Ich habe auch einen Waschtrockner. Morgen ist wieder alles frisch.“

Ich nahm die Sachen dankbar entgegen und verschwand ins Badezimmer. Normalerweise hatte ich ja kein Problem mit Nacktheit, zum Beispiel beim Duschen nach dem Sport, oder im Fitnesscenter. Aber vor John erschien es mir unangebracht.

Nun, er bekam ja in Kürze doch mehr zu sehen als ich gedacht hätte. Das ärmellose, weiße Lycrashirt schmiegte sich wie eine zweite Haut an mich. Auch die gleichfarbige Retro zeigte fast mehr als sie verbarg. Der Anblick im Spiegel gefiel mir. Ich packte meine Sachen zusammen, leerte die Taschen und brachte ihm das Wäschebündel. Meine, von ‚Vorfreude‘, feucht verklebte Boxer wickelte ich tief im Bündel ein.

Ich spürte seinen Blick auf mir, wie er mich ausführlich musterte und dann den Mund zu einem frechen Grinsen verzog.

„Du bist echt ein ziemlich leckerer Anblick.“ Mir schoss wieder diese gesunde Röte ins Gesicht.

John verschwand in einer kleinen Kammer, die sich als Waschraum herausstellte, und war kurz darauf zurück.

„Und, wo willst du schlafen?“

„Wenn ich dich kennen lernen soll, dann sollte ich unbedingt auch deine Schlafgewohnheiten studieren.“

„Super, ich freue mich echt. Na, dann komm mal mit.“ Er hielt mir die Hand entgegen und führte mich ins Schlafzimmer. Es haute mich beinahe aus den Socken. Allein das Bett maß gut und gerne drei mal drei Meter, eine kuschelige Bettburg mit Kissen und Decken gefüllt. Das dunkle Nussbaumholz aller Möbelstücke bildete einen interessanten Kontrast zu dem warmen Terrakotta der Wände.

„Such dir einen Platz aus, ich bin auch noch schnell im Bad.“

Er ging zum Schrank und kramte ebenfalls eine Retro hervor, ließ allerdings das Shirt im Schrank. Zu meiner Verwunderung streifte er seine Klamotten ab und verstaute sie in einem Wäschesack im Schrank. Er stand nackt vor mir und ich musste ihn einfach ansehen. Fast wie ferngesteuert trat ich näher an ihn heran und betrachtete ihn. Er hatte einen wahnsinnig schönen und definierten Körper. Seine leicht gebräunte Haut war fast makellos. Nur wenige dezente Narben, die ich erst beim näheren Hingucken entdeckte, gaben ihm ein wildes Aussehen.

„Ich bin gleich wieder da“, sprach er und hauchte mir einen Kuss auf den Mund.

Nervös krabbelte ich in das riesige Bett. Es gab genug Platz, um weit getrennt voneinander zu liegen. Insgeheim hoffte ich ja, dass er genau das nicht geplant hatte.

John

Das kalte Wasser floss an meinem Körper entlang und kühlte mein Verlangen etwas ab. Seine hungrigen Blicke hatten mich ziemlich angemacht und ich wusste eigentlich nicht, warum ich die Bremse gezogen hatte. Wir wollten es doch beide. Aber Pierre war so anders als alle anderen, mit denen ich sonst die Nächte verbrachte. Er zeigte ehrliche Gefühle und wirkliches Interesse. Und zwar nicht nur, sondern auch an meinem Körper. Pierre sprach mich auf mehreren Ebenen an. Das durfte einfach nicht sofort wieder kaputt gehen.

Ich schaltete das Wasser aus, trocknete mich ab, schlüpfte in meine Short und ging zurück ins Schlafzimmer. Pierre lag bereits im Bett und sah mich abwartend an. Die Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Hi“, kam es in einem heiser-nervösen Tonfall von ihm.

Ich lächelte ihn an und krabbelte unter die Decke.

„Wenn du möchtest… das Bett ist groß genug… aber du kannst natürlich auch näher kommen.“

Er wurde leicht rot „Liest du meine Gedanken? Ich würde wirklich gerne noch etwas kuscheln, wenn du das auch willst.“

„Nichts lieber als das.“

Schüchtern kroch er etwas weiter heran und blieb ruhig neben mir liegen. Es schien fast, als hielte er die Luft an.

Also rückte ich das letzte Stückchen vor, presste mich an ihn und er drehte sich auf die Seite. Pierre kuschelte sich mit dem Rücken an meine Brust und ich legte den Arm um ihn. Seine Wärme durchflutete meinen Körper und Geist. Der Duft seiner Haare durchströmte meine Nase.

„Pierre?“

„Ja?“

„Ich glaube … ich habe mich in dich verliebt. Du gibst mir ein wahnsinnig schönes Gefühl, wie ich es in der Form noch nie erlebt habe.“

Er drehte seinen Kopf in meine Richtung an sah mir liebevoll in die Augen.

„Ich verstehe was du meinst. Es geht mir genau so.“ Er griff nach meiner Hand auf seinem Bauch, zog sie zu seinen Lippen und küsste sie, bevor er sie fest auf seine Brust presste. Ich spürte seinen schnellen und kräftigen Herzschlag. Mit der anderen Hand griff ich suchend hinter mich und schaltete die Nachttischlampe aus.

„Gute Nacht, Pierre, träum was Schönes.“

„Danke, du auch“, brummelte er glücklich in das Kissen. Und so schliefen wir dann auch ein.

Das schrille Piepen des Weckers beendete meinen kurzen Schlaf. Ich glaubte sofort an einen schönen Traum von Pierre und mir, aber der warme Körper, der sich nach wie vor an mich presste, rettete diesen Traum in die Wirklichkeit. Ich befreite meinen Arm aus seiner Umklammerung und schaltete den Wecker aus. Dann schmiegte ich mich wieder an ihn.

„Guten Morgen, Pierre. Es ist Zeit.“

„Noch fünf Minuten“, brummte er.

Er rückte noch ein Stück dichter und rieb mit seinem Po, vermutlich unabsichtlich, über meinen Schritt. Plötzlich kicherte er.

„Ihr seid ja beide schon wach.“

„Das liegt nur an dir.“ Ich streichelte ihm über den Kopf. „Du siehst sogar morgens zum anbeißen aus.“

Er drehte sich um und lächelte mich verschlafen an. „Du aber auch.“
Dann zog er meinen Kopf zu sich und küsste mich. Sein Arm schob sich unter mir durch und er presste sich immer weiter an mich. Die andere Hand griff um mich herum und er streichelte meinen Rücken. Er wurde immer fordernder, die Küsse immer wilder. Seine Erregung presste sich fest an meinen Bauch.

„Pierre“, keuchte ich atemlos, „ich garantiere gleich wirklich für nichts mehr!“

Als Antwort löste er sich von mir und zog das Shirt aus, nur um sich dann wieder an mich zu pressen und mit den wilden Küssen fortzufahren.

„Willst du das wirklich?“, fragte ich unsicher.

„Bitte, halt die Klappe, John“, stöhnte er.

Seine Zunge schob sich tiefer in meinen Mund und machte jedes weitere Wort unmöglich. Seine Schüchternheit war völlig verflogen und er kontrollierte das weitere Geschehen. Plötzlich lag ich auf dem Rücken und Pierre auf mir. Die leidenschaftlichen Küsse schalteten meinen rationalen Verstand aus und ich gab mich seinem Willen hin. Als er den Kuss unterbrach wollte ich protestieren, aber seine Lippen suchten sofort einen neuen Angriffspunkt. Fordernd küsste und leckte er sich an meinem Hals entlang, wanderte langsam über das Schlüsselbein und verweilte eine Weile auf meiner Brust.

Gerade als ich dachte, er könne mich nicht noch mehr erregen, setzte er seinen Weg weiter fort. Er übersäte meinen Bauch mit unzähligen heißen Küssen und arbeitete sich immer weiter vor. Seine Zunge leckte über den Stoff meiner Retro und er knabberte an der Beule.

Meine Hände gruben sich tief in seine Haare und ich drückte mein Becken etwas nach oben. Er unterbrach seine ‚Tortur’ einen Moment und grinste mich lüstern an.

Dann schob er seine Finger in den Hosenbund und zog meine Retro ein Stück nach unten. Meine Erektion blieb am engen Bund hängen und bog sich ein Stück nach hinten. Doch dann gab der Widerstand nach und mein Ständer ploppte nach vorne.

„Na, wen haben wir denn hier? Du siehst ja lecker aus“, wisperte er.

Seine Zunge leckte gierig am Schaft entlang und plötzlich stülpte sich ein warmes Paar Lippen über die Spitze. Ein undefinierbares Geräusch entfuhr mir, ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschah. Und kurz darauf bahnte sich dieses unbeschreibliche Gefühl an, das Kribbeln im Magen, das lustvolle Ziehen in den Lenden und ich kam zum Höhepunkt. Ich konnte Pierre nicht vorwarnen, aber er bemerkte es rechtzeitig. Allerdings zog er sich nicht zurück, sondern schob seinen Kopf noch weiter nach unten. Mein Körper zitterte unkontrolliert, als die Nachbeben wie eine Welle über mich hereinbrachen.

Pierre löste sich wieder und positionierte seinen Kopf über meinem. Der nächste Kuss war unbeschreiblich zärtlich. Ich schmeckte die letzten Reste meines Höhenflugs. Er griff nach meiner Hand und führte sie in seine eigene Hose. Kaum hatte ich ihn berührt, da ergoss auch er sich in einem warmen Strahl über meine Hand.

Nach ein paar Minuten zärtlichen Kuschelns sah Pierre zur Uhr.

„Oh verdammt, ich werde zu spät kommen. Wann fährt hier der Bus?“

„Ich fahr dich. Los, geh duschen, ich mache uns ein kleines Frühstück. Eine Zahnbürste findest du im Spiegelschrank.“

„Danke, du bist ein Schatz“, lächelte er.

Wir standen auf und ich gab ihm noch seine Klamotten aus der Maschine. Sie waren fast nicht verknittert. Pierre verschwand im Bad und ich kümmerte mich den Kaffee und Toast.

Ich dachte an Pierre und fühlte mich zum ersten Mal seit Jahren wirklich glücklich.

‚Du weißt, dass dir das auf Dauer nicht reicht. Du brauchst den Schmerz, du sehnst dich danach. Du wirst alles wieder zerstören, wie immer, Johnnyboy.’

„Diesmal nicht. Alles wird gut.“

‚Ja, mach dir nur was vor. Wir wissen es beide besser.’

„Was meinst du?“ Pierre stand in der Küchentür und sah mich an.

„Das mit uns, das wird wundervoll.“

„Ja, das glaube ich auch ganz fest.“

‚Oh wie niedlich… du wirst euch beide vernichten.’ Ich ignorierte die zynische Stimme in mir.

