Suman
Boldin Dynamics
Human tötende Waffen? Wo bleibt da die psychologische Komponente?
Unsere Qualitätsprodukte mit der unvergleichlichen, patentierten Kill-O-Matic bieten beides: Effektive Feindvernichtung mit unvergleichlicher Demoralisierungswirkung
Aus dem Produktkatalog von B OLDIN D YNAMICS
»Piraten?«
Die Frage, die ich dem Kapitän stellte, war der Entschlossenheit geschuldet, mit dem er seine oberflächliche Analyse der vorgefundenen Situation in einem Urteil zusammenfasste.
»Auf jeden Fall!«, unterstrich unser Skipper mit dem Brustton felsenfester Überzeugung und demonstrierte damit, dass er sich seiner Sache absolut sicher war, »Einem unschuldigem Opfer von hinten feige die Kehle durchschneiden… Pah! Sowas bringt nur dieses ehrlose Piratenpack fertig. Nun, der Herr Boldin ist selbst schuld. Wenn ich ihn nicht noch gewarnt hätte, von Skipper zu Skipper, ja nicht ohne eine bewaffnete und Kampf erfahrene Besatzung zu fahren. Aber er wollte nicht hören. Meinte, er wäre völlig sicher. Niemand würde es wagen, ihn anzugreifen. Niemand? Diesen Irrtum hat er nun mit seinem Leben bezahlt. Dieses hier sind gefährliche Gewässer!«
Während der Kapitän noch über Boldins Unvernunft, ohne Besatzung zu fahren, lamentierte, wechselte ich mit Suman einen unauffälligen Blick. Er begriff, was ich von ihm wollte, und handelte sofort. Mein Schatz verstand es wirklich, die Unauffälligkeit in Person zu sein. Niemand bemerkte, wie er sich leise und ungesehen von uns entfernte. Erst als wir uns aufmachten Boldins Yacht zu verlassen, gesellte er sich ganz beiläufig wieder zu uns. Seine Abwesenheit blieb unentdeckt. Der Kapitän ließ noch schnell eine Wache von drei Mann auf der Yacht zurück, während der Rest von uns ins Beiboot stieg und zurück zur Yacht der Gilde übersetzte.
»Kapitän?«, sprach ich unseren Skipper auf der Rückfahrt an, »Wir müssen etwas mit den Leichen tun. Haben wir einen Kühlraum, in dem wir sie lagern könnten? Auch sollten wir die Yacht bergen, oder?«
»Mein Junge, sie denken wie ein Seemann! Ein Kompliment an Ihre Lehrer!«, lobte mich der Kapitän, »Ich habe alles schon in die Wege geleitet. Wir brauchen unseren Kühlraum nicht zu verwenden. Ich hatte die Gelegenheit Boldins Yacht früher schon einmal besichtigen zu können. Er hat sie mir in Xengabad gezeigt. Wir werden Szwang und Boldin in ihrem eigenen Kühlraum lagern. Er ist groß genug und sie werden ihn wohl kaum noch brauchen. Ich habe auch bereits ein paar Männer unserer Besatzung abgestellt, die uns mit der Yacht nach Minas Rochsir folgen werden. Wir werden als Konvoi nach Minas Rochsir fahren.«
Damit waren die drängendsten Fragen geklärt. Ich dankte dem Skipper und ging in meine Suite. Suman folgte mir, schweigend und unauffällig. Er war zu meinem perfekten Schatten geworden. Ständig in meiner Nähe, alles beobachtend, schien ihn niemand zu beachten. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich konnte keinen Schritt machen, ohne dass es beobachtet, registriert und interpretiert wurde – Segato G’Narn, der stellvertretende Sekretär Crossars. Keine meiner Gesten wurde übersehen. Jeder meiner Bemerkungen wurde aufmerksam gelauscht. Vom Kapitän bis zum Schiffsjungen betrachtete mich die gesamte Mannschaft als oberstes Glied einer Befehlskette. Doch kaum hatte Suman die Tür hinter unserer Suite geschlossen, war alles anders.
»Piraten?«, fragte mich Suman skeptisch.
»Niemals!«, teilte ich seine Skepsis. Hier in unserem Raum gab es keine Befehlskette. Suman und ich, wir waren gleich. Wir wussten, dass wir beide das gleiche Ziel verfolgten, nur halt auf unterschiedlichen Wegen.
»Du hast es auch gesehen, oder?«, fragte mich Suman, kannte meine Antwort aber schon vorher.
»Natürlich. Es gab zwar keine offensichtlichen Kampfspuren, aber Boldins und Zwangs Handgelenke sprechen Bände.«, begann ich meine Beobachtungen zu schildern.
Suman nahm meinen Gedanken auf: »Fesselspuren und leichte Abschürfungen der Haut. Jemand hat Boldin und Szwang gefesselt und ihnen anschließend die Kehlen durchgeschnitten. Ich bin durch das Schiff gegangen. Nirgends konnte ich Kampfspuren, noch andere Verwüstungen entdecken. Ich würde auf eine Hinrichtung tippen. Und noch etwas, die Täter scheinen etwas gesucht zu haben. Sie waren nicht auf Plünderung aus, denn das Boot wirkte oberflächlich unberührt. Allerdings habe ich Spuren gefunden, die darauf hindeuten, dass jemand sich sehr viel Mühe gegeben hat, das Schiff zu durchsuchen, ohne dass man es bei einer Untersuchung später bemerken sollte. Die Täter, ich bin mir sicher, dass es mehrere waren, kannten sich aus und wussten ganz genau, was sie taten. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, dass Boldin und Szwang ihre Scharfrichter kannten.«
»Wenn es keine Kampfspuren gab, dann wurden Szwang und Boldin entweder überrascht oder sie kannten ihren Mörder. Olson?« Dies war für mich die nahe liegenste Vermutung.
»Möglich, aber unwahrscheinlich.«, Suman dachte nach, »Olson ist zwar ein Berufskiller, aber niemand, der seine Opfer quält. Selbst für Geld nicht. Außerdem spricht gegen Olson, dass sehr heimlich nach etwas gesucht wurde. Ich glaube, dass es legitim ist anzunehmen, dass dieses etwas entweder sehr wertvoll oder sehr geheim ist. Wenn wir einmal annehmen, dass für diese Sache Boldin und Szwang sterben mussten, würde man dann einen dritten, wie Olson, mit in die Sache einbeziehen? Den müsste man dann später doch ebenfalls eliminieren, oder?«
Sumans Überlegungen waren präzise, analytisch und überzeugend. Ich musste ihm zustimmen. Doch mein Freund war noch nicht am Ende seiner Gedanken angelangt.
»Erst foltert jemand Vaughan und bringt ihn anschließend um. Wir vermuten, dass Vaughan ein Gefangener Boldins und Szwangs war. Und ausgerechnet diese beiden finden wir als nächstes ermordet vor?« Sumans Stirn kräuselte sich, als er über dem Problem brütete. Nach einer Weile sah er mich an und fragte: »Wie war das noch bei deinem geselligem Zusammentreffen? Die ganze Truppe war doch anwesend, oder? Wie war das mit Markendorfer?«
Ich grinste, Suman war auf die gleiche Idee gekommen, wie ich: »Jemand benötigte die vereinten Fähigkeiten von Vaughan, Szwang und Boldin. Entweder hat Vaughan moralische Skrupel bekommen oder er war von Anfang an nicht freiwillig dabei. Jedenfalls hat er mir den Datenkristall zugesteckt. Bei allem, was mir heilig ist. Meinst du, er wusste, dass er sterben würde?«
Suman warf mir einen traurigen Blick zu: »Ich weiß es nicht sicher. Aber nach allem, was wir wissen, würde ich sagen, Vaughan wusste, was ihm bevor stand. Du musst ihn wirklich beeindruckt haben, dass er dir vertraut hat.«
Meine nächste Frage entsprang purer Neugier: »Hast du mit ihm einmal…«
Suman grinste: »…mit ihm geschlafen? Nein, Vaughan war nicht schwul. Im Gegensatz zu Olson.«
Testete Suman mich? Wollte er wissen, wie ich auf eine solche Information reagierte? Nun, ich reagierte. Ich hatte mir gerade ein Glas Wasser genommen. Natürlich verschluckte ich mich und prustete das Wasser durch den Raum: »Du hast mit einem Auftragsmörder geschlafen?«
»Gruselig, was?«, zog mich Suman auf, »Du wirst es kaum glauben, aber Olson war einer der wenigen, mit denen es Spaß machte. Er sieht gut aus und weiß, was er will. Er ist nicht gewalttätig und kann geben und nehmen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja, er sieht gut aus.«, auch mich hatte seine Erscheinung nicht kalt gelassen, »Mir gefällt nur der Gedanke nicht, dass er dich erst vernascht und dann abschlachtet – erst Koitus, dann Exitus.«
Suman lächelte müde. Ihm ging vermutlich der gleiche Gedanke durch den Kopf wie mir. Die Chance, dass ein Mörder wie Olson Suman, mir oder irgendeinem anderem Meister der Gilde wirklich gefährlich werden könnte, war eher gering. Wenn man es weniger freundlich formulieren wollte, könnte man sagen, dass wir ähnlich tödlich sein konnten, wie Olson und seine Berufskollegen. Allerdings lauerte darin auch immer die Gefahr der Enttarnung.
»Wir sollten noch mal Boldins Yacht untersuchen.«, meinte ich schließlich.
Suman nickte zustimmend. Seine Augen funkelten und mir war klar, dass er die gleiche Idee hatte, wie ich. Es war schon erschreckend, wie gut wir uns ergänzten. Ich konnte nicht anders, als Suman ansehen. Aus heiterem Himmel packte mich plötzlich die Panik. Was, wenn uns etwas passierte? Was wenn ich Suman verlieren würde oder er mich?
»Was ist? Du schaust so… traurig. Oder, nein, ängstlich. Was betrübt dich?«, flüsterte Suman und zog mich zu sich heran.
»Es ist nichts… Ich… Mir ist gerade klar geworden, wie sehr ich dich liebe… Ich habe Angst, Angst dich zu verlieren.«, gestand ich matt. Vermutlich würde jeder andere ein derartiges Bekenntnis als das Wunderbarste und Schönste betrachten, ich hingegen fühlte mich ausgeliefert und verletzlich. Doch Suman wäre nicht Suman, wenn er mich nicht auffinge. Er nahm mich in den Arm, zog mich aufs Bett, strich mir durch meine Haare und streichelte meine Wangen.
»Mir geht es wie dir. Ich weiß, was du fühlst, denn ich fühle es auch. Wir leben in einer gefährlichen Welt. Wir haben es eben selbst erlebt. Aber das darf uns nicht hindern, uns zu lieben. Segato, ich bin überglücklich, dass ich dich gefunden habe.«
Aus meinem emotionalen Schwächeanfall wurde ein Moment der Stärke. Eng aneinander geklammert hielten wir uns fest. Wange an Wange gaben wir uns Kraft für die Aufgaben, die vor uns standen.
»Und?«, fragte ich Suman. Wir hatten uns mit einem Beiboot auf Boldins Yacht zurück bringen lassen und hatten uns von der Brücke abwärts bis zu Boldins Suite vorgearbeitet. Das Frustrierende war, dass wir keine Ahnung hatten, wonach wir eigentlich suchten. Wir gingen von Raum zu Raum, stellten uns in dessen Mitte und ließen die Umgebung auf uns einwirken. Wenn Boldin oder Szwang etwas versteckt haben sollten, wo würden dieses Versteck wohl sein? Was wäre ein gutes Versteck?
»Ich weiß nicht.«, gestand Suman und presste seine Lippen aufeinander. Er dachte nach: »Was suchen wir eigentlich? Wo sollen wir suchen? Es ist schwierig etwas zu suchen, wenn man nicht weiß, was man sucht! Vielleicht hatten Boldin und Szwangs Mörder bereits gefunden, was sie suchten. Danach waren die beiden nicht mehr nützlich und wurden liquidiert.«
Ich schüttelte den Kopf: »Nein, ich weiß zwar nicht warum, aber ich glaube nicht, dass die Täter gefunden haben, wonach sie suchten. Ich fühle, dass noch etwas hier ist. «
»Super, und du meinst, wir finden das, was die anderen nicht gefunden haben?«
»Warum nicht?«, entgegnete ich und begann die Kombüse zu untersuchen. Natürlich fand ich nichts. Woher nahm ich den Optimismus? Wir hatten die Brücke, den Salon, das Sonnendeck, zwei Gästekajüten und Boldins Suite untersucht und nichts gefunden. Sumans Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Warum sollte ausgerechnet uns gelingen, was den Mördern nicht gelungen war? Trotzdem war ich mir sicher, dass es auf dieser Yacht etwas gab, das so wichtig war, dass dafür zwei Lebewesen, eigentlich sogar drei, sterben mussten. Genervt wandte ich mich dem nächsten Raum zu: Boldins Arbeitszimmer.
Boldins Arbeitszimmer war unverschämt groß. Der Zwerg schien ein unbändiges Kompensationsbedürfnis zu haben. Außer der Größe schlug einem auch noch die schwülstige Einrichtung entgegen. Was hier golden glänzte, war auch tatsächlich aus Gold. Eine Sitzgruppe aus kostbarem, weil seltenem, Leder bildete die eine Hälfte des Raums. Die andere wurde von einer Monstrosität von Schreibtisch eingenommen, hinter dem sich ein kleiner, Zwergen kompatibler, Drehstuhl versteckte. Ich ließ mich in der Sitzgruppe nieder und sah mich um. Über einem Sideboard blickte mir Boldin von einem Ölgemälde entgegen. Der Zwerg hatte wirklich ein Egoproblem. In einer Glasvitrine konnte man Muster der Produkte des Hauses Boldin Dynamics bewundern. Ich war froh, dass diese Waffensysteme nur unscharfe Attrappen waren. Selbst so sahen sie noch Furcht einflößend genug aus.
Von der Vitrine wanderte mein Blick zum Schreibtisch. Ein Schreibtischlampe mit Elbenlicht, eine Schreibunterlage, Tintenfass, Feder, Löschpapierstempel, Siegellack und Siegelstempel. Das waren also die Insignien eines Großindustriellen. Ich stand auf und quetschte mich in Boldins Drehstuhl. Die Schubladen seines Rollcontainers entpuppten sich als ebenso unergiebig, wie die Schubladen des Schreibtisches. Wo würde Boldin etwas Wichtiges, etwas extrem Wichtiges verstecken?
Als ich noch über diese Frage nachdachte, meinte ich etwas aus meinem Augenwinkel heraus funkeln zu sehen. Ich schaute in die Richtung, aus der ich das Funkeln zu sehen glaubte, doch stand dort nur die Vitrine mit Boldins Waffentechnik. Funkeln tat allerdings nichts. Die Modellattrappen der Tötungsprodukte waren schwarz, matt, oliv, grau oder metallisch und kalt.
»Hmm!«, knurrte ich und ging zur Vitrine. Bildete ich mir das nur ein, oder war da etwas? Ein Gefühl, eine Art Aura, schien von der Vitrine auszugehen.
»Was ist?«, fragte Suman, der gerade den Raum betrat, während ich vor der Vitrine stand und sie anstarrte.
»Ich weiß nicht genau. Du wirst mich sicherlich für verrückt halten, aber ich habe das Gefühl, als wenn von Boldins Waffentechnik eine Aura ausgeht. Ich kann es nicht anders beschreiben, aber hier ist etwas… merkwürdig.«
»Nein, ich halte dich nicht für verrückt, ganz im Gegenteil. Die Waffensysteme Boldins nutzen schwarze Magie.«
»Aber das sind doch nur Attrappen in der Vitrine… oder?«, sah ich Suman verunsichert an. Jener kam näher und schaute genau hin.
»Nein, deine vermeintlichen Muster sind alles andere als Attrappen, es sind echte Waffen und absolut tödlich.«
Nachdenklich und voller Abscheu starrte ich die Muster an. Mir kam eine Idee. Wenn ich etwas besonders wertvolles verstecken wollte, was wäre wohl ein besseres Versteck, als in innerhalb einer todbringenden Waffe? Als ich Suman meine Überlegung mitteilte, stimmte mir dieser sofort zu. Blieb also die Frage zu klären, welche der Waffen die richtige war. Eine heikle Entscheidung, denn Boldin Dynamics war dafür berüchtigt, die mit Abstand grausamsten Produkte zur Tötung von Lebewesen zu produzieren. Was in Boldins Vitrine lag, waren keine Gewehre oder Pistolen. Es war form gewordene Perversion menschlichen und zwergischen Denkens, wie Antipersonenminen, Spezialsprengköpfe von Mörsern und andere Nettigkeiten, von denen ich gar nicht wissen wollte, auf welche kranke und unmenschliche Art sie ihre Opfer vom Leben zum Tode beförderten.
»Was sagt dein Gefühl?«, fragte Suman.
»Das stachelige Ding dort!«, meinte ich und deutete auf ein diskusförmiges Objekt mit filigranen Antennen.
»Scheiße! Ausgerechnet im Todesigel!«, stöhnte Suman und erläuterte mir, dass es sich um eine besonders perfide Form einer Antipersonenmine handelte. Wer das Pech hatte, ihr in die Falle zu gehen, war faktisch tot, allerdings nicht sofort. Die Mine explodiert nicht, sondern jagt ein Projektil in den Körper ihres Opfers. Dieses Projektil wandert dann im Körper bis zum Rückenmark und verbindet sich dort mit dem Nervensystem. Der einzige Zweck dieser Aktion ist es, dem Opfer unvorstellbare Schmerzen zu bereiten und zu verhindern, dass es sich weiterhin bewegen kann. Ein Soldat, der im Gefecht einer solchen Mine erliegt, war faktisch kampfunfähig. Damit aber nicht genug. Jeder Versuch, das Projektil zu entfernen, führt zu dessen sofortigen Explosion. Die Sprengkraft ist so hoch, dass selbst in 10 Meter Entfernung die Wirkung noch absolut tödlich ist. Um die Sache abzurunden, bringt das Projektil seine Opfer nach einem zufälligen bzw. programmierbaren Zeitraum, der zwischen einem und drei Tagen liegen kann, schließlich dann doch um. Natürlich geschieht dies auch besonders grausam. Das Projektil wandert in den Bauchraum des Opfers und beginnt dort langsam zu verbrennen, dabei wird es bis zu 1000 Grad heiß. Jeder Todesigel ist in der Lage 20 Projektile zu verschießen. Hat er alle verschossen, explodiert er.
Sumans Erzählung erweckte eine Erinnerung an einen Text, den ich während meiner Ausbildung gelesen hatte. Mich hatte die Abhandlung schon damals so vollkommen aus der Bahn geworfen, dass ich heulend zu Erogal gelaufen war. Schon zu jener Zeit verstand ich nicht, wie vernunftbegabte Wesen derart grausam sein konnten. Wie viel Verachtung muss man dem Leben entgegenbringen, solche Waffen entwickeln zu können? Bei dem Text handelte es sich um einen anonymen Augenzeugenbericht einer Schlacht, die unter dem Namen »Die lebenden Fackeln von Medina« in die Geschichtsbücher eingegangen war.
In ihm wurde vom Kampf zweier Heere berichtet. Eines der Heere drohte vollkommen aufgerieben zu werden. Ihr Heerführer war ein schwacher, unsicherer, aber dafür herrschsüchtiger und grausamer Herzog. Den Rat seiner Generäle in den Wind schlagend verlor er eine Schlacht nach der anderen. Es war nur noch eine Frage der Zeit und der Kampf wäre vollends gegen ihn entschieden worden, als jener Fürst entschied, die »Sterne der Vernichtung«, welche nichts anderes waren als Todesigel, einzusetzen. Die Generäle des Herzogs waren entsetzt und versuchten ihren Heerführer umzustimmen. Doch jener ließ sich nicht umstimmen. Zwei seiner Generäle weigerten sich und wurden als Verräter sofort hingerichtet. Ein anderer beging Selbstmord. Die Igel oder »Sterne der Vernichtung« wurden zwischen den Frontlinien verteilt. Der nächste Angriff des Gegners endete in einem Fiasko. Gut zwei drittel seiner Männer wurden Opfer der Minen. Vom Angriff im Morgengrauen bis tief in die Nacht waren über der Ebene von Mesdina die Schmerzschrei zu hören. Der Gegner war am Verzweifeln, doch kannte die Grausamkeit des Herzogs kein Ende. Er hatte die Projektile des Todesigels so programmiert, dass sie zum Ende hin ihre Opfer zwangen sich alle gleichzeitig zu erheben und aufzustehen. Für die Projektile war dies sehr leicht, da sie sich mit dem Rückenmark ihrer Opfer verbunden hatten und dadurch Kontrolle über deren Muskeln besaßen. Mitten in der Nacht begann der letzte Akt der Schlacht. Die Geschosse des Igels entzündeten sich alle gleichzeitig. Innerhalb weniger Minuten gingen ihre Opfer in Flammen auf. Sie wurden zu lebenden Fackeln. Die Gegner des Herzogs sahen, wie ihre Kameraden vor ihren Augen verbrannten. In jenen Momenten wurde ihre Herzen zu Stein. Sie wussten, dass sie keine Chance hatten, gegen einen derart kaltblütigen und erbarmungslosen Feind. Sie hatten verloren. Doch statt sich zu ergeben und auf die Gnade ihres Gegners zu hoffen, zogen sich es vor, sich in ihre eigenen Schwerter zu stürzen. Der grausame Heerführer hatte gewonnen, doch konnte er seinen Sieg nicht auskosten. In einem unachtsamen Moment stolperte er über einen seiner eigenen Todesigel. Seine eigene Grausamkeit, Lebensverachtung und Selbstüberschätzung wurden zu seinem Verhängnis. Niemand außer dem Heerführer kannte den Kode, mit dem man die Minen und ihre Projektile hätte deaktivieren können. Doch da jener seine Minen auf maximale Qual programmiert hatte, war er vor Schmerzen nicht mehr in der Lage, irgendjemandem den Kode mitzuteilen. Als die Untergebenen des Herzogs sahen, dass sie nichts mehr tun konnten, um ihn zu retten, verließen sie das Schlachtfeld und kehrten nie wieder zurück. In der nächsten Nacht brannte die letzte lebende Fackel auf dem Feld von Mesdina. Doch diesmal war niemand da, der ihren Feuerschein sah oder bedauerte.
»Wer denkt sich derartig perverse Waffen aus? Ich bedaure zwar, dass Boldin tot ist, aber der Typ war ein Monster, wenn er solche Ekel erregenden Mordwerkzeuge entwickelte, verkaufte und sogar stolz darauf war. Diese Mine ist mit Abstand das Scheußlichste, was ich jemals gesehen habe!«, kommentierte ich Sumans Beschreibung der Mine. Mir war von seinen Erklärungen übel geworden. Nur unter größter Kraftanstrengung konnte ich die Waffen überhaupt noch ansehen. Trotzdem, ich war mir sicher, dass Boldin etwas in ihr versteckt hatte. Es war ein perverser Witz, aber diese Monstermine war das perfekte Versteck. Welches halbwegs vernunftbegabte Wesen würde es wagen, in einer derartigen Abscheulichkeit nach etwas zu suchen?
Die Antwort lautete: Wir waren so verrückt! Ich sah Suman an: »Hast du eine Idee, wie wir das Ding öffnen können? Ich möchte nicht von einem Projektil geröstet werden.«
»Nur ungefähr. Wir müssen den Igel erst einmal aus der Vitrine heraus bekommen. Sie ist zu eng, als dass wir sicher an ihm arbeiten könnten.«
Damit standen wir aber vor einem Problem. Wie Suman richtig bemerkte, waren die Waffensystem keine Attrappen, sondern echt. Kleine rot schimmernde Kontrolllämpchen deuteten obendrein darauf hin, dass die Viecher sogar scharf und aktiviert waren. Die einzige Chance, die wir sahen, den Todesigel aus der Vitrine heraus zu bekommen bestand darin, sie mit dem Glasboden, auf der sie lag, heraus zu ziehen. Extrem vorsichtig öffnete ich die Glastür, die die Frontseite der Vitrine bildete. Kaum war dir Tür offen, vernahmen wir ein leises Klicken. Verschiedene Waffensysteme, hauptsächlich Minen, hatten sich in einen Modus höherer Alarmbereitschaft versetzt.
Vor unserem nächsten Schritt ging ich in die Hocke und betrachtete unseren Todesigel von unten. Mein Verdacht wurde bestätigt. Der Igel besaß an seiner Unterseite einen Auslöser. Wurde die Mine angehoben, verschoss sie ihre Projektile. Es blieb uns wirklich nur die Chance, den Glasboden mitsamt der Mine herauszuziehen. Vorsichtig war leicht gesagt. Wir befanden uns auf einem Schiff. Und Schiffe neigen zum Schaukeln, insbesondere auf offener See.
Auf meiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Eigentlich wollte ich den Fachboden von unten anheben, doch leider war dies aus Platzgründen nicht möglich. Unter dem Fach mit dem Todesigel lag eine weitere Mine, die ebenfalls sehr unfreundlich wirkte. Ihre Auslöserantennen ragten bis fast an die obere Glasscheibe heran. Meine Hand hätte unmöglich dazwischen gepasst. Es gab also nur eine Möglichkeit. Mit spitzen Fingern zog ich am gläsernen Fachboden, welcher auf vier kleinen Stiften, in jeder Ecke einer, auflag. Millimeter um Millimeter zog ich den Boden heraus, bis die hintere Kante der Scheibe nicht mehr auf ihren beiden Stiften auflag. Die Scheibe schwankte bedrohlich, als ich versuchte, die Balance mit mehr Druck auf die vordere Scheibenkante wieder herzustellen. Suman biss sich vor Schreck auf die Lippen und atmete mit einem lauten Zischen aus.
»Nichts passiert. Ich hab‘ sie!«, beruhigte ich meinen Freund, während mir der Angstschweiß die Stirn runter lief und auf den Boden tropfte. Ich zog weiter am Fachboden. Schließlich hatte ich ihn soweit raus gezogen, dass ich mit einer Hand unter die Scheibe greifen und sie vollständig aus der Vitrine herausheben konnte. Mit butterweichen Knien und einem Knoten im Magen balancierte ich den Fachboden samt Todesigel durch Boldins Arbeitszimmer und legte beides auf seinem Schreibtisch ab.
»Puh!«, jappste ich nach Luft, »Das hätten wir geschafft.«
Suman nickte und verschloss vorsichtshalber die Vitrine.
Das Licht der Istarilari
»Mächtige Zauberer aus einem Land jenseits der See? Wenn wir derartigen Mythen nicht systematisch bekämpft hätten, würden wir vermutlich immer noch daran glauben, unsere Welt sei eine Scheibe.«
P AULA S YLVESTRA II in ihrer Denkschrift Contra Superstitionis
Der Todesigel lag bedrohlich lauernd auf Boldins Schreibtisch. Die Idee für besseres Licht zu sorgen und Boldins Elbenlichter dichter an ihn heranzubringen, gaben wir sofort wieder auf. Sobald die Lichter auch nur in die Nähe der Mine kamen, begann diese bedrohlich zu summen und ihre rote Kontrollleuchte hell aufzuleuchten. Die Elbenlichter wiederum verloren in der Nähe der Mine ihre Strahlkraft und wurden matt und schummrig.
»Es ist die schwarze Magie in der Mine. Sie empfindet die Elbenmagie als Bedrohung.«
Statt der Elbenlichter besorgten wir uns daher mehrere ordinäre batteriebetriebene Handlampen, die wir um den Igel verteilten, um ihn ganz genau sehen zu können. Die Mine war, wie schon beschrieben, diskusförmig. Sie hatte ungefähr den Durchmesser eines Kuchentellers. Ihr unterer Teil war flacher als der obere, auf dem sich eine ganze Reihe von antennenartigen Gebilden befand.
»Soweit ich weiß, sind das die Auslöser. Berührst du nur eine der Antennen, und sei es auch nur ein leichtes Vorbeistreifen, feuert sie ein Projektil auf dich ab.«, erläuterte Suman und deutete auf die Antennen. Ich spürte, dass hier schwarze Magie im Spiel war. Die Fühler verströmten ein unangenehmes Gefühl. Die Härchen meiner Unterarme stellten sich auf und ich meinte, ein Ziehen und Zupfen zu spüren.
»Hey, wow!«, entfuhr es mir, als ich dem Todesigel etwas näher kam. Völlig überraschend fingen seine Antennen an, sich zu bewegen. Sie bogen und neigten sich genau in meine Richtung.
»Vorsicht, es fühlte deine Nähe,«, erläuterte Suman.
»Und wie entschärfen wir es?«, stellte ich die nahe liegenste Frage.
»Wir fragen jemanden, der sich damit auskennt.«, grinste mich Suman frech an.
