“The fire is slowly dying,
And, my dear, we’re still good-bying,
But as long as you love me so,
Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!”
(‘Let it snow’, by Sammy Cahn und Jule Styne, 1945)
„Ja liebe Zuhörer, das war der Klassiker von Frank Sinatra. Und es hat absolut nichts mit dem folgenden Quiz zu tun.”
Meine Hand tastete nach dem Wecker.
„Heute beginnt ‚Hot Christmas’. Wir haben zwei Reisen für je zwei Personen zum karibischen Inselparadies Cu…”
Knack, meine Hand klatschte auf den Wecker. Bei dem Lied zuvor musste ich unweigerlich an einen nervigen Handyspot mit meckernden Tassen denken und murmelte spontan „du kannst mich gaaaaanz viel mal am Arsch lecken.”
Trotz der miesen Stimmung musste ich kichern. Der letzte Arbeitstag vor meinem Weihnachtsurlaub hatte begonnen. Oder sollte ich ‚Zwangsurlaub’ sagen? Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich lieber durchgearbeitet. Aber mein Chef hatte ‚Betriebsferien’ verkündet, daher auch meine Endzeitstimmung.
Weihnachten… das versprach Singlefrust pur zu werden. Mit Familie war dieses Jahr nicht viel anzufangen. Mein Vater starb schon vor fast neun Jahren an einem Herzinfarkt, meine Mutter war zu Besuch bei meinem Bruder, welcher für seine Firma eine Niederlassung in China aus dem Boden stampfte. Seit Monaten redeten die beiden auf mich ein, dass ich sie doch besuchen solle. Aber ich konnte mich nicht überwinden. Vielleicht auch deshalb, weil in diesem Landstrich Chinas das Weihnachtsfest sehr christlich-traditionell gefeiert wurde.
Eigentlich ärgerte ich mich über die Widersprüchlichkeit meiner Gedanken. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen meine Familie zu besuchen und familiäre Geborgenheit zu bekommen. Aber es wäre nicht mehr als eine Flucht vor meinen eigentlichen Wünschen gewesen. Wie gesagt, so sentimental wurde ich immer erst gegen Ende Dezember.
Also würde es wohl wie in den letzten Jahren ablaufen:
Cindy, meine beste Freundin, hatte auch schon Pläne gemacht, zusammen mit ein paar anderen Freunden. Im Klartext bedeutete das: wir nisteten uns in einem exklusiven Club ein und soffen bis in die Morgenstunden. Auf den folgenden Kater hatte ich schon jetzt keine Lust.
—
Aber vielleicht, damit ihr mal ein Bild von mir bekommt, sollte ich mich kurz vorstellen.
Mein Name ist Phillip von Leppenberg. Das ‚von’ hat allerdings keine Bedeutung.
Vor wenigen Monaten wurde ich stolzer Besitzer einer Neun nach der Zwei. Man könnte auch sagen, dass ich mich schnell auf die Dreißig zu bewegte.
Ich arbeite seit meiner Ausbildung als Speditionskaufmann in einer erfolgreichen privaten Spedition. Später habe ich dann meinen Betriebswirt nachgeholt. Mit weiteren Details werde ich keinen hier langweilen, aber sagen wir es mal so, ich bin gut im Job und mir geht es finanziell ganz gut. Das liegt vermutlich auch an meiner, relativ, sparsamen Lebensweise.
Falls ihr euch noch mit Äußerlichkeiten aufhalten wollt: ich bin durchschnittliche 184 cm hoch, mein Idealgewicht habe ich mit zwei überflüssigen Kilos leicht überschritten. Doch das ist durchaus noch schlank, zumindest lappt nichts über den Hosenbund. Ich bin eben ein stinknormaler Typ. Meine Augen sind braun, so wie meine Haare, seit Jahren in pflegeleichter Kürze.
Vielleicht noch ein Wort zu meinen, völlig belanglosen, Vorlieben: die holde Weiblichkeit dürfen andere behalten.
Stichwort Singlefrust, ich bin solo.
—
Ich schob die Partygedanken beiseite und mich aus dem Bett in die Dusche. Die Sauferei ging mir gerade nur schwer aus dem Kopf und mächtig auf den Sack. Die ganze Clique trank mir in letzter Zeit einfach zu viel. Immer wieder gab es einen neuen Grund. Viel lieber hätte ich mal wieder nen geilen Kerl im Bett.
Noch so ein Punkt an mir, wegen dem Singlefrust. Frustriert war ich nur zu wenigen Gelegenheiten, an Beziehungen war ich, in der Regel, nicht interessiert. Mein Intimleben war ausreichend abwechslungsreich. Aber Weihnachten, das war eben eine dieser wenigen Gelegenheiten. Cindy fand auch, ich solle mal langsam monogam und sesshaft werden. Ich wäre ja immerhin fast Dreißig, da solle man an Stabilität denken. Ausgerechnet Cindy…. Okay, ich war bestimmt kein Heiliger, aber Cindys Verschleiß an Kerlen nahm teilweise schon nymphomane Züge an.
In die Quere kamen wir uns jedoch nie. Sie stand mehr auf jüngeres Gemüse, mit mächtig was in der Hose, aber im Kopf durfte dann ruhig mal etwas weniger sein.
Ich, auf der anderen Seite, wollte mit meinen Liebhabern, in der Regel, auch halbwegs vernünftige Gespräche führen können. ‚Intelligenzbolzen’, die als besten Anmachspruch „Ficken?” beherrschten, die waren bei mir meistens falsch. Zu einigen verflossenen ‚Liebschaften’ hielt ich einen, mehr oder weniger, engeren Kontakt. Auch körperlich.
Ich drehte das Wasser ab und wickelte mich in ein Handtuch. Nach der üblichen Rasur und der wichtigen Mundhygiene heizte ich meine Kaffeemaschine an. In der Zwischenzeit tauschte ich das Handtuch gegen eine bequeme Jeans und einen weichen Pullover. Wir hatten, von Kundenterminen mal abgesehen, keinen besonderen Dresscode in der Firma.
Nach zwei Tassen Kaffee und einer Schüssel Corn Flakes griff ich meinen Autoschlüssel und die Aktentasche. Mit dem Fahrstuhl ging es dann in die Tiefgarage, wo mein nagelneuer Carrera geduldig wartete. Für die Anzahlung hatte ich ein kleines Vermögen zusammengespart. Auch die monatlichen Raten waren nicht ohne, aber bezahlbar. Ich erwähnte es ja bereits: relativ sparsam.
Vom satten Motorengeräusch begleitet verließ ich die Garage und fädelte mich in den Verkehr aus der Frankfurter City heraus in Richtung Flughafen ein.
Um das Gedankenkarussell zu beruhigen, schaltete ich mein Radio ein.
„Wir gratulieren nochmals dem Marco Penzlau zu seinem Gewinn. Heute Mittag verlosen wir dann die zweite und letzte Reise für drei Tage nach Curaçao, Weihnachten am Strand unter Palmen. Musikwissen ist gefragt, also Leute, strengt euch an. Und jetzt geht es weiter im Programm, drei Hits am Stück. Gleich nach der Werbung.”
Ich schaltete auf den CD-Wechsler um und ließ mich mit Songs von Queen berieseln.
Nach knapp zwanzig Minuten Stadtverkehr lenkte ich meinen Wagen auf meinen Firmenparkplatz und betrat das Gebäude.
„Guten Morgen, Louise!”, begrüßte ich unsere Empfangsdame.
„Hallo Phillip. Na, schlecht geschlafen?”
„Na es geht. Wieso?”
„Du siehst etwas übernächtigt aus.”
„Du weißt ja, Urlaub steht an, da schlaf ich immer schlecht”, grinste ich sie an.
„Ja, Du wieder. Sag mal, hast Du das von Gabi gehört?”
Ich stutzte. Gabi war unsere Fachfrau für Konsulate, wichtig, wenn jemand besonderes Frachtgut persönlich begleiten und den Transport überwachen musste.
„Ist ihr was passiert?”
„Du bekommst ja auch überhaupt nichts mit. Ihr Bruder hat heute ein Weihnachtsfest in der Karibik gewonnen, sie wird ihn begleiten.”
Gabi Metten, geborene Penzlau, es fiel mir wie Schuppen von den Augen.
„Doch, gerade kam es im Radio. Ich hab mich nur zu sehr an ihren neuen Namen gewöhnt. Also lässt sie ihren Mann alleine daheim?”
Louise schaute plötzlich so merkwürdig. „Die haben sich vor vier Monaten getrennt. Du bekommst wirklich nichts mit, oder?”
Beziehungen. Wieder ein Beispiel dafür, warum man darauf verzichten konnte. Natürlich wusste ich davon nichts und Gabi hätte auch einen Teufel getan und es mir erzählt. Sie kannte meine Einstellung dazu.
„Das muss mir entgangen sein. Hast Du Post für mich?” Ich wechselte lieber das Thema.
„Auf Deinem Schreibtisch.” Sie beendete lieber das Gespräch und wandte sich ihrer Arbeit zu.
Auf dem Weg zu meinem Büro lief mir auch prompt mein Chef über den Weg.
„Hallo Phillip, wie geht es Ihnen heute?” War hier heute eine Verschwörung im Gange?
„Hallo Friedrich, mir geht es immer gut, wenn ich Sie sehe”, lächelte ich ihm entgegen.
„Sie Schmeichler. Ich wollte Sie eigentlich nur kurz fragen, wie Sie Ihren Urlaub nehmen möchten.”
„Wozu die Frage? Wir haben doch Betriebsferien.”
„Das ist richtig. Aber Sie haben noch neunzehn Tage Resturlaub, mein Lieber. Urlaub ist da, um genommen zu werden.” Ich hatte sowas schon befürchtet. Seit drei Jahren drohte er schon damit, jetzt wollte er wohl ernst machen.
„Hab ich keine andere Wahl?”
„Mindestens fünfzehn Tage sollten Sie bis Ende Januar nehmen. Den Rest bis Ende März.” Auch das noch und jetzt kamen die ganzen Feiertage.
„Friedrich, das ist heftig.”
„Ich meine es nur gut mit Ihnen.”
„Wie viel Zeit habe ich für die Planung?”
„Sie können mich jederzeit anrufen, auch zwischen den Feiertagen. Sie sagen mir wann und ich gebe das okay.” ‚Fair enough’, wie der Engländer zu sagen pflegt.
„Ich gebe mich geschlagen. Okay, fünfzehn Tage im Januar.”
„Phillip, Sie sind mir ein Rätsel. Man könnte fast meinen, Urlaub wäre eine Strafe für Sie.” Wie Recht er doch hatte.
Er klopfte mir väterlich auf die Schulter und wir gingen unserer Wege. In meinem Büro lag erschreckend wenig Arbeit herum. Der kleine Aktenhaufen war recht schnell abgearbeitet und ich gab die fertigen Papiere zur Buchhaltung. Zurück im Büro wurde ich schon von Cindy erwartet, die gleich auf mich zusprang, mich stürmisch umarmte und mir zwei Küsschen auf die Wangen gab.