Wir kamen gerade noch pünktlich an der Tankstelle an und verabschiedeten uns, nach dem Rufnummerntausch, mit einem Kuss. Dann fuhr ich noch kurz zum Duschen heim und war bald auf dem Weg zur Arbeit.

Pierre

Der Tag an der Tankstelle verging wie im Flug. Ich war durch und durch glücklich. John hatte mich völlig in seinen Bann geschlagen. Bisher war ich noch nie so schnell aufs Ganze gegangen, aber bei ihm fühlte es sich irgendwie richtig an. Vielleicht lag es an seiner Zurückhaltung am Vorabend. Und auch am Morgen. Er war so darauf bedacht, dass ich nichts Unüberlegtes tue – das hatte mich restlos überzeugt.

Kurz vor dem Schichtwechsel war nichts mehr zu tun. Ich stand an der Kasse und durchlebte den heutigen Morgen immer und immer wieder. Das war, unbestritten, der schönste Sex meines Lebens und dabei hatten wir nicht mal miteinander geschlafen. Die Gedanken erregten mich wieder sehr und ich stand mit einem seligen Lächeln herum.

Ich bemerkte auch nicht, dass Karina mittlerweile vor mir stand und mich kritisch begutachtete.

„Die Fünf und eine detaillierte Beschreibung deiner letzten vierundzwanzig Stunden bitte.“

Ich zuckte ertappt zusammen und bemerkte weiterhin nicht, dass Karina vor mir stand.

„Sie haben nicht an der Fünf… oh, hi Kari“, lächelte ich sie verlegen an. Meine Ohren glühten und sie lachte auf.

„Oha, du musst mir wohl nix mehr erzählen, dein Gesicht sagt alles. Aber sei froh, dass ich kein Kunde bin. Also, sag schon, war es schön? Ist er nett?“

„Er hat mich zum Essen eingeladen, in nen total elitären Schuppen, aber das Essen war der Hammer. Dann hat er mich zu sich eingeladen. Ich habe die Schule geschwänzt. Wir haben Mathe gelernt, bis Mitternacht. Und ich habs begriffen. Eigentlich alles ganz leicht. Dann wollte ich heim, aber er bot mir an, ich könne bei ihm schlafen. Und das haben wir auch gemacht, nur geschlafen und geküsst. Es war toll. Und heute Morgen… man, Kari, John ist der Wahnsinn.“

Karina drückte kurz meine Hand. „Es hat dich mächtig erwischt, hmm? Ich freu mich für dich, wurde ja Zeit, dass unser süßer Pierre endlich in feste Hände gerät. Erzählst du mir ein wenig mehr von ihm?“

Ich zögerte etwas. Immerhin wusste Karina eine Menge über mich, so wie Martina auch. Unter anderem auch die Geschichte von damals. Karina war auf den ‚Typen’ auch nicht gut zu sprechen.

„Genau genommen hab ich das schon.“

„Wie meinst du das?“

„Damals… die Sache mit dem Typen, als ich auf der Straße lebte.“

„Deeeeeer war das?“ Ihre Stimme wurde leicht schrill.

„Ja, aber beruhige dich, es ist alles ganz anders. Er wollte sich für damals entschuldigen, nachdem er mich wieder erkannt hatte.“

„Dann war das mit der Nachhilfe nur ein Vorwand? Gerissener Bursche…“

„Ja, es war einer und ich wusste das auch, ich wollte dich nur nicht beunruhigen. Und letztendlich hat er mir ja Nachhilfe gegeben. Er ist ein genialer Lehrer.“

„Und dann hat er dich angegraben und verführt?“ Karina war nicht begeistert.

„Falsch… ich … naja… er hat mich gestern Abend ziemlich ausgebremst. Ich war total benebelt von ihm und wäre ihm fast an die Wäsche gegangen. Aber er hielt das für eine schlechte Idee, solange ich ihn nicht besser kenne. Ich solle mir sicher sein, dass ich das wirklich will.“

„DU bist ihm an die Wäsche? Wow, dass passt ja gar nicht zu dir.“ Das Erstaunen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Ja, komisch, oder? Aber ich wollte ihn, war mir eigentlich da schon sicher. Kari, ich hab mich total in ihn verknallt.“

„Das sieht man dir auch an. Und wie ging es weiter? Du strahlst dieses ‚Ich hatte Sex’ aus. Hat er dich heute Morgen verführt?“

Ich errötete wieder und sah zu Boden. „Nein. Ich hab ihn heiß gemacht und er hat wieder gefragt, ob ich mir sicher sei. Doch diesmal hab ich mich nicht bremsen lassen. Es war fantastisch.“

„Wow… Pierre, du überraschst mich. Na dann… herzlichen Glückwunsch. Und wann seht ihr euch wieder?“

„Wir haben noch nicht darüber gesprochen.“

„Und was ist, wenn er genau darauf aus war? Wenn er genau das wollte und dich jetzt in den Wind schießt?“

„Kari, was soll das? Wieso sagst du sowas?“

„Weil mir der Typ unheimlich ist. Also alleine wegen diesem Nachhilfe-Vorwand. Er hat mich eiskalt angelogen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und ich hab nichts davon bemerkt.“

Der Einwand war berechtigt. Aber sie musste sich einfach täuschen, John war so warmherzig und einfühlsam. Doch da war noch seine andere Seite, diese kalte Ausstrahlung. Die Unsicherheit in mir wuchs und ich bemerkte, dass meine Augen feucht wurden.

„Pierre? Hey, ich wollte dich nicht traurig machen. Ich hab nur so ein komisches Gefühl, dieser John ist mir suspekt.“

Plötzlich klingelte es in meiner Jackentasche. Eine SMS von John. Ich las sie und reichte meiner Kollegin wortlos das Handy.

„Hallo mein süßer Franzose. Ich hätte dich gerne abgeholt, schaffe es aber nicht rechtzeitig aus dem Büro. Ich möchte dich aber wieder sehen. Darf ich dich zur Schule bringen? Dein John.“

Sie reichte mir das Handy. „Okay, ich hab mich vielleicht getäuscht.“

„Ist okay. Ich verstehe dich ja auch, was die Schilderung eures Gesprächs angeht. Es war schon irgendwie merkwürdig. Aber dann… alleine gestern. Er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er scharf auf mich war und am liebsten gleich mit mir geschlafen hätte. Und dann bricht er es ab. Wenn es wirklich das war, was er wollte, hätte er es einfacher haben können. Und ich bin sonst wirklich nicht von der schnellen Sorte.“

„Klingt eigentlich ganz logisch. Okay, ich bin erstmal überzeugt. Aber wenn er dir weh tut, dann kriegt er es mit mir zu tun.“

„Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. So, ich brauche einen Moment, er hat meine Adresse noch nicht.“

Schnell tippte ich eine Antwort in das Handy, mit der Adresse und dem Hinweis, er solle bei ‚Schneider und Marais’ klingeln. Meine Mutter hatte, nach der Scheidung, ihren Geburtsnamen angenommen. Ich blieb, zwangsläufig, bei dem Namen meines Vaters, meinem Geburtsnamen.

Ich verabschiedete mich bei Karina, wie üblich mit einem Küsschen links und rechts auf die Wange und begab mich zum Bus.

Meine Mutter war noch nicht daheim und ich machte mir schnell eine Dosensuppe. Nach dem Essen suchte ich meine Unterlagen zusammen. Ich hörte, wie sich ein Schlüssel in die Haustür schob und von außen aufschloss. Meine Mutter kam also heim. Ich wollte ihr natürlich gleich die Neuigkeiten erzählen. Sie wusste ja, dass ich schwul war.

„Pierre? Ich bin daheim und hab dir jemanden mitgebracht, er stand vor der Eingangstür.“

Hinter meiner Mutter schob sich John durch den Eingang.

„Hi Pierre, ich hab dir deine Matheaufgaben mitgebracht, wir können dann auch gleich zur Schule.“ Er wirkte etwas hilflos und sah mich unsicher an. Ich kostete den Moment noch etwas aus und ging dann grinsend auf ihn zu.

„Maman, darf ich dir John vorstellen? Also, das ist John. John, meine Mutter. Du hast sie ja bereits getroffen.“ Er hob fragend eine Augenbraue.

„Na komm, nicht so förmlich. Willst du mich nicht richtig begrüßen?“ Ich packte ihn am Revers und zog ihn zu mir, für einen zärtlichen Begrüßungskuss.

„Maman… John ist… mein Freund?“ Ich sah ihn erwartungsvoll und auch etwas ängstlich an.

Dann löste sich seine Anspannung und er lächelte mich warmherzig an. „Wenn du das möchtest, dann ‚ja’, ich bin dein Freund. Ich hab so gehofft, dass du das willst.“

„Oh, na das ist ja eine Überraschung. Seit wann seid ihr denn zusammen?“

„Seit gestern“, antwortete ich.

Mum baute sich vor John auf und betrachtete ihn von oben bis unten. „Du bist also der Freund meines Jungen.“

John wurde zusehends nervöser, doch dann lachte sie ihn an „Dann sei willkommen. Ich bin Ingrid.“ Sie schaute mir tief in die Augen und wandte sich wieder an meinen Freund. „Er hat wirklich Geschmack. Und du natürlich auch“, sagte sie mit einem Zwinkern.

„Ja, sie haben einen zauberhaften Sohn.“ Er reichte ihr die Hand.

„Das habe ich wirklich. Und, wie ich bereits sagte: mein Name ist Ingrid. Wenn wir uns gut verstehen sollen, dann will ich dieses ‚Sie’ nicht mehr hören, okay?“ Sie funkelte ihn belustig an.

„Okay, damit kann ich leben. Hallo Ingrid.“ John setzte sein strahlendstes Lächeln auf.

„Pierre, jetzt weiß ich wenigstens, von wem du dein fantastisches Aussehen geerbt hast“, sagte er und setzte zu einem formvollendeten Handkuss an. Die Familie Schneider-Marais errötete simultan.

„Oh oh, Pierre Pascal Marais, pass auf, dass dir keiner diesen Charmeur wegschnappt. Manieren hat er auch noch.“

„Maman!“

„Pascal? Der Name ist auch sehr schön!“ John zuckte zusammen, als er mein angesäuertes Gesicht sah.

„Hab ich etwas Falsches gesagt?“ Mein Freund wirkte plötzlich merkwürdig gehetzt. „Pierre, es tut mir leid, was hab ich gemacht?“

Er schien panisch zu werden. „Hey, alles okay, es liegt nicht an dir. Mum, du weißt, dass ich diesen Namen hasse. Es ist SEIN Name. Du sollst mich nicht so nennen. Er wollte mich dir wegnehmen.“

Meine Mutter guckte zerknirscht. „Entschuldige bitte.“

John stand immer noch zur Salzsäule erstarrt. Warum war er nur so ängstlich? Es war doch nicht sein Verschulden. Ich ging zu ihm und umarmte ihn. Seine Anspannung wich allmählich.