Was er meinte, waren unsere Meisterbücher. Suman wusste, welcher Gildemeister die meisten Erfahrungen mit einem Todesigel besaß und uns erklären konnte, wie diese Mine zu entschärfen war. Er zückte sein Buch und baute die notwendige Verbindung auf. Wie man sich denken kann, war der Meister am anderen Ende mehr als bestürzt, als er von unserem Vorhaben erfuhr. Einen Todesigel entschärfen zu wollen sei, soweit man nicht über dessen Fernbedienung verfügte, glatter Selbstmord oder zumindest absoluter Wahnsinn. Fernbedienung? Was für eine Fernbedienung? Suman meinte das Kopfschütteln seines Gesprächspartners spüren zu können. Der Meister erklärte uns, dass Boldins Minen über Fernbedienungen verfügten, mit denen sie sich deaktivieren ließen. Schön zu wissen, aber wir hatten keine Fernbedienung. Ich durchsuchte nochmals den ganzen Raum, während der Gildemeister am anderen Ende des Buches Suman über alles Wissenswerte unterrichtete. Leider fand ich nichts, was auch nur ansatzweise einer Fernbedienung nahe kam. Wir mussten das Teil also von Hand entschärfen.
Wieder einmal überraschte mich Suman und warf nebenbei ein paar Fragen zu seiner Vergangenheit auf. Der knackige Junge griff in die Gesäßtasche seiner Hose. Das Lederetui, das er von dort hervorzauberte, enthielt einen vollständigen Satz Feinmechanikerwerkzeuge, die man vorwiegend zum Knacken von Schlössern verwendete. Aber zum Entschärfen dieser Mine sollten sie ebenfalls geeignet sein.
»Siehst du die kleine Schraube am unteren Rand?«, fragte mich Suman. Wir wollten mit der Entschärfung der Mine beginnen. Der Gildemeister, der Suman die genaue Vorgehensweise beschrieb, meinte, wie müssten zu zweit arbeiten, da bestimmte Handgriffe von zwei Seiten gleichzeitig ausgeführt werden mussten. Suman befand sich also auf der einen Seite der Mine, ich auf der anderen.
»Ich sehe die Schraube, auf ihr ist noch ein Pfeil eingeprägt, der auf einen Strich bei 12 Uhr zeigt.«, antworte ich auf Sumans Frage.
»Gut! Ich habe eine ähnliche Schraube auf meiner Seite. Wir müssen beide Schrauben dreimal um 360 Grad gegen den Uhrzeigersinn drehen und anschließend die Schraube im Uhrzeigersinn auf 9 Uhr zurückdrehen. Da sollte ebenfalls ein Strich sein.«
»Ja, ist.«, bestätigte ich.
»Ok!«, seufzte Suman und setzte fort: »Wir haben genau 15 Sekunden Zeit, sonst löst die Mine eine Selbstsprengung aus. Achte auf die Antennen, sie versuchen nach dir zu tasten. Du musst von unten arbeiten. Wir machen das so. Wir setzen den Schraubenzieher an. Dann auf 3-2-1-Los! beginnen wir zu drehen. Bist du bereit?«
»Nein, ich habe die Hosen schon jetzt gestrichen voll. Aber lass uns weitermachen!« Der Angstschweiß lief mir wieder in Strömen über die Stirn. Ich spürte sogar, wie mir der Schweiß den Rücken runter lief.
»Ok, Schraubenzieher ansetzen!«, befahl Suman. Ich gehorchte und meldete: »Angesetzt!«
Suman warf mir einen lieben Blick zu und meinte sanft: »Segato, ich habe mindestens so viel Angst wie du. Ich will das hier nicht machen, aber wir müssen es tun.«
»Ich weiß…«
»Bereit?«
»Bereit!«
»Gut, auf mein Kommando. Achtung. 3… 2 … 1 … Los!«
Ich drehte die Schraube und versuchte dabei nicht an die Zeit zu denken. Eine Umdrehung, absetzen, neu ansetzen, eine weitere Umdrehung. Ich atmete schwer. Die Antennen der Mine bewegten sich. Sie suchten, sie tasteten, sie fühlten, dass ein Opfer in der Nähe war. Die dritte Umdrehung war geschafft. Ich wich einer Antenne aus, die mir gefährlich kommen wollte. Und schließlich die eine dreiviertel Drehung zurück. Ich hatte meine Seite geschafft und atmete aus. Im gleichen Moment war Suman ebenfalls fertig. Die Mine klickte, es gab ein Surren und die Mine öffnete sich.
Ich hatte schon gesagt, dass der Todesigel diskusförmig war. Eigentlich waren es zwei flache aufeinander gesetzte Kegel, wobei der Rand gut einen Zentimeter breit war. Hier befanden sich auch die Schrauben. Nach dem ersten Schritt unseres Entschärfungsversuchs hob sich der obere vom unteren Kegel. Der Rand bestand in Wirklichkeit aus zwei Zahnkränzen, einer oben und einer unten, die perfekt ineinander griffen. Jetzt waren sie auseinander gefahren und gaben den Blick in das Innere der Mine frei. Wir schauten auf 20 scharfe Todesprojektile, die in einem unheilvoll fahlen, grünen Licht, das aus dem Kern der Mine kam, schimmerten.
»Ekelhaft, was?«, artikulierte Suman seine Abneigung.
»Und was jetzt?«, fragte ich.
»Bisher haben wir die Mine nur geöffnet. Jetzt müssen wir sie deaktivieren. Siehst du die Projektile?«
Und ob ich sie sah! 20 spitze Bolzen, alle etwa bleistiftdick und, wie es aussah, gut 4 Zentimeter lang. »Ja, ich seh‘ sie. Und sie sehen mich!«
»Schau mal auf deiner Seite. Bei dir müsste ein Geschoss eine Markierung im Form von 20 farbigen Ringen besitzen.«
Ich schaute mir die Projektile genau an und fand eine, die tatsächlich farbig markiert war. »Ja, hier!«, deutete ich auf ein Geschoss.
»Fass es nicht an.«, erklärte Suman. Ich gehorchte.
»Ok!«, meinte ich.
»Warte. Ich muss abzählen!«, und Suman zählte die Projektile. Die Deaktivierungssequenz war recht kompliziert und konnte nur von zwei Personen gleichzeitig ausgeführt werden. Es begann alles am Startprojektil. Dieses musste in eine bestimmte Richtung herausgedreht werden, aber erst, wenn jemand anderes das zweite Projektil in der Deaktivierungssequenz berührte. Danach wurde das zweite Projektil herausgedreht (andersrum), während das dritte berührt werden musste. Dies setzte sich bis zum zwanzigsten Projektil fort. Alle herausgedrehten und entfernten Geschosse waren sofort harmlos. Doch alle, die noch in der Mine waren, konnten jederzeit abgeschossen werden, sollte man nicht vorsichtig genug sein. Das Komplizierte war, dass die Reihenfolge der farbigen Ringe die Abfolge der Projektile bestimmte. Jedes besaß seine eigene Farbe. Das Startprojektil war nicht notwendigerweise mit dem farbig markierten Projektil identisch. Es war vielmehr so, dass das markierte der Startpunkt zum Abzählen war. Die geraden wurden gegen den Uhrzeigersinn und die ungraden im Uhrzeigersinn abgezählt. Man merkte eindeutig, dass es die Konstrukteure einem nicht einfach machen wollten, ihre teuflische Kreation zu entschärfen.
Suman zählte. Den Farbcode hatte ihm unser beratender Gildemeister mitgeteilt. Es gab zwar für verschiedene Baureihen unterschiedliche Kodes, aber die Baureihennummer war groß außen auf dem Waffensystem aufgemalt.
»Gut, versuchen wir unser Glück!«, meinte Suman und deutete auf das erste Projektil. Ich berührte es. Die Mine summte deutlich auf. Suman berührte das zweite Projektil und forderte mich auf, das erste gegen den Uhrzeigersinn heraus zu drehen. Das Geschoss löste sich schwergängig. Man wurde verleitet Kraft aufzuwenden und dabei unvorsichtig zu werden. Doch ich beherrschte mich und schraubte das erste Geschoss sicher heraus. Blieben noch 19 Stück übrig.
Minenentschärfung ist eine nervenaufreibende Sache. Der Todesigel schien zu wissen, dass wir versuchten, ihn zu entschärfen. Seine Antennen fingen an wild in der Gegend umher zu tasten. Wir mussten höllisch aufpassen, dass wir den Viechern nicht in die Quere kamen. Doch das war leichter gesagt als getan. Die Antennen schienen uns spüren zu können, denn sie bogen sich immer in unsere Richtung. Uns blieb nichts anderes übrig, als geduckt von unten zu arbeiten.
Ob die Mine es wollte oder nicht, ein Projektil nach dem anderem wurde von uns demontiert. Doch dann passierte es. In der Mine steckte nur noch ein einziges Geschoss, als die Yacht zu schlingern anfing. Man sollte keine Minen auf hoher See entschärfen. Das Schiff schwankte und die bereits entschärften Projektile drohten von Boldins Schreibtisch zu rollen. Wie gesagt, mit dem Rausdrehen waren sie entschärft und harmlos, trotzdem griff ich reflexartig, ohne nachzudenken, zu – und übersah eine Fühlerantenne.
Suman war schnell, extrem schnell. Noch während er »Nicht!« brüllte, sprang er zwischen mich und die Mine. Die wiederum tat das, wofür sie konstruiert war. Sie verschoss ihr letztes Projektil.
Die Zeit schien still zu stehen. Entsetzt sah ich, wie das kleine Geschoss fauchend durch die Luft flog. Es gab einem dumpfen, fast schmatzendes Geräusch als es ein Ziel fand und dort aufschlug. Suman entwich ein erstickender Schmerzensschrei. Kaum hatte das Projektil Körperkontakt hergestellt, schnellten seitlich Widerhaken und kleine Tentakel heraus, mit denen es sich an Suman festkrallte und ein Entfernen verhinderte. Gleichzeitig fing dieser tödliche Apparat an, sich in Sumans Haut hineinzubohren. Dass jener dabei unmenschliche Schmerzen empfand, lag eindeutig in der Absicht des Projektils.
Es dauerte nur zwei, höchstens drei, Sekunden, bis ich mich aus meiner schreckbedingten Starre löste und auf Suman zusprang. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um meinen Freund aufzufangen. Vor Schmerz hatten ihm seine Beine ihren Dienst versagt. Zitternd, mit Schaum vor dem Mund und einem vor Schmerz zur Fratze entstellten Gesicht fiel Suman in meine Arme. Sanft, obwohl er das nicht bemerkte, nicht bemerken konnte, ließ ich ihn zu Boden gleiten.
Das Todesprojektil war in Sumans linker Schulter eingedrungen. Außer einer kleinen kaum blutenden Wunde war davon allerdings nichts mehr zu sehen. Nur Sumans sich vor Schmerzen windender Körper zeigte deutlich, dass etwas nicht stimmte.
Ich packte meinen Freund mit beiden Händen und wollte ihn beruhigen, aber er schüttelte und verrenkte sich so sehr, dass es mir nicht gelang, ihn ruhig zu stellen. Panik keimte in mir auf. Sumans Gesicht, sein schaumiger Speichel, seine weit aufgerissenen tränenden Augen, vermittelten ein ziemlich deutliches Bild von der Agonie, die ihm das Projektil bereitete. Schlimmer noch, ich hatte den Eindruck, dass Suman mich erkannte. Das Bild des Schmerzes wurde für einen Moment von einer abgrundtiefen Traurigkeit überlagert. Ich rang nach Luft und wäre fast gestrauchelt, als mich die Erkenntnis mit voller Wucht traf: Suman war tot.
Nun, er war nicht physisch tot, aber faktisch war das nur noch eine Frage der Zeit. Suman hatte es mir deutlich genug erklärt und auch mein PDA-Implantat wusste keine anders lautenden Berichte zu vermelden: Von Projektil eines Todesigels getroffen zu werden, hieß tot zu sein. Es gab keine Rettung. Mir klangen immer noch die Worte in den Ohren: »Das Projektil quält sein Opfer eine Weile, um es schließlich von innen zu verbrennen. Jeder Versuch es zu entfernen, führt zu einer sofortigen Explosion, die sowohl das Opfer als auch denjenigen tötet, der versucht das Projektil zu entschärfen.«
Ich brach emotional und körperlich zusammen. Ich fiel auf Suman, klammerte mich an seinen in Agonie rebellierenden Körper. Ich hielt Suman fest, hielt mich an ihm fest und heulte wie ein Säugling. Suman, mein Suman, er durfte mich nicht verlassen. Warum hat er das Projektil abgefangen? Es war mein Fehler gewesen. Warum hat sich dieser liebe, süße Kerl für mich geopfert? Warum? Verdammt, warum?
»Weil… weil… ich dich… liebe!«
Vor Schreck sprang ich hoch. Gebrochen und von unvorstellbaren Schmerzen gequält, hatte Suman diese Worte geflüstert. Offenbar hatte ich meine Frage laut herausgebrüllt. Suman versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nur eine schiefe Grimasse.
»Warum?«, fragte ich ihn und sah ihn weinend an.
»Weil es richtig war.«, stöhnte er, »Weil ich dich liebe!«
Mehr konnte er nicht sagen. Das Projektil jagte eine Welle neuer Schmerzen durch seinen Körper, die ihn sofort zum Schweigen brachten. Dafür riss er die Augen so weit auf, dass ich Angst bekam, ihm würden die Augäpfel aus dem Schädel fliegen. Selbst sein Schmerzensschrei wurde nur zu einem dumpfen Gurgeln.
Ich ertrug es nicht. Mir wurde schlecht. Ich konnte Suman nicht leiden sehen. Ich wusste, dass ich ihn in einem Moment, da er mich am meisten brauchte, im Stich ließ, aber ich konnte nicht anders. Stolpernd rannte ich aus Boldins Arbeitszimmer. Ich rannte die Treppe zum Sonnendeck hoch und hechtete regelrecht zur Reling, um dort dem Gott des Meeres mein Frühstück zu opfern.
Ich weiß nicht, wie lange ich über der Reling hing und mir die Seele aus dem Leib kotzte. Irgendwann gab es nichts mehr, das ich noch auskotzen konnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich sank an der Reling hinab, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt und begann zu heulen. Ein Stockwerk tiefer lag mein Freund im Sterben. Mein Freund? Nein, das stimmte so nicht. Suman war mehr, viel mehr. Wir kannten uns erst wenige Tage, doch wusste ich, dass er viel, viel mehr war, als nur ein Freund oder Liebhaber. Er war mein Leben geworden. Er hatte mir gezeigt, was Liebe war.
Und dies sollte alles vorbei sein, bevor es wirklich begonnen hatte?
Ich griff nach der Reling, zog mich an ihr hoch. Mein Blick, verquollen von Tränen und der Anstrengung, die meine Kotzerei so mit sich gebrachte hatte, wanderte über das Meer. Vor uns, auf Kurs Nordnordwest fuhr die Yacht der Gilde. Ich sah den 1. Offizier auf der Brücke Anweisungen geben. Es schien so, als wenn alles seinen geregelten Weg nahm. Niemand hatte den Vorfall in Boldins Arbeitszimmer bemerkt und so würde es auch bleiben. Die vier Mitglieder unserer Mannschaft, die auf Boldins Yacht Dienst taten, hatten Anweisung, sich nur in den für die Fahrt notwendigen Bereichen aufzuhalten. Dies waren die Brücke und der Maschinenraum. Alle vier waren beschäftigt, ihnen war noch nicht einmal aufgefallen, dass ich auf Deck stand.
Erst jetzt bemerkte ich, dass es später Nachmittag geworden war. Im Westen versank ein glutroter Feuerball langsam im Meer. Glutrot? Was für ein zynisches Bild. In ein oder zwei Tagen würde Suman, mein Suman, von innen verbrennen und selbst zum Feuerball werden. Bitterkeit und Verzweiflung kehrten in mein Bewusstsein zurück. Was sollte ich tun? Konnte ich überhaupt etwas tun, außer bei meinem Liebsten zu bleiben? Bis zum bitteren Ende?
Ich starrte ins Nichts, denn außer dem Meer gab es nichts. Nur die Sonne am Horizont. Oder?
Im ersten Moment dachte ich, dass mir meine Augen einen Streich spielten. Vielleicht eine Träne im Auge, die auf eine verrückte Art das Licht brach und mir etwas vorgaukelte, was in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war. Ich rieb beide Augen trocken und schaute erneut, doch der Lichteffekt blieb. Es war eine Art Funkeln am fernen Horizont. Die Sonne war fast völlig im Meer versunken, so dass nur der oberste Rand zu sehen war. Doch über diesem glutroten Rand funkelte es in silberner Farbe. Es war kein Licht, wie ich es von der Sonne kannte, sondern ähnelte eher dem Licht des Mondes oder dem der Sterne. Mehr noch, dieses Funkeln kam auf mich zu, obwohl es nicht wirklich näher kam. So widersprüchlich meine Wahrnehmung auch war, es lässt sich nicht anders beschreiben. Eine glitzernde Aura aus silbernem Licht drang in mich ein, ohne mich wirklich berührt oder erreicht zu haben.
»Du kannst Ihn retten!«, fühlte ich eine lautlose Stimme. Obwohl keine wirkliche Stimme anwesend war. Es war mehr so, als wenn ein Gedanke in meinem Bewusstsein entstand, »Nutze dein Erbe! Mein Sohn, erwache!«
»Geht es ihnen nicht gut?«, eine besorgte Stimme riss mich aus… Ja woraus eigentlich? Ich zuckte zusammen und starrte verwirrte in das beunruhigte Gesicht eines Crewmitglieds.
»Was?«, fragte ich verwirrt.
»Geht es ihnen nicht gut?«, wiederholte der Seemann seine Frage, »Ich habe mir Sorgen gemacht. Sie standen an der Reling. Ich hatte sie angesprochen, aber Sie haben nicht reagiert, nur auf das Meer gestarrt und Worte in einer Sprache gesprochen, die ich nicht kenne. Sie sehen müde aus.«
Der Matrose hatte keine Ahnung, wie müde ich wirklich war. Ich nahm all meine Kraft zusammen und zwang mir ein freundliches Lächeln auf die Lippen: »Mir geht es gut. Ich war nur etwas frische Luft schnappen!«
Der Matrose nickte und ging seines Weges. Ich ging den meinen. Dass heißt ich ging nicht, ich rannte. Ich jagte zurück in Boldins Arbeitszimmer und wäre fast die Treppe herunter gestürzt, so eilig hatte ich es, zu Suman zurück zu kehren.
Da lag er zitternd, bleich und mit kaltem Schweiß auf der Stirn. Das Projektil hatte die Kontrolle über seine Nerven vollkommen übernommen und folterte ihn, wobei es ganze Arbeit leistete. Suman hatte seine Hände zu Fäusten geballt, seine Augen waren vorgequollen, sein ganzer Körper bebte vor Schmerz. Der arme Junge jappste nach Luft. Er atmete flach. Offenbar schien ihm jeder Atemzug Schmerzen zu bereiten.
Ich kniete mich hin, strich Suman liebevoll über Wangen und Stirn, nahm eine Hand in die meine. »Schatz, Liebster, ich bin zurück. Ich werde dich nicht verlassen. Ich bin hier.«
Suman reagierte. Ich wollte es kaum glauben, aber er reagierte: »Nein, Segato… Geh! Ich will nicht, dass du… dass du… auch… leidest. Ich… ich… liebe di… Du sollst leben!« Weiter kam er nicht, sondern bäumte sich vor Schmerzen auf. Das Projektil war offenbar nicht damit einverstanden, dass Suman mit mir sprach.
Hass! Heiß kalter, blanker Hass ergriff von mir Besitz. Hass auf Boldin Dynamics, Hass auf den Todesigel und Hass auf das Projektil in Sumans Körper. Aus diesem Hass wurde Wut, brennende, lodernde, infernalische Wut. Eine Wut, die ich nicht zu kontrollieren vermochte. Eine Wut, die meinen Körper in ähnlicher Weise ergriff, wie das tödliche Projektil Suman. Ich hielt immer noch Sumans Hand in meiner, aber etwas schien sich dabei zu verändern. Bildete ich mir das ein? Gaukelte meine Wut mir etwas vor? Ich glaubte tatsächlich zu sehen, wie mein Arm anfing zu strahlen. Es war das gleiche silberne Funkeln, das ich vor ein paar Minuten auf Deck glaubte gesehen zu haben.
Das Strahlen nahm zu. Von meinem Arm zu meiner Schulter, zu meinem Oberkörper. Schließlich schien es mir, als wenn ich die Quelle eines kalten Feuers war, das grau-silberne Flammen verströmte, als wären alle Sterne des Himmels hinab gestiegen und sich in mir vereinigt.
Ich sah zu Suman hinüber. Er starrte immer noch, doch schien er ruhiger, friedlicher zu sein. Sein ganzer Körper hatte sich beruhigt und machte nicht mehr den Eindruck, von Schmerzen gequält zu werden. Ich schaute Suman an. Etwas an seinem Aussehen hatte sich verändert. Er sah irgendwie transparent aus. Oder war es mein Sehvermögen, das sich verändert hatte? Ich wollte es nicht glauben, aber ich konnte in Suman hineinsehen. Muskeln, Knochen, Bänder, Nerven alles konnte ich sehen, sogar…
Ich sah das Projektil! Es hob sich deutlich von Suman ab. Sumans Körper zeichnete sich in ähnlichen Farben wie mein Strahlen ab: silbern, bläulich, strahlend und hell. Das Projektil hingegen war glühend und rot. Aber nicht von einem angenehmen wärmenden Rot, sondern von einem zerstörerischen bösartigen glutrot. Ich sah es und wusste, was es war: pure schwarze Magie.
Instinktiv griff ich nach dem Projektil, ohne daran zu denken, dass es sich in Sumans Körper befand und ich wohl unmöglich in Suman hineingreifen konnte. Ich irrte mich, ich konnte. Meine Hand tauchte ohne spürbaren Widerstand in Sumans Körper ein. Ohne darüber nachzudenken, was ich eigentlich tat, packte ich das Projektil mit meiner Hand. Es wehrte sich. Ich spürte, wie es in meiner Faust zappelte und mich angriff. Plötzlich sah ich die Beschwörung, die in ihm steckte. Es war ein mächtiger Zauber, von dem das Projektil angetrieben wurde. Die Worte des Hexenmeisters, der die Waffe hergestellt hatte, tönten in meinem Geist. Es waren Worte einer uralten, von vielen längst vergessenen Hexensprache. Sie waren mächtig und gewaltig. Es waren Worte des Schmerzes und der Vernichtung.
Ich sah auf meine Faust. Ich hatte den Willen des Projektils aus Sumans Körper herausgerissen und ihn dabei offenbar überhaupt nicht verletzt. Doch jetzt schien das Geschoss ein neues Ziel gefunden zu haben, mich! Zwischen den Fingern meiner Faust strahlte die Glut der schwarzen Magie hindurch. Sie griff mich an. Ich sah meine Faust, ich starrte auf sie und sprach Worte, die ich nicht kannte: »Liiioooliaaamaar! Liiioooulllaaamaar! Summmistaammaar!«
Ein gleißend greller Blitz flammte auf. Weiß und blau strahlte er auf. Ich verlor mein Bewusstsein.
Minas Rochsir
»Kaltes Wasser belebt den Geist… Und lässt den Schwanz schrumpfen«
Schild an einer Badestelle beim Wasserfall von M INAS R OCHSIR
»Segato?«
Zu sagen, ich fühlte mich leicht benommen, entspräche einer massiven Untertreibung. Ich hörte, wie mein Name gerufen wurde, hatte aber den Eindruck, dass hunderte Lagen Watte zwischen meinen Ohren und der Quelle der Stimme lagen. Mein Schädel brummte und meine Augen schmerzten, weswegen ich sie nicht nur geschlossen hielt, sondern so fest ich konnte zusammenkniff.
»Segato, hörst du mich?«
Jemand hatte ein paar Schichten Watte von meinen Ohren entfernt, möglich, dass ich auch einfach nur wieder zu mir kam. Ich fühlte mich, als hätte mich ein ausgewachsener Bulle überrannt. Jeder einzelne Knochen schmerzte. Unter lautem Stöhnen öffnete ich langsam meine Augen.
»Suman?«
Mein bejammernswertes Befinden war plötzlich zweitrangig. Vor meinen verquollenen und schmerzenden Augen tauchte das Gesicht meines Freundes auf und besser noch, das vollkommen schmerzfreie Gesicht meines Freundes. Ich konnte es nicht fassen. Was war geschehen? Vor lauter Freude wollte ich aufstehen und ihn umarmen, doch stellte ich schnell fest, dass mir dir Kraft dazu fehlte. Stattdessen sah ich mich um. Wir waren nicht mehr in Boldins Arbeitszimmer, sondern lagen im Bett unserer Kajüte auf der Yacht der Gilde.
»Hier, trink das!«, sagte Suman, hob meinen Kopf sanft an und flößte mir einen Trunk ein, der entfernt nach Zitronen schmeckte. Seine Wirkung setzte fast sofort ein. Neue Kraft durchströmte meinen Körper.
»Was ist eigentlich geschehen?«
Ich fand meine Frage nahe liegend. Suman hingegen schaute ein wenig ratlos aus.
»Ich kann dir zwar sagen, was ich erlebt und beobachtet habe, aber dass ich sagen könnte, was passiert ist, glaube ich nicht.«
Suman begann mit seinem Bericht an jener Stelle, als ihn das Projektil traf. Er meinte, dass er genau so wenig nachgedacht hatte, sich in die Flugbahn des Geschosses zu werfen, wie ich, als ich versuchte, die entschärften Projektile vom Herunterrollen zu bewahren. Was dann allerdings folgte, war mehr als unerfreulich. Bereits der Aufschlag des Projektils fühlte sich an, als wenn einem ein glühender Schürhaken ins Fleisch gebohrt würde. Als sich dann die Waffe ihren Weg zum Rückenmark bahnte, war sie dabei nicht sonderlich zimperlich. Doch war dies alles nichts im Vergleich zu dem, was sie tat, als sie sich mit dem Nervensystem verbunden hatte. Suman meinte, dass er es nicht für möglich gehalten hätte, dass derartige Schmerzen überhaupt möglich wären, geschweige denn, dass man sie überhaupt ertragen konnte. Ich glaubte ihm, denn ich sah die Spuren, die die Agonie in seinem Gesicht hinterlassen hatte. Hoffentlich nur in seinem Gesicht.
»Dieses teuflische Gerät spielte mit mir. Manchmal ließen die Schmerzen nach und ich konnte mich ein wenig erholen, doch darauf schien das Projektil nur zu warten um plötzlich mit doppelter Stärke zurück zu schlagen.«, erläuterte Suman mit zittriger Stimme, »Irgendwann verlor ich das Gefühl für meine Umgebung, ich sah, roch, schmeckte und hörte kaum noch etwas. Mein einzig verbliebener Sinn war Fühlen, und was ich fühlte war Schmerz.«
Der Trunk hatte mir geholfen und ich konnte mich in unserem Bett etwas aufrichten. Ich streckte meine Arme aus. Suman verstand und kam zu mir. Ich zog ihn zu mir heran, in meine Arme. Sumans Kopf kam auf meiner Brust zu liegen und er fing an zu weinen und zu zittern. Ich nahm ihn fest in meine Arme, strich ihm durch seine Haare und küsste seinen Nacken. Eine Weile sagte keiner von uns etwas, sondern wir gaben uns gegenseitig Kraft und die Zeit sich zu erholen. Wovon auch immer.
»Plötzlich passierte etwas.«, begann Suman seinen Bericht nach einer Weile fortzusetzen, »Ich konnte kaum noch etwas sehen. Ich war nicht blind, aber meine Wahrnehmung war verschwommen und unscharf. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber ich hatte mit einem Mal den Eindruck, als wenn ich noch etwas anderes, außer den Schmerzen, fühlen könnte. Und dann war da mit einem Mal dieses silberne Schimmern. Wie gesagt, ich konnte nichts sehen, nur Schatten, mehr oder weniger helle Flecken und dieses silberne Schimmern. Zuerst dachte ich noch, dass es wieder ein Spiel dieses verfluchten Projektils war, um mich zu brechen und in die totale Verzweifelung zu treiben, doch dann spürte ich plötzlich eine Präsenz. Ich hatte das Gefühl, dass du in mir wärst.«
»Ähm, wie jetzt?«, ich verschluckte mich und lief rot an.
»Nein, nicht was du wieder denkst. Nicht mit deinem Schwanz!«, kicherte Suman, »Ich fühlte dich, deine Liebe, deinen Geist, dein ganzes Wesen. Es war so, als wenn mein ganzer Körper damit überflutet würde. Während ich noch versuchte zu verstehen, was passierte, passierte etwas anderes. Es gab einen grellen, regelrecht gleißenden Blitz. Für einen Moment wurden die Schmerzen unvorstellbar, dass ich dachte, mein Herz, meine Lungen, mein Brustkorb würde bersten. Doch während ich das noch dachte, war von einer Sekunde zur nächsten alles vorbei. Die Schmerzen waren verschwunden, einfach weg! Ich wagte kaum, mich zu bewegen, weil ich fürchtete, sie würden zurückkehren. Aber das taten sie nicht. Langsam kehrten meine Sinne zurück. Ich glaube, ich bin bestimmt eine Stunde einfach nur da gelegen und mich erholt.«
Ich hielt Suman immer noch in meinen Armen. Jener kuschelte sich fester an mich, wandte mir sein Gesicht zu und küsste mich.
