Das 15. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Fabian…”

Meine eigenen Schreie hallten in meinem Kopf… sie wurden nicht gehört… die Schmerzen waren so unerträglich… es war, als würde jemand versuchen, mich zu zerreissen.

„Fabian…”

Jemand zerrte an meiner Schulter.

Moment! Zerren? Nein es war eher ein Streicheln.

„Fabian, so wach doch auf.”

Ich fuhr hoch und saß neben Carsten in meinem Bett. Er hatte seine Arme um mich geschlungen.

„Ganz ruhig Fabi, du hast schlecht geträumt… es ist alles gut.”

Ängstlich schaute ich ihn an. Er lag gar nicht auf mir und wir waren auch nicht nackt, sondern beide mit Shirts und Shorts bekleidet.

„… war nur geträumt… okay?”

Ich zitterte am ganzen Körper, wusste nicht was ich sagen sollte.

„Komm, leg dich wieder hin. Es ist alles gut”, sagte er leise und zog mich wieder ins Kissen, „in ein paar Stunden müssen wir in die Schule.”

Ich spürte seine Hand, wie sie zärtlich über meine Haare streichelte. Was war das denn? Total verunsichert versuchte ich mich etwas zu beruhigen. Warum träumte ich so etwas Schreckliches, wo mir mein Bauchgefühl doch etwas ganz anderes sagte…

*-*-*

 

Am Morgen war sehr still am Frühstückstisch. Wie befürchtet, hatte Petrus auch letzte Nacht die Schleusen geöffnet. Dad hing am Telefon und versuchte in Erfahrung zu bringen, ob die Schule geschlossen bliebe.

An sich wäre es toll, noch einen Tag frei zu haben. Carsten hörte Dad zu, so hatte ich Zeit, ihn mir wieder näher anzuschauen. Meinte er es wirklich ehrlich mit mir?

*…ich habe Angst, dass man dir noch mehr weh tut …* waren Gabriellas Worte gewesen.

„Also, so wie es aussieht, könnt ihr zu Hause bleiben. Wegen dem starken Schneefall bleibt die Schule heute geschlossen.”

„Das ist mir ganz Recht”, sagte Mum, „ich möchte nicht, dass die Jungs bei dem Wetter raus gehen, oder zumindest durch die halbe Stadt laufen müssen. Aber es hilft nichts, wir müssen los, unsere Arbeit fällt nicht aus.”

„Leider”, stimmte Dad zu, „dann mal viel Spaß ihr zwei und lasst das Haus stehen.”

„Keine Sorge, wenn uns kalt wird, brennen wir den Adventskranz nieder”, meinte ich trocken und Carsten verschluckte sich an seinem Kaffee.

Dad grinste und Mum schaute empört, als das Telefon und mein Handy gleichzeitig los klingelten. Ich stand auf, ging zu meinem Rucksack und zog es heraus. Gabriella.

„Guten Morgen Schätzchen.”

„Boah du Nasenbär, du weißt ich mag das nicht… morgen… und wie sieht es aus, schon bereit zum Loslaufen?”

„Eigentlich ja.”

„Was heißt eigentlich, sind du und DEIN Freund noch nicht fertig?”

„Ich und CARSTEN sind fertig, aber wir gehen nicht in die Schule.”

„Hä, wollt ihr blau machen?”

„Nein, die Schule bleibt geschlossen. Dad hat gerade angerufen.”

„Toll und ich hätte nichts erfahren.”

„Komm doch rüber, wenn du willst.”

„Ich weiß nicht…”

„Jetzt stell dich nicht so an, okay?”

„Ist ja schon gut, aber vorher starte ich noch einen Rundruf, den anderen die frohe Botschaft verkünden.”

„Gut, dann bis gleich. Bye.”

„Bye.”

Ich drückte das Gespräch weg.