„Du bist mir wirklich nicht böse? Ich will dich nicht verlieren.“

Daher wehte also der Wind. Unwillkürlich musste ich an seinen Heulkrampf gestern denken, wegen seiner Eltern. Seine Ängste vor Verlusten waren wirklich tief verankert.

„Hey, deswegen doch nicht. Aber wie hättest du das wissen sollen.“

„Okay, danke.“ Er umarmte mich ganz fest.

Bald darauf machten wir uns auf zur Schule.

John

In den nächsten Tagen und Wochen näherten wir uns immer weiter an. Wir verbrachten jede freie Minute zusammen, besuchten sogar Irene, die sich wahnsinnig für uns freute. Natürlich bemerkte sie auch, dass er mich zum Positiven verändert hatte. Pierre und ich lernten viel zusammen und er verbesserte sich in Mathematik. Wobei das noch untertrieben war, er schrieb die beste Klausur seiner Klasse. Meine innere Stimme war verstummt und ich betrachtete sie als besiegt.

Pierre gab mir alles was ich brauchte. Wir hatten bisher noch nicht richtig miteinander geschlafen, zuvor wollten wir unsere Testergebnisse abwarten. Natürlich hätten wir Kondome nehmen können, aber hier waren wir uns einig: ganz oder gar nicht. Wir wussten uns auch anders zu helfen. Ich verspürte keinen Drang nach Schmerzen mehr. So dachte ich es jedenfalls. Alles schien so perfekt.

Am 22.12. war es dann soweit, der Arzt rief uns an und bestellte uns in die Praxis. Die Ergebnisse waren beide negativ.

Den Abend und den folgenden Samstag verbrachten wir jedoch im Vorbereitungsstress. Am ersten Feiertag waren wir alle, also Pierre, seine Mutter und ich, bei Irene eingeladen. Natürlich waren noch andere Gäste geladen und wir boten uns für die Vorbereitungen an.

Aber der Sonntag, Heiligabend, sollte nur uns gehören. Wir schliefen lange aus und freuten uns auf unser ‚erstes Mal’. Gemeinsam schmückten wir mein Loft und brachten kistenweise weihnachtliche Dekoration an. Pierre flirtete mich den ganzen Tag über heiß an und die Stimmung knisterte.

Ich bestellte noch den Lieferservice, der uns mit leckeren Speisen versorgen sollte.

Die Vorfreude wuchs, ich wollte ihn endlich in mir spüren.

Doch nicht nur die Vorfreude wurde größer. Ein verdrängtes Verlangen meldete sich an. Der Gedanke ihn zu spüren, hart genommen zu werden. Ich kämpfte dagegen an und verschloss diesen Gedanken in der hintersten Ecke meines Gehirns.

Gegen 18 Uhr klingelte es an der Tür.

„Feinkosthaus Wehrling, ich bringe Ihre Bestellung“, tönte es aus der Sprechanlage.

„Gut, bitte in den Aufzug, ich lasse Sie nach oben. Und bitte nur den blauen Knopf drücken, das ist die interne Klingel.“

Kurz darauf ging das Aufzugsignal an und ich gab mein Stockwerk frei. Der Aufzug setzte sich automatisch in Bewegung.

„Guten Abend, Herr Herckenrath. Das macht 126,90 Euro.“

Ich griff nach dem Geldbeutel und zählte, aber es fehlten zehn Euro.

Also griff ich zum nächsten Schein und übergab ihm 200 Euro. „Danke, das stimmt so. Frohe Weihnachten.“

„Also, sie haben mir 200 gegeben.“

„Genau. Ich hab den Schein gesehen. Machen Sie sich einen schönen Abend von dem Trinkgeld.“

„Danke, vielen Dank“, strahlte er. „Ihnen auch Frohe Weihnachten.“

Pierre nahm ihm grinsend die Thermobox aus der Hand und brachte die Speisen an den Esstisch.

„So, hier haben Sie die Kiste zurück, von mir auch Frohe Weihnachten.“

Der Lieferant verschwand wieder im Aufzug.

„Schatz, den hast du ziemlich nervös gemacht mit dem Geld.“ Pierre strahlte über das ganze Gesicht.

„Ich glaube ja eher, dass er dich scharf fand. Du hast dich aber auch sexy angezogen. Dieser ‚Hauch von Nichts’ steht dir.“

„Ah merci, cherie. Du machst misch très verlegön.“

„Die Franzosennummer ist echt scharf, mein lieber Pierre“, lachte ich.

„Oui, isch weiß.“ Er griff nach meiner Hand und führte mich zum Tisch. Dann zündete er einige Kerzen an, löschte das Licht und goss uns die Gläser mit einem leckeren, natürlich französischen, Rotwein voll.

Das Essen war erstklassig. Wir fütterten uns gegenseitig und der Wein lockerte die Stimmung immer mehr. Irgendwann stand er auf und deutete mir ihm zu folgen. Er steuerte schnurstracks auf das Schlafzimmer zu. Ich holte ihn ein und stoppte ihn kurz vor der Tür.

„Nimm mich, hier und jetzt“, hauchte ich ihm ins Ohr. Er grinste und drängte mich gegen die Wand. Seine Küsse wurden immer stürmischer. Unsere Kleidungsstücke fielen zu Boden, eins nach dem anderen. Plötzlich kniete er wieder vor mir und verwöhnte mich mit seinen Lippen.

Dann stand er auf und knabberte an meinem Ohr. Dabei flüsterte er mir heiser ins Ohr.

„Okay, aber vorher möchte ich auch noch deine Lippen spüren.“

Sanft drückte er mich an den Schultern nach unten. Sein steifer Schwanz wedelte vor meiner Nase herum und verströmte seinen herrlichen süßlich-herben Duft.

„Nachtisch“, entfuhr es mir und ich nahm ihn in mir auf. Pierres Knie gaben kurz nach und er stöhnte laut auf.

Nach einer Weile hielt er meinen Kopf fest. „Stopp, Stopp bitte, sonst komme ich.“

Also stand ich auf und wir küssten uns erneut. Nach einer Weile drehte er mich herum und ich beugte mich vor. An der Wand fand ich Halt und er näherte sich langsam. Seine feucht-warme Spitze drängte sich vorsichtig an den empfindlichen Ringmuskel.

„Bereit?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Keuchen. Als Antwort schob ich ihm mein Becken entgegen und seine Eichel verschwand ein Stückchen in mir. Er verstand das Zeichen sofort.

Ich spürte, wie er wahnsinnig zärtlich und gefühlvoll weiter in mich eindrang.

„Ist alles okay? Bin ich zu schnell?“

Ich lehnte mich weiter gegen die Wand.

„Nein, alles okay, du kannst ruhig noch fester“, stöhnte ich atemlos. Gleichzeitig machte sich wieder dieses andere Verlangen in mir breit.
Pierre steigerte sein Tempo etwas und ich hörte seinen Atem, wie er stoßweise über meinen Nacken strich. Er hielt meine Brust fest mit seinem Arm umklammert und schmiegte sich liebevoll an mich.

‚Los, Johnny, sag ihm was du willst, machen wir uns doch nichts vor, du willst es!’ Die dunkle Stimme in mir wurde immer lauter. Und mein innerer Widerstand zerbrach, ich war machtlos.

„Pierre“, keuchte ich, „bitte dreh meinen Arm auf den Rücken.“

Er hielt inne. „Bist du bescheuert? Was soll das?“

Ich spürte wie er schlagartig in mir erschlaffte und sich aus mir zurückzog.

„Was ist das denn für eine kranke Nummer?“

In mir brach Panik aus, was hatte ich da nur angestellt?

„Es tut mir leid, bitte denk nicht mehr dran. Ich weiß nicht was über mich gekommen ist. Bitte, mach weiter!“

„Nee du, sorry, aber ich habe jetzt echt keine Lust mehr.“

„Pierre, bitte, es kommt nicht wieder vor.“

Er drehte sich wortlos von mir weg und verschwand im Schlafzimmer. Kurz darauf kam er in Jeans und Pulli wieder heraus. Mittlerweile saß ich nackt auf dem Boden, an die Wand gelehnt und heulte. Pierre setzte sich neben mich und legte seinen Arm um mich.

„Sorry, ich kann jetzt wirklich nicht mehr. Ich liebe dich, aber es gibt Grenzen. Der Gedanke dir Schmerzen zu bereiten… bitte, hör auf zu weinen.“

Er griff vorsichtig nach meinem Kinn und sah mir in die Augen. Ich konnte keinen Hass in ihnen erkennen. Er wischte mit dem Daumen die Tränen weg und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen.

„Sei mir nicht böse, aber ich geh zu meiner Mutter, sie arbeitet in der Kneipe, nicht weit von hier. Ich komme aber wieder, okay?“

Ich riss mich von ihm los und sammelte meine Klamotten ein. „Viel Spaß, bis dann.“

„Man John, was ist denn? Ich brauch nur etwas frische Luft. Warum siehst du mich so an? Du machst mir Angst.“

„Denk an den Schlüssel, sonst kommst du nachher nicht rein.“

„Okay, wie du willst. Bis später.“

Pierre sah mich traurig an, schnappte sich Jacke und Schlüssel und verschwand ohne ein weiteres Wort.

‚Johnny, Johnny… hab ich es dir nicht gleich gesagt? Du machst es kaputt. Das ist alles was du kannst. Zerstören, verletzen und nochmals zerstören. Und jetzt sei brav, gib uns was wir brauchen.’

Wie in Trance folgte ich den Anweisungen der Stimme und begab mich ins Bad, direkt unter die Dusche. Gute 50 Grad prasselten auf mich ein und brannten fürchterlich. Genau das, was ich jetzt brauchte. Ich griff nach meinem Schwanz und tat was die Stimme verlangte. Ihr hämisches Lachen begleitete mich.

Pierre

Ich verließ die Wohnung mit einem schlechten Gefühl, aber ich kam einfach nicht an ihn heran. Vielleicht war meine Reaktion etwas überzogen, aber sein Wunsch ging mir wahnsinnig gegen den Strich. Was wollte er damit bezwecken? Aus meinem Selbstverteidigungskurs wusste ich, wie schmerzhaft das sein konnte.

Meine Mutter war natürlich nur ein Vorwand. Zum einen hatte sie jetzt genug in der Kneipe zu tun und darüber reden konnte ich auch nicht. Aber das wäre wohl passiert, da sie immer merkte, wenn etwas mit mir nicht in Ordnung war. Ich lief also nur einige Zeit vor dem Haus auf und ab. Meine innere Unruhe wuchs. Plötzlich musste ich an den Ausraster denken, damals vor der Tankstelle. Irgendwas stimmte nicht mit ihm, auch wenn er sich seit diesem Dienstag im November in keinster Weise auffällig benahm. Er war immer fürsorglich und einfühlsam, trug mich auf Händen.

‚Gut’, dachte ich mir, ‚ ich gehe da jetzt wieder rein und bring ihn dazu, mit mir zu reden. Wir müssen das klären.’