„Was machst Du denn hier?”
Cindy schaute mich beleidigt an. „Wir waren zum Mittag verabredet. Jetzt ist Mittag.”
„Oh, sorry, das habe ich irgendwie vergessen. Na gut, wir können eigentlich los.”
„Wunderbar. Wir nehmen mein Auto, Deins ist mir zu protzig.” Cindy grinste mich schief an. Sie konnte meinen Wagen wirklich nicht leiden.
„Wie Sie wünschen, meine Herrin!” Ich setzte zu einer tiefen Verbeugung an und Cindy lachte wieder.
„Sie sind wirklich unmöglich, Herr von Leppenberg.”
Draußen quetschte ich mich dann in die Beifahrerkapsel ihres Cityflitzers und sie startete durch. Natürlich durfte auch bei dieser Fahrt das Radio nicht fehlen.
„…zum zweiten Teil von ‚Hot Christmas’. Wer will coole Drinks am heißen Pool, statt Schnee schippen vor der Haustür? Also aufgepasst, hier die Aufgabe: heute Morgen haben wir das Spiel mit dem Song ‚Let it snow’, gesungen von Frank Sinatra, gestartet. Die erste Veröffentlichung war 1945, gesungen von Vaughn Monroe. Wann hat ‚The Voice’ dem Song seinen Stempel aufgedrückt? Also, ran an die Hörer! Und nun 40 Sekunden Werbung.”
„Man, was ist denn das für eine Frage? Das war auch 1945.” kommentierte ich das Gewinnspiel.
„Sicher?” hakte Cindy nach.
„100 Prozent. Das war Anfang Dezember 1945.” ergänzte ich.
„Ruf an! Los!”, rief sie.
„Ich komme eh nicht durch.”
„Phil, wenn du es nicht versuchst, dann nicht.”
Um jeden Ärger zu vermeiden wählte ich die durchgesagte Nummer. Freizeichen.
„Da sind wir wieder. Und wie ich sehe wartet auch bereits ein Anrufer. Dann holen wir ihn mal ins Studio. Hi, hier ist der Chris von Powerradio Frankfurt, wie ist dein Name?” Ich hörte die Stimme doppelt, aus Radio und Telefon.
„Ähm, ich … mein Name ist Phillip.” Meine Stimme kam durch den Lautsprecher und Cindy ließ einen schrillen Schrei los.
„Hi Phillip, hast du eine Lösung? Ganz Frankfurt wartet gespannt, ob wir einen weiteren Gewinner unserer Traumreise haben.”
„Äh, ja. Oh Gott…”
„Phil, ob beten hilft sehen wir gleich. Wie ist deine Antwort?”
„Anfang Dezember 1945″, stotterte ich.
„Wow. Wahnsinn! Wir haben einen weiteren Gewinner für karibische Weihnachten. Drei Tage für zwei Personen. Wen nimmst du mit, schon eine Idee?”
Ich zögerte und Cindy knuffte in meine Rippen. Sie hatte ihren speziellen Hundeblick aufgesetzt, also den Blick einer tollwütigen Dogge der deutlich sagte ‚nimm mich mit oder ich fresse dich’.
„Meine Freundin Cindy möchte mit.”
„Phil und Cindy, ich wünsche euch viel Spaß. Die Reisedetails bekommt Ihr gleich, bleibt also bitte dran. Und bei uns geht es jetzt weiter mit Musik. Viel Spaß mit ‚Sunshine Reggae’.”
Während fröhliche Reggaeklänge aus dem Lautsprecher drangen, meldete sich Chris dann ganz privat über das Handy. Er lud uns für den Abend ins Studio ein, um die weiteren Details zu besprechen. Fest stand nur, dass wir den 24.12. bis 26.12. komplett auf Curaçao verbringen würden. Die Flugpläne und Routen würde man uns dann später mitteilen.
Cindy war natürlich total aus dem Häuschen und wollte mir ständig um den Hals fallen.
„Schätzchen, du darfst ja mit. Aber wenn du dein Lenkrad noch öfter vernachlässigst, dann werden wir die Reise wohl nicht mehr erleben.”
Wir kamen trotzdem bei unserem Lieblingsitaliener an und genossen das gute Essen. Cindy war noch immer außer Rand und Band, griff ständig zum Telefon um die ‚tollen Nachrichten’ zu verbreiten, was für einen tollen Freund sie doch hätte, der ohne sie ‚niiiiiieeeeemals’ dort angerufen hätte. Zumindest da konnte ich ihr Recht geben.
Ich beglich unsere Rechnung, verabschiedete mich von Paolo, unserem Wirt und dem Chef des Ladens (zudem noch ein ‚enger Kontakt’ aus der Vergangenheit) und wartete geduldig auf Cindy, die noch schnell ‚für kleine Mädchen’ musste.
Vor meiner Firma verabredeten wir uns noch fest vor dem Studio.
Louise begrüßte mich mit einem wissenden Grinsen und streckte mir beide Daumen entgegen.
„Ausgerechnet unser Work-a-holic gewinnt eine Reise. Dann mal herzlichen Glückwunsch. Und damit verschwinden auch zwei Mitarbeiter in der Karibik. Du weißt ja: Gabi ist wieder zu haben.” Louise zwinkerte verschwörerisch und ich verschluckte mich vor Schreck an meiner Spucke. Natürlich bekam ich sofort einen Hustenanfall.
Ja klar, ich war ‚out’, aber in der Firma hielt ich mich damit schon etwas zurück. Warum? Das war mir selber nicht ganz klar. Es wurde wohl Zeit für eine kleine Offenbarung.
Während ‚la Lou’ also meinen Rücken mit einer Buschtrommel verwechselte, keuchte ich ihr stoßweise die ungeschmückte Wahrheit entgegen.
„Mit … einer … Frau … wird … nichts … passieren.”
Louise fror mitten im Trommelfeuer auf meine Kehrseite ein. Dann rückte sie ihre Nickelbrille zurecht, strich ihr fliederfarbenes Kostüm glatt und tippelte zurück hinter ihren Empfangstresen.
Ihr Blick wurde sehr vorwurfsvoll. „Du hättest ja ruhig mal vorher einen Ton sagen können.”
„Louise, es gehört aber eigentlich nicht hierher. Außerdem macht es für die Arbeit sicher keinen Unterschied.”
Louise druckste einen Moment herum und dann sprudelte die Wahrheit nur so aus ihr heraus. „Ich hab Gabi sofort nach dem Quiz angerufen und von deinem Gewinn erzählt. Sie hat nämlich ein Auge auf dich geworfen.”
„Das kann sie gerne wieder einsammeln.”
Sie sah mich irritiert an.
„Das Auge, Louise. Es ist eine unappetitliche Vorstellung.” Sie kniff die Augen zusammen, grinste dann aber leicht.
„Du bist unmöglich, Phillip von Leppenberg.”
„Das kann schon sein. Louise, um einen Gefallen möchte ich dich aber noch bitten: sag Gabi nichts, ich kläre das mit ihr. Okay?”
Louise machte ein merkwürdiges Gesicht, wollte erst zu einem Widerspruch ansetzen aber willigte dann ein. „Gabi bringt mich um, wenn sie erfährt, dass ich es weiß.”
„Wieso soll sie es denn erfahren? Ich sage es ihr bestimmt nicht.”
„Und ich auch nicht.” Erschrocken drehten wir uns um und blickten in das grinsende Gesicht von Friedrich Gustav Erlenbach. „Phillip, ich wünschte nur, ich hätte es von Ihnen persönlich erfahren.”
Ich seufzte leise. „Es gehört nun mal nicht hierher. Ich definiere mich durch meine Persönlichkeit und meine Arbeit, nicht durch meine sexuelle Ausrichtung. Ich fand es einfach nicht wichtig genug.”
Friedrich lächelte. „Da haben Sie Recht. Na gut, das Thema ist erledigt. Sie dürfen natürlich auch Ihren Partner zu unseren Veranstaltungen mitbringen. Gleiches Recht für alle.”
„Sobald es einen gibt, sehr gerne.”
Ich nickte den Beiden zu und ging in mein Büro. Das war, bis dahin, mein merkwürdigstes Outing. Im Nachhinein wunderte es mich irgendwie, denn in all den Jahren kam mein Privatleben kaum zur Sprache. Es gab ein paar halbherzige Versuche, die ich aber relativ leicht abblocken konnte.
Ich hatte meinen Ruf als tüchtiger Eigenbrödler weg.
Ich arbeitete meinen Schreibtisch leer und fuhr pünktlich meinen PC runter. Louise war auch schon in Aufbruchstimmung.
„Frohe Weihnachten, Lou. Bis nächstes Jahr.”
„Danke Phillip. Dir auch. Viel Spaß in der Karibik und einen ‚Guten Rutsch’.”
Die Fahrt zum Sender dauerte nicht lang und Cindy erwartete mich schon ganz aufgeregt.
„Man, wo warst du solange? Ich warte hier schon seit ner Ewigkeit.” Sie sah mich vorwurfsvoll an.
„Es war 18 Uhr ausgemacht, noch volle zehn Minuten Zeit.”
„Jaja.” Sie griff nach meiner Hand und zerrte mich in das Gebäude. Weit kamen wir aber nicht, ein Pförtner und eine schwere Glastür versperrten den Weg.
„Mein Name ist Phillip von Leppenberg. Ich bin der zweite Gewinner der Karibikreise.”
Der Pförtner griff zum Telefon. „Kandidat zwei ist da.” Er legte den Hörer auf. „Bitte warten Sie einen Moment.”
Cindy zog mich in die Warteecke, wo eine gemütliche Couch wartete. Knapp fünf Minuten später kam ein Typ herein, der sich als Chris, der Moderator vorstellte. Er erklärte den Ablauf der Reise. Wir hätten uns am 23.12. spätestens um 7 Uhr am Flughafen einzufinden, das Gepäck würde am 22.12. abgeholt und vorgeschickt. Rückreise würde dann am Nachmittag des zweiten Feiertags sein.
Also blieben noch zweieinhalb Tage zur Vorbereitung.
So verlief dann auch das Wochenende relativ stressig. Waschen, bügeln, Klamotten sortieren, einpacken, auspacken, umpacken und zwischendurch eine panische Cindy telefonisch beruhigen. Montags klingelte es dann auch zeitig an der Tür, so gegen sechs Uhr. Zehn Minuten später war mein Koffer unterwegs und ich wieder im Bett. Nach ein paar Minuten döste ich wieder weg. Allerdings nur bis dann das Telefon klingelte.
„Ich kann’s kaum erwarten, eben war der Shuttleservice da. Morgen geht es los, ich bin so aufgeregt!”
„Guten Morgen, Cynthia.” Sie hasste ihren vollen Namen.
„Du sollst mich doch nicht so nennen!”, giftete sie.
„Und du hast keine Manieren”, gab ich ruhig zurück.
„Oh sorry. Guten Morgen. Was machst du heute?”