„Das war deine Mutter Carsten”, sagte Dad, „sie hat einen Anruf bekommen, dass heute keine Schule wäre und gefragt, ob du noch bei uns bleiben kannst.”

Carstens Gesicht hellte sich auf und er begann zu lächeln.

„Das ist kein Problem”, meinte Mum.

Mein Handy tönte erneut. Die Nummer kannte ich nicht.

„Ja?”

„Morgen Fabian, hier ist Thomas.”

„Thomas? Öhm… guten Morgen, wie kommst du denn an meine Nummer?”

„Die habe ich eben von Gabriella bekommen. Du, warum ich anrufe. Habe gehört, dass ähm… Carsten bei dir ist und Gabriella auch zu dir kommt. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich auch kommen würde? Noch einen einzigen Tag mehr mit Thorsten alleine ertrage ich nicht, das Wochenende war schon schlimm genug.”

Ich sollte mal ein ernstes Wörtchen mit meiner besten Freundin reden, wobei… dass sie Thomas die Nummer gegeben hatte, war eigentlich okay.

„Wenn du diesen Sturm auf dich nehmen willst, ist das kein Problem.”

„Keine Sorge, alles ist besser als Thorsten…aua… entschuldige, das hat Thorsten gehört und mir an den Arm geboxt.”

Ich fing an zu kichern.

 

„Tucken können boxen?”, rutschte mir heraus, was mir die Aufmerksamkeit von Carsten noch mehr bescherte.

Thomas fing laut an zu lachen.

„Da hast du eigentlich Recht, aber weh tat es trotzdem. Okay, dann bis später. Tschau!”

„Tschau Thomas, bis später.”

„Wir sind dann weg”, rief Dad und ich hörte noch die Haustür zuschlagen.

Ich seufzte.

„Was denn?”, fragte Carsten.

„Jetzt muss ich das Frühstück abräumen…”

*-*-*

„Wie heißt der Film, dessen gleichnamige Titelmusik von Roy Orbison gesungen wurde, in dem Julia Roberts eine Prostituierte spielt?”

Wir spielten das „Spiel des Wissens” und die Frage aus dem Themenbereich Unterhaltung hatte Gabriella an mich gestellt.

„Oh man, das weiß ich”, freute ich mich, wurde aber vom Türgong unterbrochen, „bin gleich wieder da.”

Ich lief zur Haustür und öffnete.

„Marcel?”, fragte ich erstaunt.

„Hallo Fabian, ich hoffe ich störe nicht.”

„Nein, komm rein. Gabriella, Thomas und Carsten sind auch da.”

Marcel hielt in seiner Bewegung inne.

„Carsten? Was will der hier?”

„Komm endlich rein, es wird kalt. Das erklär ich dir alles später, okay? Nur soviel… der Brief war von ihm…”

„Von Carsten?”, fragte Marcel mit weit aufgerissenen Augen.

Ich nickte nur und nahm ihm die Jacke ab. Danach lief ich zurück ins Wohnzimmer, wo wir uns auf dem Boden breit gemacht hatten.

„Schaut mal wen ich hier habe, Marcel ist auch gekommen. Nun sind wir schon fünf.”

Marcel begrüßte alle. Bei Carsten schaute er etwas grimmig.

„Ich weiß übrigens, dass der Film Pretty Woman heißt, wollte ich nur anmerken”, versuchte ich die Stimmung aufzulockern.

„Boah, gibs zu! Du hast alle Fragen auswendig gelernt und jetzt  bekommst du auch noch den letzten Stein”, beschwerte sich Thomas.

Carsten kicherte und Gabriella streckte mir die Zunge raus. Marcel stand immer noch mitten im Raum.

„Jetzt setz dich endlich hin, ich habe keine Lust, die ganze Zeit mit deinen Beinen vorlieb zu nehmen”, meinte Gabriella und zog an Marcels Hand.

Zwei Stunden später und einem weiteren Spiel, diesmal mit dem Titel „Spiel des Lebens”, meldeten sich unüberhörbar unsere Mägen. Die Stimmung war cool und keiner grämte gegen Carsten.