Der Aufzug brachte mich zügig nach oben und ich betrat das Loft. Ich blickte direkt auf die Couch, die nassen Stellen davor und auf John, der nackt, krebsrot und in Embryonalstellung auf ihr lag.

„John!“ Ich rannte zum Sofa und rutschte beinahe noch in einer der Pfützen aus.

„John, hörst du mich?“ Er reagierte nicht. Ich rüttelte an seiner Schulter und erschrak: sein Körper glühte förmlich. Als ich ihn anfasste stöhnte er leise und schmerzvoll auf, rührte sich sonst aber nicht weiter.

Dankbar, dass mein Chef mich regelmäßig zu Ersthelfer-Kursen geschickt hatte, stellte ich fest, dass John stark überhitzt war und vermutlich Verbrühungen hatte. Ich rannte ins Bad und ließ lauwarmes Wasser in die Wanne laufen. Mehr als fünfzehn bis zwanzig Grad sollten es nicht sein. Nebenbei registrierte ich den beschlagenen Spiegel und die Duschkabine.

Was hatte er nur getan? Die Badewanne war mittlerweile ausreichend gefüllt und die Temperatur war okay. Ich flitzte zurück in den Wohnbereich und er lag noch da wie zuvor. Sein Atem war nur noch flacher. Ich bekam langsam Panik und schnappte ihn mir. Er war zwar schlank, dafür aber recht groß und trainiert, also schwerer als er aussah. Ich trug ihn vorsichtig ins Bad und legte ihn in die Wanne. Dann wählte ich 112 und verlangte einen Notarzt.

Quälende zehn Minuten später klingelte es endlich an der Tür. Ich lotste den Arzt nach oben und ging wieder ins Bad.

„Wie ist das passiert?“

„Ich weiß es nicht genau. Wir hatten Streit und ich ging raus. Als ich wiederkam lag er völlig apathisch auf dem Sofa, die Haut gerötet und der Körper fühlte sich heiß an. Hier drinnen waren Dusche und Spiegel völlig beschlagen.“

Der Arzt untersuchte John und ein Sanitäter drehte das Duschwasser auf.

„Knappe 50 Grad, Herr Doktor.“

„Gut. Herr Marais, sie haben alles ganz richtig gemacht. Der Puls ist im Rahmen, die Haut normalisiert sich wieder. Sie nehmen ihn bald besser wieder aus der Wanne heraus. Hat er in den letzten Monaten einen Unfall gehabt oder sich anderweitig verletzt?“

„Davon weiß ich nichts, warum fragen sie?“

„Er hat relativ viele Narben, einige sind erst frisch verheilt, andere schon älter. Sie fallen eigentlich kaum auf. Aber die Häufung ist ungewöhnlich.“

„Ich weiß wirklich nichts. Wir sind erst seit einem guten Monat … zusammen.“

„Verstehe. Dann haben Sie bitte noch ein Auge auf Ihren Freund. Wenn noch etwas sein sollte, hier ist meine Karte. Ich habe noch bis Übermorgen Notfallbereitschaft. Na dann, Frohe Weihnachten.“

„Danke, Frohe Weihnachten.“

Die Truppe rückte ab. John sah tatsächlich schon fast wieder normal aus und ich hob seinen glitschigen Körper mit großer Mühe aus der Wanne. Vorsichtig tupfte ich ihn wieder trocken, falls die Haut doch noch gereizt war. Dann brachte ich ihn ins Bett und kuschelte mich an ihn heran, in der Hoffnung, dass er bald aus seiner Starre erwachen würde und dann meine Nähe spürte.

Langsam kam ich wieder zur Ruhe und merkte, dass mich die Situation mental völlig überforderte. Was war hier nur los? Ich vergrub mein Gesicht in seinen Haaren und schlief irgendwann leise weinend ein.

‚Umpf’. Ein heftiger Schlag in die Rippen weckte mich auf. John wand sich in meinen Armen und schlug um sich.

„Nicht … verlassen … bleib … nicht … bitte … nicht verlassen…“

„John, wach auf, du träumst.“ Ich rüttelte an seiner Schulter und unterdrückte den dumpfen Schmerz in den Rippen. Mit einer weiteren Bewegung stieß er mich zur Seite und ich flog beinahe aus dem Bett. Also kletterte ich auf ihn drauf und fixierte seine Arme mit meinen Oberschenkeln. Noch immer warf er sich hin und her. Mit beiden Händen rüttelte ich an seinen Schultern.

„John, hörst du mich? Wach bitte auf, es ist alles gut, ich bin hier!“

Endlich eine Reaktion. Seine Augenlider zuckten allmählich und er öffnete sie langsam.

John

„Was ist passiert? Wie komme ich hierher?“ Pierre kniete auf mir und sah mich besorgt an.

„Du hattest einen Albtraum. Und was passiert ist, das würde ich auch gerne wissen. Du warst total überhitzt und überall stark gerötet, sah sehr nach heißem Wasser aus. Sehr heißes Wasser.“

‚Shit’ dachte ich. Die Wahrheit konnte ich ihm jetzt bestimmt nicht erzählen.

„Ja… du bist verschwunden und ich wollte duschen, weil ich mich wegen der Sache so schlecht gefühlt hatte. Ich bin in der Dusche ausgerutscht und muss wohl den Hebel verrissen haben. Alles halb so wild, ich bin ja noch herausgekommen.“

„Nicht so wild? Ich dachte du kratzt ab! Du hast mir eine wahnsinns Angst eingejagt. Nicht so wild?“ Seine Stimme wurde leicht hysterisch.

„Es war ein Unfall, nichts weiter. Bitte beruhige dich doch.“

„Nichts weiter, ein Unfall? Man, John, was stimmt nicht mit dir? Erst dieser merkwürdige Wunsch und jetzt das. Nur ein Unfall. Das hätte ganz anders ausgehen können.“

„Ich habe es verbockt… wenn du gehen willst, ich verstehe, wenn du mit mir nicht zusammen sein willst.“ Meine Augen füllten sich mit Tränen. Die Stimme hatte Recht, es war von Anfang klar, dass ich Pierre verlieren würde.

„Sag mal, spinnst du jetzt total? Ich wollte doch nur wissen, was hier passiert ist! Ich mache mir große Sorgen um dich. Aber ich liebe dich und möchte bei dir sein.“ Sein fassungsloser Blick traf mich tief, „oder möchtest du, dass ich dich verlasse?“

„Nein! Natürlich nicht, wie kannst du das nur fragen?“ Ich wollte nach seinen Händen greifen und ihn festhalten, doch mir wurde jetzt erst bewusst, dass er meine Arme mit seinen Schenkeln fest an meinen Körper presste. Gleichzeitig sah ich die leichte Verfärbung auf seiner rechten Brustseite.

„Was ist mit dir passiert?“ Ich deutete mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung seiner Brust an.

„Du hast schlecht geträumt und wild um dich geschlagen. Dein Ellbogen… naja, deshalb…“ Er kletterte wieder von mir herunter und legte sich neben mich. Mit den Fingern tastete ich vorsichtig nach der Rötung und er atmete zischend ein.

„Das tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.“

Pierre drehte seinen Kopf zu mir und ich bemerkte die Tränen, die an seinen Wangen herunter liefen.

„Ich weiß, John. Aber ich verstehe nicht, warum du von mir möchtest, dass ich dir wehtue.“

„Ich hole dir einen Eisbeutel, warte kurz.“ Ich stand auf und ging in Richtung Küche.

Er nahm den Beutel entgegen und drückte ihn auf die Rippen. Ich beobachtete die feine Gänsehaut, die sich um den Beutel herum langsam ausbreitete. Er schwieg weiterhin und ich wusste, worauf er wartete.

„Es wird nie wieder vorkommen, wirklich. Natürlich möchte ich nicht, dass du mir Schmerzen bereitest. Das heute Abend… es war nicht mehr als ein Kurzschluss. Ich mag es, wenn du so dominant wirst und hatte gedacht es würde den Effekt noch verstärken. Ich wollte mich dir völlig ausliefern. Ich war mir sicher, dass du mir keine Schmerzen zufügen würdest.“

‚Nette Lüge, mein Johnnyboy. Ob er da wohl drauf reinfällt? Du bist eine verdrehte kleine Schlampe und er wird es noch merken.’

„Sicher? Also… dominant… damit kann ich mich vielleicht anfreunden, ich bin auch gerne aktiv. Aber … sowas vertrag ich nicht noch mal.“

„Versprochen, nie mehr.“

‚Er ist verblendeter als gedacht. Fein gemacht, mein lieber Johnny, treibe dein falsches Spiel. Du schaffst das doch nie.’

Ich presste meine Hände gegen den Kopf, diese Stimme, warum verschwand sie nicht einfach?

„Alles okay bei dir?“ Seine freie Hand befühlte meine Stirn.

„Ja, ich habe nur rasende Kopfschmerzen bekommen.“

Und diesmal sagte ich wirklich die reine Wahrheit. Er versorgte mich mit Schmerztabletten und kuschelte sich an mich. Bald schliefen wir wieder ein.

Pierre

Das Telefon schrillte vor sich hin und weckte mich auf. John lag nicht mehr neben mir und der Radiowecker zeigte 9:23 Uhr an. Schwerfällig rappelte ich mich hoch und begab mich auf die Suche nach meinem Freund.

In der Zwischenzeit sprang der Anrufbeantworter an.

‚Hallo, dies ist der Anschluss von John Herckenrath und Pierre Marais. Im Moment können wir leider nicht ans Telefon gehen, aber bitte hinterlasst uns eine Nachricht, nach dem Piep.’

Ich musste schmunzeln, er hatte tatsächlich die Ansage geändert und es damit offiziell gemacht.

‚Hallo ihr zwei, hier ist Irene. Wenn ihr nachher kommt, dann bringt bitte noch Zucker mit. Zwei Pfund dürften reichen. Mir ist alles beim Backen draufgegangen und ich hab es erst eben bemerkt, als ich den Punsch machen wollte. Also, bis später.’

John war nirgends zu finden und ich machte mir sofort wieder Sorgen.

Zurück im Schlafzimmer griff ich nach dem Pullover neben dem Bett und ein Zettel fiel herunter.

„Guten Morgen, Du Langschläfer. Wenn Du mich suchst, ich bin im Keller. Ich liebe Dich, Kuss, John“

Krafttraining hörte sich verlockend an. Ich schlüpfte in meine Sportklamotten, schnappte mir eine Flasche mit Saftschorle und zwei Gläser und fuhr mit dem Aufzug nach unten.

John lag auf der Hantelbank und stemmte ein paar Gewichte. Er trug nichts außer der engen Trainingshose und bemerkte mich nicht. Ich beobachtete ihn und das Spiel seiner Muskeln, wie sie sich unter der Haut bewegten. Sein Körper glänzte verführerisch unter dem Deckenlicht.