„Ich muss noch kurz in die Firma und meinen Reisepass holen. Und dann, ich weiß nicht. Vielleicht noch etwas in der Sauna ausspannen.”
„Aha. Der Herr hat heute seine Gelüste. Wollen wir heute Abend noch einen Absacker zu uns nehmen?”
„Ja, können wir. Aber nicht zu spät. Sagen wir gegen 19 Uhr in der Cocktailbar?”
„Passt. Bis heute Abend, und viel Spaß in der Sauna.”
„Danke, werde ich haben. Bis nachher.”
Ich schwang mich wieder aus dem Bett und folgte der morgendlichen Routine. Nach dem knappen Frühstück fuhr ich also in die Firma, besorgte meinen Reisepass und entschied mich erstmal für einen Besuch in meinem Fitness-Studio. Für die Sauna war es noch zu früh und ein wenig Training konnte auch nicht schaden.
Die Sauna war eigentlich nicht so ganz mein Ding, aber wie anfangs mal erwähnt, ich hatte ein ziemliches Verlangen nach Körperkontakt. Da konnte ich auch mal auf meine intellektuellen Ansprüche verzichten.
Nach dem Training ging ich noch etwas essen und gegen 14 Uhr in die Sauna. Es dauerte auch nicht lange und ein passender Kandidat für den ‚Kontaktsport’ war gefunden. Gegen 17 Uhr war ich dann auch ‚erleichtert’ wieder daheim und kümmerte mich um das Handgepäck.
Das Treffen mit Cindy wurde dann noch stressig. Die Gute war völlig aufgedreht und etwas nervig. Wir ließen den Abend früh ausklingen und fuhren nach Hause. Sie schlief in dieser Nacht bei mir, um die Abholung am nächsten Morgen zu vereinfachen.
23.12.2008, 5 Uhr, ‚Hot Christmas’ beginnt’
Hektisches Rütteln an meiner Schulter riss mich aus der Traumwelt, hinein in den infernalischen Krach meines Weckers.
„Wie kannst du bei dem Lärm nur so schlafen? Phil, los, es ist fünf Uhr!”
Fünf Uhr? Verdammt, ich war sofort hellwach und sah in das geschminkte Gesicht von Cindy. Meine Freundin war bereits vollständig angezogen.
„Oh Mist, ich hab schlecht schlafen können und den Wecker wohl überhört.”
„Also mich hat er um Vier bereits geweckt. Du hast nen tollen Schlaf.” Cindy grinste mich verheißungsvoll an. „Schade, dass du schwul bist. Du schaust echt lecker aus, so nach dem Aufwachen.” Sie verpasste mir einen Klaps auf den nackten Po.
„Ach geh weg”, lachte ich. „Ernsthaft, raus aus meinem Zimmer, ich will mir was überziehen und dann…”
„Ich kenn dich doch, du brauchst zuerst einen Kaffee. Ist schon fertig. Ich warte in der Küche”, unterbrach sie mich und rauschte davon.
Ich schlüpfte in Retro und Shirt, begab mich in die Küche und ließ mich auf meinem Platz nieder. Cindy stellte mir wortlos eine Tasse Kaffee und meine tägliche Ration Corn Flakes auf den Tisch. Im Vorbeigehen wuschelte sie mir noch durch die Haare.
„Philimaus, so zerzaust wirkst du echt total niedlich. Nicht so streng und erwachsen wie sonst. Es wird Zeit, dass wir nen Kerl für dich finden, der das jeden Morgen genießen möchte.”
„Ich bin nicht niedlich!”, brummte ich ihr entgegen. „Und was will ich mit nem Kerl für jeden Tag? Beziehungen sind Stress. Ich habe kaum Zeit für sowas, neben der Arbeit.”
Cindy sah mich ziemlich böse an. „Das ist ja wohl keine Ausrede. Du drückst dich doch nur vor der Verantwortung.”
„Das musst ja gerade du sagen. Ich dachte wir wollten das Thema lassen?”
Cindy seufzte. „Du wolltest das Thema lassen. Aber du hast Recht, ich war bisher auch kein großes Vorbild.” Sie ging langsam zum Fenster, öffnete es einen Spalt und fingerte eine Zigarette aus ihrem Silberetui. „Los, mach dich fertig, der Shuttleservice müsste bald hier sein.”
„Ach Cindy… es tut mir leid. Wenn Du ein Mann wärst, ich glaub das könnte mit uns was werden.” Ich wollte mich, so kurz vor dem Flug, nicht ernsthaft mit ihr verkrachen.
Sie drehte sich zu mir um und der traurige Gesichtsausdruck wich einem spöttischen.
“Aber nur dann, wenn du auch ein Mann wärst, Philimausi!” Die Art, wie sie das letzte ‚i’ in die Länge zog, jagte mir eine Gruselgänsehaut über den Rücken.
Da das Handgepäck bereits gepackt war, konnte ich mich nach dem Frühstück einer ausgiebigen Duschsession widmen. Das warme Wasser und das duftende Duschgel spülten die trüben Gedanken, zumindest zeitweise, weg.
Ich entwickelte tatsächlich sowas wie ‚Vorfreude’.
Dass die Reise nicht die Lösung meiner Probleme war, sondern lediglich eine Verlagerung, stand eigentlich fest. Aber es war mal ein Weg aus dem Alltag, mal was Neues und Unbekanntes. Weihnachten bei hochsommerlichen Temperaturen an weißen Stränden war eben nichts Alltägliches für den Durchschnittseuropäer.
Von einem plötzlichen Hochgefühl getrieben, verließ ich das Badezimmer… singend.
“Join the sunshine, sunshine Christmas; let the good vibes get along stronger.
Sunshine, sunshine Christmas, don’t worry, don’t hurry and take it easy…”
Mit galantem Hüftschwung passierte ich so die Küchentür und glücklicherweise hielt das, um die Hüfte geschlungene, Badetuch. Cindys ungläubig geschockter Gesichtsausdruck hätte definitiv nicht noch mehr verkraftet. „Geht es Dir wirklich gut, Phil?”, rief sie mir hinterher.
Ich war gerade fertig angekleidet, als pünktlich um 6:25 Uhr der Shuttleservice klingelte.
„Guten Morgen. Phillip von Leppenberg und Cindy Reile, nehme ich an?”
Wir nickten und begrüßten die Fahrerin. Kurz danach befanden wir uns auf dem Weg zum Flughafen.
Ab in die Sonne
„Hi Phillip, Cindy. Na, schon fit und aufgeregt?” Chris grinste uns an.
„Ja, alles Bestens. War vielleicht etwas früh.” Cindy schwieg, sah aber völlig verklärt zu Chris herüber.
Chris bemerkte das natürlich sofort und lachte. „Hey, ich bin natürlich unwiderstehlich, aber nicht das dein Freund noch eifersüchtig wird.” Naja, lecker sah er schon aus und schlagfertig war er auch, doch irgendwie musste ich da etwas klarstellen.
„Keine Angst, Cindy ist meine beste Freundin, aber nicht meine Freundin.”
„Wirklich? Den Eindruck hatte ich neulich nicht, ihr wirkt sehr vertraut. Außerdem…” er grinste wieder „sieht sie klasse aus.”
„Ihr fehlt leider das Y-Chromosom, um wirklich interessant zu sein.” Chris verstand sofort und ich atmete scharf aus, Cindys Ellbogen sei Dank.
„SIE ist auch zufällig Anwesend! Und ich BIN interessant. Pah, Männer!” Cindy kochte.
Chris reagierte etwas verunsichert, fand aber schnell zu seinem souveränen Lächeln zurück.
„Natürlich bist Du interessant. Sorry, die Situation hat mich gerade kalt erwischt.” Er zwinkerte meiner Freundin zu.
„Und Du bist also schwul? Das kann ja spannend werden.”
Cindy war, nach seinen Worten, gleich wieder versöhnlich gestimmt. Scheinbar flirteten die Beiden auch gleich los.
„Warum spannend?” Meine Neugierde war geweckt.
„Surprise, surprise. Ich hab nichts gesagt.” Wieder dieses freche Grinsen. Den Blicken nach, die Cindy und er miteinander tauschten, war er offenbar Hetero. Fast schon ein wenig Schade.
Nach ein paar weiteren Minuten, in denen der Flirt der beiden stetig heftiger wurde, machten wir uns auf den Weg zum Gate, beziehungsweise in die Wartelounge. Lediglich die Sicherheitskontrolle am Eingang zum Passagierbereich hielt uns noch ein wenig auf.
Chris ‚parkte’ uns kurz in der Lounge und besorgte Kaffee. Ich hielt derweil Ausschau nach Gabi, konnte sie aber nicht entdecken.
„So Leute, also den Reiseplan kennt ihr ja im Groben. Eure Maschine nach Amsterdam geht bald. In Holland wird der Umstieg recht knapp. Wir haben beim Sender leider falsche Daten bekommen. Euer Flug ist kein Direktflug, ihr werdet eine Zwischenlandung einlegen. Dafür dauert der Flug dann auch etwas über zwölf Stunden. Euer Gepäck ist bereits angekommen und wird heute noch auf das Zimmer gebracht. Jetzt haben wir für euch allerdings ein Doppelzimmer gebucht. Wir wussten ja nicht … egal. Oder stört es Euch?”
„Nein, es ist schon okay so.”
„Für mich auch, er wird schon nicht über mich herfallen”, entgegnete Cindy.
„Gut. Ich werde am ersten Feiertag gegen Abend nachkommen. Vielleicht gibt es da noch ein kurzes Interview, wir werden ja sehen.”
Mein Blick streifte die drei leeren Kaffeebecher. „Mag noch jemand einen Kaffee?”
Die zwei nickten zeitgleich, also ließ ich sie für ein paar Minuten alleine.
Der Stand mit dem leckeren Gratiskaffee war ein paar Meter weiter und ich stellte mich an der kurzen Schlange an. Kurze Zeit später war ich dann auch an der Reihe. Natürlich war genau dann der Filterbehälter voll und ich musste warten, bis eine Servicekraft den Automaten wieder in Gang gebracht hatte.
Die ersten zwei Becher waren bald schon fertig, als plötzlich jemand gegen mich stieß und die zweieinhalb Becher zu Boden fielen. Es glich schon einem Wunder, dass mich der Kaffee komplett verfehlte. Ich sah in das erschrockene Gesicht eines jüngeren Mannes. Für einen Tollpatsch, so dachte ich, sah er eigentlich echt gut aus. Aber das rettete ihn nicht vor meinem Ärger.
„Sag mal, kannst Du nicht aufpassen? Wenn du nicht laufen kannst, dann bleib im Bett!”, zischte ich ihn leise an. Jegliche Emotion wich aus seinem Gesicht und er drehte sich um. Eiligen Schrittes entfernte er sich von mir. „Wenigstens eine Entschuldigung hätte ich erwartet!”, rief ich hinterher.
Ich befüllte also drei weitere Becher und ging genervt zum Platz zurück. „So, ihr Turteltauben, hier ist der Kaffee.”