»Erst dann bemerkte ich, dass du besinnungslos neben mir lagst. Im ersten Moment befürchtete ich, dass dich jetzt das Projektil erwischt hätte. Ich stellte dann aber recht schnell fest, dass du einfach nur komplett erschöpft warst. Ich habe dann Hilfe geholt und wir haben dich in unsere Kajüte verfrachtet.«
»Wie lange war ich weg?«, ich erinnerte mich, dass es später Nachmittag war und schon dunkel wurde, als ich zu Suman zurückkehrte.
»Gut achtzehn Stunden. Weißt du, was eigentlich passiert ist?«
Ich zuckte mit meinen Schultern und schilderte Suman, an was ich mich erinnern konnte. Ich hatte nicht den Eindruck, dass irgendetwas davon auch nur ansatzweise Sinn machte, aber Suman sah das anders.
»Du hast mit dem Projektil gekämpft. Es war ein magischer Kampf. Wenn du mich fragst, war es die Magie der Istarilari gegen schwarze Hexenkunst. Ich habe Erogal kontaktiert. Er meint, dein Erbe könnte erwacht sein.«
Mein Erbe? Ich hatte es fast vergessen. Auf jeden Fall hatte ich es verdrängt. Erogal meinte, meinte Vater wäre nicht irgendein beliebiger Freier meiner Mutter gewesen, sondern ein direkter Nachkomme der Istarilari, weisen und guten Zauberern, die gegen die Mächte der Finsternis und des Bösen gekämpft hätten. Die Istarilari hatten unsere Welt schon vor mehreren tausend Jahren verlassen, aber ihre Nachkommen wären unter uns und ich wäre einer von ihnen. Es hieß, dass in uns ein magisches Erbe schliefe, welches erwachen würde, sobald die Zeit dafür reif war. Ich hielt Erogals Geschichte eher für einen Mythos, als für Realität, insbesondere was meine Person betraf. Wenn ich allerdings daran dachte, wie ich mit dem Projektil des Todesigels kämpfte, dann war ich mir nicht mehr ganz so sicher, dass alles nur Mythos und Legende war.
»Was ist mit dem Projektil?«, Sumans Leben war mir deutlich wichtiger, als irgend ein magischer Zirkus.
»Es steckt immer noch in meinem Körper.«, erläuterte Suman, »Es scheint inaktiv zu sein. Erogal meint, wir sollten versuchen es im Gildehaus von Minas Rochsir entfernen zu lassen. Schließlich befindet sich noch eine ganze Menge konventioneller Sprengstoff darin und es könnte auch sein, dass es noch einen Zündmechanismus gibt, der einspringt, wenn die schwarze Magie versagt. Aber ich habe noch eine Überraschung für dich!«
Suman grinste wie ein Honigkuchenpferd. Ich fragte nur: »Was?«
»Dein Idee den Todesigel zu untersuchen, war ein Volltreffer. Schau mal, was im Inneren des Igels versteckt war.«
Suman reichte mir einen Quader aus einem kristallinen Material. Der Quader war glasklar und absolut glatt. In seinem Inneren war eine Kapsel oder Phiole eingebettet, in der sich eine rote dickflüssige Substanz befand. Ich nahm den Quader in die Hand und schüttelte ihn leicht.
»Wow!«, entfuhr mir ein Ausruf des Erstaunens. Die viskose Flüssigkeit reagierte auf das Schütteln. An den Stellen, an denen die Bewegung die Oberflächenspannung zerriss, drangen helle, goldfarbene Lichtstrahlen aus der Flüssigkeit heraus. Hielt ich sie ruhig, floss sie wieder zusammen und das Strahlen verschwand.
»Was ist das?«, fragte ich aufgeregt.
»Eine wirklich gute Frage. Ich weiß es nicht. Erogal weiß es auch nicht. Das einzige, was wir wissen, ist folgendes. Der Quader ist ein magischer Siegelblock. Einer der kompliziertesten und geheimsten Erdzauber der Zwerge. Ein Objekt, das in einen magischen Siegelblock eingeschlossen wird, ist bis in alle Ewigkeiten geschützt. Du kannst ihn nicht zerstören, ohne, dass du auch das Objekt darin zerstörst. Und selbst das wird dir mit normalen Mitteln kaum gelingen. Vielleicht könnte das vereinigte Feuer dreier Drachen den Block verbrennen, aber das hat noch niemand probiert. Diese rote Flüssigkeit im Inneren des Blocks, muss sehr, sehr wertvoll sein. Aber was es ist, wer weiß?«
Ein Siegelblock in einem Todesigel? Boldin hatte einen extrem hohen Aufwand betrieben, um die Flüssigkeit im Inneren des Blocks zu schützen. Was war sie? Wozu dient sie? Was konnte so wichtig sein, dass dafür drei Männer sterben mussten?
Minas Rochsir – Welch ein atemberaubender Anblick! Wir erreichten die Fjorde Nordgoldors im Morgengrauen.
Die letzten Tage unserer Seereise verliefen unspektakulär. Eine weitere Untersuchung von Boldins Yacht erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Suman trug nach wie vor das Projektil in seinem Körper, was mich ein wenig beunruhigte. Darauf angesprochen, zuckte er nur mit den Schultern. Was sollten wir auch tun? Solange das Projektil ruhig blieb, bestand keine akute Notwendigkeit zum Handeln. Auch mein istarilarisches Erbe, wenn es denn wirklich jenes Erbe war, schien wieder zu schlafen. Es gab keine silbernen Lichterscheinungen, keine magischen Wunderheilungen und glücklicherweise auch keine Besinnungslosigkeiten. Was blieb, waren ereignislose Tage auf See, die Suman und ich damit verbrachten, uns näher kennen zu lernen. Was gewisse körperliche Interaktionen auf jeden Fall mit einschloss.
Die Yacht der Gilde fuhr gemächlich in den Fjord, der zum Hafen von Minas Rochsir führte. Vom Meer bis zur Stadt waren es noch gut 3 Seemeilen. Der Fjord war eng und von hohen Bergen umgeben. Der Kapitän musste durch eine schmale Wasserstraße manövrieren, dabei galt es verschiedene Untiefen zu umgehen. Außerdem war der Weg nicht gerade, sondern vollführte etliche Biegungen und Kurven.
Und dann war es soweit. Nach der letzten Kurve öffnete sich der Fjord zu einem großen Becken von gut einer dreiviertel Meile Durchmesser. Am gegenüberliegenden Ende erblickten wir die Festung Minas Rochsir und waren erstaunt. Es sah aus, als wenn die Stadt oder Feste auf einer Wolke schwebte. Die Festungsmauer besaß einen Durchbruch, aus dem ein Fluss hervorsprang und als Wasserfall in das Becken stürzte. Die aufgewirbelte Gischt hüllte den unteren Teil des Felsens, auf dem die Stadt errichtet war, in eine Wolke aus Wasser und sorgte so für den Eindruck, dass Minas Rochsir über der See schweben würde.
Ganz langsam glitt die Yacht zum Anleger. Da der enge Fjord großen Schiffen den Zugang unmöglich machte, gab es nur eine Marina, einen Yachthafen. Kaum war unser Schiff längsseits der Kaimauer aufgelaufen, flogen bereits die Ankertaue. Die Crew der Marina stand bereit, fing die Seile auf und vertäute die Yacht. Wenige Minuten später legte auch Boldins Yacht an.
Noch bevor irgendjemand die Yacht verlassen konnte, kam der königliche Hafenmeister an Bord. Andere Städte besaßen einen Bürgermeister, in Minas Rochsir gab es den Hafenmeister, der eher so etwas wie ein Gouverneur war. Er war oberster Richter, Repräsentant des Königs und Verwalter der Feste in einer Person. Ohne seine Zustimmung würde niemand den Boden Goldors betreten können.
Bereits der Blick, den ich auf seine Exzellenz, Zacharias von Rochsinasul IV, werfen konnte, erzählte eine Menge über den königlichen Hafenmeister. Er war eindeutig ein Mann, der sich seiner Machtfülle bewusst war und dies seine Umwelt auch regelmäßig spüren ließ. Sein erstes Opfer war unser Skipper.
»Heimathafen und -land, Ausgangshafen und -land?«
Der Hafenmeister sparte sich alle Höflichkeitsfloskeln und kam gleich auf den Punkt. Dabei war zumindest die erste Frage reine Machtdemonstration. Natürlich kannte der Hafenmeister die Gildeyacht genau.
»Minas Rochsir, Goldor. Xengabad, Harrasland.«, antwortete unser Kapitän wahrheitsgemäß.
Der Hafenmeister hob als Form der Missbilligung seine rechte Augenbraue und musterte erst den Skipper dann uns. »Harrasland…«, diesen Namen sprach er aus, als wenn er ekligen Schleim aus seinem Rachen hoch rotzen wollte.
»Dies ist ein Schiff der Gilde.«, entgegnete unser Kapitän gelassen.
Erneut wurde eine Augenbraue gehoben: »Wer spricht für die Gilde?«
Ein Finger wurde auf meine Person gerichtet: »Der stellvertretende Sekretär des Präfekten von Crossar, Gildebruder Segato G’Narn.«
Der königliche Hafenmeister kam gemessenen Schrittes auf mich zu und baute sich vor mir auf: »Sie! Aus welchem Grund besuchen Sie Minas Rochsir?«
»Euer Exzellenz!«, bauchpinselte ich sein Ego, »Wie Sie sicher bereits an der Kennung der Yacht erkannt haben, handelt es sich bei unserer Reise zum einen um die Rückführung der Yacht in ihren Heimathafen. Weiterhin wurde ich selbst in das Gildehaus von Minas Rochsir berufen. Ich muss sie weiterhin darüber unterrichten, dass wir auf unserer Reise jener Yacht«, ich deutete auf Boldins Yacht, »treibend und führerlos begegnet sind. An Bord wurde ein schweres Verbrechen verübt, über dessen Details ich nicht in der Öffentlichkeit sprechen möchte. Wir sahen es als unsere seemännische Pflicht an, das Boot zu bergen.«
Seine Exzellenz, der Hafenmeister von Minas Rochsir, kniff seine Augen zusammen und musterte mich scharf und auch ein wenig abschätzend. Es war überdeutlich sichtbar, dass er verunsichert war. Nach einer etwas längeren Pause, in der sich der Hafenmeister vorsichtig umsah, als würde er befürchten beobachtet zu werden, sprach er mich in einem völlig veränderten und sehr jovialen Tonfall an.
»Wären Sie so freundlich, Bruder, ähm… Segato, mich in mein Büro zu begleiten? Ich befürchte, wir werden ein wenig Papierkram zu bewältigen haben.«
Von einer Sekunde zur anderen war Zacharias von Rochsinasul IV wesentlich umgänglicher geworden. Er zeigte mir sogar den Weg und ließ uns, Suman folgte mir so unauffällig wie ein Schatten, sogar den Vorrang. Mein Freund und Mitbruder wurde, wie selbstverständlich, als mein persönlicher Assistent betrachtet. Er trug sogar eine meiner Satteltaschen, in denen sich unsere persönlichen Unterlagen, sowie der Datenkristall und der Siegelblock befanden. Jeder schien zu denken, er wäre mein Diener, was auch nicht ganz unbeabsichtigt war.
Das Büro des königlichen Hafenmeisters war nicht sonderlich groß, dafür aber erlesen eingerichtet. Ein schwerer nicht überdimensionierter Schreibtisch aus dunklem, edlem Holz und mit filigranen Intarsien verziert, bildete den Mittelpunkt des Raums. Hinter dem Schreibtisch befand sich ein passender mit burgunderrotem Leder bezogener Stuhl, ein Flaggenständer mit den Flaggen des Königreiches und der der Feste Minas Rochsirs, sowie ein Bild des Königs als oberstem Souverän des Landes. Vor dem Schreibtisch standen zwei Besucherstühle. Dass man auf ihnen wesentlich unbequemer saß als im großen Bürostuhl des Hafenmeisters war absolut beabsichtigt. Es machte die Hierarchie zwischen Hafenmeister und Besucher deutlich. Während mir ein Stuhl angeboten wurde, blieb Suman abseits und schweigend stehen. Zacharias von Rochsinasul IV betrachtete ihn nicht weiter.
»Dann legen sie mal los.«, forderte mich der Repräsentant des Königs auf, meine Geschichte zu erzählen. Ich gehorchte und blieb möglichst dicht an der Wahrheit. Ich erzählte, dass ich aus Crossar kam und auf dem Weg zum Gildehaus von Minas Rochsir sei. Ich wäre eigentlich auf dem Landwege unterwegs gewesen, doch die Zuspitzung im Konflikt Goldors mit Harrasland ließ es als nicht ratsam erscheinen an jener Route festzuhalten. In Xengabad bot sich unerwartet die Möglichkeit, auf dem Seeweg nach Minas Rochsir zu gelangen, da die Yacht des Gildehauses jener Stadt in ihren Heimathafen zurückkehren sollte. Während der Reise, die bis dahin ereignislos verlaufen war, kreuzte unser Kurs den einer treibenden Yacht. Wir setzten zu ihr über und entdeckten die Leichen des Eigners und seines Mitreisenden.
»Woher wussten Sie, dass es der Eigner war?«, fragte der Hafenmeister und bewies mit seiner Frage, dass er alles andere als dumm war.
»Weil ich beide Opfer kannte. Sie wurden mir im Gildehaus von Xengabad vorgestellt. Es handelte sich um den Industriellen Boldin, Eigentümer von B OLDIN D YNAMICS und um Michaelis Szwang. Beiden wurden die Kehlen aufgeschlitzt.«
Für eine Millisekunde verlor der Hafenmeister die Fassung. Die Nachricht vom Tode Boldins und Szwangs schien ihn zu schockieren.
»Können Sie mir die Koordinaten geben, an denen Sie die Yacht aufgebracht haben?«, sprang Zacharias IV zu einem anderem Thema.
Ich blickte zu Suman. Jener war in seiner Rolle als mein Diener vollkommen aufgegangen. Nur wir beide wussten, dass es wirklich nur einer Rolle war. Während ich mich mit dem Hafenmeister unterhielt, beobachtete und registrierte Suman jedes Detail. Den Raum, die Einrichtung, herumliegende Schriftstücke, die Körpersprache des Hafenmeisters und, und, und.
Suman nannte, ganz mein Sekretär und Kofferträger, die Koordinaten, an denen wir Boldins Yacht vorgefunden hatten. Der Hafenmeister verzog sein Gesicht, als wenn ihm eine Zahnfüllung heraus gebrochen wäre.
»Der Ort liegt in internationalen Gewässern. Die Jurisdiktion seiner Hoheit des Königs greift dort nicht, so dass der Fall vor dem internationalen Seegerichtshof verhandelt werden muss. Nun, vermutlich handelt es sich sowieso nur um einen feigen Akt von Piraterie. Sie haben die Yacht nach Minas Rochsir gebracht, damit steht der Gilde formell ein Bergungsgeld zu.«
»Im Namen der Gilde teile ich dem Hafenmeister seiner Majestät des Königs von Goldor unseren Verzicht mit.«, sprach ich die hierfür übliche Formel. Wir, die Gilde, hegten kein Interesse an Finderlohn oder Anerkennung.
»Was hiermit notiert ist!«, nahm der Hafenmeister den Verzicht der Gilde zufrieden an und notierte etwas. Als er damit fertig war und von seinem Notizblock aufsah, hatte sein Gesicht einen völlig arglosen und unschuldigen Gesichtsausdruck angenommen. Die folgende Frage wurde dann auch prompt in einem ebenso unschuldigen, fast beiläufigen Tonfall ausgesprochen.
»Sie haben die Yacht nicht zufälligerweise durchsucht?«
Ich musste mich arg zusammenreißen. Diese Frage war mehr als verräterisch, nebenbei war sie auch gefährlich. Meine Antwort war daher eher vage.
»Was heißt durchsucht? Ein kleiner Trupp unserer Besatzung hatte zur treibenden Yacht übergesetzt und dabei die Leichen entdeckt. Natürlich haben wir daraufhin nach Spuren gesucht, durch die man auf die Täter Rückschließen könnte, aber leider nichts gefunden.«
»Ja, natürlich nicht.«, wischte der Hafenmeister seine eigene Frage wieder weg, »Damit hätte ich fürs Erste alle Informationen, dich ich für meinen Bericht brauche. Es könnte sein, dass ich später noch ein paar Fragen habe.«
»Sie können uns jederzeit im Gildehaus erreichen!«, sicherte ich dem königlichen Hafenmeister unsere Unterstützung zu. Jener bedankte sich bei mir und stellvertretend durch mich auch bei der Gilde und entließ uns. Genau in dem Moment, als wir die Tür seines Büros durchschreiten wollten, rief er uns nach: »Bruder Segato, ich habe ganz die Zoll- und Einreiseformalitäten vergessen. Wären Sie so nett und schenken mir noch einen Moment Ihrer Zeit?«
»Selbstverständlich.«, antwortete ich freundlich und kehrte mit Suman zurück. Wie übergaben dem Hafenmeister unsere Pässe samt unseres offiziellen Akkreditierungsschreibens als Mitglieder der Gilde.
»Ihr Ausweise sind in Ordnung. Dürfte ich noch einen kurzen Blick in Ihren Aktenkoffer werfen?«, fragte der Hafenmeister mit ausgewählter Höflichkeit.
Ich antwortete ebenso höflich wie gestelzt: »Ich bedaure außerordentlich, ihnen diesen Wunsch nicht erfüllen zu können. Die Aktentasche, die mein Sekretär trägt, ist offizielles Diplomatengepäck und ausschließlich für den Präfekten des Hauses von Minas Rochsir bestimmt. Ich selbst würde es nicht wagen, einen Blick hinein zu werfen.«
Der Hafenmeister lächelte nachsichtig und meinte: »Natürlich, entschuldigen Sie meine Bitte. Ich wollte nicht indiskret erscheinen. Auf Wiedersehen.«
Damit waren wir entlassen und konnten gehen. Unser nächstes Ziel war das Gildehaus. Es lag, wie die meisten Gildehäuser, im Zentrum der Stadt. Nun war aber Minas Rochsir nicht eine Stadt wie jede andere, sondern war aus einer Festung entstanden. Der Yachthafen lag außerhalb des Festungsrings. Ein schmaler Weg, kaum breiter als zwei Pferdewagen, führte hinauf zum Fjordtor. Das letzte Stück vor dem Tor war eine Brücke, die einen Teil des Fjords überspannte. Wir folgen den Weg und erreichten nach wenigen Minuten das Tor. Dort wurden unsere Pässe erneut kontrolliert, wir aber schließlich ohne Probleme in die Stadt gelassen.
Minas Rochsir war eng, sehr eng. Man merkte deutlich, dass die Stadt eine Festung war. Die Gassen und Gässchen waren nicht nur eng, sondern auch verwinkelt und gingen ständig bergauf und bergab. Man hatte die Stadt direkt in den Felsen gehauen und dabei ein ebenso verwirrendes, wie kunstvolles Labyrinth von Straßen, Wegen und Gassen geschaffen. Angreifer, die versuchten diese Festung einzunehmen, konnten leicht von den Verteidigern der Stadt getrennt, eingekesselt und abgeschossen werden.
Obwohl wir einen Plan der Stadt in unseren PDA-Implantaten besaßen, fiel uns die Orientierung in diesem Gassengewirr sehr schwer.
»Waren wir hier nicht eben schon einmal?«, fragte ich Suman.
Der schaute sich um und nickte: »Ja, wir sind von links gekommen. Vielleicht sollten wir jetzt da…«
Weiter kam er nicht. Aus einem Schatten sprang eine Figur hervor, schlug Suman mit seiner rechten Faust nieder, packte die von Suman getragene Satteltasche und sprang davon. Natürlich jagten wir, dass heißt primär ich, ihm sofort hinterher. Wir holten sogar etwas auf, bis wir zu einer belebten Kreuzung kamen. Suman, vom Schlag benommen, stolperte über einen Weidenkorb, den ein Händler etwas sehr ausladend auf der Straße platziert hatte. Ich war durch Suman für bestenfalls eine Sekunde abgelenkt, doch diese Sekunde reichte dem Dieb, um von der Bildfläche zu verschwinden. Ich rannte planlos von Straße zu Gasse zu Straße, doch der Räuber blieb verschwunden.
»Verdammt!«, fluchte ich wenig gildehaft und vergaß für einen Moment meine Selbstbeherrschung.
»Er ist weg, oder?«, fragte mich Suman, der sich von seinem Sturz hoch gerappelt hatte. An seiner Wange klebte Blut. Der Schlag hatte ihn oberhalb seines rechten Auges getroffen und hatte seine Braue aufplatzen lassen.
»Ja! Und mit ihm… verdammt noch mal!«, in meiner Satteltasche befanden sich unsere wichtigsten Fundstücke, der Datenkristall und der Siegelblock. Dass beides jetzt weg war, war eine totale Katastrophe.
»Du bist verletzt!«, in meiner Wut hatte ich Sumans Zustand übersehen. Besorgt sprang ich auf meinen Freund zu und half ihm auf die Beine. Mein Schatz quälte sich ein Lächeln ab und meinte: »Es geht!«
Wütend und niedergeschlagen schleppten wir uns ins Gildehaus. Man erwartete uns bereits. Der Kapitän, der sich in der Stadt auskannte und nicht erst durch die Gassen irren musste, hatte uns bereits beim Präfekten des Hauses angekündigt. Jener begrüßte uns entsprechend der Sitten und Riten der Gilde.
»Sie haben recht lange von der Marina bis zum Gildehaus gebraucht. Hätten Sie vorher angerufen, hätte ich ihnen einen Führer geschickt. Minas Rochsir ist sehr verwirrend für Ortsunkundige.«
»Und ein ausgesprochen gefährliches Pflaster!«, fügte ich hinzu, zeigt auf Suman und berichtete von unserem Überfall. Der Präfekt war entsetzt und benachrichtigte sofort die königliche Wache.
»Bruder Präfekt, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber könnten wir uns für eine Weile zurückziehen? Ich möchte mich um die Wunde meines Begleiters kümmern. Außerdem steckt uns der Schreck noch in den Knochen.«
Der Präfekt musterte Suman mit einem sehr abschätzenden und wenig freundlichen Blick, was mich maßlos ärgerte. Wie ertrug Suman es bloß, ständig als niederes Gesinde betrachtet zu werden, dessen Anwesenheit man einfach ignorierte?
»Aber selbstverständlich. Bruder, entschuldigt meine Gedankenlosigkeit! Natürlich möchtet Ihr euch erfrischen.«, sprachs und schickte nach einem Diener, der uns zu einem Gästezimmer brachte. Suman wurde nicht weiter beachtet. Auch hier schien man ihn nur als meinen Diener oder Sekretär anzusehen.
Flashback
»Die Stadt bin ich!«
Seine Exzellenz, der königliche Hafenmeister Minas Rochsirs, Z ACHARIAS VON R OCHSINASUL IV
»Wie geht es dir?«, fragte ich besorgt. Unser Hauptgepäck hatten Mitarbeiter des Gildehauses bereits in unser Zimmer gebracht. Die dienstbaren Geister, die dies getan hatten, waren vermutlich, wie der Kapitän, ortskundig und mussten sich nicht mit Räubern und Dieben rumschlagen. Ich war dankbar, dass es so war, denn in einer meiner Taschen befand sich ein kleines Erste Hilfe Paket mit dem ich Sumans Wunde desinfizieren und mit einem Pflaster bekleben konnte.
»Autsch!«, quiekte mein Freund leise auf. Das Desinfektionsmittel brannte ein wenig, doch Suman lächelte Tapfer: »Mir geht es gut.«, beantwortete er meine Frage, »Es brennt ein wenig, aber ich habe andere Qualen überstanden.«
Ich wusste sofort, was er meinte und sah auch einen Schatten über sein schönes Gesicht huschen. Ich konnte nicht anders, als Suman in den Arm zu nehmen und festzuhalten.
»Das hab ich schön verbockt, was? Ich hätte auf der Hut sein müssen! Dieser verdammte Hafenmeister. Hätte ich ein klein wenig schneller geschaltet und meinen Grips gebraucht, wären Datenkristall und Siegelblock jetzt nicht weg und, schlimmer noch, du nicht verletzt.«, flüsterte ich meine Frustration in Sumans Ohr.
Es war wirklich frustrierend. Ich konnte es nicht beweisen, aber dass der Hafenmeister hinter unserem Überfall steckte, stand für mich außerhalb jeglichen Zweifels.
»Der Hafenmeister?«, Sumans Frage zeigte mir, dass er, mal wieder, das gleiche dachte, wie ich. Ich nickte, Suman sprach weiter: »Er war nicht sonderlich überrascht, von Boldins und Szwangs Tod zu erfahren, oder?«
»Er wusste es. Er war nur erstaunt, dass wir die Yacht geborgen haben.«, nahm ich den Gedanken auf.
»Er vermutet, dass wir etwas gefunden haben.«, führte Suman meinen Gedanken fort.
»Und ließ uns deswegen ausrauben. Etwas Wichtiges würden wir natürlich als diplomatisches Gepäck bei uns führen. Jetzt hat er, was er wollte und mit Vaughans Datenkristall sogar noch etwas mehr.«
Suman grinste breit, extrabreit: »Nicht unbedingt…«
Suman befreite sich aus meiner Umarmung und begann seine Hose auszuziehen. Ich sah ihn sprachlos an. Zu sexuellen Handlungen war ich nicht unbedingt aufgelegt. Suman grinste diabolisch und deutete mit seinem Zeigefinger an sich herunter. Ich starrte auf seine Unterhose, die ein durchaus ansprechendes Päckchen beherbergte. Mein Freund schüttelte belustigt seinen Kopf und meinte: »Tiefer!«
»Nein! Du hast… Wow!«, mir verschlug es die Sprache. Suman hatte sich den Datenkristall und Siegelblock jeweils mit Klettbändern an seine Schienbeine gebunden.
»Ich hatte so eine Ahnung.«, meinte Suman und freute sich diebisch, mich und unseren Angreifer ausgetrickst zu haben.
»Du bist unglaublich!«
Ich schüttelte zwar meinen Kopf über soviel Dreistigkeit, war aber unendlich stolz auf meinen Freund. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, unsere Fundstücke an einem anderem Ort als in meiner Aktentasche zu lagern. Aber offensichtlich bildete ich mir auf unseren diplomatischen Status zu viel ein. Als wenn Suman meine Gedanken lesen konnte, meinte er.
»Das mit dem diplomatischen Status ist so eine Sache. Natürlich würde ein Diener des Königs, wie der Hafenmeister, niemals auf die Idee kommen, einen Vertreter der Gilde direkt anzugreifen. Dass heißt natürlich nicht, dass man dafür nicht einen Dieb oder Räuber verdingen könnte. Es ist ein Spiel. Jeder versucht auf seine Weise Informationen zu erlangen. Minas Rochsir ist nicht Xengabad und erst recht nicht Crossar. Crossar war und ist im Vergleich zu diesem Haus das wahre Paradies. In Crossar wird die Gilde geschätzt und geachtet. Ohne unseren verdeckten Einfluss wäre Crossar niemals überlebensfähig. Außerdem herrscht in unserer alten Heimatstadt ein sehr liberales Klima. Niemand interessiert sich wirklich dafür, was der Nachbar treibt, so lange man ihn nicht belästigt oder schädigt. Minas Rochsir ist völlig anders. Goldor II steht unter dem massiven Einfluss der Kirche. Die Gilde wird hier nur noch geduldet, aber auf keinem Fall geschätzt. Natürlich liegt das an dem wachsenden Einfluss des Klerus. Man beobachtet unsere Aktivitäten ganz genau. Du kannst davon ausgehen, dass jeder unserer Schritte beobachtet wird. Das Haus dürfte ständig von Agenten des Königs bewacht werden. Wenn du auch nur eine Sekunde aus dem Fenster schaust, wird dies unserer lieber Hafenmeister in weniger als einer Minute erfahren.«
Dass ich dermaßen naiv war, hätte ich nicht gedacht. Aber nichts von dem, was mir Suman auseinandersetzte, wäre mir auch nur ansatzweise in den Sinn gekommen. Ich will nicht verhehlen, dass mich Sumans Ausführungen demoralisierten und zweifeln ließen, ob ich überhaupt der richtige Mann für unsere Aufgabe war.