Er legte die Hantel zurück in die Halterung, winkelte die Beine an und machte ein paar Bauchmuskelübungen. Dieses Schauspiel machte mich schon ziemlich an und ich stellte meine Mitbringsel auf dem Boden ab. Das leise Klirren erregte seine Aufmerksamkeit.

„Hey Pierre!“ er strahlte mich an.

„Hi“, krächzte ich heiser vor Erregung. Ich lief langsam auf ihn zu und er verfolgte jeden meiner Schritte mit seinen Augen. Neben ihm angekommen, legte ich meinen Finger auf seinen Bauch, fuhr die Linien seiner Muskeln entlang, immer höher über die Brust und endete schließlich an seinem Mund.

Ich atmete tief den Duft seines Schweißes ein und mein Finger fuhr die Konturen seiner Lippen nach. Dann kletterte ich mit einem Bein über die Bank und hockte mich breitbeinig auf seinen Schoß. Er wollte es etwas dominanter? So sollte er es haben.

Ich beugte mich vor und neckte seine Lippen mit meiner Zunge. Er wollte sofort zum Kuss übergehen, aber ich zog mich ein Stück zurück. Das Spielchen wiederholte ich einige Male und ich spürte seine steinharte Erregung unter meinem Po wachsen.

Seine Hände fuhren über meinen Rücken und ich richtete mich leicht auf, führte seine beiden Arme hinter seinen Kopf und drückte sie ganz leicht auf die Bank. Allein der symbolische Charakter meiner Handlungen ließ ihn laut aufstöhnen. Erst jetzt gab ich ihm den Kuss, nach dem er so sehr verlangte.

Zugegeben, die Nummer gefiel mir bisher auch und schärfte mich total an.

„Dreh dich um“, flüsterte ich ihm ins Ohr und ich stand auf.

Er reagierte ohne zu zögern. Ich befreite ihn von seiner Sporthose und er ließ sofort jeweils ein Bein auf jeder Bankseite hinunter.

Wortlos entledigte ich mich meiner eigenen Hose und vollendete den gestrigen Abend.

Wir lagen danach noch eine Weile auf der Bank, bis ich mich aus ihm zurückzog. Er lächelte mich dankbar an.

„Das war Wahnsinn. Danke.“

„Mir hat es auch sehr gefallen. Mit der Rolle kann ich tatsächlich leben. Heute Nacht war ich mir noch nicht ganz sicher, aber jetzt… dein Vertrauen zu mir …“, ich stockte kurz, „war irgendwie ziemlich geil.“

Er nickte lachend und kurz darauf zogen wir uns an. Dann reinigten wir noch die Hantelbank, die John völlig eingesaut hatte. Er hatte wirklich nicht gerade wenig auf die Bank gespritzt, und das ohne zusätzliche Stimulation.

Wir leerten durstig die Flasche mit Saftschorle und gingen zurück ins Loft, direkt unter die Dusche. Dort bedankte er sich nochmals bei mir, mit seinem begnadeten Lippenspiel. Er ließ mich aber nach dem erneuten Höhepunkt nicht frei und machte weiter. Aber nur so lange, bis er sicher war, dass ich entspannt genug für eine Revanche war. Er drehte mich vorsichtig herum und liebte mich zärtlich von Hinten.

Als wir die Dusche verließen, waren meine Knie butterweich und John stützte mich ab.

„Das war so ziemlich der absolut schärfste Start in den Tag.“

John grinste. „Ich hätte nichts gegen häufigere Wiederholungen.“

Die Wiederholungen mussten allerdings erstmal warten, es stand ja noch die Feier bei Irene an. Auf dem Hinweg besorgten wir noch zwei Packungen Zucker bei Martina, die heute Tankstellendienst hatte. Sie begrüßte mich herzlich und warf John einen grimmigen Blick zu. Sie konnte ihn, sehr zu meinem Leidwesen, überhaupt nicht leiden. Zumindest Karina hatte sich an ihn gewöhnt.

Die Weihnachtsfeier selbst verlief etwas steif. John fühlte sich den Tag über zusehends unwohler und wirkte sehr abwesend.

„Was ist los mit dir?“ John reagierte erst, als ich ihn dezent anstieß.

Seine Augen schienen von einer weiten Reise zurückzukommen. „Nichts, mach dir keine Sorgen. Ich habe nur wieder Kopfschmerzen.“

„Willst du heim?“

Er nickte fast unmerklich. „Ja, aber lass uns noch ein wenig spazieren, ich brauche frische Luft.“

„Okay, ich sage Irene bescheid.“

Sie hatte natürlich Verständnis dafür, auch wenn sie den frühen Aufbruch bedauerte.

John lief weiterhin abwesend neben mir her, bis zum nahe gelegenen Park. Schneeflocken fielen unentwegt auf unsere Mäntel und bedeckten den Weg vor uns. Eine einzelne Person lief uns im Park entgegen und blieb plötzlich stehen.

„John? Lange nicht mehr gesehen“, meinte der Unbekannte.

„Hi Frank… ja, seit meinem Geburtstag nicht mehr. Und darf ich dir meinen Freund vorstellen? Frank, der Mann an meiner Seite ist Pierre. Pierre, das ist Frank, ein Trainingspartner vom Boxen.“

Frank hielt mir die Hand hin. „Hi Pierre. Boxpartner und ein ehemals guter Freund von John, dachte ich zumindest einmal.“

„Das gehört hier nicht her“, zischte John.

„Ja, da hast du durchaus Recht. Ich muss eh weiter. Viel Spaß noch und viel Glück, Pierre.“

Frank lief weiter und ließ mich völlig verdattert zurück. Viel Glück?

„Was meinte er damit?“

„Vergiss ihn einfach… sein Gerede brauchen wir nicht, er will sich nur rächen. Komm!“

„Wofür denn rächen? Was war zwischen euch los?“

„Das geht dich nichts an, jetzt komm.“ Unsanft griff er meinen Unterarm und zerrte mich hinter sich her.

„Stopp!“ Langsam wurde ich wirklich sauer und riss mich von seinem schmerzhaften Klammergriff los. „Was zur Hölle ist in dich gefahren?“

Seine Stimmung wechselte blitzartig und er sah mich flehend an. „Ich… bitte, sei nicht böse, aber lass uns nicht mehr über ihn reden. Es führt zu nichts. Pierre, schau mich bitte nicht so sauer an. Es tut mir leid.“

Mir platzte der Kragen. Diese wechselhaften Stimmungen der letzten Tage schlugen mir mächtig auf den Magen.

„Nein. Ich habe zwar wirklich keine Lust mich ausgerechnet Weihnachten mit dir zu streiten, aber ich versteh dich einfach nicht? Du hast mir gerade ziemlich wehgetan. Und was habe ich dir getan, dass du mich so anranzt? Ich nehme mir jetzt ein Taxi und fahre nach Hause. Zu meiner Mutter. Alleine.“

„Bitte tu mir das jetzt nicht an, ich brauche dich, Pierre.“ Er brach, wie so oft, in Tränen aus.

Doch diesmal brachte es nichts, mittlerweile war ich sauer.

„Ich tue dir was an? Und was machst du hier?“ Der Kloß in meinem Hals wuchs und ich stand selber kurz vor einer Heulattacke.

„Ruf mich an, wenn du wieder normal bist, John. Und wenn du endlich mal mit mir reden willst.“

An der nächsten Hauptstraße fand ich ein Taxi und fuhr heim. Meine Mutter war noch arbeiten und ich weinte mich in den Schlaf.

John

Er ließ mich einfach allein. Und es war meine Schuld.

‚Er hasst dich. Du verdienst ihn nicht, verstehst du das langsam? Er ist viel zu gut für dich.’

‚Ich kann mich ändern, kann ihm ein guter Freund sein.’

‚Ja ja… wie oft willst du dir das denn noch sagen? Johnnyboy, du hast es verschissen. Er will dich nicht mehr!’

‚Du lügst, wir kriegen das hin.’

Die Stimme in meinem Kopf lachte nur.

‚Lach mich nicht aus, verschwinde du Bastard!’

‚Du verkommene kleine Schlampe. Du wirst alles verlieren. Es ist eh zu spät, warum holst du dir nicht das, was du wirklich brauchst?’

‚Er würde es nicht tun…’

‚Wer spricht denn von ihm?’

War es wirklich vorbei? Langsam lief ich zu Irene zurück und holte meinen Wagen. Mein Kopf fühlte sich so furchtbar leer an und ein inneres Gefühl lenkte mich durch die Stadt. Ich parkte in einer Seitenstraße und bewegte mich durch die leeren Gassen.

Vor einer eisernen Tür blieb ich stehen. Sie führte direkt in ein privat geführtes Etablissement, unter Insidern auch als ‚Joyful Pain’ bekannt, ein Underground SM Club.

Der Barbereich war in zwei Segmente unterteilt, die jeweils durch ein Symbol gekennzeichnet waren. Auf der einen Seite prangte ein Hammer und ich ließ mich in der anderen nieder, durch einen Ambos markiert. Eine ganz einfache Bildsprache: Hammer schlägt Ambos.

Es dauerte nicht lange, und ein grobschlächtiger Mittvierziger befahl mir mitzukommen. Bald darauf ergab ich mich seinem Ledergürtel und den wohltuenden Schlägen auf meine nackte Kehrseite, bis er mich hart und erbarmungslos nahm.

‚Ja John, du kleine dreckige Hure, jetzt bekommst du was du verdienst.’ Meine innere Stimme war zufrieden.

Einige Stunden später wankte ich in mein Loft und stieg in das kalte Wasser in der Badewanne. Das kühle Nass linderte den Schmerz meines geschundenen Körpers. Danach versorgte ich die roten Striemen mit einer Heilsalbe und legte mich ins Bett. Aber ich bekam kein Auge zu. Das quälende Wissen, dass ich Pierre betrogen hatte, nagte an mir.

Irgendwann übermannte mich dann doch der Schlaf.

Als ich die Augen wieder öffnete, war es bereits nach 18 Uhr, der letzte Weihnachtstag stand kurz vor seinem Ende. Von Pierre war keine Spur zu sehen. Aber das konnte auch nicht sein, wir hatten am Vortag nur einen Schlüssel dabei und den trug ich.

Die Schmerzen im Gesäß waren fast vollständig verschwunden, was mich nach den wenigen Stunden etwas wunderte. Auf dem Anrufbeantworter blinkte eine Nachricht.

„Nachricht eins: 27.12.2006, 15:33 Uhr: John, melde dich bitte. Es tut mir leid, ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen. Ich habe gestern den ganzen Tag auf eine Nachricht gewartet und halte es ohne dich nicht mehr aus. Ich war heute bei dir, hatte aber keinen Schlüssel und du warst nicht da. Ist alles okay? Du fehlst mir.“

Seine Stimme klang verheult und es tat mir furchtbar leid. Was hatte ich nur getan. Und dann das Datum… ich hatte den gesamten Feiertag verschlafen. Das erklärte natürlich auch die gute Heilung.