Chris und Cindy rückten ein Stück auseinander, fast schon ertappt wirkend. Cindy lenkte aber gleich davon ab.
„Was war denn bei Dir los? Du warst eben ziemlich laut.”
„Ach, irgend so ein Depp hat wohl die Kontrolle über seine Füße verloren und die ersten drei Becher vernichtet. Vermutlich habe ich jetzt einen blauen Fleck am Rücken, an der Stelle wo er reingeknallt ist. Und dann entschuldigt sich der Typ nicht einmal.”
„Ach Philimaus, so wie ich dich kenne, hast du den armen Teufel bestimmt bös angeguckt und zusammengefaltet. Da muss man ja Angst bekommen. Du bist echt unheimlich, wenn du sauer wirst.”
„Philimaus?” Chris lachte schallend. Doch ein neuer böser Blick ließ ihn verstummen. „Oh Cindy, du hast Recht, da kriegt man eine Gänsehaut.”
Ich wollte gerade etwas erwidern, wurde dann aber durch eine Ansage unterbrochen.
„Sehr geehrte Fluggäste, die Passagiere von Flug LH4670, von Frankfurt nach Amsterdam, werden zum Gate A gebeten. Die Maschine steht zum Abflug bereit.”
„So, dann geht es bald los. Ich wünsche Euch eine schöne Reise, bis in zwei Tagen dann.”
Chris schüttelte Cindy und mir die Hand, übergab uns die Tickets und verschwand Richtung Ausgang.
„Na Süße, läuft da was zwischen euch?”
Sie wurde tatsächlich etwas rot, oder viel eher blass-rosa. „Och, ich weiß nicht? Süß ist er ja. Und Single ist er auch.”
„Also eine weitere Kerbe am Bettpfosten, wenn er will?”
Wieder erntete ich einen grimmigen Blick von ihr. „Das geht dich einen feuchten Kehricht an, Herr von Leppenberg!” Oh ja, sie war definitiv sauer.
Das Boarding lief reibungslos. Wir wurden, gesondert von den anderen Fluggästen, von einem Stewart direkt zu unseren Plätzen gebracht. Cindy überließ mir bereitwillig den Fensterplatz. Allerdings war das weniger selbstlos… sie konnte dem Stewart vom Gang aus besser auf den, zugegebenermaßen appetitlich knackigen, Hintern gucken.
Ich spürte einen erneuten Anstieg meiner Paarungsbereitschaft.
Amsterdam, 9:05 Uhr. Regen und Wind. Die Frisur hält
Nach einer guten Stunde Flug und einem kurzen Date mit dem Stewart auf der Bordtoilette landeten wir sicher in Amsterdam. Der Blick aus dem Fenster ließ mich fast schon erfrieren. Es sah einfach ungemütlich aus.
Die anderen Passagiere strömten aus dem Flieger und wir strömten mit. Der Schalter von Martinair war schnell gefunden und das Boarding voll im Gange. Die Umsteigezeit war wirklich knapp bemessen. Pünktlich um 9:50 Uhr gab der Kapitän Vollgas.
Diesmal saß Cindy am Fenster und ich hatte den Gang für mich. Eine der Flugbegleiterinnen versorgte uns mit einem kleinen Frühstück und Getränken. Wir orderten jeweils einen Kaffee für sofort und eine kleine Flasche mit Prosecco für später. ‚Karibik, wir kommen’ dachte ich noch und schlummerte auf meinem Sitz ein.
Nach einer ganzen Weile weckten mich ein dumpfer Schmerz in der Seite, in Höhe der Rippen, und ein feuchtes Gefühl auf dem Pullover und meiner Hose. Ich sah auf den Gang und…
„DU schon wieder. Erst der Kaffee am Flughafen und jetzt das. Verdammter Grobmotoriker!”
„E-es tut mir Leid… D-da war eine Turbolenz u-und ich bin dir in die Seite, b-bitte entschuldige.” Der Tollpatsch sah mich schon beinahe panisch an. Eigentlich ein hübscher Kerl, aber ich hatte die Faxen echt dicke.
„Man, mach dass du weg kommst.” Ich rappelte mich auf und griff nach meinem Handgepäck. Sicherheitshalber befanden sich da Klamotten zum Wechseln drin. Zu meinem Glück. Ich stieß den Trottel zur Seite und begab mich auf die Toilette. Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie der Schwarzschopf seinen Kopf senkte und wegtrottete. Mein barsches Verhalten tat mir ja leid. Der Stoß war zwar nicht besonders heftig, aber er war unnötig.
Mit frischen Klamotten betrat ich den Gang, doch leider war der Weg durch den Speisewagen blockiert. Also lief ich in den Parallelgang. Hier musste ich allerdings ein ganzes Stück weiter nach hinten, um dann wieder in meinen Gang zu kommen. Und dann erspähte ich ein bekanntes Gesicht.
„Hi Gabi!”
„Oh Phillip? Schön Dich zu sehen. Glückwunsch zur Reise.”
„Ja, euch auch. Dein Bruder ist wohl gerade unterwegs?”
„Marco ist vor ein paar Minuten in Richtung Toilette gestürmt, nach hinten. Vorne war wohl belegt.”
„Ja, das war ich. Jemand hat mir meinen Prosecco über die Klamotten gekippt, nachdem meine Rippen sein Knie begrüßen durften. Ich musste mich umziehen.”
„Sachen gibt’s. Aber ich finde es schön, dass Du auch dabei bist. Vielleicht können wir ja mal was unternehmen.”
„Lass uns da später drüber reden, Cindy wartet bestimmt schon auf mich.” Auf das Thema wollte ich vorerst nicht einsteigen. Bei ‚Cindy’ versteinerte Gabis Gesicht jedoch deutlich. Aber das sollte erstmal kein Thema sein. „Ciao Gabi, man sieht sich!”
„Bis dann, viel Spaß … euch beiden.” Jetzt klang sie eindeutig bitter. Schnell lief ich noch ein Stück nach hinten, wich der Toilettentür aus und eilte zügig zu Cindy zurück.
„Na das hat aber gedauert. Musste ein Stewart noch was trockenlecken?” Cindy grinste mich dreist an. „Du bist ja ein Nimmersatt, Philimaus.”
„Ach Quatsch. Ich kam nur nicht durch und musste auf der anderen Seite lang. Da habe ich Gabi getroffen.”
„Ach, habt ihr also noch nett geplaudert.”
„Wie man es nimmt. Sie wollte wohl sowas wie ein Date ausmachen. Aber das regele ich noch.”
Cindy widmete sich nach dem Mittagessen wieder ihrer Cosmopolitan, nickte dabei immer wieder weg und schlief schließlich ganz ein. Kurz darauf folgte ich ihr in das Reich der Träume.
So verlief auch der restliche Flug: viel schlafen und ab und an was trinken. Von der Zwischenlandung bekamen wir auch nicht viel mit.
Bon Bini – Willkommen auf Curaçao, 17 Uhr Ortszeit
Die Maschine setzte etwas unsanft auf und der rasende Applaus riss mich aus dem Schlaf. Auch Cindy öffnete ihre Augen und nahm den Kopf von meiner Schulter. Ich streckte mich, soweit möglich, um die Verspannungen aus den Muskeln zu schütteln und schielte über meine Freundin hinweg aus dem Fenster. Das karibische Flair war spürbar. Die Sonne strahlte klar unter dem blauen Himmel hervor, während die leuchtend-gelbe Towerspitze an uns vorbei zog.
„Bitte bleiben Sie angeschnallt, bis wir die endgültige Parkposition erreicht haben. Einen schönen Aufenthalt im Inselparadies Curaçao. Merry Christmas.”
„Traumhaft. Phili, ich freu mich so. Danke für die Reise!”, strahlte mich Cindy an.
Der Flieger kam mit einem Ruck zum Stehen. „Für dich gerne. Ohne dich wäre ich ja auch nicht hier.”
Ich bekam einen sanften Knuff in die Rippen, dann schnappten wir uns das Handgepäck und standen auf. Ich schaute zu Gabi rüber, die aber offensichtlich von ihrem von hier nicht sichtbarem Bruder in den Sitz gezogen wurde.
Einige Minuten später standen wir im Terminal. Cindy stöhnte auf und zog sich den dicken Winterpulli aus.
In der Nähe des Ausgangs wartete eine junge Dame, die ein Schild mit meinem Namen in den Händen hielt. Sie begrüßte uns auf Deutsch, mit niederländischem Akzent.
„Hallo, herzlich Willkommen. Mein Name ist Ruth, ich wurde vom Sender geschickt und werde mich etwas um euch kümmern. Auf uns wartet ein Wagen zum Hotel.”
Ein paar Meter weiter wartete noch eine Dame auf Marco Penzlau, aber weit und breit war niemand in Sicht. Nachdem wir uns bei Ruth vorgestellt hatten, ging es nach draußen.
Die Wärme traf uns wie ein Faustschlag. Fantastisch! Überall sah man exotische Pflanzen und Palmen. Es war traumhaft. Ruth führte uns zu ihrem Wagen.
„Also, wir fahren jetzt Richtung Willemstad und dann weiter nach Jan Thiel Bay zu eurem Hotel. Ihr werdet es mögen, es liegt direkt an einem der schönsten Strände der Insel.”
Gut fünfzehn Minuten später fuhren wir durch besagtes Willemstad. Cindy und ich bekamen den Mund nicht mehr zu. Die Hauptstrasse wurde von Häusern im Kolonialstil gesäumt. Allerdings erstrahlten sie nicht im typischen Weiß, sondern in verschieden knalligen Farben, viele Pastelltöne. Es war der blanke Wahnsinn. Überall sah man fröhliche Menschen verschiedenster Couleur, noch mehr exotische Pflanzen und Palmen, Palmen, Palmen.
Unser Hotel fügte sich nahtlos in dieses Ambiente ein. Wir verabschiedeten uns dann von Ruth, nachdem sie uns das Zimmer gezeigt hatte. Die Koffer standen schon bereit und wir erfrischten uns kurz. Dann war es schon Zeit fürs Abendessen.
Gabi konnte ich nirgends sehen, vermutlich waren sie in einem anderen Hotel. Also genossen wir unser karibisches Essen alleine in diesem stark gefüllten Restaurant.
„Und was machst du heute noch? Auf Männerfang gehen?” Ich sah fragend zu Cindy.
„Ich … nein. Ich musste gerade an Chris denken. Der hat so was an sich … Er gefällt mir.” Cindy gab sich ungewohnt nachdenklich. „Und du, suchst du dir noch einen Kerl?”
„Nein. Ich habe keine Lust mehr für heute.”
Cindy lachte. „Hat der Stewart dich geschafft? Du bist doch sonst so ausdauernd.”
Ich hielt ihr mein Weinglas zum Anstoßen entgegen. „Ich habe einfach keine Lust mehr. Zum Wohl.”
Unsere Gläser klirrten leise aneinander. „Cheers, Phillip.”