»Wenn ich dich richtig verstehe, sind wir im Gildehaus gefangen, oder?«
Da war wieder dieses freche, provozierende Grinsen: »Nicht unbedingt. Wenn Erogal sich nicht geirrt und es in den letzten Jahren keine größeren baulichen Veränderungen gegeben hat, müsste es eine Möglichkeit geben, das Gildehaus zu verlassen, ohne dass unser spezieller Freund davon etwas erfährt.«
»Erogal? Warum überrascht mich das nicht?«, wenn mir in den letzten Jahren eins klar geworden war, dann, dass man bei Erogal immer auf Überraschungen gefasst sein musste. Eine andere Überraschung, wenn auch keine erfreuliche, hielt Suman plötzlich für uns bereit. Von einer Sekunde zur nächsten wechselte sein Gesichtsausdruck von einem hinterhältigen Lächeln zu einer schmerzverzerrten Fratze.
In weniger als einer Sekunde war ich bei ihm und fing ihn auf, da ihm seine Beine den Dienst versagten. So schnell, wie der Anfall kam, so schnell war er auch wieder verschwunden. Suman lag stöhnend und nach Luft ringend in meinen Armen. Seine Augen waren glasig, die Adern an seinem Hals waren extrem angeschwollen und traten deutlich unter der Haut hervor. Es dauerte gut fünf Minuten, bis sich mein armer Freund von seinem Anfall halbwegs erholt hatte.
»Das Projektil?«, fragte ich im Flüsterton.
Suman nickte und meinte sehr leise: »Das Teufelsteil meinte wohl, sich in Erinnerung bringen zu müssen.«
»Wir sollten versuchen, es so schnell wir möglich entfernen zu lassen.«
Das sagte sich so leicht dahin, dabei war die Sache viel komplizierter. Das Gildehaus verfügte zwar durchaus über eine Krankenabteilung, in der auch Operationen vorgenommen werden konnten, doch wie sollten wir Suman operieren, ohne Aufsehen zu erregen? Mir wurde plötzlich klar, dass wir ein erhebliches Problem mit dem Projektil besaßen. Soweit ich, dass heißt meine Gildequellen wussten, hatte noch niemand eine Konfrontation mit einem Todesigel überlebt. Damit war Sumans Zustand eine Sensation. Wie sollte ich erklären, auf welche Weise ich das Projektil bezwungen hatte? Ich konnte ja wohl kaum etwas von meinem zweifelhaft magischen Erbe erzählen. Spätestens dann wäre jedem klar geworden, dass Suman und ich Meister der Gilde waren.
Suman sprach aus, was ich dachte: »Du weißt, dass das hier nicht geht. Wir könnten uns auch gleich >Gildemeister< auf die Stirn tätowieren lassen.«
Mein Freund hatte zwar Recht, aber das Problem blieb. So wie es aussah, hatte ich zwar die magische Komponente des Projektils bezwungen, die konventionelle schien aber weiterhin aktiv zu sein und begann Stress zu machen. Natürlich war das eine reine Vermutung, denn niemand wusste, wie sich das Projektil eines Todesigels verhielt, dessen magische Seele besiegt worden war.
»Wir sollten dich wenigstens untersuchen lassen. Wir müssen wissen, was in deinem Körper vorgeht.«
Suman sah mich entschuldigend an: »Ich glaube, dass es wandert.«
»Was?«, schrie ich auf, »Wie lange weißt du das? Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich wollte dich nicht beunruhigen.«, gestand Suman und schaute schuldig drein, »Seit gestern ist dieses verdammte Teil in Bewegung.«
Ich wusste, wie sich Suman fühlte. Er hatte Angst, Todesangst. Seine Augen verrieten ihn. Vor mir brauchte er sich nicht zu verstellen und tat es auch nicht. Er klammerte sich an mich und begann zu weinen: »Segato, ich will nicht sterben. Ich will mit dir zusammen sein! Dich lieben!«
»Ich weiß, Schatz, ich weiß!«
So schnell stirbt es sich nicht, insbesondere nicht Suman. Manchmal hat man auch einfach nur Glück. Während wir uns in unserem Zimmer erholten und etwas frisch machten, war der Präfekt des Gildehauses offenbar in sich gegangen. Als wir ihn später in seinem Arbeitszimmer aufsuchten, bestand er darauf, dass wir uns noch vor einem Gespräch mit ihm auf jedem Fall vom Hausarzt untersuchen lassen sollten. Schließlich hätte man uns überfallen. Widerwillig stimmten wir zu. Schließlich bestand die Gefahr, dass bei einem Scan Sumans Projektil entdeckt werden könnte.
Der Präfekt klingelt. Sekunden später erschien der Butler des Hauses und führte uns in die Krankenstation. Trotz der baulichen Enge Minas Rochsirs, von der auch das Gildehaus nicht verschont blieb, war das Gebäude überraschend geräumig. Später erfuhren wir, dass es nicht nur zwei ganze Häuserblöcke umfasste, sondern auch tief in den Fels, auf dem die Stadt errichtet wurde, hinab reichte. Zwischen den Blöcken gab es nicht nur eine zweistöckige, geschlossene Brücke sondern auch zwei Tunnelverbindungen.
Der Butler lieferte uns bei Doktor Meridus T’Saal ab. Statt aber, wie man normalerweise vermuten würde, die Tür diskret von außen zu schließen, schloss der Butler die Tür von innen. Überraschender noch, er schloss sie nicht nur, er verschloss sie und lehnte sich dagegen.
»Meridus, hier sind unsere beiden Spezialisten!«
Unser angeblicher Butler grinste von Ohr zu Ohr. Ich schaute von ihm zum Doktor und wieder zurück. Langsam dämmerte mir, was hier ablief. Es war so absolut typisch für die Gilde. Ein Butler? Ein Doktor? Natürlich, wer wäre besser geeignet unauffällig und diskret die Interessen der Gilde zu vertreten, ähnlich, wie ein gewisser Hotelboy im Gildehaus von Xengabad es getan hatte?
»Ich glaube, unsere beiden Freunde haben gerade erraten, wer wir sind.«, antwortete Meridus T’Saal auf die Bemerkung des Butlers und lächelte freundlich, »Willkommen in Minas Rochsir. Ich bin Meridus und jener steife und blasierte Kleiderständer, der sich Butler schimpft, ist Septimus Na’Thol.«
»Kleiderständer? Und sowas sagt ausgerechnet ein Schlachterlehrling, der sich Arzt schimpft. Ich würde meine Gliedmaßen genau abzählen, bevor ich mich in seine Hände begeben würde.«
Suman und ich mussten lachen. So wie sich unsere beiden Gildebrüder gegenseitig aufzogen, schienen sie sich sehr gut zu kennen.
»Der Raum ist gesichert. Wir können jetzt reden.«, meinte der Butler namens Septimus Na’Tohl nachdem er mit einem kleinen Datenpad einen in den Wänden der Krankenstation verborgenen Schutzfeldgenerator aktiviert hatte, »Wir heißen unsere Gildebrüder, die Meister Segato und Suman, in unserem goldenen Käfig willkommen. Ihr zwei habt für mächtigen Wirbel gesorgt. Zachis Leute kleben wie Kletten an unseren Leuten. Seit ihr mit Boldins Yacht im Schlepptau eingetrudelt seid, werden wir belauert, wie seit Jahren nicht mehr. Man hat den Eindruck, jemand hätte in ein Wespennest gestochen.«
»Zachi?«, fragte ich nach.
»Zacharias von Rochsinasul IV, unser allseits beliebter Hafenmeister und nebenberuflich Sektionschef des königlichen Geheimdienstes der westlichen Provinz.«, erläuterte der Butler und Meister der Gilde.
»Vielleicht sollten wir unserem jungen Freund erst einmal von seinem wenig freundlichen Mitbringsel befreien.«, Meridus, der Arzt, deutete auf Suman, »Wirklich erstaunlich, dass du überlebt hast. Das ist nicht persönlich gemeint.«
Während sich mein Freund in die Klauen des Doktors begab, nutzte ich die Zeit, um mir unsere beiden Gildebrüder genauer anzuschauen. Was natürlich sofort auffiel, war ihre sehr eigene Form von Humor. Was die äußeren Attribute betraf, so könnte man sich keinen größeren Kontrast vorstellen, als der zwischen Meridus und Septimus. Septimus, der Butler, war hager, sehnig und hoch aufgeschossen. Seine Gesichtszüge waren sehr aristokratisch. Wache, blitzende, grau-blassgrüne Augen lagen in tiefen Höhlen. Natürlich trug er eine Adlernase, während Ohren und Mund dagegen völlig normal proportioniert waren. In Anbetracht seines Alters, ich schätzte ihn auf Mitte 50, hatte sich seine Haar gut gehalten und war nur mäßig ergraut, was ihm, zusammen mit seinem sonstigen Erscheinungsbild, eben jene hochherrschaftliche Wirkung verlieh.
Typisch Gilde, war Septimus‘ Blasiertheit nichts weiter als eine Rolle, die er spielte. Wie Suman, war auch er die Unauffälligkeit in Person. Wer beachtet schon einen Bediensteten? Septimus Na’Tohl beherrschte seine Rolle perfekt, da war ich mir sicher. Wie ich später erfahren sollte, beherrschte er seine Rolle sogar absolut perfekt, denn er war niemand anderes, als Zacharias‘ Gegenspieler. Er war der Spionagechef der Gilde in der westlichen Provinz.
Meridus T’Saal hingegen, verkörperte wie erwähnt das genaue Gegenteil von Septimus. Der Arzt war klein, untersetzt, um nicht zu sagen dicklich und hatte ein rundes, offenes und fröhliches Gesicht, das ein klein wenig an das eines Schweins erinnerte. Knopfaugen, eine kleine Stupsnase, Miniöhrchen und eine rosafarbene Haut zwangen einem diesen Vergleich regelrecht auf. Dabei war er wirklich ein sympathischer Mann.
»Erogal hat uns zwar informiert, dass ihr das Projektil eines Todesigels entschärft habt. Was er vergessen hat zu erzählen ist, wie ihr das gemacht habt.«
»Ist das wichtig?«, fragte ich nach, obwohl ich die Antwort ahnte.
»Wenn wir das Teil aus deinem Liebling entfernen wollen, dann muss ich alles wissen. Absolut jedes Detail.«, entgegnete Meridus, wobei seine Stimme sowohl freundlich und mitfühlend war, als auch absolut ernst. Die Botschaft war, wenn auch unausgesprochen klar, Suman schwebte nach wie vor in Lebensgefahr.
»Aber könnt ihr das Projektil überhaupt entfernen? Fällt eine OP nicht auf? Verraten wir uns nicht?«, ich hatte nicht damit gerechnet, dass eine Operation im Gildehaus überhaupt im Bereich des Möglichen lag. Würde sie nicht unsere Deckung gefährden?
Septimus, der Butler, grinste, »Ich hab‘ dir doch gesagt, die beiden sind nicht dumm und denken mit. Nur, weil sie keine Haare am Sack haben, …«
»Moment! Ich bin kein Kind mehr! Ich habe sehr wohl Haare am Sack!«, entrüstete ich mich und erntete drei doppelt breite Grinser. Als ich merkte, dass ich mich von Septimus hatte aufziehen lassen, lief ich knall rot an. Ich hasste es, verarscht zu werden.
Meridus schien der Diplomat der beiden zu sein: »So unrecht hat unser junger Freund gar nicht. Eine OP ohne gewisse Vorkehrungen würde natürlich auffallen. Aber da fällt uns schon noch etwas ein. Fürs Erste möchte ich mir eigentlich nur ansehen, woran wir eigentlich sind. Deswegen muss ich auch alles wissen, was es über die Sache zu wissen gibt.«
Hilfe suchend schaute ich zu Suman. Mein Freund nickte zustimmend und ich begann zu erzählen. Wir berichteten, wie wir Boldins Yacht und schließlich Boldin fanden, und dass wir nicht glaubten, dass es ein Piratenüberfall war, sondern ein kaltblütiger Mord. Ich schilderte unsere Suche nach Spuren und von der Vermutung, dass etwas auf dem Schiff versteckt sein könnte, wodurch es dann zur Entschärfung des Todesigels kam.
»Ihr habt versucht den Todesigel zu entschärfen, nur weil du eine Ahnung hattest, in ihm könnte etwas versteckt worden sein?«, fragte mich der Butler mit hochgezogenen Augenbrauen, »Jungs, ihr seid wirklich etwas naiv.«
»Im Todesigel war etwas versteckt!«, konterte ich und berichtete vom Unfall mit dem Igel und wie ich Suman rettete.
»Ha, Septimus, du alter Skeptiker, damit hast du nicht gerechnet. Dieser junge Heißsporn ist wahrhaftig ein Nachfahre der Istarilari. Das Leiden seines Freundes, oder sollte ich eher sagen, seines Liebhabers, hat sein Erbe erweckt. Das macht Sinn. Das Projektil eines Todesigels besitzt einen eigenen Willen. Es ist beschworene, mit einem mächtigen Zauber belegte Materie. Nur ein anderer, stärkerer Zauber konnte dies brechen, ohne dass das Projektil detoniert.«
Während Meridus noch sprach, half er Suman auf die Liegefläche eines medizinischen Scansystem. Dort platziert, begannen kurze Zeit später rote und blaue Lichtfächer meinen Freund aus allen Raumachsen abzutasten.
»Na, dann wollen wir mal sehen, was wir da eigentlich haben.«, meinte Meridus und betätigte ein paar Kontrollen. Im gleichen Moment flammte Suman farbig auf, es bildeten sich Konturen, die sich von ihm ablösten. Schließlich schwebte über meinem Freund sein transparentes Körpermodell. Man konnte alles erkennen: Wirbelsäule, Rippen, Organe, Gelenke, Muskeln und eben auch das Projektil. Meridus änderte ein paar Einstellungen, Sumans Geisterbild flimmerte kurz, dann leuchtete das Geschoss deutlich hervorgehoben auf.
»Wie ich es vermutet habe.«, Meridus kratzte sich am Kopf, während er scharf auf Sumans Scanabbild sah, »Das Projektil hat sich tief in deinen Körper gebohrt und dort gut versteckt. Schwierig ranzukommen, aber nicht unmöglich. Aber Moment, lasst mich kurz etwas ausprobieren.«
Meridus gab dem Scanner ein paar neue Befehle, worauf sich die Darstellung änderte. Statt Knochen, Sehnen, Muskeln und Organen schwebte nur noch ein fast vollständig in einem intensiven blau strahlender Avatar über Suman. Fast vollständig, denn eine Stelle blieb dunkel, dort, wo das Projektil steckte.
»Was ihr jetzt seht, ist Sumans magisches Echobild. Alles was lebt, erzeugt ein Echo in der Welt der Magie, die uns umgibt und durchströmt. Manche Wesen, wie Elben, sind von Natur aus in beiden Welten verwurzelt und benötigen einen Scanner wie diesen nicht. Wir Menschen, nun, wir sind ganz Wesen der diesseitigen Welt und können die andere Ebene nicht sehen. Aber dafür habe ich ja dieses nette Gerät. Also, blau ist typisch für nichtmagische Wesen, ein Elb würde goldfarben erscheinen, während ein Ork in satten Rottönen vor sich hin glühen würde. Die Projektile eines Todesigels leuchten intensiv grün auf, aber dieser hier ist dunkel. Keine Magie. Segato, ich bin beeindruckt, du hast den Zauber, der auf dem Geschoss lag, vollständig vernichtet. Sehr gut, das macht die Sache wenigsten ein wenig einfacher. Das verdammte Ding in deinem Freund wird sich jedenfalls nur noch rein instinktiv wehren können. Wenn wir versuchen es rauszuholen müssen wir nur vermeiden, die elektromechanischen Sensoren auszulösen. Das ist zwar unmöglich, aber wir werden es trotzdem versuchen. Was meint ihr?«
Ich konnte Meridus Gesichtsausdruck nicht richtig deuten. Er wirkte sowohl extrem ernst, als auch ausgesprochen amüsiert. Statt ihm zu antworten, fragte ich lieber Suman: »Was meinst du? Willst du es wagen, das Ding entfernen zu lassen?«
Suman wirkte müde und niedergeschlagen: »Habe ich eine Alternative? Bleibt das Geschoss in meinem Körper, bringt es mich irgendwann um. Versuchen wir es zu entfernen, scheint immerhin noch eine gewisse Chance zu bestehen, dass ich überlebe. Lass es uns tun.«, und an Meridus gewandt, »Was passiert, wenn einer der Sensoren ausgelöst wird?«
Meridus zuckte mit seinen Schultern: »Nichts, worüber wir uns dann noch Sorgen machen müssten. Das Projektil detoniert.«
»Und ich bin tot, oder?«, seufzte Suman.
Meridus grinste und antwortete gut gelaunt: »Ja, genauso, wie ich, Septimus und dein Freund. Keiner, der in der Nähe ist, wird es überleben. Die Detonationswirkung dieser Projektile würde den halben Gebäudetrakt verwüsten, wäre die Krankenstation nicht von einem magischen Schutzschirm der Klasse 1 umgeben. Immerhin wird es so schnell gehen, dass wir es nicht einmal bemerken dürften. Noch weitere Fragen? Ach, das wird ein Spaß. Endlich mal wieder eine Herausforderung.«
Operation
»Operation gelungen, Patient tot.«
Graumeister M ERIDUS T’S AAL der Gilde
»Bist du sicher, dass du das machen willst?«
Suman war einfach wunderbar. Er sollte operiert werden, doch seine Sorge galt nicht seinem sondern meinem Wohlergehen. Mein Schatz lag bereits auf dem OP-Tisch und war von Septimus für den bevorstehenden Eingriff vorbereitet worden. In wenigen Minuten sollte es losgehen, doch Suman wollte mich bei seiner Operation nicht bei sich haben. Warum? Aus Angst, dass mir etwas passieren würde. Meridus hatte es bereits erklärt. Eine Detonation des Projektils würde uns von unseren irdischen Sorgen final entbinden. Suman meinte, es wäre unsinnig, wenn wir uns beide in Gefahr bringen würden. Er selbst müsse ja leider persönlich anwesend sein, aber ich sollte mich gefälligst an einen sicheren Ort begeben.
So schwer es mir fiel meinem Freund zu widersprechen, so entschlossen war ich, bei seiner OP nicht nur anwesend zu sein, sondern auch tatkräftig mitzuhelfen. Septimus und Meridus würden jede Hilfe dankbar annehmen. Da Sumans Operation ausgesprochen konspirativ mitten in der Nacht ablaufen sollte, bestand wenig Möglichkeit, für ausreichend Operationshelfer zu sorgen. Wir waren auf uns allein gestellt. Dass die Operation überhaupt statt fand, war das Ergebnis der Diagnose, die Meridus am Ende seiner Scans und Untersuchungen verkündete.
»Das Projektil zersetzt sich!«, mit diesen Worten begann sein Bericht, »Sumans letzter Anfall war ein Warnzeichen. Die Geschosse der Todesigel sind nicht darauf ausgelegt, in einem Körper lange Zeit zu verweilen. Ihre Aufgabe ist es, zu töten. Normalerweise steuert der Zauber den Ablauf. Nun, der Zauber wurde von Segato vernichtet, doch wie es aussieht, gibt es zusätzlich zum Zauber ein autonomes Selbstzerstörungssystem, das ein Projektil nachdem es verschossen wurde auch dann noch zur Detonation bringt, sollte der Zauber versagen. Eine wirklich bewundernswerte Ingenieurleistung, leider vollkommen abartig und Ekel erregend.«
»Wie lange noch?«, Suman stellte die ultimative Frage.
»Zwei Tage, höchstens drei. Haben wir das Teil bis dahin nicht aus dir raus geholt, bleibt von dir nicht mal mehr ein Fettfleck übrig.«, Meridus trockene Art die Dinge auf den Punkt zu bringen waren, mit Verlaub, gewöhnungsbedürftig. Doch es wäre falsch zu denken, er wäre herzlos und kalt. Für ihn stand es außerhalb jeglicher Diskussion auch nur einen Millimeter von Sumans Seite zu weichen und bis zur letzten Sekunde alles zu versuchen, das Teil aus meinem Freund heraus zu pulen. Dabei kannte er die Konsequenzen am Besten, sollten seine Bemühungen fruchtlos bleiben.
»Ich bleibe!«, beantwortete ich Sumans Frage. Er nickte müde, dabei versuchte er tapfer und stark zu wirken. Die Beruhigungsmittel in seinem Blut begannen zu wirken und machten ihn schläfrig. Er kämpfte dagegen an, doch Suman konnte mich nicht täuschen. Er hatte Angst, Todesangst, wie wir alle. Ich griff nach seiner Hand und ging in die Hocke, um auf gleicher Höhe mit Suman zu sein.
»Ich bleibe bei dir. Ich könnte jetzt behaupten, dass mich Meridus bei der OP braucht, aber wir beide wissen, dass ich zwei linke Hände habe. Also werde ich nicht sagen, dass mich Meridus braucht. Ich bleibe, denn ich gehöre zu dir.«
Neben all der Müdigkeit, flammte in Sumans Augen unendliche Dankbarkeit und Liebe auf.
»Ok, Showtime!«, verkündete Meridus gut gelaunt und wandte sich an Suman: »Ich werde jetzt die Narkose einleiten. Denk an was etwas Schönes, an Sex mit deinem Freund. Ach so, solltest du nicht wieder aufwachen, weißt du, dass es nicht geklappt hat.« Wie gesagt, Meridus Humor war extrem gewöhnungsbedürftig.
Es war 2:00 Uhr nachts als die OP begann. Vom Tag unserer Anreise mit der ersten Untersuchung bis zu jenem Zeitpunkt waren eineinhalb Tage vergangen. Meridus war nicht glücklich darüber, das Projektil nicht sofort entfernen zu können und damit eine weitere Zersetzung zulassen zu müssen, aber die Vorbereitungen benötigten einfach Zeit. Außerdem waren wir am ersten Abend vom Präfekten des Gildehauses zu einem offiziellen Empfang eingeladen worden. Es war ein formeller Begrüßungsakt, an dem sämtliche Honoratioren der Feste, vom Nuntius der Kirche bis zum königlichen Hafenmeister teilnahmen. Eine Absage wäre nicht nur unhöflich und sehr undiplomatisch gewesen, sondern hätte auch unerwünschte Fragen aufgeworfen.
Das Dinner war die reinste Qual. Während meine Gedanken und Sorgen bei Suman lagen, musste ich mit dem Präfekten und den anderen Würdenträgern geistreichen Smalltalk pflegen. Als stellvertretendem Sekretär wurde von mir ein gewisses Maß an Esprit und Eloquenz erwartet. Nun, vermutlich wird man mich als Enttäuschung in Erinnerung behalten haben.
Den Tag vor der OP verbrachten Suman und ich in unserem Zimmer. Wir behaupteten, wichtige Unterlagen durchgehen zu müssen. In Wirklichkeit lagen wir nur beieinander und unterhielten uns. Wir sprachen von unseren bisherigen Leben. Ich erzählte von meiner Laufbahn als Taschendieb, während Suman von seiner Jugend in einem Waisenheim berichtete. Das Thema der Operation war tabu.
Gegen 20:00 Uhr gingen wir ins Bett und schliefen. Suman kuschelte sich nicht, er klammerte sich an mich. Ich hielt ihn fest. Ich drückte ihn an mich, als er begann zu weinen. Selbst mir wurden die Augen feucht. In diesem Zustand schliefen wir ein und wurden erst gegen halb zwei von Septimus, dem Butler und Gildemeister, geweckt.
Suman schlief friedlich auf dem OP-Tisch. Die Narkose hatte ihre Wirkung voll entfaltet. Ich schaute fragend zu Meridus, der an einer medizinischen Konsole saß. Ich hielt immer noch Sumans Hand.
»Halte seine Hand. Es wird dir und ihm gut tun. Trotzdem möchte ich, dass du während der OP diese Anzeigen im Auge behältst. Es ist ganz einfach. Die Balkenanzeigen kennen drei Farben: grün heißt >Ok<, gelb heißt >na ja, nicht dolle< und rot heißt >Panik< Noch Fragen?«
Ich schüttelte meinen Kopf. Septimus, der gegenüber von Meridus und Suman stand nickte und meinte leise: »Es wird gut gehen. Meridus ist der Beste. Das darfst du ihm zwar nicht sagen, da er dann größenwahnsinnig wird, aber er ist es. Habe Vertrauen!«
»Gut, dann fangen wir mal an.«, verkündete Meridus und legte auch sofort los. Als erstes begann er Sumans Leistenbereich großflächig zu desinfizieren. Die Planung sah vor, sich von dort endoskopisch bis zum Projektil vorzuarbeiten. Jenes hatte sich auf Höher der Nieren hinter Sumans Rückgrat versteckt.
Niemand dürfte wundern, dass es das erste Mal war, dass ich an einer Operation teilnahm. Es war faszinierend zu sehen, wie Meridus moderne Medizintechnik, wie sie die Kirche der unifizierten Technokratie lehrte, mit magischen Heilmethoden und Beschwörungen kombinierte. Zum Desinfizieren benutzte Meridus ganz klassische antiseptische Sprays. Statt aber eines Laserskalpells für den notwendigen Einschnitt zu benutzten, setzte sich Meridus vor Suman hin, schloss kurz seine Augen, sammelte sich, um dann magische Worte in einer heiligen Sprache zu sprechen. Sumans Haut öffnete sich. Es war kein Schnitt, auch kein Riss in seiner Haut. Sie öffnete sich einfach und gab das darunter liegende Gewebe frei. Kein einziger Blutstropfen sickerte aus der Öffnung.
»Gut, ich führe jetzt das Endoskop ein.«, erklärte Meridus sachlich und konzentriert. Über Suman schwebte sein virtuelles Scannerecho, das so eingestellt war, dass das Endoskop und das Projektil durch Farbe und Helligkeit hervorgehoben waren. Millimeter um Millimeter schob sich der flexible Schlauch des medizinischen Instrumentes vor. Meridus wusste ganz genau, wie er das Gerät zu handhaben hatte, dass es harmonisch und minimal invasiv durch Sumans Körper wanderte. Während der ganzen Zeit hielt ich die Hand meines Freundes und beobachtete seine Vitalwerte. Bis hierhin war noch alles im grünen Bereich. Suman hielt sich gut.
Über eine halbe Stunde später hatte Meridus mit dem Endoskop den näheren Bereich um das Projektil erreicht. Auf dem Weg dorthin war er der Bahn gefolgt, die das Projektil genommen hatte, als es durch Sumans Körper gewandert war. Im Gegensatz zum Endoskop hatte das Projektil einen ordentlichen Schaden im Gewebe hinterlassen. Der Schaden war zwar nicht lebensbedrohlich, aber immer noch gravierend genug, dass spätere Folgeschäden nicht auszuschließen waren. Hier half eine weitere Beschwörung. Ein magisches Wort der Heilung und der Stärkung. Was danach folgte, war der heikelste Teil.
Meridus änderte die Darstellung des Scannerbildes. Er zoomte in die entscheidende Stelle hinein. Die transparente Projektion zeigte nicht mehr Sumans ganzen Körper, sondern nur noch das Zielgebiet, dies aber massiv vergrößert.
»Was zum Teufel ist das?«, fluchte Meridus und ließ mich vor Schreck zusammenzucken. Es waren die ersten Worte seit Beginn des Eingriffs.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich ängstlich nach.
Meridus stand von seinen Kontrollen auf und schaute sich das holographische Bild genau an. Er drehte es um alle möglichen Achsen, vergrößerte es und änderte die Farben, um bestimmte Bereiche oder Gewebearten hervor zu heben.
»Ich weiß nicht genau…«, antwortete unser Gildemeister und Chefchirurg, ohne dabei den Blick von Sumans Scannerbild abzuwenden, »Seht euch das an. Was haltet ihr davon?«
Ich schaute und sah, was Meridus meinte. Septimus sprach dann aus, was wir nun alle deutlich erkennen konnten: »Es sieht aus wie Fäden oder Tentakel, die vom Projektil ausgehen. Könnten das Auslöser sein?«
So einfach, wie wir gedacht hatten, würde die Entfernung des Projektils wohl doch nicht werden. Wenn wir ehrlich zu uns selbst waren, durften wir eigentlich nicht überrascht sein. Das Geschoss sollte ja auch gar nicht entfernt werden können.
»Ich glaube nicht, dass das Auslöser sind.«, entgegnete Meridus, nachdem er ein paar weitere Scans getätigt hatte, »Ich habe eher den Eindruck, dass diese Fäden hauchdünne Drähte sind, die sich mit dem umgebenden Gewebe verbunden habe. Seht, sehr viele der Drähte führen direkt zur Wirbelsäule, ins Rückenmark. Lasst mich mal etwas probieren.«
Ich weiß nicht, was Meridus tat, die Reaktion darauf setzte jedenfalls sofort ein. Sieben der 12 Vitalparameter auf meiner Anzeige spielten plötzlich verrückt. Entweder sackten sie in den Keller oder sprengten die Skala nach oben. Waren vorher zwölf Werte im grünen Bereich, hatte ich jetzt 6 rote und 4 gelbe Balken vor meiner Nase.
»Hör auf, du bringst ihn um!«, schrie ich panisch auf, dabei war diese Warnung völlig überflüssig. Suman bäumte sich auf seiner Liege auf. Ich bin zwar kein Mediziner, aber soviel ich wusste, war dies eigentlich nicht möglich. Eines der Bestandteile der Narkose war ein Muskel entspannendes Mittel.