„Sollen wir uns etwas kommen lassen?”, fragte Thomas.

„Thomas du vergisst das Wetter, es schneit immer noch heftig.”

„Wir könnten doch etwas kochen… zusammen”, sagte Carsten.

„Kannst du kochen?”, fragte Gabriella, „ich nämlich nicht. Ich lass sogar Wasser anbrennen.”

Marcel kicherte, was ihm einen Hieb auf den Hinterkopf einhandelte.

„Aua!”

„Lach nicht, das ist ernst!”

„Wer ist Ernst?”, fragte Thomas und wir fingen alle an zu lachen.

„Hm, sollen wir jetzt denn kochen?”

„Warte einen Moment, ich rufe meine Mum an und frage was wir so auf Lager haben, dann brauch ich nichts suchen”, warf ich ein.

„Okay, dann geh ich mal rüber und nerve meine Mutter, was sie mir abtreten kann”, sagte Gabriella.

„Und was machen wir?”, fragte Thomas, der auf sich und Marcel zeigte.

„Ihr könnt das Spiel aufräumen!”, meinte ich und verschwand in den Flur.

Ich wunderte mich zwar, dass Mum nicht an ihr Handy ging, obwohl sie es eigentlich immer bei sich hatte, aber in dem Augenblick klingelte es erneut an der Wohnungstür und lenkte mich ab. Als ich die Tür öffnete, konnte ich im ersten Moment nur einen Turm aus Lebensmittel erkennen. Und dieser Turm konnte sogar sprechen:

„Könntest du mal bitte was abnehmen und mich nicht nur doof angaffen?”, herrschte Gabriella mich an.

Carsten, der gerade zufällig in den Flur kam, nahm einen Teil des Mitgebrachten an sich, während ich mit einem Grinsen die Tüte Nudeln aufhob, die ihr gerade runtergefallen war.

„Kannst du damit etwas anfangen?”, fragte Gabriella Carsten.

„Öhm, mal sehen. Wenn ihr mir helft, kriegen wir sicherlich etwas zum Essen.”

Carsten

Bisher hatte ich immer nur etwas für meine Eltern gekocht, doch nun standen da vier meiner Klassenkameraden. Ich schaute die ganzen Sachen an und entschloss mich für ein leichtes Nudelgericht mit Salat.

„Wie wäre es mit Nudeln und Fleischsauce und Salat?”, fragte ich leise.

„Au fein”, meinte Thomas, „und was müssen wir dazu tun?”

Ich wollte gerade etwas sagen, als mir Gabriella ins Wort fiel.

„Fabian, du hast ja dein Türchen heut noch gar nicht aufgemacht.”

„Oh, das habe ich vergessen”, meinte Fabi und holte dies gleich nach.

Er zog einen Zettel heraus und las vor.

Liebe ist nie verloren.

Wenn sie nicht erwidert wird,

so fließt sie zurück

und tröstet und reinigt das Herz

Na toll, ein Spruch, der Gabriella noch mehr Zunder geben würde, gegen mich zu wettern. Meine Gedankengänge wurden jäh von dem Türgong unterbrochen.

„Moment, ich geh”, meinte Fabi und verließ die Küche.

Gerade nahm ich die Tüte mit den Nudeln in die Hand, als ich einen Schrei aus dem Flur hörte. Ich ließ das Päckchen fallen und rannte auf den Flur, wie die anderen auch. Dort stand Fastrick, unser Lehrer, in der Tür und hatte einen schluchzenden Fabi im Arm.

„Sie?”, fragte ich erstaunt.

„Ihr?”, fragte Fastrick noch erstaunter.

„Was ist denn geschehen?”, fragte Gabriella.

Fastrick sah uns an und atmete tief durch.

„Fabians Eltern sind mit dem Wagen verunglückt.”

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