Wir saßen einige Minuten schweigend am Tisch und nippten an den Getränken. Dann griff sie plötzlich nach meiner Hand.
„Du machst dir was vor, Phillip.” Sie sah mir ernst in die Augen. Die Tatsache, dass sie mich erneut ‚Phillip’ nannte, war ein Zeichen für ein ungewohnt ernstes Gespräch.
„Was mache ich mir denn vor? Ich habe wirklich keine Lust!”
„Das meine ich auch nicht. Denk nicht es würde mir nicht auffallen… Du wirst von Jahr zu Jahr ernster und verschlossener. Du lachst seltener. Du starrst, ob du es glaubst oder nicht, immer mehr Paaren hinterher und guckst wehmütig. Du wirst bald Dreißig. Ich denke du bekommst langsam Torschlusspanik und überspielst es mit deinen Abenteuern und …”
„Das ist doch gar nicht wah…”
„Unterbrich mich nicht! Und es ist wohl wahr. Phillip… bei mir ist es doch genauso. Ich will meinen ‚Mister Right’. Nur den gibt es halt nicht an jeder Ecke. Bei Chris… irgendwas war anders. Ich wollte ihn nicht sofort in eine ruhige Ecke ziehen und gleich loslegen. Zumindest nicht sofort.” Sie grinste schief.
Da musste ich ihr zustimmen. Chris schien ein cooler Typ zu sein mit einer offenen und ehrlichen Ausstrahlung. Und sie hatten sich angeregt unterhalten, ohne ein Anzeichen dass Cindy gleich über ihn herfallen würde. Cindy … gut, sie war nicht mal ansatzweise so naiv-doof, wie sie den Menschen glauben machen wollte. Es war ihre Masche. Die Kerle standen auf das naive sexy Blondchen. Sie beherrschte einige sehr unauffällig-obszöne Gesten und hatte die Männer schnell da, wo sie sie haben wollte.
Nein, sie war clever und erfolgsorientiert und führte einen guten Wellness-Salon mit drei Angestellten. Ihren eigenen Salon, wohlgemerkt. Sie kümmerte sich auch um die gesamte Buchhaltung.
Ich spürte einen kurzen Druck auf meiner Hand. „Phil? Warum sagst Du nichts mehr?”
„Ich denke, dass du Recht hast.” Ich nahm ihre Hand zwischen meine Hände.
„Du hast es nicht nötig, dir mit deinen Abenteuern was zu beweisen. Du bist ein toller Mann und …”, Cindy grinste frech, „und die beste Freundin, die frau sich wünschen kann.”
Damit fiel diese ernste Anspannung von uns ab und ging in ein lautes Gelächter über.
Jemand räusperte sich neben uns. Gabi stand am Tisch und ich zog schlagartig meine Hände zurück.
„Hallo Gabi, ich dachte schon, ihr wärt in einem anderen Hotel untergekommen.”
„Nein, Marco geht es heute nicht so gut. Seit Frankfurt ist er wie verändert. Ich hoffe, er ist nicht krank geworden.”
„Ja, das wäre nicht besonders toll. Ach Gabi, die Dame hier, das ist Cindy.”
Gabi nickte leicht. „Ich kenne sie vom Sehen. Ich … wusste nicht, dass ihr zusammen seid.”
Ich war kurz sprachlos. Ob das für andere immer so aussah?
„Ähm, nein, sind wir auch nicht.” Cindy nickte zustimmend.
„Wirklich? Es wirkte aber so.” Gabi schwieg einen Moment und man konnte sehen, wie sie allen Mut zusammennahm. „Kommst du später mal kurz raus? Vielleicht können wir ja mal ein wenig reden.”
Cindy setzte ihren ‚Na los mach’-Blick auf.
„Wir können ja jetzt eben raus. Ich denke auch, dass wir reden sollten.”
Gabi folgte mir verdattert nach draußen auf die Terrasse und dann ein Stück Richtung Strand, bis wir alleine waren.
„Worüber willst du denn reden, Phillip?”
„Louise … du kennst sie ja. Immer am Tratschen.” Gabi wirkte etwas erschrocken. „Sie hat mir da etwas erzählt und darüber sollten wir reden.”
„Okay.”
„Ach, ich mach es kurz. Ich … kann mit Frauen sexuell nichts anfangen.”
Gabi seufzte. „Ich verstehe. Da kann ich dann nichts dran machen. Keine Angst, ich fange jetzt nicht mit dem ‚Du hast nur die Richtige nicht gefunden’-Quatsch an. Oh Gott, und ich habe das in all den Jahren nicht bemerkt. Das hast du gut verborgen. Bei meinem… ach, vergiss was ich sagen wollte. Phil, danke für Deine Offenheit. Ich wünsche euch beiden noch einen schönen Abend. Sehen wir uns morgen?”
„Danke, den wünsche ich Dir auch. Gute Besserung an deinen Bruder. Vielleicht lerne ich ihn ja noch kennen. Bis morgen.”
Gabi verschwand wieder im Hotel und ich ging zur Terrasse zurück. An der Bar bestellte ich einen Mojito und ein Zigarillo. Ich setzte mich an einen Tisch, mit Meerblick, und wartete auf die Bestellung.
Ich zog gerade genussvoll an dem Glimmstängel, als Cindy sich zu mir setzte, mit einem Sex-on-the-beach bewaffnet.
„Wie war es?”
„Gabi hat es gut aufgenommen. Besser als erwartet.”
„Keine Szene? Cool. Aber man kann es ihr nicht verdenken. Bist ja auch ganz lecker, für eine halbe Frau, versteht sich.”
„Na vielen Dank auch”, grinste ich zurück.
Wir tranken noch aus und verkrochen uns recht bald auf unser Zimmer. Frühes Schlafen war ein gutes Mittel gegen den Jetlag.
Wodka-‚Therapie’ (Gabi)
Phillip war also auch schwul. Und Louise hatte getratscht. Das Gespräch war mir total peinlich, aber jeder Kampf wäre sinnlos gewesen. Ich lief vom Strand geradewegs zur Hotelbar und orderte einen Wodka-Lemon, den konnte ich gebrauchen. Und dann noch einen Zweiten.
Den dritten Drink ließ ich dann doch sein, die Wirkung des Alkohols wurde spürbar und ich wollte noch nach Marco sehen. Mein Bruder machte mir seit der Abreise Sorgen. Irgendwas war im Busch, ich kannte doch mein Sensibelchen. Seit seiner letzten Beziehung hatte er sich total abgekapselt. Sein Exfreund hatte ihn aber auch nach Strich und Faden verarscht. Ohne mein Zureden hätte er ja nicht einmal diesen Anruf beim Sender gemacht. Er hatte sich schon so auf die Reise gefreut. Und plötzlich war wieder alles anders. Seit der Ankunft hatte er das Zimmer nicht mehr verlassen.
An der Tür klopfte ich kurz, bekam aber keine Antwort. Marco lag im Bett, hatte sich in die Bettdecke eingerollt und schlief friedlich vor sich hin.
Ich verschwand noch eben im Bad, um mich ebenfalls bettfertig zu machen und legte mich dann vorsichtig auf die andere Bettseite, doch Marco wachte trotzdem auf.
„Hey Schwesterchen, wie ist es gelaufen?” Marco hatte mir sämtliche Daumen gedrückt und sah mich nun gespannt an.
„Mit ihm wird es wohl nichts”, seufzte ich. „Ich gehöre zu den falschen 50 Prozent der Bevölkerung.”
„Oh… das tut mir leid für dich.” Er griff nach meiner Hand.
„Marco, was ist mit dir los? Du bist so verändert. Ist es wegen deinem Ex?”
Er ließ sich ins Kissen fallen und stöhnte frustriert auf. „Nein, daran liegt es nicht. Ich hab…”
„Du hast was?”
„Im weitesten Sinne, Mist gebaut.” Seine, manchmal sehr indirekte, Art machte mich wahnsinnig.
„Lass dir doch nicht immer alles einzeln aus der Nase ziehen!”
Er atmete noch einmal tief ein. „Also, heute Morgen am Flughafen ist mir ein Typ aufgefallen. Er hat mich ziemlich fasziniert, von der Art her, von der Körpersprache und Ausstrahlung. Sah auch echt süß aus. Und außerdem hat er Männer abgecheckt. Ich habe also allen Mut gesammelt und wollte ihn am Kaffeeautomat ansprechen. Dann hat mir jemand versehentlich einen Koffer gegen die Beine geknallt und ich bin gestolpert und zwar gegen den Typen. Dabei ging der Kaffee zu Boden und er hat mich ziemlich runtergeputzt. Und später… ach egal, ich werde das Zimmer nicht mehr verlassen, dann bin ich auch niemandem im Weg.”
„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das zulassen werde. Wir feiern morgen schön Weihnachten mit den anderen Gästen und deinen fünfundzwanzigsten Geburtstag ja wohl auch. Vergiss den Kerl einfach. Ich stelle dir Phillip vor, er dürfte dir auch gefallen. Deine Chancen bei ihm stehen auch besser als meine.”
„Mal sehen. Ich will nur diesem anderen Kerl nicht mehr begegnen. Naja, ich hätte es wissen sollen… die schönen Kerle sind doch meistens arrogante Idioten.”
„Auf dich trifft es jedenfalls nicht zu.” Er wurde leicht rot. „Ich pass schon auf dich auf, Großer. Aber jetzt sollten wir schlafen. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.”
Mein ‚Sorgenkind’ kuschelte sich etwas näher an mich heran und schlief bald ein. Dank des Alkohols dauerte es bei mir auch nicht lange.
Frühstücksgast auf Abwegen (Phillip)
Das Rauschen von Cindys Föhn weckte mich auf. Es war bereits 9 Uhr durch. Ich streckte mich genüsslich und genoss die warme Luft, die durch die geöffnete Balkontür herein strömte. Kaum zu glauben, dass in der, gute 8000 Kilometer entfernten, Heimat Eisregen und Minusgrade herrschten.
„Guten Morgen, Du Schlafmütze.” Cindy trat aus dem Bad. Sie wirkte ungewohnt brav, kaum geschminkt und mit einem relativ weiten Trägershirt über einer knielangen hellen Tuchhose.
„Morgen, Cindy.” Ich machte Anstalten ins Bad zu gehen.
„Kurzprogramm, Phili. Ich hab Hunger.”
„Zu Befehl, Boss.” Ich schnappte mir ein schwarzes Muscle-Shirt, die passenden Shorts dazu und verschwand im Bad. Ich beschränkte mich auf Zähneputzen und eine Katzenwäsche. Eine hungrige Cindy durfte man nicht warten lassen.
Das Frühstücksbuffet, das auf der Terrasse angerichtet worden war, war gigantisch. Wir luden uns den Teller mit Brötchen, verschiedenen Brotaufstrichen und Früchten voll und steuerten auf einen der freien Vierertische zu. Das fantastische Panorama genießend, kümmerten wir uns um die Vernichtung des Tellerinhalts. Brötchen mit Maracujakonfitüre, dazu der Blick auf das blaue Meer und den weißen Sand am Strand, waren paradiesisch. Ein Gecko huschte frech über die warmen Steine zwischen den Tischen durch und verschwand zwischen den gelben und weißen Hibiskusbüschen, die am Randbereich der Terrasse wuchsen.