»So also nicht!«, fauchte Meridus wütend und zog das Endoskop ein Stück zurück. Sofort normalisierten sich Sumans Werte.
»Du willst Krieg?«, keifte Meridus und hämmerte auf den Kontrollen seiner Apparate herum. Der Mediziner schrie seinen Gegner, das Projektil in Sumans Körper an, »Du willst dich mit mir anlegen? Das kannst du haben!«
Meridus agierte wie ein entfesselter Orkan. Mit einer Hand wurden der medizinischen Maschinerie neue Befehle gegeben, während mit der anderen Hand Runen der Heilung und Reinigung in die Luft gezeichnet wurden. Meridus musste ein mächtiger Magier sein. Ich erkannte seine Magie nach den Beschreibungen meiner Lehrbücher. Wenn ich mich nicht täuschte, musste er zum Order der HEILENDEN HÄNDE gehören. Die mit geschwungenen Bewegungen in die Luft gezeichneten Runen ließen glitzernde, glühende Leuchtspuren aus dem Nichts heraus auftauchen. Ich wusste, dass es dabei auf absolute Präzision ankam. Jede Geste, jede Kurve musste in exakt vorgegebener Zeit, Form und Reihenfolge in die Luft gezeichnet werden. Nur dann bildete sich das leuchtende Abbild der Rune aus und wanderte zum Patienten.
Ich weiß nicht, was Meridus tat, aber die Diagramme vor meiner Nase spielten verrückt. Kein Wert machte Sinn. Wenn ich glaubte, was die Anzeigen behaupteten, war Suman gleichzeitig tot, lebendig, real, ein Geist und überhaupt nicht vorhanden. Nur die Hand, die ich hielt, gab mir Gewissheit, dass Suman, mein Suman, immer noch bei uns war.
Der Kampf zwischen dem Projektil und Meridus wurde immer heftiger. Es mochte gut sein, dass ich die schwarze Magie besiegt hatte, doch schien die konventionelle Potenz des Geschosses alles andere als schwach zu sein. Es wehrte sich mit allen möglichen Mitteln und das hieß, es wehrte sich, in dem es Suman peinigte. Sobald Meridus eine Verbindung zwischen dem Projektil und Sumans Nervensystem ausgeschaltet hatte, aktivierte es sofort eine andere. Es war ein Katz und Maus Spiel, das Meridus‘ ganze Kraft forderte.
»Septimus! Ich brauch dich!«, rief Meridus und feuerte drei weitere Runen ab, »Du musst eine Gegenkraft aufbauen.«
Septimus handelte sofort. Im Gegensatz zu Meridus war er kein Magier, sondern ein weißer Hexenmeister, wie ich an seinen Beschwörungsformeln sofort erkannte. Septimus rief mächtige Elementargeister zu Hilfe. Zusammen mit Meridus‘ Runen fokussierte er seinen Zauber auf das Projektil. Suman bäumte sich auf. Die miteinander kämpfenden Kräfte zwangen meinen Freund in groteske Posen. Kalter Schweiß rann von seiner Stirn. Sein Mund bewegte sich und produzierte unverständliche Gegurgel. Selbst seine Augen waren weit aufgerissen und starrten in eine Welt, die wir nicht sehen konnten.
»Nein!«, schrie Meridus plötzlich auf. Von einer Sekunde zur nächsten herrschte Stille. Absolute Stille. Bedrohliche Stille. Ich hielt die Luft an und wagte nicht zu atmen, bis Meridus resigniert seinen Kopf schüttelte.
»Es geht nicht! Ich schaffe es nicht.«, kam es mit traurig-leiser Stimme von Meridus, »Jedes Mal, wenn ich meine, einen Weg gefunden zu haben, das Projektil entfernen und isolieren zu können, findet es einen Weg mich zu umgehen. Es ist nicht intelligent, es handelt rein instinktiv, aber das mit einer tödlichen Präzision. Ich weiß nicht, was ich noch machen kann. Mir fällt nichts mehr ein.«
»Nein!«, flüsterte ich entsetzt. Mir stand das Wasser in den Augen, als ich verzweifelt brüllte: »Ihr könnt Suman doch nicht sterben lassen! Ihr müsst ihn retten! Du bist Arzt! Bitte, es muss doch einen Weg geben! Es muss, verdammt, es muss!«
Ich brach zusammen. Heulend vergrub ich mein Gesicht in Sumans Brust. Beide Männer ließen mich eine Weile meinen Schmerz ausleben, bis Septimus mich sanft an meiner rechten Schulter ergriff.
»Wir können nichts mehr für ihn tun, aber…«, sprach Septimus leise.
Ich schaute zum Butler des Gildehauses auf. Septimus sah müde und erschöpft aus, außerdem schien er mit sich zu hadern, ob er weiter reden sollte.
»Es gibt vielleicht noch einen Weg…«, fuhr Septimus zögernd und im Flüsterton fort. Ich blickte fragend zu Meridus, der aber meinem Blick auswich. »Was?«, fragte ich nachdrücklich.
»Geisterstasis«, erwiderte Septimus knapp.
Septimus Vorschlag verschlug mir die Sprache. Ich wusste wenig über Geisterstasis und das wenige was ich wusste, basierte auf vagen Gerüchten und wenig zuverlässigen und zudem äußerst widersprüchlichen Informationen. In einem einzigen Punkt deckten sich die Informationen. Alle Quellen schilderten die Geisterstasis als einen Akt schierer Verzweiflung. Selbst Septimus untermauerte meine Interpretation in der Art, wie er den Vorschlag unterbreitete. Und wenn ich Meridus‘ kreidebleiches Gesicht richtig verstand, dann war er ähnlich entsetzt wie ich.
»Das kannst du nicht ernst meinen?«, Meridus war der erste, der die Sprache wieder fand. Sprache? Ein etwas übertriebenes Wort, denn es war bestenfalls ein gepresstes Flüstern, was Merdius‘ Lippen entwich. Die Furcht in seiner Stimme war greifbar. Mir schnürte sie den Hals zu. Was war Geisterstasis? Was war daran so schrecklich?
Septimus schaute von Meridus zu mir, schließlich wanderte sein Blick zu Suman und blieb auf ihm ruhen: »Glaub mir, Meridus, ich habe mindestens so viel Angst, wie du. Ich will es genauso wenig, wie du. Wenn du eine andere Möglichkeit siehst, Suman zu retten, dann sage es.«
Meridus seufzte: »Es gibt keine. Ich bin mit meiner Kunst am Ende.«
»Dann weißt du, was passieren wird. Suman wird sterben! Die Stasis ist sicherlich keine Lösung, aber es ist ein Aufschub. Sie bietet eine Chance.«
»Was ist eine Geisterstasis?«, ich wusste, was mit Suman passieren würde, sollten wir nichts tun. Das Projektil würde ihn umbringen. Was hatten wir also zu verlieren? Was konnte schlimmer sein, als der Tod?
»Die Geisterstasis also… Es ist eine wirklich archaische Erdmagie. Sie ist älter als die Magie der Zauberer, die über das Meer zu uns gekommen waren. Sie ist sogar älter als die Menschheit. Sie stammt aus der Zeit der Erstgeborenen. Es sind die Geister verstorbener Elben, die manchen Wesen die Gunst der Stasis gewähren. Ja, du hast richtig gehört. Verstorbene Elben, Elbenkrieger, die im Kampf gegen das Böse getötet wurden. Es waren gewaltige Schlachten, in denen diese Kämpfer für das Gute fielen. Die Erstgeborenen waren Titanen im Vergleich zu unserer kümmerlichen Existenz.«
Septimus‘ Erklärungsversuch verwirrte mich mehr, als er meine Fragen erhellten: »Eine Gunst?«
»Es gibt eine Zeremonie mit der man mit den Geistern der Erstgeborenen in Verbindung treten kann. Schon diese Zeremonie ist anstrengend und selten erfolgreich. In den letzten vierzig oder fünfzig Jahren soll es niemand geschafft haben, das Interesse der Erstgeborenen überhaupt zu wecken. Sollten wir allerdings wirklich Kontakt zu den Geistern bekommen, steht uns die größte Hürde noch bevor. Wir müssen die Gunst der Stasis erbitten. Wir müssen die Erstgeborenen davon überzeugen, dass Suman es wert ist gerettet zu werden. Die Sache hat allerdings einen Haken. Die Geister der Erstgeborenen reagieren recht ungehalten, sollte man sie für ihrer Meinung nach für >nichtige< Gründe anrufen.«
»Sie reagieren ungehalten?«, hakte ich nach.
»Sie bestrafen die Unwürdigen. Sie entreißen ihnen die Seele. Man wird selbst zu einem Geist, der mit den Erstgeborenen ihre trostlose Ewigkeit von da an teilen muss. Segato, bist du bereit deine Seele für Suman aufs Spiel zu setzen?«
»Bevor ich darauf antworte, welche Gunst gewähren die Geister?«
»Die Geister der Erstgeborenen besitzen die Fähigkeit, Suman in eine Zeitkapsel zu hüllen. In ihr ruht die Zeit. Während außerhalb Sekunde für Sekunde verstreicht, herrscht in ihrem Inneren ein ewiges Jetzt. Suman wäre in der Zeit eingefroren. Dies würde uns die Möglichkeit geben, ihn an einen Ort zu bringen, an dem ihm vielleicht geholfen werden kann.«
Die Geister der Erstgeborenen
»Wir werden wohl eine Weile zusammen bleiben.«
»Wie lange ist eine Weile?«
»Och, nicht lange, nur für die Ewigkeit.«
Angeblicher Dialog mit dem Geist eines Erstgeborenen (Authentizität zweifelhaft)
»Haben wir überhaupt eine Chance?«, so sehr ich mir wünschte, Suman retten zu können, so ängstlich war ich, ob es überhaupt Sinn machte, die Geister der Erstgeborenen anzurufen. Was hatten wir vorzuzeigen? Weder Suman noch ich waren große Krieger. Wir konnten nicht mit einer endlosen Liste von Schlachten gegen das Böse aufwarten. Nicht, dass man mich falsch versteht. Ich hätte keine Sekunde gezögert, mit Suman zu tauschen. Ich hätte mein Leben für ihn gegeben, wenn denn die Chance bestand, meinen Liebsten zu retten.
Weder Meridus noch Septimus wagten mir in die Augen zu schauen. Beide hatten ihren Blick zum Boden gesenkt und schwiegen. Nach einer Phase drückender Stille richtete Septimus sich auf und ging zu Suman, der nach wie vor narkotisiert auf dem OP-Tisch lag. Nachdenklich und traurig legte er meinem Freund seine Hand auf die Schulter und betrachtete ihn.
»Liebst du Suman?«, fragte Septimus ohne seinen Blick von Suman zu nehmen, »Liebst du ihn so sehr, dass du alles für ihn opfern würdest? Denk daran, du bist noch jung. Es wird andere Männer geben, in die du dich verlieben kannst.«
»Nein!«, schrie ich, »Es wird keinen anderen geben. Suman ist mein Leben und niemand wird ihn jemals ersetzen können!«
Ich weiß nicht, warum ich mir so sicher war. Es war nicht logisch und auch nicht wahrscheinlich. Die Zeit soll angeblich alle Wunden heilen. Aber bei dieser Wunde war ich mir sicher, dass ich mich von ihr niemals erholen würde. Suman war mein Leben. Jetzt und in Zukunft. In dieser Angelegenheit war ich mir unumstößlich sicher. Würde Suman sterben, wäre dies für mich schlimmer, als mein eigener Tod.
Septimus sah zu mir auf und lächelte gequält: »Warum zögerst du dann? Was hast du zu verlieren? Ich würde nicht zögern, wenn meine Frau dort auf dem Tisch läge. Ich wüsste, was ich zu hätte.«
»Bedräng ihn nicht.«, meinte Meridus sanft, »Du weißt selbst, wie gering die Chance sind, dass die Geister ihn überhaupt anhören. Ob sie ihm dann ihre Gunst erweisen und nicht gleich seiner Seele berauben, steht dann noch auf einem anderem Blatt.«
»Aber die Chance besteht?«, fragte ich leise.
Meridus zögerte, schüttelte abwehrend den Kopf und meinte schließlich matt: »Ja, die Chance besteht, auch wenn sie verschwindend gering ist.«
»Ich will es tun!«, ich war mir sicher. Es gab nichts mehr, was mich davon abhalten könnte.
»Ich werde dich begleiten.«, meinte Septimus. Daraufhin schüttelte Meridus seinen Kopf und meinte: »Es ist zwar absoluter Wahnsinn und ich bin mir sicher, dass wir Selbstmord begehen, aber egal, ich bin auch dabei.«
»Nein!«, stoppte ich meine beiden Freunde, denn als solche betrachtete ich sie, »Dass ich mich opfere, ist eine Sache, aber dass ihr euch opfert, kann ich nicht zulassen.«
»Ich glaube, du hast gar keine Wahl. Es ist meine und Septimus‘ freie Entscheidung dies zu tun. Wie ich meinen alten Freund kenne, wird es niemanden geben, der ihn umstimmen könnte. Und ich? Nun ja, ich war schon immer ein Dickkopf. Suman, dein Freund, deine Liebe, ist mein Patient und wenn dies der Weg seiner Behandlung sein soll, dann werde ich ihn beschreiten.«
»Ich… Aber…«, die nächste halbe Stunde versuchte ich Septimus und Meridus umzustimmen. Es gelang mir nicht. Je mehr ich sie anflehte, es nicht zu tun, desto entschlossener wurden sie. Schließlich gab ich nach. Ich gebe zu, dass ich glücklich war, den vor mir liegenden Weg in eine gefährliche Ungewissheit nicht allein beschreiten zu müssen.
»Was muss ich tun?«, fragte ich Septimus.
»Nichts, außer mir zu vertrauen.«
Meridus hatte mit Bestürzung festgestellt, dass sich die Zersetzungsrate des Projektils beschleunigte. Die Zeit drängte. Suman blieben noch höchstens zwei, maximal drei Stunden, bevor das Geschoss explodierte. Es gab also keine andere Alternative, als die Geister der Erstgeborenen sofort anzurufen.
So schwerwiegend die Beschwörung war, so simpel war ihre Durchführung. Septimus hatte die Sprüche in seinem Meisterbuch, da er einer der wenigen Gildemeister war, der die Kultur der Erstgeborenen im Auftrag der Gilde erforschte. Ich fand, dass dies ein erstaunlicher Zufall war. Septimus meinte, er glaube nicht an Zufälle. In all den Jahren, in denen er über das Thema forschte, hätte er niemals damit gerechnet, geschweige denn gewagt, die Geister der Erstgeborenen wirklich anzurufen. Dass er jetzt mit Meridus und mir bei Suman saß und einen alten elbischen Text wieder und wieder rezitierte, hätte er niemals für möglich gehalten. Doch offensichtlich hatte er all die Jahre seines Studiums auf diesen Moment hingearbeitet.
Septimus‘ Rezitation folgte genau vorgegebenem Rhythmus, Geschwindigkeit und Lautstärke. Es war eine Form von Gesang. Obwohl ich Elbisch, auch altes Hochelbisch, dank meiner Gildeausbildung sehr gut beherrschte, gelang es mir nicht, den Worten der Beschwörung zu folgen. Septimus sprach die Worte nicht, er sang sie. Ihr Klang bohrte sich in mein Hirn, machten mich gleichzeitig wach und schläfrig. Je mehr ich versuchte, die Worte zu verstehen, desto mehr driftete mein Verstand in einen nebelhaften Zustand ab. Ich sah Suman direkt vor mir liegen und im selben Moment schien er weit entfernt zu sein.
»der schläfer ist erwacht«, hörte ich tatsächlich eine fremde Stimme?
»sein weg… der weg des kriegers?«, ein heiseres Wispern hinter mir.
»der weg des drachen!«, ein anderes heiseres Wispern direkt vor mir.
»sein wunsch ist anmaßend, widernatürlich!«, eine kalte, zischende Stimme rechts von mir.
»ja, das ist er, so wie wir widernatürlich sind!«, entgegnete eine milde Stimme von oberhalb.
»er ist seines vaters sohn! seht ihr sein licht?«, Flüstern direkt vor mir.
»ja! das licht! oh, er ist so unschuldig und ahnt nicht, was er ist!«
»er kann uns hören? hörst du uns, sohn der istarilari?«, die letzte Frage war klar und deutlich zu hören.
»Ich höre euch!«, rief ich, »Ich höre euch und wende mich mit einer Bitte an euch. Gewährt meinem Freund die Gunst der Geisterstasis.«
Hatte ich etwas Falsches gesagt? Die Stimmen schwiegen. Das einzige, was ich hörte, war Septimus‘ Gesang. Monoton wiederholte er immer wieder den gleichen Text. Mit jeder Wiederholung tauchte ich tiefer in jenen nebelartigen Zustand ein, den ich, kurz bevor ich die Stimmen hörte, bereits verspürt hatte. Die Wahrnehmung meiner Umwelt schwand in dem Maße, wie ich in eine andere Wirklichkeit eintauchte. Farben, Töne, Gerüche, Empfindungen wurden bedeutungslos und grau. Grau! Das war der einzige Sinneseindruck, der mir geblieben war. Grau sahen die Farben aus, die ich sehen konnte. Grau waren die Töne und Gerüche, die ich hörte und roch. Selbst die Luft und luftähnliche Substanz, die mich umgab, fühlte sich grau an.
»ah, bist du zu uns gekommen?«, vernahm ich erneut eine jener wispernden Stimmen.
»Ich bin gekommen, um eure Hilfe zu erbitten.«, flehte ich die Geister der Erstgeborenen an.
»wir wissen, was du erbittest!«, zischten mehrere Stimmen gleichzeitig, »doch weißt du auch, warum?«
Warum? Ich verstand die Frage nicht: »Um das Leben meines Freundes zu retten.«
»hihihihihihi…«, ich wollte es kaum glauben, aber die Geister lachten mich aus. Wieso lachten sie mich aus? Nach allem, was mir Septimus erzählt hatte, passte die Reaktion der Geister überhaupt nicht zu dem, was ich von ihnen erwartet hätte. Wobei ich mir noch nicht einmal sicher war, was ich eigentlich erwartet hatte.
»Warum lacht ihr?«, rief ich verzweifelt.
»du amüsierst uns. du bist so stark und doch so schwach und ahnungslos. welch ein köstlicher witz…«
»Bitte, helft Suman! Ich flehe euch an! Ohne ihn bin ich nichts. Nennt mir euren Preis, doch, bitte, helft meinem Freund!«
»der preis wurde bereits entrichtet. deine bitte sei gewährt!«
»Ich danke euch!«
Etwas später und an einem anderen Ort sprach eine andere als die meinige Stimme zu den Geistern der Erstgeborenen. Und, obwohl es nicht meine Stimme war, war sie der meinen nicht unähnlich. Natürlich wusste ich nichts von jenem Dialog, der zwischen den Geistern und jener Stimme geführt wurde.
»es war uns eine ehre, dir helfen zu können. nach all den jahrtausenden nähert sich unsere aufgabe ihrem ende. bald werden wir für immer ruhen können und frieden finden.«
»Ja, ihr werdet Frieden finden, die Zeit eurer Wacht ist fast vorbei.«
»du riskierst viel. wird er mit der bürde leben können?«
»Ich hoffe es. Ich kann seinen Weg nur wage erahnen. Die Zukunft ist unsicher. Doch eins ist gewiss, seine Freunde werden ihm beistehen. Zusammen werden sie stark sein.«
»die hoffnung kann trügen«
»Es ist alles, was mir bleibt.«
»du bist voreingenommen!«
»Natürlich, ich bin sein Vater!«
»Was?«
Septimus‘ gemurmelte Beschwörungen hatten mich nicht nur eingelullt, ich war sogar eingeschlafen. Mit einem Ruck schreckte ich wieder auf und schaute mich etwas verstört um. Meridus und Septimus saßen direkt vor mir und schauten mich merkwürdig an. Septimus hatte mit seiner Beschwörung aufgehört.
»Entschuldigt, ich muss kurz eingenickt sein. Septimus‘ Worte müssen mich eingelullt haben.«, entschuldigte ich mich kleinlaut, »Warum hast du aufgehört. Habe ich etwas falsch gemacht? Ignorieren die Erstgeborenen unsere Rufe?«
»Was hast du getan?«, fragte Meridus und klang dabei fast hysterisch.
»Ich? Nichts!«, entgegnete ich ängstlich, »Was ist? Was ist mit Suman? Nein, sagt nicht, ich hätte durch mein Einnicken alles zunichte gemacht!«
Ich hielt immer noch Sumans Hand. Was hatte ich getan? Hatte meine mangelnde Selbstkontrolle Suman zum Tode verurteilt? War alles umsonst, weil ich nicht in der Lage war, fünfundvierzig Minuten wach zu bleiben?
»Nein, nein, nein!«, flüsterte Septimus, »Du hast nichts Falsches getan. Weißt du denn nicht, was passiert ist? Die Erstgeborenen haben deine Bitte erhört. Suman liegt in Stasis.«
Ich sah von Meridus zu Septimus und von Septimus zu Suman. Es stimmte. Septimus nickte mir bejahend zu. Suman lag in Stasis. Jedenfalls nahm ich es an, denn er war in einen wabernden grauen Nebel eingehüllt. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Hand, die ich hielt, sich merkwürdig unwirklich anfühlte, als wenn ich keine Hand, sondern nur ein Echo, die Idee einer Hand in der meinen halten würde. Vorsichtig zog ich meine Hand zurück. Teile des Nebels der Suman umgab, wurde von meiner Bewegung mitgerissen, löste sich aber sofort von meiner Hand und wanderte zurück zu Suman, um jene frei Stelle auszufüllen, die ich zurückgelassen hatte.
»Ist er…«, fragte ich im Flüsterton.
»Ja, er liegt wirklich in Geisterstasis«, erörterte Septimus, »Was hast du getan?«
Ich sah die beiden Gildemeister unsicher an, »Nichts. Ich habe deiner Beschwörung gelauscht. Das monotone Gemurmel ließ mich müde werden und ich muss eingenickt sein.«
»Und?«
»Nichts!«, ich verstand die Frage nicht, »Ich weiß nur, dass ich plötzlich wieder wach wurde und…«, ich zuckte mit den Schultern, »Ich bin irgendwie aufgeschreckt.«
»Du hast nichts bemerkt, gehört, gefühlt oder kannst dich an sonst irgend etwas erinnern?«
»Nein!«, meinte ich und schüttelte meinen Kopf, um dem Nein mehr Nachdruck zu verleihen.
»Dann sollten wir dir erzählen, was in der Zwischenzeit passiert ist. Du bist nicht kurz eingenickt. Du warst ganze zwei Stunden in Trance.«
Das saß! Wie mir die beiden Gildemeister wechselseitig erzählten, war ich nach zwei oder drei Minuten eingenickt. Meridus wollte mich gerade wecken, als beide Meister plötzlich wispernde Stimmen hörten. Sie konnten nicht verstehen, was sie sprachen, doch ahnten sie, dass es wohl die Geister der Erstgeborenen waren. Septimus hätte vor Schreck fast mit der Beschwörung aufgehört und fing schon an zu stocken, als er von Meridus noch rechtzeitig daran erinnert wurde, weiter zu reden. Kaum hatte sich Septimus gefangen, soll ich plötzlich begonnen haben, in der gleichen unbekannten Sprache zu murmeln, wie die Geister. Es schien, als wenn die Geister und ich einen Dialog miteinander führen würden.
Das ganze dauerte über eine volle Stunde. Als die Stimmen schließlich verstummten, begann sich zu Septimus‘ und Meridus‘ Überraschung jener graue Nebel um Suman zu bilden, den Septimus nach ein paar Messungen als Stasisfeld identifizierte.
»Und du kannst dich wirklich an nichts erinnern?«, fragte Meridus am Ende ihres Berichtes.
Ich lauschte in mich hinein: »Ja und nein. Da sind merkwürdige Erinnerungsfetzen, wie nach einem Traum, den man langsam vergisst. Aber nichts, an was ich mich konkret erinnern könnte. Wenn ich mit den Geistern gesprochen haben sollte, dann wollten sie offensichtlich nicht, dass ich mich daran erinnere.«
Die beiden Gildemeister wechselten untereinander viel sagende Blicke. Septimus, der nebenberufliche Butler, schaute von mir zum konservierten Suman und wieder zurück zu mir. Nachdenklich begann er zu sprechen, wobei der den Blick wieder auf Suman richtete: »Es ist wirklich wahr. Die Geister der Erstgeborenen haben Suman in Stasis versetzt. Solange er in diesem Zustand ist, wird ihm nichts passieren. Die Zeit selbst ist in ihm eingefroren. Wenn es uns gelingt das Projektil zu entfernen und ihn so zu retten, wird für ihn nur eine Sekunde vergangen sein. « Zu mir gewandt fuhr Septimus fort: »Du oder Suman, einer von euch oder ihr beide zusammen, müsst eine Bestimmung haben. Ich habe nicht gescherzt, als ich sagte, dass die Erstgeborenen einen sehr selten erhören. Dass sie dich erhört haben und du noch lebst, ist ein Wunder.«
Wunder oder nicht. Es mochte sogar alles so sein, wie Septimus es sagte, doch mir gingen in jenem Moment ganz andere Dinge durch den Kopf: »Was machen wir jetzt? Wer kann uns helfen, Suman von seinem Projektil zu befreien. Wen können wir rufen und herholen?«
Diesmal war es Meridus, der Arzt, der das Wort ergriff: »Niemanden…«
»Was?«, brüllte ich und fiel Meridus ins Wort, »Wozu haben wir die Erstgeborenen denn überhaupt beschworen? Es muss doch jemanden geben, der Suman helfen kann? Sonst wäre doch alles umsonst gewesen. Tot oder Stasis, was macht das dann noch für einen Unterschied?«
Meridus seufzte und sah mich mit nachsichtiger, aber genervter Mine an: »Ich meinte, niemanden, den wir herholen könnten. Wir müssen Suman zu ihm bringen. Es gibt jemanden, der Suman helfen könnte. Sein Name ist Kasimir N’Gardo.«
»Ein Gildebruder? Warum kann er nicht herkommen? «
Meridus schaute fragend zu Septimus und erntete ein bejahendes Kopfnicken weiter zu erzählen: »Kasimir ist sogar ein Meister der Gilde. Außerdem ist er ein Druide, der die Urelemente, Feuer, Luft, Wasser und Erde beherrscht. Er sollte das Projektil aus Suman entfernen können. Nur…«, hier zögerte Meridus, »Kasimir ist alt, sehr alt. Er reist nicht mehr, außerdem wäre es für ihn viel zu gefährlich, zu reisen. Er ist eine Seele.«
»Seele? Ist er etwa…«, mein Geist war plötzlich hellwach.
»Ja, Kasimir ist ein Drachenreiter. Er ist die Seele von Fingolf, dem letzten noch lebenden goldenen Drachen. Beide leben in Daelbar. Wie gesagt, sie sind beide sehr alt und verlassen die Stadt nicht mehr.«
Daelbar – Die Heimstadt der Drachen war von Anfang an mein und später auch Sumans Ziel gewesen. Aber Meridus‘ Enthüllung veränderte die Motivation, nach Daelbar zu kommen, in dramatischer Weise. War es zuerst nur meine Faszination für Drachen gewesen, die mich nach Daelbar trieb, kamen mit Vaughans Datenkristall und dem Siegelblock zwei ganz praktische Gründe dazu. Doch Suman zu retten, war etwas völlig anderes. Aus einem Wunschtraum wurde ein aus Verzweiflung geborener Zwang. Ich musste nach Daelbar. Egal wie, egal wie schwierig oder unmöglich der Weg sein würde. Ich musste diese Stadt erreichen. Es gab keine Alternativen.
Septimus und Meridus stimmten mir in soweit zu, als dass sie meinten, dass die einzige Möglichkeit Suman zu retten, wirklich nur darin bestand, ihn nach Daelbar zu bringen. Wobei sich Meridus in seiner drögen Art gleich korrigierte und meinte, es wäre keine Möglichkeit sondern eine Unmöglichkeit. Daelbar war weit, Goldor mit Daelbar verfeindet und das Gildehaus von Minas Rochsir von Spionen des Hafenmeisters belagert. Wie also, sollte es uns gelingen, Suman unauffällig fortzuschaffen? Wenn dem Hafenmeister in seiner Funktion als Spionagechef dieser Region auch nur der geringste Verdacht käme, dass etwas im Busch war, würden uns seine Schergen wie Kletten an den Fersen kleben. Es war schließlich Septimus, der eine Idee entwickelte, wobei er grimmig lachte.
»Wenn wir Suman nicht heimlich raus bringen können, dann eben in aller Öffentlichkeit.«, Septimus schaute meinen Freund traurig an und meinte leise: »Schaut ihn euch an. Wenn wir es nicht besser wüssten, würdet ihr Suman für lebendig halten?«
Septimus hatte Recht. Suman sah grau und leblos aus. Der Dunst, der ihn umhüllte, ließ ihn wirklich wie einen Toten erscheinen.