‚Wie willst du ihm jetzt noch in die Augen sehen?’

‚Er darf es nicht erfahren. Niemals.’

‚Ach Johnny, das war uns doch beiden klar. Aber wie wirst DU damit fertig. Wir fühlen es doch, deine quälenden Gewissensbisse. Und wir wissen auch, dass es nur einen Weg dagegen gibt. Du wirst ihm weiter wehtun, in weiter betrügen.’

‚Bitte… sei still … ich will das nicht hören.’

‚Ich soll schweigen? Dass ich nicht lache, es ändert nichts an der Tatsache. Er wird leiden, nur deinetwegen. Immer und immer wieder. Du verlierst ihn, zerstörst ihn, wie alles andere auch.’

„Nein, mein Freund. Ich suche mir professionelle Hilfe und werde dich vernichten! Du machst mir das Leben schon lang genug zur Hölle.“

‚Das wagst du nicht!’

„Und ob. Ich tue es für ihn und mich.“

Erwin hatte mir damals, kurz vor seinem Tod, eine Karte gegeben, von einem Spezialisten. Eigentlich wollte ich sie wegwerfen, aber behielt sie dann, als Erinnerung an ihn. Er hatte Recht, die ganze zeit über. Ich hoffte nun, dass es noch nicht zu spät war.

Da ich nicht davon ausging, dass Doktor Reinhardt heute arbeitete, wählte ich direkt die angegebene Handynummer. Nach einem kurzen Tuten meldete sich auch jemand.

„Reinhardt.“

„Hallo Doktor Reinhardt, mein Name ist John Herckenrath. Erwin Zinner hat Sie mir empfohlen.“

Ich schilderte ihm meine Situation und ließ, sehr zu meiner Überraschung, kein Detail aus. Die nächste Überraschung folgte sofort, er wollte mich gleich morgen in seiner Praxis sehen. Wir machten 13 Uhr aus.

Dann rief ich sofort bei Pierre an.

„John! Wo hast du gesteckt? Ich war ganz krank vor Sorge“, antwortete er gleich nach dem ersten Klingeln.

„Ja… ich habe mich dumm verhalten.“ Jetzt war guter Rat teuer, wie erklärte ich diesen Vorfall am Besten? „Ich habe mich nach deinem Weggang ziemlich betrunken und gestern durchgeschlafen. Es tut mir leid.“ Wirklich Leid tat mir hauptsächlich diese Lüge. Ich wusste, dass es falsch war, aber die Wahrheit hätte jetzt restlos alles zerstört.

„Ist denn wieder alles okay mit dir? Soll ich vorbeikommen? Du fehlst mir, John. Ich hätte nicht gehen dürfen.“

Vorbeikommen… ich hielt es für eine schlechte Idee, aber es war wichtig. Zur Not hätte ich mir etwas einfallen lassen müssen.

„Okay. Ich glaube wir sollten uns wirklich unterhalten. Du hast ein Recht darauf. Und Pierre, ich verstehe dich, es war okay. Mein Verhalten, dir gegenüber, war schrecklich.“

„Ich bin sofort bei dir, gib mir vierzig Minut…“, ich hörte hektisches Getuschel im Hintergrund, „zwanzig Minuten, Maman fährt mich.“

„Gut, bis gleich.“

Ich nutzte die verbleibende Zeit für eine kurze Dusche und natürlich begutachtete ich meine Kehrseite. Die Striemen waren leider immer noch recht deutlich sichtbar. Ich zog mich an und hoffte auf das Beste.

Pierre war pünktlich da und brachte, zu meiner Überraschung, seine Mutter mit hoch. Ingrid sah mich auch gleich sehr kritisch an.

„Du siehst schlecht aus“, meinte sie.

„Es ging auch schon mal besser“, antwortete ich.

„Pierre ging es auch schon besser. Er hat die ganze Zeit auf deinen Anruf gewartet, er hätte das Telefon mit seinem Leben verteidigt, falls nötig.“

Pierre stand einfach nur schweigend da und guckte zerknirscht.

„Pierre, Ingrid, es tut mir alles wirklich Leid. Aber ich würde das lieber mit Pierre alleine besprechen, wenn du gestattest. Es gibt da zwei, oder drei Dinge, die er wissen sollte.“

Ingrid sah ihren Sohn eindringlich an und er nickte stumm.

„Okay, ich warte im Auto.“

„Maman, bitte fahre nach Hause. Ich schaffe das schon.“

Sie beugte sich dem flehenden Blick. „Nun gut. Wenn etwas ist, dann melde dich.“

Ein letzter, wortlos-giftiger Blick traf mich und sie ging.

„Das hab ich wohl verdient.“

„Ja, hast du auch. Ich hatte echt Angst, dir wäre etwas passiert. Und du pennst hier in aller Ruhe deinen Rausch aus. Wie hättest du dich denn gefühlt, wenn es andersrum gewesen wäre?“

„Ich wäre vor Angst um dich tausend Tode gestorben“, gab ich bedrückt zu.

„Und glaubst du, es war bei mir anders?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Gut. Dann erzähl mir endlich was da los war!“

„Frank und ich … da war mal etwas. Aber glaub mir, es war vor deiner Zeit, aber auch nicht sehr lange davor. Doch es gab gewisse Differenzen. Und jetzt… Pierre, das ist alles etwas kompliziert und ich werde dir irgendwann vielleicht alles darüber erzählen können. Aber ich bin noch nicht so weit.“ Irgendwann würde er die ganze Wahrheit erfahren, aber erst musste ich diese Dämonen in mir besiegen.

Er verstand meine Worte allerdings völlig falsch. „Liebst du ihn?“

„Pierre, oh Gott, nein! Das ist es nicht. Ich liebe nur dich!“

„Und warum hast du mich bis jetzt noch nicht geküsst?“ Sein niedlich-schüchternes Lächeln nahm vorerst die gesamte Anspannung von uns und ich küsste ihn.

Dann passierte etwas, dass ich insgeheim befürchtet hatte: Pierre wollte mehr. Und so schwer es mir auch fiel, ich musste ihn bremsen.

„Was ist los John? Geht es dir nicht gut?“

Und wieder musste ich zu einer Lüge greifen. „Du weißt, ich war betrunken und es war wohl rutschig. Ich hatte wohl einen kleinen Unfall mit dem Gehsteig. Mein Hintern tut mir weh.“

„Leg dich auf die Couch, aber auf den Bauch bitte.“ Pierre verschwand im Bad und kehrte mit Salbe gegen Sportverletzungen zurück.

„Los, hinlegen, ich schau mir das mal an.“ Sein Ton wurde etwas herrischer und es gefiel mir. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass meine Notlüge seinem Auge standhielt.

„Oh man, wie hast du das denn hinbekommen. Das sind ja lauter Striemen, fast wie abgeschürft.“

„Ist vielleicht beim Pinkeln passiert. Ich weiß es ja nicht genau, habe einen totalen Filmriss.“

„Das sieht nicht besonders toll aus. Hoffentlich brennt die Salbe nicht, die ist gut bei Prellungen, aber nicht optimal bei Abschürfungen.“

Natürlich brannte die Salbe und die, leider, logische Konsequenz folgte sofort.

„Pierre, bitte schlaf mit mir.“

„Bist du etwa auch auf den Kopf gefallen? Ich denke ja nicht daran, solange du verletzt bist.“

Damit war das Thema für ihn beendet und ich fügte mich seinem Wunsch. Ich konnte mir nicht helfen, aber sein Blick auf meine Rückseite wirkte misstrauisch.

Der Rest des Tages verlief relativ ruhig. Wir sprachen nicht sehr viel, aber Pierre fand bald zu seiner Vertrautheit zurück und zu seinem Kuschelbedürfnis. So schliefen wir zwar nicht miteinander, aber er hielt mich die ganze Nacht über fest in seinen Armen. Ich selber schlief kaum und dachte an den bevorstehenden Termin bei Doc Reinhardt. All meine Hoffnungen ruhten auf diesem Mann. Ein normales Leben, das war alles was ich mir wünschte.

Der erste Termin verlief vielversprechend. Doktor Reinhardt war mir auf Anhieb sympathisch und er gewann mein Vertrauen. Er war der erste Mensch, der über all meine Abgründe Bescheid wusste und mir jederzeit das Gefühl gab, ein vollwertiger Mensch zu sein.

Er verschrieb mir vorübergehend Medikamente, um meine emotionale Lage zu stabilisieren und mein Zustand besserte sich Tag für Tag, Woche für Woche. Auch Pierre bemerkte die Veränderungen und unsere Beziehung vertiefte sich zusehends. Ich hatte keine weiteren Rückfälle und das ‚Joyful Pain’ gehörte seit Weihnachten der Vergangenheit an.

Ich glaubte mittlerweile fest daran, dass ich in Zukunft ein normales Leben führen könnte.

Nach vielen Einzelgesprächen wollte Dr. Reinhardt langsam tiefer in meine Psyche vordringen und nach ein paar Sitzungen, es war am vierzehnten Februar, stießen wir auf erbitterten Widerstand. Meine ‚dunkle Seite’ hielt sich lange versteckt und an diesem Tag riefen wir sie für kurze Zeit an die Oberfläche. Mein Kartenhaus zerbrach in diesem Moment. Mein Arzt versicherte mir, dass dies nur ein kleiner Rückschlag sei, wir müssten uns intensiver um meine verborgenen Ängste und Sorgen kümmern, doch ich, für meinen Teil, hatte wieder versagt.

Er gab mir einen neuen Termin für den Folgetag, nach seiner normalen Sprechzeit und ich ging zurück zur Arbeit.

Pierre

Diese seltsamen Striemen, irgendwie glaubte ich ihm kein Wort. Er wusste, was da wirklich passiert war. Und irgendwann würde er reinen Tisch machen. Ich war mir nur nicht mehr sicher, ob ich das alles wirklich erfahren wollte. Mein Gefühl bei der Sache war unschön.

„Pierre, bitte schlaf mit mir.“

Sollte das jetzt ein mieser Scherz sein? Sein Verhalten verunsicherte mich ungemein und ich ging automatisch wieder etwas auf Distanz.

„Bist du etwa auch auf den Kopf gefallen? Ich denke ja nicht daran, solange du verletzt bist.“ Ich versuchte möglichst locker zu klingen.

Den Rest des Tages schwiegen wir, weitestgehend. John wirkte ziemlich verloren und warf mir mehrmals ängstliche Blicke zu. Ich hielt diese Distanz selber nicht mehr aus und gab dem Bedürfnis, mich an ihn zu kuscheln, schließlich nach. Das vertraute Gefühl kehrte langsam zurück und später dann, im Bett, klammerte ich mich förmlich an ihn. Er hatte mir so gefehlt und ich konnte in der Nacht zuvor nicht richtig einschlafen. In seinen Armen löste sich all dieser Druck und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Tag wachte ich erst nach Mittag auf. John war nicht mehr in der Wohnung. Auf dem Tisch standen frische Blumen und ein Zettel lag daneben.