Dann erspähte ich ein bekanntes Gesicht. Gabi sah sich suchend um. Mittlerweile waren alle Tische im Außenbereich belegt. Sie sah zu uns herüber und ich gab ihr einen Wink.
„Hallo Phillip, Cindy. Sind die beiden Plätze bei euch noch frei?”
„Aber klar. Für deinen Bruder und dich ist noch Platz.”
Gabi ging zum Buffet und kam auch schnell zurück. Der Ansturm der Hungrigen hatte mittlerweile stark nachgelassen.
„Marco müsste eigentlich auch gleich hier sein. Das hat er zumindest versprochen.”
„Geht es deinem Bruder denn wieder besser?”, wollte ich wissen.
„Ich denke schon. Die Reise schlug ihm wohl auf den Magen. Ach da ist er … Marco?”
Gabi sprang auf und rannte zum Eingang. „Marco, jetzt warte doch!”
Erstaunt sahen wir ihr nach, konnten ihren Bruder aber nicht erkennen.
„Merkwürdig, dieser Marco, oder, Phil?”
„Was soll ich sagen, vielleicht ist er ja wirklich krank und ihm ist schlecht geworden? Gabi scheint sich jedenfalls sehr um ihn zu sorgen.”
„Was für eine Schande… da sitzt man im Paradies auf Erden und darf das Bett hüten. Grausam”, stimmte Cindy zu.
Auf und davon – die Suche(Gabi)
„… ach da ist er … Marco?” Marco stand für einen Moment im Eingansbereich zur Terrasse, sah zu mir herüber und versteinerte. Sein Gesicht verlor sämtliche Farbe und dann rannte er ins Hotel zurück.
„Marco, jetzt warte doch!” Ich war bereits aufgesprungen und rannte ihm hinterher. War er am Ende doch krank?
In der Lobby war keine Spur von ihm zu sehen. Einer der Fahrstühle war auf dem Weg nach oben und hielt in unserem Stockwerk. Ich nahm also gleich den nächsten Aufzug und fuhr hinterher. Oben angekommen stürmte ich zu unserem Zimmer, doch das war leer. Die Tür ins Bad war geschlossen. Ob er sich wohl gerade übergab? Ich hielt mein Ohr gegen das Holz, konnte aber nichts hören.
„Marco?” Ich klopfte gegen die Tür, aber es kam keine Reaktion. Also betrat ich den Raum und auch hier war niemand. Scheinbar war der Aufzug die falsche Spur gewesen, wir wohnten ja nicht alleine in dieser Etage.
Ich ging zurück zur Lobby und sah mich um. An der Rezeption konnte auch niemand was sagen, dafür war einfach zuviel los. Besorgt ging ich zur Terrasse zurück. Phillip und Cindy saßen immer noch dort.
„Tut mir Leid, irgendwas stimmt nicht mit ihm. Und jetzt ist er wie vom Erdboden verschluckt.”
„Er taucht sicher wieder auf”, versuchte Phillip mich zu beruhigen.
Da fasste ich einen Entschluss. „Phil, vielleicht kannst Du mir helfen.”
Auf und davon – Kriegsrat (Phillip)
Ich konnte nicht glauben, was Gabi mir da erzählte. Der Grobmotoriker war also ihr eigener Bruder. Und weil ich selber schwul war, dachte sie ich könne ihr helfen. Die Geschichte über seinen Ex war heftig und Marco tat mir Leid. Doch der Knaller folgte dann erst noch.
„Ich glaube fast, dass er sich in diesen dämlichen Vollidioten verknallt hat”, schloss sie ihren Bericht.
„Danke für die Blumen”, erwiderte ich ziemlich mürrisch. Aber ich war geneigt ihr Recht zu geben, im Nachhinein. Ich hatte ihm ja nicht die geringste Chance gegeben. Und dass er sich bei mir ein Herz fasste ging mir nahe.
„Was meinst Du?” Das Wort ‚Bahnhof’ stand ihr quer über das Gesicht geschrieben.
„Der dämliche Vollidiot war ich. Das im Flugzeug hat er dir aber wohl verschwiegen, doch den Teil kennst du von mir. Seinetwegen musste ich mich umziehen.”
Ich schilderte den Vorfall noch etwas genauer und meine Kollegin bestätigte das Absacken der Maschine zum besagten Zeitpunkt. Wir waren wohl über ein kleines Luftloch gestolpert.
„Ich habe mich wohl nicht gerade mit Ruhm bekleckert.”
Cindy hatte die ganze Zeit über geschwiegen, bedachte mich nun aber mit einem zustimmenden Nicken.
Gabi sank geknickt in ihren Stuhl. „Und dann sieht er mich hier sitzen.”
Cindy sah mich an und ergriff das Wort. „Ich bin für Schadensbegrenzung. Ihr geht ihn suchen und teilt euch auf. Gabi, ich würde in eurem Zimmer warten. Da ich ihn nicht kenne, wäre ich bei der Suche nutzlos. Wenn er zurückkommt, dann schicke ich dir eine SMS, Phil. Einverstanden?”
Der Plan war mehr als brauchbar. „Ich für meinen Teil bin einverstanden. Gabi?”
Sie nickte und damit war es beschlossen. Cindy war wirklich für manche Überraschung gut.
Die beiden Frauen verschwanden in Richtung Zimmer und ich suchte vor dem Hotel, die Küstenstraße entlang. Gabi würde den anderen Bereich, bei den Sport und Freizeitanlagen, absuchen.
Ich genoss das, durchweg atemberaubende, Panaroma auf dem Spaziergang. Ungefähr drei Kilometer lief ich, aber von Marco war keine Spur zu finden. Im Nachhinein tat mir mein Verhalten natürlich leid. Aber ich konnte ja auch nicht ahnen, was es ihn für eine Überwindung gewesen sein musste. Niedlich war er ja schon irgendwie und ich war ein Gefangener meiner Weihnachtsdepression. An solchen Tagen neigte ich eben verstärkt dazu, meinen Verstand in die Hose zu verlagern.
Weit und breit war keine Spur von Marco zu finden. Unverrichteter Dinge kehrte ich also zum Hotel zurück. Es dauerte eine Weile und Gabi wartete bereits am Eingang.
„Fehlanzeige. Auf der Straße war er nicht.”
„In der Freizeitanlage war er auch nicht.” Gabi seufzte. „Cindy hat vermutlich auch nichts geschrieben?”
Ich nickte. Also gingen wir erstmal zu Cindy, Gabi würde dann an ihrer Stelle warten. Vorab gönnten wir drei uns allerdings noch ein gemeinsames Mittagessen, auch wenn Gabi nicht wirklich viel essen konnte.
„Wie findest du ihn eigentlich?” Gabi sah fragend herüber.
„Dazu sage ich lieber nicht zuviel. Er sieht ganz gut aus, also ist schon mein Typ. Aber ich kenne ihn nicht und was ich bisher weiß ist, dass er sehr anstrengend sein kann.”
„Könntest du dir denn vorst…”
Ich fiel ihr ins Wort „Gabi, dass ist definitiv das falsche Thema und auf Kuppelversuche reagiere ich ziemlich allergisch.”
Immerhin hatte ich ihr ja schon gesagt, dass ich ihn gerne kennen lernen würde. Fernab von Getränken, fügte ich gedanklich hinzu.
Wir begleiteten Gabi zurück zum ihrem Zimmer, wo uns dann eine positive Überraschung erwartete. Marco war zwischendurch zurückgekommen und hatte einen Zettel hinterlassen, er würde gegen Abend wieder im Hotel sein. ‚Gabi, der an deinem Tisch, das war er.’ stand im ‚P.S.’.
Die Stimmung entspannte sich sofort, Marco ging es offensichtlich gut. Die wenigen Stunden bis zum ‚Christmas Eve’ – Programm verbrachten Cindy und ich am Strand, wo in einer etwas entfernten Ecke bereits einige Vorbereitungen für die Veranstaltung liefen.
Überraschende Bescherung (Phillip)
Cindy nervte tierisch mit ihrem Sonnencreme-Tick. Irgendwann war es aber Zeit um den Strand zu verlassen. Zum einen, weil wir uns für die Feier frisch machen wollten und zum anderen, weil uns die Angestellten höflich zum Verlassen des Strandes aufforderten, um noch ein paar Überraschungen vorzubereiten.
Wir entschieden uns gegen festliche Klamotten, dafür war es einfach zu heiß. Cindy warf sich ein luftiges Sommerkleid über und ich begnügte mich mit Shirt und Shorts. Wobei ich noch nicht sicher war, ob ich das Shirt lange anbehalten würde. Wie gesagt, bei 31°C im Schatten war es schwer auszuhalten.
Im Restaurant war bereits ein prächtiges Buffet aufgebaut. Diverse Geflügelsorten, Fleisch von allen bekannten und auch einigen unbekannten Tieren, Salate in sämtlichen Richtungen und eine Unzahl an Beilagen. Auf der Terrasse war man auch schon fast fertig. Ein Kellner mit roter Mütze trat uns mit einem Tablett entgegen. Wir griffen nach dem Champagner und prosteten und zu.
„Warten wir noch auf Gabi, oder wollen wir gleich etwas essen?” Cindy sah hungrig zum Buffet rüber.
„Wir sollten gleich essen. Wer weiß, ob und wann Marco auftaucht.”
„Danke Philimaus, du bist ein Schatz.”
Ich wusste nicht warum, aber ich kämpfte mit einer aufsteigenden Nervosität und Hunger wollte sich auch nicht direkt einstellen. Aber ich belud meinen Teller – sparsam – mit saftiger Putenbrust, Reis und einer unbeschreiblichen Mango-Curry-Soße.
Weniger sparsam war ich dann aber bei Wein, Sekt und Champagner. Das warme Wattegefühl, mitsamt debilem Grinsen, stellte sich relativ zügig ein. Allerdings kam leider auch bald ein sentimentaler Anfall dazu.
„Phillip?” Cindy griff nach meiner Hand. „Alles okay bei dir?”
Als ich nicht reagierte, kniff sie mir in den Handrücken.
„Autsch, was soll das?”
„Ich hab gefragt ob alles okay ist. Und sag jetzt bloß nicht ‚ja’.”
„Also… ich …”
„Hallo Phillip, hi Cindy!” Gabi stand plötzlich neben uns, ebenfalls mit einem Teller beladen und setzte sich an den Tisch, nachdem ich mit meiner Hand auf einen der freien Stühle deutete. Es war mir lieber als ein Gefühlsgespräch mit Cindy. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich nervte Cindy jedes Jahr mit dem ‚ich fühl mich allein’- Spruch. Sie schaute dann, in der Regel, mitleidig und zuckte dann doch nur mit den Schultern: ‚Es liegt in deiner Hand, Phillip.’ Und sie hatte ja auch Recht.