Der Trauerzug der Gilde
»Ach, Beerdigungen, welch frohe Feste der Freude und Geburt!«
Consekretär Z URONG der Gemeinschaft der Untoten
Als am nächsten Morgen der Hafenmeister Minas Rochsirs sein Büro betrat, ahnte sein Schreibtisch noch nicht, dass wenige Sekunden später die Faust des Hafenmeisters wütend und krachend auf seine Deckplatte niedersausen würde. Noch während seine Exzellenz, Zacharias von Rochsinasul IV, die erste Nachricht aus seiner Vorlagemappe überflog, schlug seine anfängliche gute Laune in Wut und Zorn um. »Warum«, so fragte sich der königliche Hafenmeister, »war er nur von Stümpern und Dilettanten umgeben? Musste man denn wirklich alles selbst machen, damit einmal etwas richtig klappte?«
Die Nachricht, die Spionagechef Zacharias zur Weißglut trieb, entstammte einem Statusbericht der Hauptabteilung IX »Gegnerische Dienste«. Dieser Bericht enthielt in erster Linie einige Ergänzungen zu einem vorangegangenen Einsatz. Schon bei diesen Worten musste Zacharias verärgert aufknurren. Er hatte gehofft, von jenem verpatzten Auftrag nie wieder etwas hören zu müssen. Dabei wäre die Sache so einfach gewesen, hätte sich der angeheuerte Dieb nicht so dämlich angestellt. Alles was er sollte, war der Assistent des stellvertretenden Sekretärs des Gildehauses von Crossar dessen Aktentasche abnehmen. »Unblutig!«, hatte Zacharias noch nachdrücklich hinzugefügt, da er natürlich wusste, dass die Gilde selbstverständlich ihrerseits wusste, dass er, Zacharias der Auftraggeber des Diebstahls war. Nichts wäre ärgerlicher und unpassender, als ein Verletzter auf der Gegenseite, gerade jetzt, wo die globale Lage sich zusehends zuspitzte. Doch was tat dieser Torfkopf von einem Anfänger, er schlug den Gildeassistenten nieder. »Was für ein Albtraum!«, hatte Zacharias gestöhnt, als er den ersten Bericht erhielt, »Da hätten ich meinem Gegenspieler gleich direkt den Krieg erklären können.« Und wofür das alles? Für ein Satteltasche, die außer ein paar langweiligen Abrechnungs- und Kontenblättern, sowie einem Empfehlungsschreiben an den Präfekten des Gildehauses wirklich nichts Spannendes enthielt.
Dass die beiden Gildebrüder, Suman und Segato, die eigentlich noch fast Jungs waren, mehr von der Geschichte mit Boldins Yacht wussten, stand für Zacharias außer Frage. Trotz ihres geringen Alters hielt er die beiden für zwei absolute Profis. Der eine, Segato G’Narn, kontrollierte perfekt seine Körpersprache, wie es nur hoch gebildete Gildeschüler konnten. Um ein Meister sein zu können, war er sicherlich noch etwas zu jung, aber er würde bestimmt später einer werden. Und der andere Gildebruder? Suman K’Tar? Nach dem Gespräch zwischen ihm und Segato hatte der Hafenmeister sich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras in seinem Büro angesehen. Suman K’Tar hielt sich immer im Hintergrund, blieb unauffällig, war der schweigsame Schatten seines Vorgesetzten, dieses Segatos. Während man ihm als sprichwörtlichem Kofferträger keine Beachtung schenkte, studierte und analysierte er seine Umgebung. Die Aufzeichnungen der Kameras zeigten ganz deutlich, wie Suman systematisch das Büro des Hafenmeisters mit Blicken diskret abtastete. Zacharias war sich sicher, dass dieser Gildebruder nach seinem Besuch jedes Detail, jeden Gegenstand in seinem Büro auflisten konnte.
»An den beiden ist mehr dran, als es scheint. Mein Gegenspieler wird die beiden hüten, wie eine Glucke!«
Zacharias kannte seinen Gegenspieler bei der Gilde sehr gut, schließlich spielten sie jeden Mittwochnachmittag eine Runde Schach miteinander. Es handelte sich um keinen Geringeren als den Butler des Gildehauses, Septimus Na’Tohl. Bisher wusste Zacharias ihn als einen bedachten und professionellen Mann zu schätzen und war sich sicher, dass er einen einfachen Diebstahl von Diplomatenpost als Lappalie abgetan hätte. Zumal die übliche Prozedere vorsah, die gestohlenen Dokumente später, nachdem man sie kopiert hatte, an die Gilde zurückzugeben und den Dieb hinzurichten. Es verstand sich von selbst, dass die für solche Aktionen gedungenen Täter niemals wussten, wer ihnen ihre Aufträge gab. Bei dieser Aktion war nun die Zielperson bedauerlicherweise verletzt worden und man musste mit Vergeltungsaktionen rechnen, obwohl es sich bei dem Opfer lediglich um einen Laufburschen namens Suman K’Tar handelte.
»Verdammte Scheiße!«, platzte es aus dem Hafenmeister heraus, als er den Zusatzbericht las, »Wie zum Teufel konnte sowas passieren? Der Junge war doch gestern noch ganz munter.« Dem Bericht zu Folge war er es nun nicht mehr. Nach einem, dem Einsatzbericht beigefügten offiziellen Bulletin des Gildehauses, war Gildebruder Suman K’Tar in der Nacht den Verletzungen, die ihm durch den feigen Akt eines Raubes am Vortag zugefügt worden waren, erlegen. Man trauere um einen jungen Mitbruder, der sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte. Die Behörden Minas Rochsirs wurden nachdrücklich aufgefordert, ihr Möglichstes zu tun, um dieses verwerfliche und sinnlose Verbrechen aufzuklären. Weiterhin würde man dem unmittelbar vor seinem Tode geäußerten Wunsch des Verstorbenen entsprechen, seine sterblichen Überreste nach Blaufurt an der Blauwasser zu überführen und dort beizusetzen.
»Na super, jetzt steht ein Toter auf unserem Konto! Septimus wird darauf antworten müssen.« Nach den ungeschriebenen Regeln des Spionagehandwerks waren unbeteiligte Nichtagenten unantastbar. Wer diese Regel verletzte, musste mit Konsequenzen rechnen.
Wütend und zornig überflog der Hafenmeister die weiteren Dokumente des Berichts. Als er zu einem medizinischem Geheimbericht kam, hellte sich seine Mine ein klein wenig auf. Sein Maulwurf im Gildehaus war in den Besitz des Obduktionsberichts gekommen, ein Bericht, der vom Chefarzt des Gildehauses, Meridus T’Saal, höchst selbst verfasst worden war. Offenbar war eine angeborene Gefäßschwäche im Schädel des Gildebruders für den Tod verantwortlich. Für einen gesunden Menschen wäre die Verletzung, die mit dem Raub der Aktentasche einhergegangen war, in keiner Weise schwerwiegend genug gewesen, um tödlich zu sein. Der Räuber konnte nicht wissen, dass Suman K’Tar ein kranker Mensch war.
»Puh! Mit etwas Glück wird Septimus meine Leute in Ruhe lassen.«, murmelte der Hafenmeister leise und studierte den Rest des Berichts. Suman K’Tar sollte in seiner Heimat, in Blaufurt am Fluss Blauwasser, beigesetzt werden.
»Blaufurt?«, fragte sich Zacharias während er sich am Kopf kratzte, »Warum gerade dort?«
Und plötzlich war die Welt des Hafenmeisters wieder in Ordnung. Ein breites, zufriedenes Grinsen schlich sich ins Gesicht des Spionagechefs von Minas Rochsir. Ein einzelner Ausruf »Blaufurt!« ertönte im Raum. Vor Freude strahlend, setzte der Hafenmeister ein besonderes Beileidsschreiben auf, das er an das Gildehaus richtete. Er war sich sicher, dass Septimus es zu lesen bekam, weswegen er spezielle Formulierungen in den Text einfügte. Diese Formulierungen entstammten einem Sprachkode, den konkurrierende Nachrichtendienstchefs untereinander verwendeten, um sich gegenseitig Nachrichten zukommen zu lassen. In jenem Schreiben erläuterte Zacharias, dass er den Vorfall bedauere und so nicht beabsichtigt hätte. Jetzt ging es darum, ja keinen Verdacht zu erregen. Sollten die Gildeschwachköpfe doch glauben, er, der Spionagechef seiner Majestät des Königs von Goldor, sei wegen des dummen Vorfalls kleinlaut und zaghaft geworden und würde sich zurückhalten. Oh ja, er würde sich zurückhalten, jedenfalls in Goldor, doch Blaufurt war ein ganz anderes Thema.
»Er hat angebissen!«, kam Septimus triumphierend angerannt, »Zacharias hat den Köder geschluckt. Soeben ist ein offizielles Beileidsschreiben von ihm eingegangen. Es enthält genau die Nachricht, die ich von ihm erwartet habe.«
Was war geschehen? Nachdem die Geister der Erstgeborenen Suman in Stasis versetzt hatten, tauchte die Frage auf, wie wir meinen Schatz nach Daelbar bringen konnten. Nur dort, so Meridus, könnte ihm geholfen werden. Das Problem bestand nun darin, dass Daelbar nicht unbedingt ein befreundeter Staat Goldors war. Ganz im Gegenteil hatte bereits der Vater des Königs ein Embargo gegen Daelbar verhängt. Jeder Bürger Goldors machte sich des Hochverrats schuldig, sollte er auf die Idee kommen, Daelbar besuchen zu wollen. Suman direkt nach Daelbar zu bringen, wäre somit reichlich unklug gewesen. Als Bruder der Gilde unterlag er zwar nicht der Jurisdiktion des Königs, eine Beisetzung in der verbotenen Drachenstadt hätte aber mit absoluter Sicherheit sämtliche Alarmglocken beim Geheimdienst seiner Majestät aufschrillen lassen. Der direkte Weg war also verbaut. Dem Hafenmeister Minas Rochsirs wäre sicherlich sehr daran gelegen, zu erfahren, wieso man einen eher unwichtigen Gildebruder in jene Stadt der Feinde bringen wollte. Suman heimlich dahin zu bringen, ging auch nicht. Dafür wurde das Gildehaus zu gut von den Agenten des Hafenmeisters bewacht. Jeder unserer Schritte wurde gemeldet, soviel war sicher. Zacharias war an meiner Person interessiert, spätestens, seit wir mit Boldins Yacht im Schlepptau in seiner Stadt aufgekreuzt waren. Der Spionagechef dieser Region war schließlich nicht sonderlich überrascht zu erfahren, dass Boldin auf hoher See überfallen und ermordet worden war. Entweder steckte er mit drin oder besaß Quellen, die ihn vor uns informiert hatten.
»Wenn nicht heimlich, dann eben in aller Öffentlichkeit!«
Mit diesem Satz begann uns Septimus einen wirklich dreisten Plan zu enthüllen, wie wir Suman aus Minas Rochsir heraus bekommen könnten. Septimus kam nun auf die Idee, den Vorfall mit dem Raub zu unseren Gunsten auszunutzen. Der ungeschriebene Verhaltenskodex für alle Spione und Geheimagenten verbot jegliche körperliche Gewalt gegen unbeteiligte Personen. Dagegen hatten Zacharias Leute verstoßen. Septimus meinte, dass Zacharias vermutlich gerade vor Wut toben würde, dass seine Leute die Sache verbaselt hätten.
»Wenn wir jetzt aller Welt erzählen, dass Suman K’Tar, ein junger aufstrebender Bruder der Gilde, seinen Verletzungen erlegen sei, wird mein Freund der Hafenmeister Blut und Wasser schwitzen.«, erklärte Septimus.
Das Spionagegeschäft schien seinen eigenen Regeln zu folgen. Septimus erklärte, dass wenn ein Nichtspion von einem Agenten der Gegenseite getötet wird, man das Recht hatte, diesen Tod zu rächen. Septimus empfand diese Regeln zwar als barbarisch, verstand aber ihren Sinn. In den letzten vierzig Jahren war kein Unbeteiligter zu Schaden gekommen.
»Zacharias wird alles daran setzen, den kalten Krieg zwischen uns nicht heiß werden zu lassen.«, grinste Septimus hinterhältig, »Und deswegen wird unser lieber Hafenmeister höchst selbst dafür sorgen, dass Suman Goldor unbeschadet verlässt.«
Mir kam es vor, als wenn die Spionagearbeit aus einer Art perversem Schachspiel bestand. Septimus und Zacharias schienen permanent damit beschäftigt zu sein, die Züge des anderen zu analysieren und die nächsten vorauszuberechnen. Unser Zug, zu behaupteten, Suman wäre an den Folgen des Überfalls gestorben, war so, als wenn wir seinen König bedroht und »Schach« gesagt hätten. Zacharias Gegenzug würde nun darin bestehen, sich dieser Bedrohung zu entziehen. Dafür bot sich eine Reihe von Möglichkeiten an. Septimus kleiner Trick bestand nun wiederum darin, dem Hafenmeister genau die richtige Möglichkeit vorzugeben, ohne, dass jener davon etwas ahnte.
Bekannter weise ist Wissen Macht. Septimus wusste, dass Zacharias einen Agenten im Gildehaus hatte. Zacharias wiederum wusste pikanterweise nicht, dass sein vermeintlicher Spitzenagent schon seit Monaten aufgeflogen war und seitdem mit falschen Informationen gefüttert wurde. Und so wurde unserem geschätzten königlichen Hafenmeister ein Köder zugeworfen. Septimus sorgte dafür, dass der Spion des Königs zufällig über die Information stolperte, über die er stolpern sollte. Nämlich, dass der Raubüberfall nur mittelbar an Sumans Tod schuld war.
Ich hielt mich so weit wie möglich aus dem ganzen Spionagegeschäft heraus und verbrachte meine Zeit in Sumans Nähe. Er war zwar nicht tot, aber er sah so aus. Der Anblick meines Freundes in Geiststasis schnürte mir jedes Mal den Hals zu. Suman sah unwirklich aus. Der graue Nebel, der ihn einhüllte, ließ ihn aschfahl erscheinen. Mit geschlossenen Augen und über seiner Brust verschränkt Händen musste ich mich selbst ständig daran erinnern, dass Suman nicht wirklich tot war. Er war es nur, wenn ihm die Drachen nicht helfen könnten. Doch daran wollte und konnte ich einfach nicht denken.
Drei Tage später machte sich eine kleine Gruppe Reisender auf den Weg nach Blaufurt an der Blauwasser, Sumans angeblichem Geburtsort. Septimus hatte Blaufurt ausgesucht, weil es eine kleine, unabhängige Stadt war, die nicht zum goldorianischen Königreich gehörte. Sie lag, wie der Name schon andeutete, direkt am Fluss Blauwasser, der im Norden die Grenze des Reiches markierte. Blaufurt war eine unabhängige Stadt, was dem Talent seines Bürgermeisters und der Handelskammer der Stadt geschuldet war, die einen permanenten Balanceakt vollführte. Einerseits galt es den Begehrlichkeiten Goldors zu trotzen, in Blaufurt mehr Macht zu erlangen. Anderseits galt es aber auch, niemanden im Königreich mit zu viel Selbständigkeit zu verärgern. Blaufurt lebte vom Handel mit Goldor. Sollte der König auf die Idee kommen, die Grenze zu Blaufurt zu schließen, würde die Stadt vermutlich nicht lange überleben können. Der Bürgermeister und seine Senatoren versuchten daher, möglichst unauffällig zu agieren. Blaufurt sollte ja keine Schlagzeilen machen und damit die Aufmerksamkeit auf sich richten. Solange dies gelang, war alles in bester Ordnung und der Handel florierte.
Blaufurt war sicherlich kein optimales Ziel, aber was war das schon? Die Stadt war alles andere als sicher. Um Goldor bei Laune zu halten, ließ man es sogar zu, dass die goldorianische Polizei in Blaufurt patrouillierte. Echte Blaufurtianer waren zwar unantastbar, aber für alle anderen galt dies nicht. Ein goldorianischer Polizist konnte ohne weiteres Fremde verhaften und mit über die Grenze nehmen.
Immerhin sprachen zwei weitere Gründe für Septimus‘ Wahl, Blaufurt als nächstes Ziel zu wählen. Es gab dort genau so wenig ein offizielles Gildehaus, wie es eine offizielle Kirche der unifizierten Technokratie gab. Die Neutralität, auf die Blaufurt so stolz war, sollte nicht durch irgendwelche Organisationen gefährdet werden. Das einzige was es gab, waren akkreditierte Botschafter von Gilde und Kirche. Politik und Spionage spielten in Blaufurt keine oder absolut jede Rolle, denn dort diktierte ausschließlich der Handel das Leben, was den Handel mit Informationen natürlich mit einschloss. Septimus hoffte, dass der Hafenmeister daraus den Schluss ziehen würde, dass Suman wirklich nur in seiner Heimatstadt beigesetzt werden wollte. Er sollte nicht einmal ansatzweise auf die Idee kommen, es würde sich um eine Art Flucht handeln, bei der womöglich wichtige Informationen aus Goldor heraus geschmuggelt wurden. Wie Septimus‘ Spione erfuhren, war Zacharias offenbar immer noch davon überzeugt, dass Suman und ich etwas Wichtiges an Bord von Boldins Yacht gefunden hatten.
Hier setzte Septimus nochmals auf die unbewusste Mithilfe des goldorianischen Spions im Gildehaus. Er sorgte dafür, dass jener Agent zufällig auf Pläne stieß, die andeuteten, dass ein hochrangiger Gildebruder, womöglich sogar ein Meister, nach Minas Rochsir kommen würde, um bestimmte »Fundstücke« einer genauen Prüfung und qualifizierten Bewertung zu unterziehen. Für seine Exzellenz den königlichen Hafenmeister sollte es ausschließlich so aussehen, als wenn ich Minas Rochsir mit Sumans Leichnam verlassen würde, um ihn in seiner Heimat beisetzen zu können.
In Wirklichkeit, und dies war der letzte Grund, der für Blaufurt sprach, bot die Umgebung der Stadt einem oder mehreren Drachen die Möglichkeit unentdeckt in dessen Nähe zu landen. Ein Trupp von drei Drachen sollte uns in Blaufurt erwarten und mitnehmen. Offenbar unterhielt Septimus sogar nach Daelbar einige Kontakte.
Unsere Karawane bestand aus sechs Mann. Meridus hatte sich angeboten, mich zu begleiten: »Suman ist immer noch mein Patient!« Außer ihm und dem in Stasis befindlichen Suman reisten noch drei Kampf erfahrene Brüder zu unserem Schutz mit uns. Suman lag in einem Sarg, was aber kein Problem war, da er in seiner Stasis nicht atmete und so auch nicht ersticken konnte. Für mich war es ein Problem, denn meinen Liebsten in einem derartigen Objekt liegen zu sehen, war unerträglich. Was, wenn die Drachen, wie Meridus, ebenfalls kein Heilmittel kannten?
Den Sarg hatten wir in einem der zwei Schwebegleiter verstaut, mit denen wir unsere Reise antraten. Der Weg nach Blaufurt war lang und auch nicht sonderlich schön. Er führte erst über einen ungemütlichen Gebirgspass, dann durch eine weite, unbewohnte und fast endlose Steppenlandschaft. Erst kurz vor Blaufurt veränderte sich die Landschaft und wurde wirtlicher. Im Allgemeinen wurde der direkte Weg von Minas Rochsir nach Blaufurt daher gemieden. Der übliche Weg war von Kreuzstädt am Grünsee, einer Stadt weit im Osten des Reiches, die Reichsstraße 3 zu nehmen.
Es war der dritte Tag unserer Reise, als mich Meridus anstieß und mir ein Fernglas reichte: »Schau, wir werden verfolgt. Entweder will unser tapferer Hafenmeister sicher gehen, dass wir wirklich nach Blaufurt gehen, oder er hat Angst, uns könnte etwas geschehen, wofür Septimus ihm den Arsch aufreißen könnte. Vermutlich beides.«
Es war ein Trupp von gut 8 Mann, der uns im Abstand von einer achtel Tagesreise folgte. Er machte nicht den Eindruck uns einholen zu wollen, ließ uns aber auch keine Sekunde aus den Augen. Seine Exzellenz Zacharias von Rochsinasul IV war ein Profi. Er wollte, dass wir wussten, dass er uns überwachte. Dadurch, dass uns seine Leute aber nur aus weiter Ferne beobachteten, beugte er dem Eindruck vor, man würde uns bedrohen.
Zum Mittag des achten Tages stießen wir auf die königliche Reichsstraße Nummer 3, der wir von da an Richtung Blaufurt folgten. Erst zum späten Nachmittag erreichten wir Eiswasser, eine kleine Garnisons- und Grenzstadt auf der goldorianischen Seite der Blauwasser. Die Furt, von der die Stadt jenseits des Flusses ihren Namen trug, gab es seit Jahrhunderten nicht mehr, dafür gab es eine breite Brücke, mit Grenzposten auf beiden Seiten.
Von und nach Blaufurt herrschte reger Verkehr. Vor dem Schlagbaum der diesseitigen Grenzkontrolle stauten sich ein gutes Dutzend Schwerlast- und Personengleiter, wurden aber munter und zügig abgefertigt. Wie es aussah, würden wir in weniger als einer Stunde Goldor verlassen haben. Hoffnungsvoll reihten wir uns in die Warteschlange ein und warteten. Nach ein paar Minuten war das vorderste Fahrzeug abgefertigt und die ganze Schlange rückte eine Fahrzeuglänge vor. Die Abfertigung ging wirklich zügig voran. Nach weiteren fünf Minuten konnten wir erneut vorrücken.
Doch dann verließ uns unser Glück. Die Abfertigung des nächsten Wagens zog sich endlos hin. Offenbar hatte sich der Führer des Wagens verdächtig gemacht und nun nahmen die Zöllner sein Fahrzeug ganz genau unter die Lupe. Bei ihrer Untersuchung schienen die königlichen Zollbeamten alle Zeit der Welt zu haben. Jedes noch so kleine Fach, jede einzelne Kiste, Tasche und Paket wurde untersucht.
»Die scheinen die Zeit für sich gepachtet zu haben.« machte ich meinem Ärger über die beamtete Lahmarschigkeit Luft. Statt meinen Ausspruch zu kommentieren, schaute sich Meridus die Abfertigung der Wagen vor uns genauer an.
Nach mehr als einer viertel Stunde ging es endlich wieder ein Stück voran.
»Endlich!«, machte ich mir erneut Luft und hoffte inständig, dass es von nun an wieder schneller voran gehen würde. Meine Hoffnung ging erneut fehl. Auch der nächste Wagen, ein voll beladener Schwerlastgleiter des Güterfernverkehrs, erregte das Interesse der Zöllner. Wenn ich den wild gestikulierenden, mit einem Haufen Papieren wedelnden, Fahrer des Wagens richtig verstand, schien man ihm Ungereimtheiten in seinen Ausfuhrpapieren vorzuwerfen, die er natürlich wortreich verneinte.
Während ich noch dem Fahrer und seinem beamteten Gegenüber den Hauptteil meiner Aufmerksamkeit widmete, fiel mir zufällig ein Mann auf, der uns diskret beobachtete. Mir fiel er auch nur deswegen auf, weil er mich beobachtete und sofort weg schaute, als er bemerkte, dass ich ihn bemerkt hatte. Der Mann trug ebenfalls eine offizielle Uniform, schien aber nicht zu den Zollbeamten zu gehören. Kaum hatte ich jenen Mann entdeckt, fielen mir drei weitere Typen auf, die versuchten, uns diskret zu beobachten. Einer von ihnen wechselte mit einem der Zollbeamten ein paar Worte. Der angesprochene Zöllner schielte heimlich zu uns rüber. Das schien den diskreten Herren zu stören. Ich musste grinsen, wusste ich doch, was dem armen Zollbeamten gerade an den Kopf geworfen wurde: »Nicht hinsehen, du Schwachkopf!«
»Sie bremsen die Abfertigung aus.«, bemerkte ich schließlich an Meridus gewandt.
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Wenn ich mich nicht täusche, sind es vier Agenten der geheimen Reichspolizei.«, antwortete Meridus.
»Sie geben unseren Verfolgern die Zeit um zu uns aufzuschließen.«, erläuterte ich meine Überlegung, für die mein PDA-Implantat eine 83% Wahrscheinlichkeit errechnet hatte.
»Meine Hochachtung, mein Junger Freund! Erogal hat nicht untertrieben, was dich betrifft. Ich hätte an seinen Worten nicht zweifeln sollen.«, verblüffte mich Meridus, indem er den Namen meines alten Meisters erwähnte.
»Erogal?«, fragte ich entsprechend verblüfft.
Meridus sah sich um. Wir waren allein im Gleiter. Es war niemand da, der mithören könnte. Meridus betätigte einen Kopf, worauf die Scheiben des Fahrzeuges kurz aufflackerten und dann einen milchigen Schimmer annahmen. Meridus hatte einen Schutzzauber aktiviert, der verhinderte, dass auch niemand von außen »sehen« konnte, was innen gesprochen wurde. Es gab genug Lippenleser, die jedes Wort verstanden hätten.
»Erogal…«, wiederholte Meridus langsam und wechselte in eine Sprache, die vermutlich nur Gildemitglieder verstanden, »Er ist etwas mehr, als nur ein Gildemeister. Es ist der Obermeister der südlichen Küstenregion. Sein Wort hat viel Gewicht im Rat der Meister. Erogal ist der Meinung, dass ihr beiden, du und Suman, die wohl größten Talente der letzten fünfhundert Jahre seid. Jeder für sich wäre bereits ein legitimer Kandidat für einen höheren Meistertitel, aber zusammen seid ihr einzigartig. Das jedenfalls meint Erogal und ich bin geneigt ihm zuzustimmen.«
»Was?«, ich wollte kaum glauben, was ich da hörte.
»Ich hatte meine Zweifel. Ich habe selten erlebt, dass Erogal dermaßen enthusiastisch von zwei seiner Schüler sprach und fand es ziemlich übertrieben.«, gestand Meridus, »Aber mein alter Freund hat recht. Ihr zwei seid wirklich etwas Besonderes. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass ihr gegen die besten Leute der Gegenseite antretet? Wir sind uns inzwischen sicher, dass es ein Trupp Technomönche war, der Boldin und Szwang getötet und das Schiff durchsucht hat. Ihr beiden habt gefunden, was die Mönche nicht fanden. Das ist mehr als nur beeindruckend. Von deiner kleinen Zauberaktion, mit der du das Projektil bezwungen hast, will ich gar nicht erst anfangen.«
»Warum sagt ihr mir sowas? Warum jetzt?«, fragte ich Meridus nervös.
»Weil ich Angst habe!«, enthüllte der Gildemeister und versetzte mir einen Schock, »Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass die Gilde in Gefahr ist.«
Mir fiel ein, dass Erogal etwas Ähnliches erwähnt hatte. Er vermutete, dass Spione die Gilde unterwandert hätten. Wusste Meridus von Erogals Vermutung? Ich musste nachhaken.
»Was ist passiert?«
Meridus sah mich nachdenklich an, reckte sich und ließ seine Gelenke hörbar knacken: »Es gibt nichts Konkretes, was sich fassen ließe. Die Stimmung in der Gilde scheint sich verändert zu haben. Ich bin Mediziner. Wenn ich es mit den Worten meines Faches ausdrücken sollte, würde ich sagen, dass etwas oder jemand die Gilde schleichend vergiftet. Noch sind die Symptome nach außen kaum sichtbar, aber sie sind da. Gildemeister, die immer an vorderster Front gegen das Böse kämpften, zögern plötzlich, wenn es um konkrete Aktionen geht. Andere scheinen sich nicht mehr zu trauen, offen ihre Meinung im Rat der Meister zu vertreten. Die wirklich wichtigen Informationen werden neuerdings nur noch heimlich und im kleinen Kreisen ausgetauscht. Zunehmend wächst ein Klima der Furcht und des Misstrauens. Irgend etwas ist in unsere Kreise eingedrungen und versucht uns von innen zu zerstören.«
Meridus‘ Offenbarung schockierte mich. Bisher war die Gilde für mich der Inbegriff des Guten. Die Gilde, eigentlich Erogal, hatte mir ein neues Ziel in meinem Leben gegeben. Doch wenn Meridus Recht hatte, dann war alles, woran ich glaubte, in Gefahr.