„Hallo Pierre,

bitte mach Dir keine Sorgen, ich bin bald wieder da.

Alles wird gut, bitte vertrau mir, ich liebe Dich!

Dein John“

Die Sorge war dennoch sofort wieder da, aber als er eine Stunde später wieder zurückkam, da strahlte er mich zuversichtlich an.

„Man, wo warst du?“

Er deutete auf seinen Hintern. „Ich war bei einem Doktor. Alles wird wieder gut.“

In den nächsten Tagen und Wochen wurde es immer besser. Er kam meist fröhlich von der Arbeit nach Hause, wir unternahmen viel und seine düsteren Stimmungen wurden immer weniger.

Sogar Martina schloss mit ihm einen Waffenstillstand und meine Mutter näherte sich ihm schon nach kurzer Zeit wieder an.

Auch beim Sex war er völlig verändert, er gefiel sich öfters in der aktiven Rolle und forderte nicht mehr meine dominante Seite. Das freute mich dann sehr, ich liebte den romantischen Kuschelsex.

Meine Stimmung wirkte sich auch in der Abendschule aus, das Lernen fiel mir zusehends leichter und mein Notenschnitt verbesserte sich rapide.

Ich empfand unser Glück als perfekt und ich wollte es noch perfekter machen.

Am Valentinstag fuhr ich wie üblich zur Arbeit. In der Mittagspause brachte mich mein Chef in die Stadt zu einem Juwelier, wo ich zwei Ringe hatte gravieren lassen.

Dann telefonierte ich mir die Finger wund, um einen Tisch in einem romantischen Restaurant meiner Preisklasse reservieren zu lassen. Nach einigen Versuchen hatte ich dann Glück.

„Sehr schön. 18 Uhr ist perfekt. Ja, bis dann.“ Der Tisch war reserviert. Ich freute mich wie ein Schneekönig, ein Valentins-Candlelight-Dinner mit John und allem drum und dran.

Stolz begutachtete ich die zwei silbernen Ringe, die ich mir hart erspart hatte. Heute würde ich ihn fragen, ob er sein Leben mit mir ganz offiziell verbringen wolle.

Mein Chef löste mich auch zeitig ab, damit ich John nach Feierabend am Büro überraschen konnte. Ich musste ja noch heim und mich in Schale werfen.

Mit dem Wagen meiner Mutter bewaffnet, traf ich pünktlich 45 Minuten vor seinem Feierabend ein. Ich wollte gerade aussteigen und ihn besuchen, als er plötzlich aus dem Gebäude trat und sich geradewegs zu seinem Auto begab.

„Na, das passt ja nun überhaupt nicht“, lachte ich und beschloss, ihm heimlich zu folgen.

Aber er fuhr nicht nach Hause, sondern in eine ziemlich heruntergekommene Ecke, nicht weit vom städtischen Rotlichtmilieu. Mir wurde etwas flau im Magen, die Sache gefiel mir nicht.

Er durchquerte einige schmale Gassen und parkte schließlich in einer schmalen Einfahrt. Ich hielt in einem ausreichenden Abstand an und beobachtete ihn, wie er auf ein schmutziges Haus zusteuerte.

Er verschwand tatsächlich in diesem seltsamen Gebäude. Das flaue Gefühl hatte sich mittlerweile in echte Magenschmerzen verwandelt. Ich verließ mein Auto und steuerte das Haus an. Nervös wanderte ich einige Minuten vor der Tür auf und ab. Der äußere Eindruck war schrecklich, es wirkte wie ein schmieriger Hinterhofpuff. Entschlossen stieß ich die Tür auf und folgte der Treppe nach unten, direkt ins Gewölbe.

Der Laden war fast leer. Außer dem Wirt schien sich keiner im Hauptraum aufzuhalten. Furchterregende Gegenstände hingen zur Dekoration an den Wänden. Darunter Seile, Handschellen, diverse Ledermasken und auch Peitschen.

Vielleicht war John ja nur auf der Toilette. Ich setzte mich auf eine der Bänke auf der rechten Seite. Ein großer Schmiedehammer zierte diese Reihe. Die andere Seite war mir zu hell, da hätte ich mich wie auf dem Präsentierteller gefühlt. Der Wirt kam grinsend auf mich zu.

„Tja, schlechter Tag heute, es ist ruhig. Aber vielleicht lässt Harry dich ja an seinen Jungen ran. Der Kleine kann nie genug bekommen.“ Dieser Satz ließ mich innerlich gefrieren.

„Ist sonst niemand hier?“

„Nein, die zwei sind alleine. Da durch die Tür. Kannst ja erstmal zugucken, vielleicht sagt dir der Kleine ja auch nicht zu, ist so ein hübscher Yuppiebengel.“

Das konnte doch nur John sein. Ich ging zügig auf die angedeutete Tür zu und trat hindurch. Nach ein paar Schritten um die Ecke hörte ich merkwürdig klatschende Geräusche. Hinter einem Torbogen sah ich einen älteren Kerl im Lederanzug, der seinen Gürtel auf ein sehr bekanntes Hinterteil sausen ließ. Völlig geschockt beobachtete ich die Szene, unfähig mich zu rühren. Bis dieser hässliche Typ plötzlich seine Hose fallen ließ. Er spuckte sich in die Hände und rieb sein Teil damit ein. Dann drang er ruckartig in meinen … Freund ein.

In diesem Moment zerriss etwas in mir. Ich griff nach der Schachtel mit den Ringen und schleuderte sie in diesen abscheulichen Raum.

„Fröhlichen Valentinstag, John.“

Mehr konnte ich nicht sagen, die Stimme versagte. Die Tränen schossen mir in die Augen und ich rannte aus dem Keller, raus aus dem Laden und immer weiter. Ich hörte ihn noch meinen Namen schreien, bevor ich den Laden verließ. Mein Herz brannte und verursachte einen völlig ungekannten Schmerz.

Ich schaffte es irgendwie nach Hause. Meine Mutter war noch nicht daheim. Ich rannte in mein Zimmer, schloss die Tür und lehnte mich mit dem Rücken dagegen, während ich langsam zu Boden sank.

Nach einer Weile hörte ich, wie die Haustüre ins Schloss fiel. Für meine Mutter war es allerdings noch zu früh. Es konnte nur John sein. Und plötzlich klopfte es an meiner Tür.

„Pierre, bist du da drin? Bitte, lass uns reden.“

„Verschwinde.“

„Pierre, bitte… ich habe das alles nie gewollt. Lass es mich bitte erklären.“ Der flehende Ton in seiner Stimme bereitete mir schon körperliche Schmerzen und steigerte meine Wut. Ich sprang auf und öffnete ruckartig die Tür.

„John, was bin ich eigentlich für dich? Ein Kuscheltier, das du bei Bedarf zum Spielen aus der Kiste holst, bevor du dich mit einem Gürtel vermöbeln lässt? Und diese Striemen damals, sie sahen aus wie vorhin. Du warst öfter in diesem Club. Hingefallen, pah, dass ich nicht lache. Du hintergehst mich seit Wochen und spielst ein unmenschliches Spiel mit mir.“

„Nein, Pierre, ich liebe dich, wirklich! Ich mache doch schon eine Therapie, will das in den Griff kriegen. Ich wollte dich nie anlügen, aber ich hatte Angst dich zu verlieren.“

„Bitte geh. Lass mich in Ruhe. Ich muss erstmal über uns nachdenken.“

„Bitte, schick mich nicht fort, ich brauche dich doch!“

„Du lässt dich von irgendwelchen Kerlen brutal ficken, verarschst mich seit Wochen, lügst wegen deiner Verletzungen. John, wenn ich es bin, den du angeblich brauchst, warum ziehst du so eine gottverdammte Scheiße mit mir ab?“ Ich schrie ihm die Worte ins Gesicht. Er hatte mich verletzt und gedemütigt, wie noch kein Mensch zuvor.

„Bitte…“

„Raaaaaaauuuuuus hier!“

John brach in Tränen aus.

„Leb wohl“, schluchzte er und rannte die Treppen herunter.

„Leb wohl?“, flüsterte ich.

Ich wollte doch nur Zeit, um damit fertig zu werden. Verdammt ich liebte ihn doch, trotz allem.

Ich rannte hinterher und sah ihn in seinem Wagen. Plötzlich heulte sein Motor auf und das Fahrzeug katapultierte sich auf die Straße. Innerhalb von Sekunden beschleunigte das Auto auf eine irrwitzige Geschwindigkeit.

„Jooooohn, pass auf! Das Stoppschild!“ Ich schrie aus Leibeskräften, aber natürlich hörte er mich nicht. Scheinwerferlicht näherte sich von Rechts, kurz bevor er die Kreuzung erreichte. Ich hörte das laute Brummen eines großen Fahrzeugs. John hielt weiter auf die Kreuzung zu.

Ein Lkw schoss über die Kreuzung und ich hörte nur noch das schrille Heulen seiner Bremse, einen lauten Knall, das Kreischen von Metal und das Zerbersten von Glas. Die Trümmer von Johns Fahrzeug fegten über die Straße und kamen an der nächsten Hauswand zum stehen.

Wie in Trance folgte ich der Straße und blieb ein paar Meter vor seinem Auto stehen. Durch die zerstörten Scheiben sah ich seinen leblosen Körper im Auto. Meine Beine gaben nach und ich verlor mich in einer gnädigen Ohnmacht.

John

Das war es also, ich hatte alles zerstört, wie immer.

„Bitte…“ Ich wollte ihn um eine letzte Chance anflehen, doch er schnitt mit das Wort ab.

„Raaaaaaauuuuuus hier!“

Die Dämme brachen und die Tränen verschleierten alles. Das war es dann also.

„Leb wohl“ Meine Stimme versagte und verkümmerte zu einem heiseren Flüstern. ‚Ich werde dich immer lieben’, setzte ich in Gedanken nach. Dann floh ich aus seiner Wohnung, stürmte zum Auto und gab Gas. Die Tränen brannten in den Augen und ich schloss sie für einen Moment.

‚Du wolltest ja nicht hören, Johnnyboy. Es war von Anfang an vergebens.’

‚Er bedeutet mir alles!’

‚Das hast du ihm sauber bewiesen, du Flasche. Alles was du anfasst geht zu Grunde.’

‚Ich schaffe es nicht ohne ihn.’

‚Du brauchst ihn nicht. Du hast doch mich!’

Ich öffnete die Augen und alles ging ganz schnell. Ich raste auf ein Stoppschild zu und von Rechts näherte sich ein Lkw. Ich trat sofort auf die Bremse, aber es war zu spät.

‚Oh Johnny was hast du nur getan. Aber freu dich, du bist mich los.’