Gabi aß in Ruhe und wir gaben uns dem gefräßigen Schweigen hin. Zwischendurch besorgte ich mir noch diverse Salate, um dem Gefühl der Alkoholisierung entgegen zu wirken.
Cindy durchbrach die Stille. „Ist Marco wieder zurück?”
Gabi nickte und sah mich nachdenklich an. „Ja, er ist vor einer Stunde zurückgekehrt. Er war in Willemstad und hat noch ein paar Dinge erledigt.”
„Geht es ihm gut?” fragte ich.
„Wie man es nimmt. Er ist ziemlich durch den Wind.”
„Was meinst du?”
Gabi errötete leicht. „Ich hab ihm seit geraumer Zeit von Dir vorgeschw… erzählt. Und …”, sie unterbrach sich selber und seufzte. „Marco ist ein wenig schwierig, manchmal. Er hört oft auf seinen Bauch, doch der ist nicht immer zuverlässig. Er geriet an einen ziemlichen ‚Idioten’.” Sie sprach das Wort sehr scharf aus.
„Und jetzt kommst du.”
„Als neuer Idiot?”, fuhr ich ihr dazwischen.
„Jetzt lass mich doch erst ausreden. Marco ist deinetwegen durcheinander. Das er sich in dich verguckt hat … okay. Ich verstehe ihn. Dein gestriges Verhalten hat ihn ziemlich unglücklich gemacht. Und jetzt ist er eben verwirrt, weil das nicht zu dem Phillip passt, den ich ihm immer beschrieben habe. Zumindest seitdem er weiß, dass du dieser Phillip bist.”
Gabi unterbrach sich selber für einen Moment und trank einen Schluck. Der glänzende Ausdruck in den Augen und die heiser werdende Stimme verrieten mir, dass das Thema sie sehr mitnahm. Offensichtlich liebte sie ihren Bruder sehr.
„Zu dieser Jahreszeit ist es immer besonders schlimm. Er kämpft das ganze Jahr über sehr tapfer mit sich, hat seine Familie hinter sich. Aber Weihnachten … da wird er depressiv und sehr melancholisch und sehnt sich nach der großen Liebe, die bisher unerfüllt blieb. Aber das scheint dir ja fremd zu sein, so wie du dich immer gibst.” Sie schluchzte unüberhörbar und mir kam die Galle hoch, vor Ärger.
„Was denkst du dir eigentlich? Woher willst du wissen wie ich denke und fühle? Gabi, das ist anmaßend und überheblich.” Cindy trat mir gegen das Schienbein, bevor ich noch etwas anderes sagen konnte.
„Philimaus, ich würde gerne draußen eine Zigarette rauchen, kommst du bitte mit? Gabi, bitte entschuldige uns für einen Moment.” Sie wartete nicht auf meine Antwort. Es war ja auch mehr ein Befehl als eine Bitte.
Draußen hielt mir Cindy wortlos ihr silbernes Zigarettenetui entgegen und ich griff zu einer meiner wenigen Zigaretten im Jahr.
„Was sollte das eben?”, fragte ich sie angesäuert.
„Sei froh über den Tritt, mein erster Impuls war eine Ohrfeige. Sag mal, geht es noch?”
„Warum machst du mich jetzt deswegen an? Dazu hatte Gabi kein Recht!” Ich zog ärgerlich an der Zigarette und verschluckte mich am Rauch.
Cindy wartete brav, bis sich mein Hustenanfall gelegt hatte und fuhr mit ihrem Vortrag fort.
„Wer dich nicht kennt, der kann durchaus auf dieselben Schlüsse kommen. Du weißt, dass sie Recht hat, fühlst Dich ertappt und nun putzt du sie runter. Ganz große Klasse, Herr Phillip von und zu Arschlochtrip. Ich hab genau gesehen, dass du bei ihren Worten schlucken musstest. Marco ist wie du, nur anders.” Ein schräges Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen.
„Aber merkst du nicht, worauf das hinauslaufen soll?”
„Sicher doch, Phili-Schatz. Gabi möchte ihren schnuckeligen Bruder mit meinem schnuckeligen Freund verkuppeln. Allerdings nicht besonders subtil.”
„So subtil wie ein Tritt gegen mein Schienbein.”
Cindy grinste mich an. „Du kannst mich mal ganz subtil am Arsch lecken.” Da war es wieder.
„Und Du kannst mich gaaaaanz viel mal subtil am Arsch lecken”, lachte ich zurück.
„Ne danke, deiner hat schon genug Zungen gesehen.” Zum ersten Mal bedauerte ich meinen Aufenthalt in diesem warmen Inselparadies. Cindys unverschämtes Grinsen verlangte eigentlich nach einem Schneeball, mitten auf die Zwölf. Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, fing sie an zu pfeifen. ‚Let it snow, let it snow, let it snow’.
Gabi wartete geduldig auf unsere Rückkehr. Wir legten noch ein wenig vom Buffet auf die Teller und aßen, während Gabi mehrfach zum Eingangsbereich der Lobby sah. Ihr Bruder wollte sich wohl doch nicht blicken lassen. Insgeheim bedauerte ich es nicht, es bedeutete ja auch weniger Drama für den heiligen Abend.
Wir wurden bald von dem peinlichen Schweigen am Tisch erlöst. Der Veranstalter lud alle Gäste zum Strand, wo bequeme Strandstühle und eine große Bühne auf uns warteten. Als Gewinner von ‚Hot Summer’ durften wir natürlich in der ersten Reihe Platz nehmen. Der vierte Stuhl blieb weiterhin frei. Cindy setzte sich vorsorglich zwischen Gabi und mich. Die Stimmung zwischen uns war unweihnachtlich angespannt. Natürlich nahm sie mir den kleinen Ausraster übel. Kurz darauf war jedoch alles vergessen, vorübergehend.
Das Showprogramm startete und mir wurde heiß. Das lag natürlich nicht nur an den beiden gut gebauten Kerlen auf der Bühne, im (mehr als dürftigen) Elfenkostüm mit eingeölten Körpern, sondern auch an den Flammen, die sie in den karibischen Himmel spuckten. Das Ganze gepaart mit furiosen Jongliertricks. Man sah fast nur noch wirbelnde Feuerräder, die sie sich gegenseitig zuwarfen.
Ein wahres Showfeuerwerk brannte ab, diverse Tanzgruppen traten auf und auch verschiedene Sänger. Das Live-Programm war unbeschreiblich. Doch mein persönlicher Höhepunkt war ein angekündigter ‚Special-Guest’.
Ein Weihnachtsmann betrat die Bühne und bekam von der Band eine Gitarre überreicht. Am vorderen Bühnenrand wurde ein Hocker aufgestellt und der Weihnachtsmann setzte sich hin. Außer den strahlend grünen Augen war nichts zu erkennen und sie nahmen mich völlig gefangen. Er fing an zu singen. ‚Let it snow’, ‚Jingle Bells’ und bei ‚Silent Night – Holy Night’ trieb es mir die Tränen in die Augen. Die Stimme war gefühlvoll und mitreißend und es ging nicht nur mir so: leises Schluchzen und Schniefen drang aus den Sitzreihen. Während der Performance fixierte ich diese Augen und manchmal schien es mir, als ob diese strahlenden Smaragde nur für mich leuchteten.
Cindy merkte sehr schnell was los war, dass mich eine riesige Welle von Einsamkeit und Traurigkeit überrollte. Ich sehnte mich nach dem warmen Gefühl, das diese unbeschreibliche Stimme und diese Augen in mir weckten. Sie nahm mich in den Arm und hielt mich fest und ich drückte mein Gesicht an ihre Schulter, damit niemand sehen konnte, wie bei mir alle Dämme brachen. Mein Schluchzen ging in dem tosenden Applaus völlig unter.
Ich spürte den brennenden Blick zweier Smaragde in meinem Rücken und als ich mich endlich wieder gefangen hatte, da war auch mein Weihnachtsmann wieder verschwunden.
Cindy kraulte gefühlvoll meinen Nacken und Gabi sah mich mit einem seltsamen Blick an, studierte mein Gesicht mit chirurgischer Präzision und lächelte plötzlich.
„Vielleicht hab ich dir wirklich Unrecht getan, Phillip. Es tut mir sehr Leid. Bitte verzeihe mir meine Worte von vorhin.”
Ich nickte leicht „Es ist okay. Ganz Unrecht hattest du ja nicht. Mir tut es auch leid.”
Das restliche Programm beachtete ich kaum noch und als es endete, begab ich mich mit den beiden Mädels zur Hotelbar. Gabi verabschiedete sich ziemlich bald und ging, um nach ihrem Bruder zu sehen. Cindy und ich taten dann das, was wir ohne die Reise auch gemacht hätten. Wir nisteten uns in dieser exklusiven Bar ein und tranken fröhlich bis in die späte Nacht.
Katerstimmung (Phillip)
Die Nacht endete viel zu früh, gegen 13 Uhr. Mein Kater war mörderisch, viel schlimmer als in den letzten Jahren. Anders als sonst verbrachte ich fast eine Stunde auf der Toilette und kotzte mir die Seele aus dem Leib. Cindy ging es ziemlich gut, sie hatte irgendwann auf Wasser umgestellt und war fit. Deshalb ging sie auch zum Hotelarzt und besorgte mir ein paar Tabletten gegen die Übelkeit und die Kopfschmerzen. Als sie zurückkehrte lag ich bereits wieder im Bett.
„Du siehst furchtbar aus, Philimaus.” Sie löste die Medikamente in einem Glas Wasser auf und stellte einen Kaffee auf den Nachttisch. „So, jetzt trinkst du das hier ganz artig, gönnst dir einen Koffeinschub und ruhst dich noch aus. In einer Stunde ist alles wieder gut”, redete sie auf mich ein.
„Zu Befehl, Ma’am!” Artig befolgte ich ihre Anweisungen. Es dauerte auch nicht lange und die Restmüdigkeit siegte. Aus der versprochenen Stunde wurden drei. Und tatsächlich, ich fühlte mich wie frisch auferstanden.
Als ob sie es gerochen hätte, steckte Cindy ihren Kopf zur Tür rein.
“Hi Schlafmütze, gut geschlafen?”
„Ja, prima, ich fühl mich spitze.”
„Okay Mausi, dann mach dich mal fertig. Chris ist vor ein paar Minuten gelandet und wird in Kürze hier sein.” Bei dem Namen ‚Chris’ lächelte sie wie ein kleines Schulmädchen.
Meine Augen flogen zur Uhr, es war 17:25 durch. „Okay, warte unten, ich geb Gas”, stammelte ich hektisch.
„Ach lass dir Zeit Schatz, du hast sie nötig. Und ich hab ein wenig Zeit mit Chris. Gabi ist nämlich auch noch nicht unten.”
Mit den Worten drehte sie sich um und verschwand wieder. Ich gönnte mir dann auch eine längere Dusche, eine gründliche Rasur und mindestens zehn Minuten Zähne putzen, bis der Rest des Katerfells von der Zunge geschruppt war.