»An wen denkt ihr?«, fragte ich Meridus, »Offenbar glaubt ihr nicht, dass die Kirche dahinter steht.«
Meridus hob anerkennend seine Augenbrauen: »Was für einen messerscharfen Verstand du doch hast. In der Tat glaube ich nicht, dass die Päpstin dahinter steckt, obwohl sie und ihre Kirche involviert sind. Die Sache geht weit tiefer als dass es zu den Motiven der unifizierten Technokratie passen würde. Wir wissen, dass das Ziel der Kirche Machterwerb ist. Sie möchten alles und jedes kontrollieren, bis hin zu den Gedanken der Menschen. Doch was uns bedroht, bedroht auch die Kirche. Es bedroht uns alle. Es ist eine Kraft, die auf pure Zerstörung aus ist. Und wenn ich bisher noch Zweifel hatte, dann sind sie mit deinem Auftauchen verschwunden. Du bist ein Istarilari, ein Bote der Hoffnung in Zeiten großen Leids!«
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Blaufurt – Diese lose Ansammlung schäbiger Gebäude verdient zu Recht den Titel hässlichste Stadt der Welt. Nach einer nicht enden wollenden Wartezeit von über vier Stunden wurden sogar wir von den Zoll- und Grenzbeamten Goldors abgefertigt und über die Grenzbrücke gelassen. Wir näherten uns gerade den Grenzanlagen Blaufurts, als ich unseren Verfolgertrupp in Eiswasser eintreffen sah. Ein Blick ins Fernglas bestätigte unseren Verdacht. Die Männer hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich mit den diskreten Leuten der geheimen Reichspolizei zu treffen. Mein PDA-Implantat und ich waren uns sicher, dass diese Typen vermutlich keine vier Stunden warten mussten, bevor sie uns nach Blaufurt folgen würden.
Blaufurt war ein Schock. Diese Stadt hatte keine Struktur, keine Form, keinen Stil, keinen Charme, sie hatte einfach nichts. Die Straßen waren dreckig und marode. Überall lag Müll herum, für den sich niemand verantwortlich fühlte. Man könnte sagen, dass Blaufurt eine heruntergekommene Stadt war, doch dafür hätte sie erst einmal bessere Zeiten erlebt haben müssen. Nichts sah danach aus, als wenn dies jemals der Fall gewesen wäre. Diese Stadt war ein einziger Ramschmarkt. Sie bestand ausschließlich aus Import-/Exportshops, Discountmärkten für billigste Technik, Teppiche, nachgemachte Uhren, angeblich authentischer Elbenkunst, nachgemachter Markenkleidung und, und, und. Abgesehen davon, dass Suman nicht tot war und wir ihn auch nicht beerdigen wollten, fragte ich mich, wer sich in Blaufurt überhaupt freiwillig nach seinem Ableben beerdigen lassen würde. Diese Stadt war das Letzte. Sicher, auch in Crossar gab Straßenzüge mit derartigen Billigläden, aber eine ganze Stadt?
Mühsam bahnten wir uns unseren Weg durch Berge von ausgedienten Kartons, von denen etliche offensichtlich von gestrandeten Seelen bewohnt wurden. Zum Glück kannte sich Meridus in diesem Gewühl aus und manövrierte unserem Minikonvoi von zwei Gleitern sicher durch die Straßenschluchten Blaufurts. Nach einer hektischen viertel Stunde, in der wir bestenfalls in Schritttempo vorangekommen waren, erreichten wir einen Stadtteil, der nicht ganz so schäbig war, wie der Rest der Stadt. Hier würden wir eine Unterkunft für die Nacht finden.
Das I MPERIAL sollte nach Meridus‘ Aussage das beste Hotel am Platz sein. Ich hatte da meine Zweifel, ob eine Kategorisierung mit den Worten »bestes Hotel« überhaupt möglich war. Meiner Meinung nach würde der Einsatz simpler Seife in jenem Etablissement ein Massensterben in der Population einzelliger und insektoider Lebewesen auslösen. Vermutlich war Suman in seiner Geisterstasis der einzige, den die Kakerlaken, von denen ich ausging, dass sie die wahren Bewohner des Hotels waren, nicht beißen würden. Während ich mich vorsichtig durch die Eingangshalle tastete (die meisten Lampen hatten schon vor Jahren ihr letztes Licht gespendet), machte Meridus unsere Zimmerbuchungen klar. Als wir uns später vor den Aufzügen trafen und auf das Eintreffen der Kabine warteten, fragte ich mich, ob die Kleckse auf den Tapeten zu einem aufgedruckten Muster gehörten oder Wanzen waren, die auf der Wand ein Nickerchen hielten oder auf potentielle Opfer warteten.
Man wird meine Verwunderung verstehen, die ich in einem »Wow!« zusammenfasste, als Meridus unsere Zimmertür (Zimmer 1111) öffnete und sich vor uns eine elegante, hochmoderne und klinisch saubere Suite entfaltete. Meridus grinste und schob mich, der mit heruntergeklapptem Kinn vor der Tür stand, mit sanftem Druck in die Suite.
»Willkommen im inoffiziellen Gildehaus Blaufurts!«, meinte Meridus trocken, konnte sich dann aber doch nicht verkneifen, ziemlich breit zu grinsen.
»Gildehaus?«, fragte ich und zog meine linke Augenbraue hoch.
»Inoffizielles Gildehaus!«, korrigierte Meridus, »Du hast Blaufurt gesehen. Es ist ein Moloch in dem es nur ein Recht gibt, das Recht der Habenden. Wer nichts hat, ist Nichts. In dieser Stadt hat alles seinen Preis. Und wenn ich sage alles, dann meine ich alles. Sagen dir zyantropische Kristalle etwas?«
Ich nickte. Ich hatte von ihnen gelesen. Sie werden von den Priesterinnen des Ordens der Zyantropen bei deren heiligen Messen eingesetzt, um die heiligen Bilder und Visionen in den Geist der Gläubigen zu projizieren. Die Zyantropen kennen keine materiell gebundenen Darstellungen ihres Glaubens, wie Gemälde oder Skulpturen. Ihre gesamte religiöse Kunst existiert nur in den Köpfen der Priesterinnen, die diese mit Hilfe ihrer Kristalle erst im Bewusstsein anderer Form werden lassen. Leider lassen sich jene zyantropischen Kristalle auch missbrauchen. In falschen Händen können sie zu perfiden Waffen oder Folterinstrumenten werden, in dem sie ihre Opfer Dinge sehen, hören, ja sogar riechen und fühlen lassen, ohne dass sich diese dessen entziehen könnten. Die wirklich unheimliche Fähigkeit der Kristalle besteht darin, dass derjenige, der sie benutzt, sich nur abstrakt vorstellen muss, was sein Opfer erleben soll. So erzeugt der Gedanke an den Begriff »Schmerz« Schmerzen. Oder der Gedanke an den Tod…
In den meisten Staaten ist der Handel mit zyantropischen Kristallen entweder unter schwerster Strafe verboten oder streng reglementiert. In Blaufurt war es offenbar nur eine Frage des Preises. Wer das nötige Kleingeld besaß, war berechtigt, die Kristalle zu erwerben.
»In dieser Stadt gibt es nichts, was nicht käuflich wäre. Du bekommst jede legale oder illegale Dienstleistung vom Diebstahl bis zum Mord. Der Sklavenmarkt rühmt sich, wirklich jeden Wunsch bedienen zu können. Hauptsache der Preis stimmt. «
So langsam dämmerte mir, warum einerseits Organisationen, wie die Gilde aber auch die Kirche der unifizierten Technokratie in Blaufurt unerwünscht waren, warum aber andererseits der König von Goldor eine Stadt wie diese an seiner Grenze duldete. Hier konnte man die Dinge tun, die man im eigenen Staat unmöglichen tun konnte. Langsam verstand ich, warum Blaufurt als ein sehr gefährlicher Ort galt. Die Handelskammer, aus deren Reihen auch der Bürgermeister bestellt wurde, würde jede Bedrohung der Stadt und ihrer »Privilegien« im Keim ersticken. Ich hatte schon mehrfach gehört, dass die großen Handelsverbände in der Wahl der Methoden, unliebsame Personen unschädlich zu machen, nicht sonderlich feinfühlig waren.
»Und was machen wir jetzt?«, meine Sorge galt nach wie vor Suman. Blaufurt interessierte mich nicht sonderlich.
»Warten!«, war Meridus‘ knappe und äußerst unbefriedigende Antwort.
»Warten?«
»Daelbar weiß Bescheid und man schickt uns ein paar Drachenreiter, die uns mitnehmen werden. Sie sind bereits unterwegs und werden morgen eintreffen und sich im Tal nördlich von Blaufurt verstecken. Morgen werden wir versuchen, uns zu ihnen durch zu schlagen.«
»Versuchen?«
»Was denkst du denn? Dass wir einfach mit Suman unterm Arm die Stadt verlassen können?«, Meridus seufzte, »Zacharias lässt jeden unserer Schritte überwachen. Ich bin mir sicher, dass er geplant hat, uns in Blaufurt überfallen und durchsuchen zu lassen. Die Stadt ist faktisch ein rechtsfreier Raum.«
Diese Aussage verblüffte und entsetzte mich gleichermaßen. Wenn Blaufurt so gefährlich war und wir mit der Wahl dieser Stadt Zacharias geradezu aufgefordert hatten, uns überfallen zu lassen, warum sind wir dann überhaupt das Risiko eingegangen, hier her zu kommen?
»Aus dem gleichem Grund«, antwortete Meridus auf meine Frage und lächelte gequält, »Das Risiko für die Drachen, innerhalb Goldors Grenzen zu landen, wäre viel zu hoch. Auf die Drachen sind immense Kopfprämien ausgesetzt. Die Grenzüberwachung Goldors ist lückenlos. Innerhalb weniger Minuten wären die Jagdverbände unterwegs. Nun, Blaufurt wird nicht überwacht, da auch der König bestimmte Transaktionen diskret und in aller Heimlichkeit abgewickelt wissen möchte. Doch der wichtigste Grund für Blaufurt ist gerade der, dass dies ein gefährlicher Ort ist. Zacharias weiß, dass er hier Straßenräuber und Diebe anheuern kann, die uns ausrauben sollen, ohne dass er sich dabei selbst die Hände schmutzig machen zu muss. Der Geheimdienst des Königs von Goldor bleibt komplett außen vor. Man lässt andere die Drecksarbeit für sich machen. Und wenn alles erledigt ist, wird man sich kurzerhand auch der Räuber entledigen. Ein Mord an einem unregistrierten Dieb oder Räuber kostet bestenfalls 100 Goldstücke Bearbeitungsgebühr. Zacharias wird unsere Entscheidung, nach Blaufurt zu gehen, als Glücksfall angesehen haben. Dass er dabei nur Septimus‘ Plan folgt, ahnt unser tapferer Hafenmeister natürlich nicht. Und wenn doch, scheint es ihn nicht zu stören. Es ist ein riskantes Spiel, auf das wir uns einlassen. Natürlich laufen wir in eine Falle. Aber zu wissen, dass es eine Falle ist, ist der beste Weg ihr zu entgehen.«
Und dann begann das Warten. Eine Weile hockte ich bei Suman, dessen »Sarg« wir mit auf unser Zimmer genommen hatten. Lange konnte ich seinen Anblick nicht ertragen. Der graue Nebel, der auf meinem Freund lag, ließ ihn als wahrlich tot erscheinen. Statt also meinen Freund und Partner traurig anzustarren, begann ich im Wohnzimmer der Suite aufgeregt auf und ab zu laufen. Das Warten machte mich fertig. Die Stadt machte mir Angst. Sumans Zustand raubte mir den Verstand. Verflucht, wo war meine Professionalität geblieben? Ich war ein Gildemeister, ich sollte wissen, wie man sich in einer solchen Situation beherrscht. Aber ich konnte es nicht. Was mich nur noch mehr ärgerte und umtrieb.
»Habe ich dir eigentlich schon von meiner Frau und meinen Töchtern erzählt?«
Meridus‘ Frage riss mich aus meinen trüben Gedanken. Ich starrte ihn an, aber er lächelte nur. »Ich habe ein Bild von ihnen.«, meinte er, griff nach seiner Brieftasche und zerrte ein Foto heraus. Für die nächsten 90 Minuten waren meine Sorgen vergessen. Ich wurde von Meridus mit allerlei belanglosen, amüsanten, skurrilen und banalen Familiengeschichten zugetextet. Obwohl ich wusste, was er damit bezweckte, war ich ihm dankbar, dass er mich von meinen Sorgen ablenkte. Erst viel später, es war bereits Abend geworden und dunkel, meinte Meridus ernst: »Wir werden Suman sicher nach Daelbar bringen. Das verspreche ich dir.«
Wenig später brachte man uns ein einfaches, aber gutes Abendessen aufs Zimmer. Meridus plauderte und plauderte und plauderte. Wie er zur Gilde gekommen war, warum er Arzt wurde und wie er und Septimus Freunde wurden. Letzteres war eine abenteuerliche Geschichte, von deren Wahrheitsgehalt ich nicht vollständig überzeugt war. Seit Sumans Stasis war dies der erste Abend, der erste Tag, an dem ich wieder einmal herzhaft lachte. Müde und erschöpft ging ich schließlich schlafen.
Der Morgen brachte Nachrichten. Die Drachen waren von Daelbar aufgebrochen, hatten aber unterwegs mit unvorhersehbaren Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Man wollte die vereinbarte Ankunftszeit aber trotzdem einhalten. Auch Zacharias langer Arm schien in Blaufurt noch Wirkung zu zeigen. Unsere Informanten berichteten, dass seit dem gestrigen Tag die Stadt nur so von Geheimpolizisten Goldors wimmeln würde.
»Nun, dann kann die Show ja losgehen!«, meinte Meridus, während er sein Frühstücksei löffelte.
»Show?«, fragte ich ein wenig nervös.
»Oh ja! Unser Freund Zacharias traut uns nicht. Er glaubt zwar schon, dass Suman tot ist, scheint aber nicht davon überzeugt zu sein, dass dies das wahre Motiv dafür ist, dass wir deinen Freund nach Blaufurt bringen. Ich bin mir fast sicher, dass er längst weiß, dass Suman aus Crossar kommt. Egal! Wir werden ihm beweisen, dass Suman hier beerdigt werden wollte.«
»Und wie?«
»In dem wir ihn beerdigen, natürlich!«, entgegnete Meridus mit einer Stimme, die sagen wollte, »Wie kann man nur so dumm fragen?« Nicht ganz dazu passen wollte dann aber sein spitzbübisches Grinsen.
Meridus meinte es absolut ernst, als er von einer Beisetzung sprach. Gegen elf Uhr traf eine Kutsche mit verglasten Leichenwagen ein. In ihr wurde Sumans Glassarg platziert. Mir stockte der Atem, als ich ihn so durch die ziselierten Scheiben, aufgebahrt auf weißem Samt, liegen sah. Der Leichenwagen setzte sich in Bewegung, wir folgten in einem ebenfalls von Pferden gezogenen Landauer. Nur sehr langsam bahnte sich der Trauerkonvoi einen Weg durch die quirlige Stadt, aber das war von Meridus offenbar auch beabsichtigt. Jeder, insbesondere Zacharias Agenten, sollten Suman sehen. Und von jenen Agenten gab es viele. Sie machten sich keine große Mühe, sich zu verstecken.
Die Fahrt zum Friedhof dauerte eine halbe Stunde. Zu Fuß hätte man wahrscheinlich nur zehn Minuten gebraucht, aber die Straßen Blaufurts waren einfach mehr als voll. Am Tor des Friedhofs wurden wir bereits von 6 in schwarz gekleideten Sargträgern erwartet. Sie nahmen Sumans Sarg auf und trugen ihn fort. Wir folgten. Kreuz und quer ging es die Gänge zwischen den Gräbern entlang, bis wir zu einer großen Marmorgruft mit schmiedeeisernem Tor kamen. Meridus öffnete das Tor, die Sargträger gingen hinein und wir folgten. Den Namen nach zu urteilen, waren in diesem Mausoleum ausschließlich Gildebrüder beigesetzt. Die rückwärtige Wand bestand aus Grabplatten. An einer Stelle klaffte ein Loch, groß genug, um drin einen Sarg deponieren zu können. Und genau das passierte. Sumans Sarg wurde versiegelt, anschließend in das Loch geschoben und dieses mit einer frischen Grabplatte verschlossen. Ich zuckte zusammen. Auf der Platte waren Sumans Name und Lebensdaten eingraviert.
Am liebsten hätte ich aufgeschrieen. Stattdessen starrte ich Meridus nur entgeistert an. Mein Gildebruder antwortete nicht mit Worten, doch seine Körpersprache war glasklar: »Vertrau mir! Sage jetzt nichts Falsches! Wir werden beobachtet! Alles wird gut.«
Ich schwieg, obwohl ich innerlich aufgewühlt war. Ich wusste, dass Suman in gewissem Sinne noch lebte, trotzdem war mir die ganze Szenerie, die Trauerfahrt durch die Stadt und die anschließende Beisetzung einfach viel zu real. Am ganzen Körper zitternd verließ ich mit Meridus die Gruft. Am Eingang des Friedhofs warteten dunkle Limousinen, die uns zum Hotel zurückbringen sollten. Meridus mochte gute Gründe dafür haben, mich nicht in seine Pläne einzuweihen, doch jetzt, im geschützten Raum des Fahrzeuges, stellte ich ihn zu Rede.
»Können wir jetzt reden?«, meine Stimme war gewollt aggressiv.
Meridus nickte verständnisvoll und antwortete: »Ja, der Wagen ist abhörsicher.«
»Was sollte das alles?«
Der Arzt und Gildebruder seufzte nachsichtig und begann dann zu erklären. Als erstes befreite mich Meridus von einer Sorge, an die ich bisher noch gar nicht gedacht hatte, nämlich, dass Suman in seinem luftdichten Sarg ersticken könnte. Da für ihn zurzeit die Zeit eingefroren war und er somit auch nicht atmen konnte, bestand die Gefahr erst gar nicht. Weiter erklärte Meridus, dass man uns von Beginn an verfolgt und beobachtet hatte. Die Geheimpolizei des Königs hätte ganz genau darauf geachtet, dass Suman auch wirklich beerdigt worden sei. Zacharias von Rochsinasul IV war alles andere als dumm. Er hatte seine Position als Sektionschef der westlichen Provinz durch Leistung und nicht durch Protektion erworben. Nach Septimus‘ Einschätzung, so erläuterte Meridus, vermutete Zacharias wesentlich mehr hinter der Fahrt nach Blaufurt, als nur die Beisetzung von Suman K’Tar. Für einen Kofferträger, wie diesen Suman, wäre die Überführung ein viel zu großer Aufwand. Es galt also, den Sektionschef vollständig davon zu überzeugen, dass die Beisetzung tatsächlich stattgefunden hat.
»Aber wie und wann holen wir Suman wieder aus seinem Grab raus? Wir werden doch bestimmt weiterhin beobachtet, oder?«
»Alles zu seiner Zeit. Entspann dich, es läuft alles nach Plan.«
Meridus hatte gut reden. Mein Schatz lag in einer kalten Gruft umlagert von feindlichen Agenten und ich sollte entspannt bleiben. Grübelnd schaute ich durch die dunkel getönten Scheiben der Limousine auf die Straße. Was ich sah, bestätigte meinen Eindruck vom Vortag. Blaufurt war die mit Abstand dreckigste, versiffteste und schäbigste Stadt, die ich jemals gesehen hatte. Die ärmsten und verrufendsten Ecken Crossars waren noble Boulevards gegen die Straßen Blaufurts. Doch wie es aussah, schien sich niemand dafür zu interessieren.
Statt direkt zu unserem Hotel zurück zu fahren, legten wir einen Zwischenstopp beim Magistrat der Stadt ein. Der Friedhof, auf dem Suman beigesetzt wurde, war städtisch und verlangte für seine Nutzung die Entrichtung einer Gebühr. Überhaupt Gebühren. Blaufurt kannte keine Steuern, dafür aber für alles und jedes eine Gebühr. Selbst um das Rathaus betreten zu dürfen, mussten wir pro Kopf eine Gebühr entrichten. Erst als Meridus gezahlt hatte, konnten wir das Amt durch eine Personenschleuse betreten.
»Wow!«, entfuhr es mir, als ich in die Eingangshalle des Rathauses trat. Meridus grinste: »Ja, mit Gebühren lässt sich eine ganze Stadt finanzieren.«
Glänzender Granit und feinster Marmor zierten die Halle. Unzählige Elbenlichter tauchten den Raum in ein fantastisches Licht. Diese Stadt mochte auf ihren Straßen schäbig sein, aber ihre Verwaltung war reich, unermesslich reich. Sämtliche Leit- und Wegweiser waren in Mithrilschnitt ausgeführt, was ich an der einzigartigen Art, wie Mithril Elbenlicht reflektierte sofort erkannte.
»Schnell, lass uns Suman Grab schnell registrieren. Der Aufenthalt im Rathaus wird im Minutentakt abgerechnet.«
Kein Wunder, dass es nirgends Schlangen an den Schaltern gab. Während Meridus die Registrierung vornahm, fiel mein Blick auf die Gebührenordnung der Stadt, die in einem Schaukasten ausgehängt war. Der erste Gebührenpunkt auf der Liste überraschte mich: »Einsicht in die Gebührenordnung: frei«. Alles andere kostete Geld. Von der Anmeldung einer Geburt bis zur Registrierung einer Beisetzung, die Stadt kassierte immer. Zwei Punkte fand ich ausgesprochen interessant. Da es keine Steuern, die prozentual auf Umsätze angesetzt werden gab und für die Anmeldung eines Handelsgewerbes eine eher niedrige Gebühr fällig war, wurde mir klar, warum Blaufurt für Geschäfte aller Art ein so ausgesprochen beliebter Ort war. Der zweite Punkt, der mich stutzig machte, hing mit der Gebührenordnung für Straftaten zusammen. Wenn ich die Preisliste richtig verstand, war alles nur eine Frage des Geldes, egal, ob es sich um falsches Parken oder einen gedungenen Mord handelte. Dass es, im Gegensatz zu Goldor, in Blaufurt keine Todesstrafe gab, hatte demnach rein ökonomische Gründe. Ein Straftäter hatte seine Schuld auf Heller und Pfennig zu bezahlen. Waren die Geldmittel nicht ausreichend, musste der Täter eben für die Stadt arbeiten oder er wurde, wenn die Strafe zu hoch ausfiel, um sie jemals abarbeiten zu können, als Sklave verkauft. Die schwerste, also teuerste, Straftat, die man in Blaufurt begehen konnte, war konsequenter Weise Geldfälscherei. Das einzige Urteil, welches mir zu alle dem einfiel, war: barbarisch und unzivilisiert. Kein Wunder, dass der Magistrat und Bürgermeister keine Gildeschule oder Kirche der unifizierten Technokratie bei sich duldete. Unser Menschenbild war dann doch ein deutlich anderes. Unsere doch eher total entgegen gesetzten Ethik- und Moralvorstellungen waren vermutlich nicht sonderlich beliebt bei den Mächtigen Blaufurts. Ich war heilfroh, als wir schließlich das Rathaus wieder verließen und ins Hotel zurückkehrten.
Die Zisternen von Blaufurt
Richter: »Für den Raubüberfall verhänge ich eine Strafgebühr von 2 Golddukaten!«
Kläger: »Nur 2 Golddukaten? Dieser Dieb hat mich um 15 Golddukaten bestohlen!«
Richter: »Sehr gut, dann ist er wenigstens in der Lage, seine Strafe zu bezahlen. Nächster Fall!«
Aus einer Gerichtsverhandlung in Blaufurt
Kaum waren wir in unser Hotel, oder sollte ich lieber »inoffizielles Gildehaus« sagen, zurückgekehrt, forderte mich Meridus auf, meine Sachen zu packen. Ich sollte nur die wichtigsten Dinge mitnehmen. Ein Rucksack voll müsste reichen. Mit dem letzten Satz drückte er mir einen wasserdichten Rucksack in die Hand.
Nachdem ich meine Habseligkeiten verstaut hatte, viel war es eh nicht, rief mich Meridus zum Essen. Ich sollte mich vor unserer Abreise stärken, da der Weg aus Blaufurt heraus vermutlich etwas anstrengend werden könnte. Während des Essens schaute Meridus regelmäßig auf seine Uhr, griff zu einem Datenpad und schaute etwas nach. Er wirkte zusehends nervös. Ich hatte gerade aufgegessen, als Meridus erneut auf seine Uhr schaute und schließlich meinte: »Gut, es ist Zeit. Lass uns gehen.«
Wir schulterten unsere Rucksäcke auf und verließen die Suite. Wir riefen einen Aufzug und betraten die Kabine, als sich die Tür des Lifts nach einer kurzen Wartezeit öffnete. Statt auf einen Knopf zu drücken, schob Meridus einen dünnen Kristallstift in eine winzige Öffnung neben dem Bedienfeld mit den Stockwerkstasten. Langsam und gemächlich fuhr der Lift abwärts. Er passierte das Erdgeschoss und auch das Kellergeschoss. Erst als die Anzeige U2 anzeigte, öffnete sich die Kabinentür und wir traten hinaus.
»Ein Fluchtweg… Für alle Fälle.«, erläuterte Meridus knapp, »Komm, wir haben wenig Zeit. Irgendetwas scheint Zacharias Leute aufgeschreckt zu haben. Wir müssen vor ihnen bei Suman sein.«
Noch während er sprach, rannte Meridus los. Ich folgte ihm unmittelbar hintendrein. Der Fahrstuhl hatte uns in einem kleinen Raum, einer etwas größeren Besenkammer ausgespuckt. An einer Wand befand sich eine schwere Stahltür, die Meridus öffnete. Hinter der Tür verlief ein düsterer Gang mit allerlei Rohren und Leitungen. Wir befanden uns in den unterirdischen Versorgungsgängen Blaufurts, welche die gesamte Stadt durchzogen. Meridus schien sich hier hervorragend auszukennen. Mit traumwandlerischer Sicherheit führte er uns durch ein Gewirr von Gängen und Schächten, entlang an Kreuzungen und über Brücken, die irgendwelche tiefen Schächte oder mannshohe Rohrleitungen überspannten. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und deutete mir mit Handzeichen an, absolut still zu sein. Dann lauerte Meridus um eine Ecke, prüfte die Lage und entschied dann, ob der Weg sicher war.
An einer Stelle drehten wir sofort um. Meridus hatte Techniker der Stadtwerke entdeckt, die an einer Stromleitung arbeiteten. Da er nicht riskieren wollte, entdeckt zu werden, umgingen wir den Arbeitstrupp über verschiedene Parallelgänge.
»Hier!«, wir waren etwa eine viertel Stunde unterwegs, als Meridus stoppte und auf einen Schacht zeigte, der rechts neben uns in die Tiefe ging. Am oberen Rand des Schachtes konnte ich einen Handlauf erkennen. Offenbar gab es eine Leiter oder Sprossen, die hinab in die Tiefe führten. Nach wenigen Stufen stellte ich fest, dass Tiefe übertrieben war. Wir waren bestenfalls zwei Meter abwärts geklettert. Meridus händigte mir eine Stirnleuchte aus und setzte sich ebenfalls eine auf. Ich sah mich um und entdeckte einen dunklen Gang, den wir dann auch sofort betraten. Nach weiteren zwei Minuten endete der Gang in einem kleinen Raum. Während die Versorgungsgänge und Schächte aus einfachem grauen Beton gefertigt waren, sah dieser Raum völlig anders aus. Als erstes wirkte er alt. In allen Ecken wuchs grünes Moos. Überhaupt dominierte die Farbe grün. Wir befanden uns in einer Art Kontrollraum. An einer Wand befand sich eine Tafel mit altertümlichen Messinghebeln, die in den Jahren matt geworden waren und ihren alten Glanz verloren hatten. Über jedem Hebel war eine Marmortafel angebracht, auf der die Funktion des Hebels eingraviert war. Darüber befanden sich Glassäulen, in denen ein Pegelstand anhand einer seitlich angebrachten Skala abgelesen werden konnte. Alle Säulen waren beleuchtet und schimmerten gelblich-grün.
»Wir befinden uns im nördlichen Kontrollraum der alten Zisterne Blaufurts.«, erläuterte Meridus und betätigte einen der Hebel. Darauf drang ein entferntes Gurgeln zu uns vor, während der Pegel der Säule, dessen Hebel betätigt wurde langsam sank und die anderen Pegel gleichmäßig stiegen. Meridus beobachtete die Skala, um, als der Pegel eine bestimmte Marke erreichte, den Hebel erneut zu betätigen. Diesmal in die andere Richtung. Das Gurgel verebbte und der Pegel rührte sich nicht mehr.
»Ich hoffe, dass deine Tauchausbildung gut war.«, murmelte Meridus und setzte sich wieder in Bewegung. Der Raum hatte an der dem Schaltfeld gegenüberliegenden Seite eine Tür. Als ich durch sie hindurch trat, war dies ein Augenöffner. Vor mit eröffnete sich eine riesige Halle. Von einer umlaufenden Balustrade schauten wir in ein Hallengewölbe, dessen Ende ich nicht ausmachen konnte. In absolut perfekt regelmäßigen Abständen stützten Marmorsäulen die Decke, an der sich der Inhalt der Halle reflektierte. Unter uns erstreckte sich ein riesiger See glasklaren Wassers. Lichter an den Säulen ließ die Wasseroberfläche funkeln und glitzern. Was für ein phantastischer Anblick. Und was für ein Kontrast. Bei all dem Dreck und Schmutz der Stadt, verströmte diese Halle eine geradezu sakrale Reinheit.