„Ich werde dich nie vergessen, Pierre. Aber ohne mich bist du besser dran, ich liebe dich.“

Ich wollte nicht sterben, nicht so, aber es gab kein Entkommen. Also ergab ich mich in mein Schicksal und wartete auf das Ende. Durch den Aufprall flog mein Kopf gegen die Scheibe, ich spürte ein hässliches Knacken im Hals und alles wurde dunkel.

Pierre

Ich schlug langsam die Augen auf. Das helle Licht blendete mich. Ein merkwürdig steriler Duft stieg mir in die Nase. Es roch nach Krankenhaus.

„Herr Doktor, er wacht auf.“

„Ich kümmere mich um ihn, danke, Schwester. Herr Marais? Ich bin Ihr behandelnder Arzt, Professor Klein. Wie geht es Ihnen?“

„Was ist passiert, warum bin ich hier? Wo ist John? Geht es ihm gut?“

„Ganz langsam bitte, Herr Marais. Sie sollten ruhig bleiben. Sie hatten einen schweren Schock und waren ohne Bewusstsein.“

„Was ist mit John? Ist er schwer verletzt?“

„Herr Marais, die Rettungskräfte konnten nichts für ihn tun. Herr Herckenrath war vermutlich sofort nach dem Aufprall tot.“

„Das kann nicht sein. Lassen Sie mich zu ihm!“

„Herr Marais, bitte beruhigen Sie sich.“

„Ich will sofort zu ihm!“, brüllte ich ihn an.

Ich spürte einen kleinen Stich und kurz darauf wurde es wieder dunkel.

„Pierre? Bist du wach?“ Ich kannte die Stimme, konnte sie aber nicht zuordnen. Eine Hand hielt die meine und streichelte vorsichtig darüber.

„Pierre, bitte wach auf!“

„Maman?“

„Ja mein Kleiner, ich bin es.“

Ihre verheulten Augen versetzten mir einen kleinen Stich. „Ist es wahr, John ist tot?“

Sie nickte stumm und atmete kurz durch.

„In zwei Tagen ist seine Beerdigung.“

„Maman, wir hatten einen furchtbaren Streit. Ich wollte ihm noch soviel sagen. Und jetzt ist er weg.“

Sie nahm mich in den Arm und hielt mich einfach fest. Noch am selben Abend durfte ich wieder nach Hause. Dort wartete der nächste Schock. Im Briefkasten steckte ein großer Umschlag, an mich adressiert. Der Absender war eine Kanzlei aus Frankfurt.

Mir fehlte einfach die Kraft und meine Mutter öffnete den Brief.

„Das solltest du selber lesen. Aber besser nicht jetzt.“

„Nein, ist schon gut. Zeig her.“ Ich versuchte mutiger zu klingen, als ich es war.

„Ich bleibe bei dir.“ Sie reichte mir einen Brief aus dem Papierstapel, der unverkennbar Johns Handschrift trug.

Mein geliebter Pierre,

wenn Du diese Zeilen liest, dann lebe ich nicht mehr. Aber es bedeutet auch, dass ich Dich bis zu meinem Ende lieben durfte.

Ich habe es vielleicht nicht immer zeigen können, aber Du bist immer alles für mich gewesen. Und dennoch habe ich Dich nicht verdient. Ich hasse mich für viele Dinge, die ich Dir wahrscheinlich angetan habe. Es gibt eine Seite an mir, von der ich hoffe, dass Du sie nie kennen lernen musstest.

Mein Herz gehört Dir, für immer und ewig, mein strahlender und rettender Engel.

Wenn es einen Gott gibt, dann werde ich es jetzt wissen. Und wenn es ihn gibt, dann werde ich meine Hand schützend über Dich halten. Ich wünsche Dir einen Menschen, der Dich verdient, der Dich liebt und verehrt. Einen Menschen der Dich glücklich macht und dem Du all Deine Liebe schenken kannst.

Tu das, was ich nicht konnte. Lebe frei von Zwängen, Ängsten und Selbstvorwürfen. Ich weiß, dass ich mich niemals von meiner Schuld befreien kann, aber in Deinen Armen vergeht all dieser Schmerz.

Bitte verzeihe mir diese wirren Worte. Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch und heule Rotz und Wasser. Es ist nicht leicht, wenn man seine Gedanken über den eigenen Tod niederschreibt, ohne zu wissen wann, wo oder wie.

Pierre, damit Du niemals wieder in Sorge und Nöten leben musst, gebe ich Dir alles was ich besitze. Und um es auch offiziell zu machen…

Hiermit vermache ich, John Herckenrath, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, Dir, Pierre Pascal Marais, meinen gesamten Besitz.

Mein Anwalt besitzt eine vollständige Auflistung aller Konten und Urkunden. Diese Listen und Dokumente sind diesem Brief beigefügt. Er wird auch die Umschreibung auf Dich veranlassen.

Pierre, ich wünsche Dir alles Gute für Dein Leben und hoffe, dass Du mich in guter Erinnerung behalten wirst.

In ewiger Liebe,

Dein John.

Ich ließ den Brief kraftlos auf den Tisch fallen. „Ich liebe dich auch, John.“

Meine Mutter begeleitete mich zur Beerdigung. Nur wenige Menschen nahmen Abschied von ihm. Außer uns nur Irene und, sehr zu meiner Überraschung, Frank. Jener Frank aus der Weihnachtsnacht.

Auch in den folgenden Tagen tauchte er immer öfter bei mir auf, half mir bei den Unterlagen und war für mich da.

Mein Leben verlief langsam wieder in normalen Bahnen.

Epilog

„Pierre, jetzt beeil dich doch, das Taxi wartet.“ Frank drängelte ungeduldig.

„Jetzt mach bitte nicht so einen Stress, den Flieger erwischen wir doch auf jeden Fall. Man, es sind noch fast drei Stunden.“

Er trat näher an mich heran. „Du bist ziemlich nervös, oder?“

„Ja. Wir verlassen Frankfurt für eine ganze Weile. Berlin bietet mir zwar eine gewaltige Chance, aber hier…“

„Es ist jetzt über zwei Jahre her. Manchmal habe ich Angst, dich an einen Toten zu verlieren.“

„Erzähl doch keinen Blödsinn. Natürlich habe ich ihn geliebt, aber du bist der Mann an meiner Seite. John ist tot und mir ist das absolut klar. Er ist Vergangenheit, uns gehört der Rest.“

„Hättet ihr noch etwas mehr Zeit gehabt, dann hättest du ihn vielleicht sogar retten können.“

„Vielleicht. Aber das werden wir nie erfahren. Ich denke, dass er jetzt gerettet ist, in guten Händen, bei seiner Familie.“

Er umarmte mich für einen liebevollen Kuss. „Ich lasse dich nie im Stich, Pierre.“

„Okay, lass uns verschwinden, ich habe alles zusammen.“ Frank ging vor und ich drehte mich ein letztes Mal um und betrachtete Johns Loft.

Das Taxi stand in den Startlöchern und fuhr sofort los.

„Halten Sie hier bitte an und warten Sie, ich habe noch etwas zu erledigen.“ Der Fahrer fuhr rechts ran und hielt, direkt neben dem Friedhof.

„Kommst du zurecht, oder soll ich mitkommen?“

Ich atmete tief durch und sammelte meine Kraft. „Ich denke es geht schon. Aber du kannst gerne nachkommen. Lass mir bitte nur ein paar Minuten alleine, okay?“

Frank nickte zögerlich.

„Danke.“

Ich stieg aus und stellte den Jackenkragen hoch. Es war wieder November, in drei Tagen wäre sein Geburtstag gewesen. Der Himmel war wolkenverhangen und ein kalter Wind pfiff über die gesegnete Ruhestätte. Ich folgte dem Weg und stand bald an meinem Ziel. Ein letztes Mal, für lange Zeit, betrachtete ich den Stein aus weißem Marmor. Das goldene Paar Engelsflügel legte sich schützend um seinen Namen.

‚Hier ruht John Herckenrath. Geboren am 11.11.1985. Viel zu früh gestorben, am 14.02.2007. Der unbändige Sturm in seinem Herzen verlöschte sein Licht.’

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und sprach mit zittriger Stimme.

„Hi John. Ich war lange nicht mehr hier, verzeih mir bitte. Es ist soviel passiert… Erinnerst du dich noch an meinen Traum? Er wird endlich wahr. Frank und ich… ja Frank… aber dazu sage ich gleich mehr.

Wir haben hier ein Projekt aufgezogen. Die ‚John Herckenrath Stiftung’. Wir bieten kostenlosen Unterricht für obdachlose Kinder. Ja, auch für die Jungs vom Bahnhof. Die Stadt hat uns dafür offiziell belobigt. Und weißt du was? Ich bin echt ein prima Mathelehrer, dank dir. Die Schule habe ich geschafft, sogar mit einer glatten Eins.

Die Kinder brauchten eine Weile, um uns zu vertrauen, aber mittlerweile läuft es toll. Nun wird die Stiftung ohne mich auskommen müssen. Stell dir vor, ich werde in Berlin studieren, Psychologie. Die haben sich schon richtig um mich gerissen. Und wir werden das Projekt dort fortsetzen.

Frank geht mit mir nach Berlin. Und … ich liebe ihn. Er hat sich sehr um mich gekümmert. Dein Tod war schwer für mich. Er hat mir übrigens nie erzählt, was da zwischen euch vorgefallen ist und ich bin dankbar dafür. Dennoch, ich habe eine vage Vorstellung. Er ist ein guter Mann und auch er liebt mich.“

Meine Gedanken kreisten im Kopf umher. Es gab etwas, das wollte ich ihm schon lange sagen.

„John, ich verzeihe dir. Mittlerweile weiß ich, was mit dir los war. Das alles war nicht deine Schuld, du hast nichts dafür gekonnt. Ich habe auch niemals aufgehört dich zu lieben. Aber ich darf nicht stehen bleiben.

Ich wünschte ich könnte dich um Erlaubnis fragen, ob du einverstanden bist. Nein, eigentlich nicht um Erlaubnis. Vielmehr um deinen Segen. Aber…“

Ich verstand vor lauter Schluchzen meine eigene Stimme nicht mehr. Die Tränen brannten kalt auf der Haut.

„Du wirst mir leider niemals eine Antwort geben können. Leb wohl, John. Ich werde dich nie vergessen.“

Ich wollte mich umdrehen und gehen, doch ich starrte gebannt in den Himmel. Ein einzelner Lichtstrahl durchbrach die Wolkendecke und tauchte sein Grab in einen warmen Schimmer. Es war, als streichelte mir das Licht über die Wange.

„Danke. Alles Gute, da oben.“

„Komm, lass uns gehen.“ Mein Freund stand hinter mir, Tränen der Rührung in den Augen. Ich griff nach seiner Hand auf meiner Schulter und wir verließen den Friedhof Hand in Hand.

 

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