Punkt 18 Uhr erreichte ich dann die Lobby, wo Cindy und Chris auf dem gemütlichen Clubsofa in einer Ecke saßen. Sie bemerkten mich nicht.
„Richtig, sie war nicht die große Liebe und ich kam seither auch ganz gut klar”, meinte Chris zu Cindy.
„Ich verstehe. Wollen wir uns vielleicht mal treffen, wenn wir in Frankfurt sind? Phillip hält mich für eine passable Köchin.”
„Ich würde mich gerne mit dir treffen”, flüsterte er ziemlich leise zurück.
„Ich kann ja Phil mal fragen, ob er uns seine Küche zur Verfügung stellt und dann mitessen möchte.”
„Wieso nicht bei dir?”
Cindy zögerte bei der Antwort. „Weil ich dich mag und nicht will, dass du glaubst ich würde das als Vorwand für …”
Chris griff nach ihrer Hand. „Ich mag dich auch und glaube nicht, dass du einen Vorwand bräuchtest. Frag ihn ruhig, Dein Freund ist ein interessanter Mensch und ich möchte natürlich auch deine Freunde kennen lernen. Wann würdest du denn gerne?”
„Ich habe in den nächsten Tagen Zeit, mein Geschäft bleibt bis zum zehnten Januar geschlossen.”
Chris überlegte nicht lang. „Okay, wir fliegen morgen alle zurück. Ich muss übermorgen abends im Sender sein und ein Tag Ruhe wird euch gut tun. Wie wäre es mit Sonntag?”
Cindy strahlte. „Super. Wenn Phil sein okay gibt, dann gerne. Ansonsten…”
„Ihr Beiden habt das okay. Ich bin einverstanden!” Simultan flogen zwei Köpfe herum. Chris fing sich sofort und begrüßte mich herzlich. Dann fragte er um Erlaubnis, ein kleines Interview führen zu dürfen. Ich gestattete es natürlich und er zückte ein Diktiergerät.
„Hallo Phillip, ich hoffe du hast den Urlaub hier bisher auch genießen können?”
„Ja, es ist traumhaft hier.”
„Wie hast du den heiligen Abend vor dieser Kulisse hier empfunden?”
„Oh, es ist ganz eigenartig. Statt unserer heimischen Kälte plötzlich in Badesachen am Strand zu sitzen und Feuerspucker zu betrachten. Sand statt Schnee… es war traumhaft. Diese ganz besondere Ausstrahlung und Atmosphäre dieser Insel.”
„Und was war dein persönliches Highlight bisher?”
„Eindeutig der singende Weihnachtsmann gestern Abend. Er hat eine wahnsinnig schöne Stimmung rübergebracht.”
„Unser Überraschungsact also. Gut, ich danke dir für das kurze Interview, noch viel Spaß für die restliche Zeit.” Chris schaltete das Gerät ab. Ich spürte wieder dieses feuchte Gefühl in den Augen, als ich den singenden Santa erwähnte. Chris hatte das auch bemerkt und deswegen keine weiteren Fragen mehr gestellt. Zumindest nicht offiziell für die Sendung.
„Alles okay, Phillip?” Er sah mich mitfühlend an.
„Ja, es geht schon. Der Sänger hat mich ziemlich aufgewühlt. Der Gesang ging tief unter die Haut.”
Er legte seine Hand auf meine Schulter. „Cindy hat da schon was angedeutet. Weihnachten ist noch nicht vorbei und wer weiß, vielleicht trifft dich ja noch das festliche Wunder.”
Wir aßen noch gemeinsam zu Abend. Gabi und Marco tauchten weiterhin nicht auf. Nach dem Essen ließ ich die Beiden alleine und machte noch einen langen Spaziergang am Strand, barfuss durch den warmen und feuchten Sand.
Und so endete auch der letzte Abend in der Karibik.
Aufbruch (Phillip)
„Jetzt beeil Dich doch, wir müssen bald aus dem Zimmer raus sein!”
Cindy war in Hektik. Obwohl ich schon lange schlief, bevor sie ins Bett kam, war sie das blühende hektische Leben.
„Wie war es mit Chris gestern Abend?” Cindy hielt inne und strahlte mich an.
„Er ist toll. Lustig, charmant und frech, sieht gut aus und geht auf mich ein. Ein Traum! Ich freu mich schon auf Sonntag. Phili, Du musst mir helfen, bitte! Ich will nichts versauen, du musst die Küchenleitung übernehmen!”
„Okay okay”, lachte ich.
Wir packten den Rest zusammen und übergaben die Koffer dem Gepäckservice, der unser Hab und Gut am Flughafen aufgab. Die restliche Zeit bis zum Abflug verbrachten wir im kolonialen Flair von Willemstad. Chris stieß bald zu uns und machte den Vorschlag, wir könnten uns noch die Hato Höhlen ansehen. Also begaben wir uns erst zum Hato International Airport und packten unser Handgepäck in die Schließfächer. Da unser Flieger erst nach 20 Uhr ging, entschieden wir uns, die zwei Kilometer zur Höhle zu Fuß zu gehen.
Schmunzelnd nahm ich zur Kenntnis, dass Cindy und Chris Hand in Hand liefen, inklusive verklärter Blicke, die sie sich hin und wieder zuwarfen. Einerseits freute ich mich für die Beiden, andererseits erfüllte es mich mit einer tiefen Traurigkeit. Ich blieb allein.
Die Höhlen waren beeindruckend und furchtbar stickig. Nach unserer Ankunft dauerte es nur eine halbe Stunde bis zur nächsten Führung, die ebenfalls nur dreißig Minuten dauerte. Aber wir bekamen einiges geboten. Die Höhlen waren gut ausgeleuchtet, phantastische Tropfsteinformationen erwarteten uns. Mir gefiel die so genannte, ‚Cathedral’ am Besten. Eine geräumige Höhle, in der Sonnenlicht durch ein Loch in der Decke strömte.
Für mich stand fest, ich würde wieder Urlaub auf dieser Insel machen. Curaçao bot noch soviel mehr. Tauchgänge, ein großes Seeaquarium und einen Nationalpark. Auch das Nachtleben schien interessant zu sein, wie ich einigen Broschüren entnehmen konnte. Das Open-Air-Kino am Mambo Beach, zum Beispiel. Aber alleine hätte ich da nicht hingewollt und Cindy schien für gemeinsame Touren auszufallen, dem schrumpfenden Abstand zwischen Chris und ihr nach zu urteilen. Unwillkürlich musste ich an die Smaragde zurückdenken.
Nach einer kleinen Stärkung und ein paar Getränken machten wir uns wieder auf den Weg zum Flughafen, wir hatten keine zwei Stunden bis zum Abflug übrig.
…
„Dear passengers, welcome to Martinair. Please prepare for boarding to Amsterdam in fifteen minutes. Sehr geehrte Fluggäste, willkommen bei Martinair. Das Boarding für den Flug nach Amsterdam beginnt in fünfzehn Minuten.”
Wir hielten Ausschau nach Gabi und Marco, in der Nähe des Schalters war keine Spur von ihnen. Cindy und Chris suchten im Loungebereich und ich ging den Weg zu den Toiletten entlang. Und tatsächlich, ich fand Gabi. Sie wartete zwischen den Türen der Damen- und Herrentoilette.
„Hi Gabi, wir dachten schon ihr kommt nicht mit!”
„Oh Phillip. Es tut mir Leid, Marco und ich haben nach Heiligabend viel geredet und kamen kaum aus dem Zimmer. Die letzen Stunden waren wir im Aquarium. Und was habt ihr so getrieben?”
„Cindy und ich waren mit Chris in den Hato Höhlen.”
„Da wären wir auch gerne noch hin. Die Prospektbilder waren echt toll, aber bei den vielen Fischen verging die Zeit wie im Fluge.”
Ich wollte gerade etwas entgegnen, bekam dann aber die Toilettentür ins Kreuz. Ich stand auch etwas ungünstig. Dafür knallte auch jemand von innen gegen die nur halb geöffnete Tür.
Als ich mich umdrehte, um mich zu entschuldigen, stockte mir der Atem.
„Smaragdauge?”, flüsterte ich und ich spürte einen dicken Kloß im Hals und das warme Gefühl des 24.12. kehrte zurück. Zum ersten Mal sah ich Marco direkt in die Augen.
Sein erschrockener Blick wich einem warmen Lächeln.
Epilog
Marco und ich saßen auf dem gesamten Rückflug zusammen. Gabi hatte netterweise den Platz mit mir getauscht. Wir sprachen uns aus und ich entschuldigte mich für mein grobes Verhalten am Anfang der Reise. Chris grinste uns zwischendurch wissend zu. Nun verstand ich auch seine Bemerkung am Flughafen in Frankfurt. Er wusste natürlich, dass Marco schwul war. Allerdings schienen meine Sturheit und Marcos Ängstlichkeit uns im Weg zu stehen. Ich … verliebte mich in seine Sensibilität, seine Verletzlichkeit. In seine Augen, die Stimme. Auch er rückte immer näher an mich heran, bis wir die Armlehne hochklappten, weil es doch unbequem war. Immer wieder strich ich seine schwarzen Strähnen aus dem Gesicht.
Der Abstand zwischen unseren Lippen schwand minütlich, bis er kurz seine Augen schloss, seinen Mut sammelte und mir den zärtlichsten Kuss meines Lebens verpasste. Ich ließ mich in diesen Kuss fallen und sah ihn danach lange verträumt an.
„Marco… ich hatte vergessen wie es ist, wenn man verliebt ist. Danke für die Chance.”
„Du hast dich wirklich …?”
Ich nickte. „Und ich habe echt einiges getan damit das nicht passiert. Ich hatte Angst.”
„Ich möchte dich richtig kennen lernen. Also, ich habe mich auch in dich verliebt. Deine Reaktion bei der Feier, auf meinen Gesang, hat mir Mut gegeben. Ich hatte ziemliche Angst vor dir und hoffe, dass du wirklich so bist wie ich dich jetzt sehen kann.”
Ich nahm ihn in den Arm. „Danke für die Chance.”
Am Sonntag aßen wir dann zu Viert. Marco und Chris brachten jeweils eine Flasche Wein mit und ich reichte spontan neunzehn Tage Urlaub beim Erlenbach ein.
„Phillip, Sie überraschen mich immer wieder. Ich möchte Sie allerdings nicht vor dem fünften Februar sehen, Sie bekommen den Rest auf Überstundenbasis frei, davon haben Sie ja auch genug.”
Und so endete ein unvergessliches Weihnachtsfest und mit dem neuen Jahr begann für Marco und mich ein neuer Lebensabschnitt. Auch bei Chris und Cindy lief es sehr gut. Marco und ich wurden Mitte August von ihr zum Trauzeugen bestellt. Ein halbes Jahr später drehten wir dann den Spieß um.
Unsere Geschichte endet hier. Wir sind nun auf eure gespannt. Frohe Weihnachten!