»Was du hier siehst, ist eine der Zisternen Blaufurts. Dieses Wasser ist ihr Schatz, denn die Region Goldors jenseits der Blauwasser ist ein wasserarmes Gebiet. Das Wasser des Flusses ist verunreinigt und für Mensch und Tier nicht geeignet. Blaufurt verkauft sein Wasser an Goldor. Diese Zisternen sind das bestgehütete Geheimnis Blaufurts. Wir sollten also zusehen, dass wir nicht entdeckt werden.«
Meridus führte mich die Balustrade entlang bis zu einem dunklen Durchgang, an dem wir unsere Stirnlampen wieder einschalteten. Offensichtlich handelte es sich bei dem Durchgang um einen Luftschacht, der allerdings über einen Abzweig verfügte, den die ursprünglichen Erbauer so nicht geplant hatten. Wir folgten diesem Abzweig und landeten in einem winzigen, dunklen und muffig riechenden Raum.
Meridus gab mir wieder einmal ein Zeichen, absolut ruhig zu sein. Ich stellte mich still in eine Ecke des Raums und beobachtete Meridus. Jener suchte mit seiner Lampe die mir gegenüberliegende Wand ab. Nach wenigen Sekunden fand er was er suchte, einen Knopf, den er drückte. Es gab ein ganz leises Klicken, gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren Surren, als ein Teil der Wand in den Boden fuhr. Hätte mir Meridus nicht ganz deutlich signalisiert, auf keinen Fall ein Geräusch von mir zu geben, ich hätte laut aufgeschrieen. Was die verschwundene Wand frei gab, war nichts Geringeres als Sumans Sarg!
Fast noch verblüffter war ich, als Meridus ein Datenpad zückte, ein wenig darauf herumtippte und plötzlich der Sarg zu schweben begann. Meridus grinste, während ich nicht glauben wollte, was ich sah. Hatten Septimus und Meridus Sumans Sarg doch tatsächlich aus einem Lastgleiter zusammengebaut.
Bevor Meridus Suman in den Gang, der zur Zisterne zurückführte, manövrierte, warf er mir zwei Säcke zu, die in ein anderes Grab für uns bereitgelegt worden waren. Die ganze Aktion fand dabei absolut geräuschlos und schweigend statt. Erst als wir wieder in der Zisterne waren und den Zugang weit hinter uns gelassen hatten, erklärte mir Meridus: »Vor der Gruft wimmelte es von Agenten. Jedes Geräusch hätte ihre Neugier geweckt.«
Die Zisternenanlage Blaufurts war riesig. Wir querten mindesten drei weitere Hallen wie die erste. In jeder glitzerte glasklares Trinkwasser. In einer Halle bestand der Boden aus einem kunstvollen Mosaik mit Motive aus Geschichten, die von Wassergeistern handelten. Zwischen den Hallen gab es Kanäle, Sperrwehre, Pumpanlagen und Sprudelbecken. Es war eine Welt für sich, die hier im Verborgenen schlummerte.
Meridus steuerte den Gleitersarg mit Suman sehr geschickt durch und über die verschiedenen Gänge, Brücken und Laufstege. Vor jeder Abzweigung überprüfte er unseren Weg und sondierte die Lage. Nichts wäre schlimmer, als unerwartet einem Wassertechniker Blaufurts zu begegnen. Wie ich später erfuhr, waren die Wassertechniker ein ähnliches Geheimnis in blaufurtianischen Gesellschaft, wie die Meister der Gilde außerhalb Blaufurts. Da niemand wissen durfte, wo und dass die Zisternen existierten, existierten offiziell auch keine Wassertechniker. Und so sollte es natürlich auch für immer bleiben, weswegen die Techniker nur auf eine Weise mit Eindringlingen in ihr Reich verfuhren. Sie brachten sie sofort und ohne Diskussion um.
Wir hatten in soweit Glück, dass uns während unserer Odyssee durch die Anlage niemand begegnete. Als uns Meridus allerdings in einen Raum führte, zu dem es nur einen Zugang gab, nämlich den, durch den wir gerade gekommen waren, war ich mir nicht mehr sicher, dass das Glück noch auf unserer Seite war.
In den Raum waren wir über einen metallenen Laufsteg durch einen etwa 30 Meter langen Gang gekommen. Der Steg hing an Ketten, die an der Decke des Ganges befestigt waren. Unter dem Steg strömte klares Wasser. Der Raum, in dem wir nun standen, war eine kleine Kuppelhalle. Der Steg mündete in einen etwa 2 Meter breiten Umlaufring, der entlang der Kuppelwand verlief. In der Mitte befand sich ein kreisrundes Wasserbecken von etwa 5 Meter Durchmesser, über dessen Rand jenes Wasser lief, das anschließen den Gang entlang strömte. Für mich sah es so aus, als wären wir in einer Sackgasse gelandet.
»Was du hier siehst, ist einer der Quellbrunnen der Zisterne. Wenn du in das Becken schaust, wirst du sehen, dass es keinen Boden besitzt. Nun, von hier aus führt ein unterirdischer Fluss bis zum grünen See im Tal nördlich von Blaufurt. Es sind etwas mehr als sieben Meilen Wegstrecke. Pack bitte die beiden Beutel aus, die wir von der Gruft mitgenommen haben.«
Der Inhalt der Beutel bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Taucheranzüge, -gürtel, -messer und Langzeitatemgeräte. Jetzt verstand ich auch, warum ich meine Habseligkeiten in einem wasserdichten Rucksack verstauen sollte. Ich wusste, was von mir erwartet wurde. Ich seufzte einmal auf und begann, mir den Trockenanzug anzuziehen. Meridus tat das gleiche. Anschließend befestigte er ein Seil an Sumans Sarg, fädelte es durch eine Öse am Gürtel seines Anzuges und warf mir schließlich den Rest des Seiles zu: »Die Strömung ist zu stark, als dass wir aus eigener Kraft die Strecke durchtauchen könnten. Wir haben Sumans Sarg so konstruiert, dass er uns als Antrieb dient. Er wird uns bis zum See ziehen. Da dein Schatz in Stasis ist, wird ihn das Wasser nichts anhaben. Außerdem ist der Sarg wasserdicht. Suman wird als einziger nicht nass werden.« Ein weiteres Mal war ich vom Einfallsreichtum und der Professionalität der beiden Gildemeister Meridus und Septimus überrascht. Was die beiden ausheckten, hatte Hand und Fuß.
Schwer bepackt sprangen wir in das Quellbecken. Meridus hatte den Sarg bereits vorher hineingesteuert.
»Bist du bereit?«, fragte Meridus.
Eher zögernd gab ich mein Ok-Zeichen und der Tauchgang begann. Ganz nebenbei, ich war gerade damit beschäftigt mir die Taucheranzugspelle überzuziehen, bemerkte Meridus, dass wir gut eine Stunde brauchen würden. Unser Atemluftsystem basierte auf einer speziellen Elbentechnik und würde uns etwas mehr als eine Stunde mit Luft versorgen können. So schätzungsweise ein einviertel Stunde. Sollte, was nicht zu erwarten war, der Antrieb während der ersten Hälfte der Wegstrecke in Sumans Sarg ausfallen, würden wir immer noch genug Zeit und Atemluft haben, um uns von der Strömung zurücktreiben zu lassen. Sollte der Antrieb danach versagen… nun ja, ohne Luft kann man nicht atmen. Aber ich sollte mir keine Sorgen machen, der Antrieb wäre sehr solide und robust. Ich gebe zu, dass mich Meridus‘ Ausführungen nicht wirklich beruhigten. Tauchen war keine meiner bevorzugten Sportarten gewesen. Während meiner Zeit in der Gildeschule war Reiten mein Lieblingssport.
Das Wasser war eiskalt. Selbst durch die dicken Trockenanzüge konnte man die Kälte des Wassers erahnen. Ohne sie, wären wir in wenigen Minuten an Unterkühlung gestorben. Meridus und ich hatten unsere Lampen eingeschaltet. Auch Sumans Sarg verfügte über zwei starke Scheinwerfer an seiner Stirnseite. Somit konnten wir ganz gut sehen, obwohl es nicht viel zu sehen gab. Wir befanden uns im inneren einer großen Röhre von etwa vier Metern Durchmesser. Das Wasser war absolut klar und frei von Schwebeteilchen, so dass wir recht weit voraus sehen konnten. Nur gab es dort nichts zu sehen, außer noch mehr Rohr und noch mehr Wasser. So blieb uns nichts anderes übrig, als uns von Sumans Sarg Meter um Meter voranziehen zu lassen, was sehr anstrengend war. Obwohl wir nur sehr langsam vorankamen, zerrte das Wasser an unseren Anzügen, da sich die Strömung nicht nur aus unserem Vortrieb, sondern auch aus der entgegen gesetzter Fließrichtung des Wassers bestand. Ohne Antrieb wären wir sofort mit dem Wasser mitgerissen worden und wieder in der Zisterne gelandet. Ich wusste, dass es nicht leicht werden würde, aus Blaufurt heraus zu kommen, aber mit dieser Art von Flucht hatte ich nicht gerechnet.
Die Fahrt durch den Tunnel zog sich endlos hin. Eigentlich hatten wir nichts zu tun, außer uns von Sumans Sarg durch das Wasser ziehen zu lassen. Doch die Anstrengungen, die das Gezerre des Wasser verursacht, das schwere Atmen mit einem Lungenautomaten, die unwirtliche Umgebung, der Druck des Wassers auf meinen Ohren und die damit verbundenen lauten Strömungsgeräusche ermüdeten und zermürbten mich. Nach relativ kurzer Zeit hing ich einfach nur noch am Seil und ließ mich ziehen. Den Kopf nach vorne zu recken und zu schauen, wohin die Reise ging, war eine viel zu große Kraftanstrengung, als dass ich dies lange durchhalten konnte oder wollte. Meridus‘ Fluchtweg gefiel mir von Minute zu Minute weniger.
Mir war, als würden wir schon seid Stunden durch die Pipeline schwimmen, als Meridus ein vorher vereinbartes Blinksignal auslöste. Wir hatten den Punkt erreicht, ab dem ein Abbruch unmöglich wurde. Würde jetzt der Antrieb versagen, würde unsere Atemluft nicht mehr ausreichen, um zur Zisterne zurück zu kehren. Für einen Moment setzte mein Herzschlag aus – Alles oder nichts!
Die Minuten krochen dahin. An meinen Ohren rauschte das Wasser und zerrte an meinen Nerven.
Und dann passierte, was nicht passieren durfte. Für Meridus musste die Fahrt genauso anstrengend sein, wie für mich. Eigentlich noch anstrengender, da er unseren Antriebssarg auch noch steuern musste. Nicht, dass es eine Wahl gab, wohin wir fuhren, doch mussten wir in der Mitte der Röhre fahren, um nicht gegen die Wände zu prallen. Und genau dies geschah. Ich wusste nicht, ob Meridus ohnmächtig oder durch Erschöpfung eingenickt war, jedenfalls steuerte Sumans Sarg direkt auf die rechte Seitenwand zu. Als ich bemerkte, was passierte, wachte ich sofort aus meinem eigenen Dämmerzustand auf und riss meinen Kopf nach vorne, um zu sehen, was los war. Ich konnte gerade noch erkennen, wie Meridus aufschreckte um gegenzulenken.
Zu spät. Der Doktor geriet zwischen Sarg und der Seitenwand der Pipeline und knallte mit dem Kopf hart auf. Sofort sackte Meridus in sich zusammen und ließ das Kontrollpad für die Steuerung fallen.
Glücklicherweise war das Pad mit einer reißfesten Schnur an Meridus Gürtel befestigt. Die Strömung riss es zwar mit sich, doch stoppte sein Weg nach zwei Metern. Im gleichen Moment setzte der Antrieb aus, wir wurden langsamer und begannen rückwärts zu treiben.
»Scheiße!«, war mein einziger Gedanke, dann übernahm mein Überlebenswille. Innerhalb weniger Momente hatte die Strömung den Sarg, Meridus und mich zusammen geschoben. Wir trieben zurück in Richtung Zisterne. Durch den fehlenden Antrieb trudelten wir umher. Es war schwer, oben von unten oder vorne von hinten unterscheiden zu können. Ich versuchte Meridus zu packen, was mir nach drei Versuchen auch gelang. Als ich ihn hatte, tastete ich mich an seinem Anzug bis zu seinem Gürtel vor. Was für ein Glück, die Schnur mit dem Steuer-Pad war noch vorhanden! Vorsichtig holte ich die Leine ein, bis ich das Pad zu fassen bekam. Es war unbeschädigt. Zusammen mit dem Pad hangelte ich mich weiter bis zum Sarg vor und befestigte das Seil, das mich über Meridus mit Sumans Sarg verband direkt mit dem Sarg. Ich starrte auf die Anzeige. Vor meinen Augen leuchteten sechs große Tastfelder auf: plus, minus, links, rechts und auf und ab. Was blieb mir anderes übrig, ich musste es versuchten. Vorsichtig drückte ich die Plustaste.
Der Sarg setzte sich in Bewegung, doch war seine Lage und Ausrichtung vollkommen verkehrt. »Konzentration!«, feuerte ich mich an, »Konzentration.«
Langsam, viel zu langsam, gelang es mir unseren Unterwasserantrieb wieder richtig auszurichten. Kaum hatte ich das erreicht, gab ich Gas. Ich drückte so oft auf die Beschleunigungstaste, bis sich die Geschwindigkeit nicht mehr erhöhte. Wir waren wieder auf dem richtigen Kurs, doch hatten wir mit unserem Unfall sehr viel Zeit verloren. Ein Blick auf die in das Steuer-Pad eingebaute Entfernungsanzeige, unsere aktuellen Geschwindigkeit und der daraus errechneten Zeit, die wir noch unter Wasser verbringen würden, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Die Luft würde nicht reichen! Mein Druckmesser bestätigte meine Befürchtung. Wir waren verloren!
Ich fühlte mich hilflos. Trotzdem steuerte ich Sumans Sarg weiter durch die Pipeline. Wozu?
Plötzlich und ohne, dass ich die Kontrollen des Pads angefasst hätte, beschleunigte der Sarg. Wir machten einen deutlichen Satz nach vorne. Die Geschwindigkeit wurde so hoch, dass ich Mühe hatte das Pad in der Hand zu behalten. Es war, als wenn eine Bremse gelöst worden wäre oder sich unser Strömungswiderstand deutlich vermindert hätte.
Meridus!
Erneut erreichte mein Blut Gefriertemperatur. Ich drehte meinen Kopf zu Meridus, doch der war weg. Ich griff nach dem Seil welches Merdius mit mir verband. Abgeschnitten! Meridus hatte sich für Suman und mich geopfert.
Am Ende des Weges
Der Ork im Haus ersetzt den Zimmermann
Altes elbisches Sprichwort
Die restliche Wegstrecke verdrängte ich, was gerade geschehen war und konzentrierte mich darauf, heil durch die Pipeline zu manövrieren. Was ausgesprochen schwierig war, da die Geschwindigkeit jetzt wesentlich höher als vorher war. Wenn ich den Anzeigen des Steuerpads und meines Lungenautomaten glauben durfte, dann würde meine Atemluft bis zum Ziel gerade eben reichen. Einen Spielraum für weitere Fehler gab es nicht.
Ich versuchte das letzte aus dem Antrieb zu quetschen und mich möglichst strömungsgünstig direkt hinter dem Sarg zu platzieren. Meridus‘ Opfer durfte nicht umsonst gewesen sein!
Eine viertel Stunde zog sich endlos dahin. Ich fühlte, wie die Erschöpfung sich meines Körpers bemächtigte. Es fiel mir immer schwerer, mich auf den Weg zu konzentrieren. Zumal die Pipeline auf der letzten Meile auch noch kurvenreich wurde und sehr genaues Manövrieren verlangte. Etwa 150 Meter vor meinem Ziel fing ein Warnlicht an meinem Anzug an zu blinken. Mein Luftvorrat war so gut wie erschöpft. Bei 60 Metern ging das Blinken in ein Dauerlicht über. Der Sauerstoffvorrat war erschöpft, von nun an blieb mir nur noch das übrig, was die Regenerationseinheit an Sauerstoff rück gewinnen konnte. 25 Meter – Licht! Ich sah das Ende vor mir, doch das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Ich bekam Schmerzen in der Brust. Durchhalten! 10 Meter? 8 Meter? Die Anzeigen verschwammen vor meinen Augen. Mit letzter Kraft hielt ich meinen Daumen auf den Plus- und Aufwärtstasten der Steuerung gedrückt.
Der See! Kaum war der Sarg über die Ansaugöffnung der Pipeline hinaus, war der Gegendruck verschwunden. Der Sarg machte erneut einen Satz und schoss an die Oberfläche, durchstieß die Wasserlinie und beschrieb einen hohen Bogen durch die Luft, wobei er mich mit sich riss. Der anschließende Aufprall weckte mich und ich riss mir die Atemmaske vom Gesicht. Luft! Frische, saubere Luft füllte meine Lungen. Ich hatte es geschafft, aber zu welch einem Preis?
»Ok, Gildemann, fahr langsam ans Ufer und komm ja nicht auf die Idee irgendeinen Trick zu versuchen. Wir haben dich im Visier!«
Nein! Dass konnte, das durfte nicht wahr sein! Noch während ich mich von meiner akuten Atemnot erholte, drang eine ausgesprochen unfreundliche und besorgniserregende Stimme an mein Ohr. Vorsichtig sah ich mich um und versuchte mich erst einmal zu orientieren. Sumans Sarg und ich schwammen knapp 50 Meter vom Ufer eines gut 750 Meter großen Gebirgssees entfernt herum. Am besagten Ufer standen vier Männer, der Kleidung nach Geheimpolizisten des Königs von Goldor. War unsere Flucht also doch aufgeflogen oder wurden wir verraten?
Drei der Männer hielten einen Bogen mit Laserzieleinrichtung in ihren Händen. Die Bögen waren gespannt. An Flucht war nicht zu denken.
Resigniert griff ich nach dem Steuer-Pad und peilte das Ufer an. Langsam fuhr ich auf meine Gegner zu, erschöpft und geschlagen. Sie hatten gewonnen. Meridus war tot, ertrunken. Ich war zu erschöpft, um mich zu wehren. Die Geheimpolizisten dagegen wirkten frisch, bewaffnet und zufrieden.
»Hat der Chef mal wieder den richtigen Riecher gehabt! Wollte sich unser kleiner Gildeschlingel doch tatsächlich aus dem Staub machen.«, jubelte der gleiche Geheimpolizist, der mich schon vorher angerufen hatte. Kaum war ich am Ufer, wurde ich von zwei der Polizisten gepackt und mir die Arme hinter dem Rücken zusammen gezogen. Der dritte Polizist versetzte mir vier Magenhiebe und zwei Kinnhaken. Ich ging zu Boden, krümmte mich vor Schmerzen und rotzte Blut.
»Wo ist dein Gildekollege?«, fragte der Sprecher der vier.
»Tot! Ertrunken!«, antwortete ich und erntete dafür ein paar Fußtritte.
»Erzähl uns keinen Scheiß! Wo ist T’Saal?«
»Ertrunken! Wir hatten einen Unfall. In der Pipeline! Meridus‘ Seil wurde durchtrennt. Seht doch in der Zisterne nach, wenn ihr mir nicht glaubt!«, fauchte ich meine Peiniger wütend an.
Ich erntete einen weiteren Tritt, der aber glücklicherweise nur halbherzig ausgeführt wurde. Dafür wandte sich der Sprecher der Gruppe, der anscheinend auch deren Anführer war, Sumans Sarg zu.
»Treibt ihr nicht ein wenig viel Aufwand, für so einen Scheiß Gildekadaver? Da steckt doch mehr dahinter. Mal sehen…«
»Rührt Suman nicht an, ihr Arschlöcher!«, brüllte ich los und erntete drei Fußtritte, diesmal wieder mit voller Motivation dahinter.
»Ach ja, ich vergaß!«, höhnte der Anführer der Truppe, »Der Kalte war ja dein Fickschlitten. Ihr Gildetypen seid doch alle krank. Schreckt nicht einmal davor zurück, es mit dem eigenen Geschlecht zu treiben. Und ihr wollt den Menschen etwas von Moral und Ethik vermitteln? Bäh! Auf eure kranke Moral scheiße ich!«
»Tut mir Leid, wenn ihr euch mit unseren Lehren nicht anfreunden könnt!«, röchelte ich gequält und wusste, dass ich neuerliche Fußtritte geradezu herausforderte, »Vermutlich benötigt man ein gewisses Mindestmaß an Intelligenz, um uns begreifen zu können.«
Ich hatte es herausgefordert. Der Stiefel eines der vier trat erneut in schmerzhaften Kontakt mit meinem Körper.
»Ist das alles, was ihr könnt?«, lachte ich und rotzte noch mehr Blut, »Einen wehrlosen Mann foltern?«
Der Anführer sprang auf mich zu, packte mich am Kragen meines Taucheranzuges und stellte mich auf die Beine. Mein Körper schrie vor Schmerzen auf, als mir der Typ direkt ins Gesicht sah: »Du spielst ein gefährliches Spiel! Was sollte mich davon abhalten, dich einfach so kalt zu machen, wie dein Freund schon ist?«
»Dein Chef?«, hustete ich, wobei ein paar Blutspritzer im Gesicht meines Peinigers landeten, »Ich glaube nicht, dass Zacharias es gerne sehen würde, wenn es wegen mir zu einem Agentenkrieg kommen würde.«
Der Typ musterte mich genau. Offenbar versuchte er meine Gedanken zu erraten. Schließlich lächelte er: »Ich habe eine schlechte Nachricht für dich. Der Boss hat uns nur befohlen, dich am Leben zu lassen. In welchem Zustand, hat er nicht gesagt. Wir haben alle Freiheiten der Welt mit dir zu tun, was wir wollen. Zacharias interessiert nur eins: Informationen. Wie wir die erhalten, hat er uns überlassen. Du hast also die Wahl. Du kannst uns freiwillig alles sagen, was wir wissen wollen, oder du schweigst und wir holen die Information aus dir raus. Mir würde es gefallen, wenn du schweigen würdest.«
Und, um zu beweisen, wie viel Spaß ihm sein Beruf macht, trat mir der Anführer der Geheimpolizisten in die Kronjuwelen. Ich sah Sterne und ging zu Boden.
»Entschuldigung, wenn ich störe…«
Meine Augen waren fest zusammengekniffen. Der Tritt ins Gemächte hatte mir den Atem geraubt. Ich lag zusammengekrümmt am Boden und hielt mir meine schmerzenden Eier. Deswegen konnte ich den Urheber der neuen Stimme nicht ausmachen. Ich bemerkte nur, dass sie merkwürdig klang. Sehr kraftvoll, potent und selbstsicher.
»Wer…«, hörte ich den Chef der Polizisten ansetzen und wunderte mich, warum er nicht weiter sprach.
»Ich glaube, ihr solltet jetzt verschwinden!«, drohte die Stimme, bei dessen Klang ich mir fast vor Angst in die Hose geschissen hätte. Zugegeben, mein Zustand war jämmerlich.
»Du dreckiger Ork!«, fauchte der Chefbulle und hatte somit seine Stimme wieder gefunden, »Was wagst du es dich in eine Aktion der Geheimpolizei Goldors einzumischen? Du bist Kanonenfutter, Eigentum des Königs, und hast unseren Befehlen zu gehorchen! Und ich gebe dir einen Befehl: verschwinde, bevor ich dich neutralisiere.«
»Irrtum, ich gehöre niemandem.«, der Ork klang beeindruckend, »Verschwindet oder kämpft.«
Dann ging alles sehr schnell. Eine Schwertklinge wurde aus einer Scheide gezogen. Vier mal hörte ich, wie die Klinge durch die Luft sauste und Muskeln, Gewebe und Knochen zerschnitt. Viermal hörte ich einen Körper zu Boden fallen. Danach verschwand die Klinge wieder in ihrer Hülle. Dann herrschte Ruhe. Ich lag immer noch am Boden und kämpfte mit dem nur sehr zögernd nachlassenden Schmerz in meinem Schoß.
Plötzlich berührte mich eine Hand und tastete mich ab. Sie war kräftig, doch gleichzeitig auch vorsichtig. Genauso vorsichtig öffnete ich meine Augen und erschrak. Vor mir stand nicht etwa ein Ork, sondern ein riesiger Hüne von einem Uruk, den tödlichsten Kampfmaschinen, die es gab.
Doch statt mich zu töten, begann dieser Uruk mich zu verarzten: »Bitte bleib ruhig und bewege dich nicht. Du hast ein paar gebrochene Rippen und einen angebrochenen Kiefer. Ich werde dir ein schmerzstillendes Mittel geben und dich dann tragen. Habe keine Angst, ich bin Uskav und ich bin hier, um dich zu retten.«
Fingolf
Ein Winterabend
»Wie viele Drachen benötigt man, um eine Glühbirne auszutauschen?«
»Ey, machst du Witze? Wie soll ich mit solchen Klauen Glühbirnen wechseln?«
Lindor zu schlechten Drachenwitzen
»Guten Morgen, Kleiner!«, jubilierte Mithval fröhlich in Gilfeas Schädel, der sich eigentlich noch in einer gemütlichen REM-Schlafphase befand.
Vermutlich würde Gilfea nie verstehen, wie sein Drache früh morgens zu dieser unerhört unerfreulichen Fröhlichkeit fähig war, und diese zusammen mit erschreckender Wachheit verbreiten konnte. Mithval und Gilfea waren zwar ein Wesen, aber eben auch in zwei Körpern. Und jener schlafende Körper, Gilfeas Körper, schlief gerne und dies besonders gerne auch mal lang. Das Schuppentier hingegen, ließ keine Sekunde aus, das Leben intensiv und in hellwachem Zustand zu genießen.
Während sich Gilfea also in den Federn seines Bettes wälzte, um den unvermeidlichen Aufwachprozess noch um ein paar Minuten hinauszuzögern versuchte, schickte ihm Mithval in Bildern in sein Bewusstsein, wie er zwischen den Bergen Daelbars mit aberwitziger Geschwindigkeit fröhlich hin und her sauste.
Gilfea kapitulierte vor Mithvals Verrücktheiten. Sie waren einfach ansteckend, was dazu führte, dass sich ein Grinsen auf Gilfeas Lippen schlich.
»Was machst du gerade?«
»Ich gebe Narsul und Eariglin Flugstunden.«
Narsul und Eariglin waren zwei Jungdrachen, gerade einmal drei Wochen alt. Eariglin, ein strahlend blauer Seedrache, war ein besonders aufgewecktes Kerlchen für eine Echse. Sein Charakter, soweit man bei einem derart jungen Drachen davon bereits sprechen konnte, erinnerte verblüffend stark an Mithval. Was vermutlich der Grund war, warum sich die beiden so gut miteinander verstanden. Jeder, der die Beiden beobachtete, gewann den Eindruck, Brüder zu sehen. Mithval kam natürlich die Rolle des älteren Bruders zu, da er einerseits natürlich älter, aber vor allen auch wesentlich größer als Eariglin war. Der Natur der beiden Drachen nach würde sich auch in fernerer Zukunft nichts ändern. Eariglin als Seedrache würde niemals so groß wie Mithval werden, der einzige Mithrildrachen den es je gab und auch jemals geben würde.
Es war ganz offensichtlich, dass Eariglin Mithval bewunderte, zu ihm aufschaute und vielleicht sogar ein wenig vergötterte. Als Beobachter wäre man leicht versucht dies auf den Alters- und Größenunterschied zurückzuführen, doch damit unterläge man einem Irrtum und würde obendrein das Wesen der Drachen verkennen. Eariglin wusste vom Moment an, als er Mithval das erste Mal sah, dass dieser Drache sein Freund sein würde. Jemand, auf den er sich uneingeschränkt verlassen konnte. Außerdem war Mithval Gilfeas Drache, während er Gildofals Drache war, was alles sehr interessant gestaltete. Denn, was ihre beiden Seele noch nicht sahen oder sehen wollten, sahen ihre beiden Drachen dafür umso deutlicher.
Narsul war hingegen ein ganz anderes Thema. Zum einen war er eine sie, denn Narsul war eine rote Drachendame und passte perfekt zu ihrem Reiter, Uskav dem Uruk. Die Nachricht, dass ein Drache einen Ork, sogar einen Uruk, als Seele erwählt hatte, schlug wie eine Bombe in das an sich ruhige Leben Daelbars ein. Schon die Tatsache, dass ein Uruk nicht nur Bürger Daelbars war, sondern auch zum ersten Senator für die Verteidigung der Stadt erwählt wurde, hatte für einigen Aufruhr gesorgt. Viele Bürger Daelbars waren Flüchtlinge und hatten, bevor sie Daelbar erreichten, wenig gute Erfahrungen mit Orks gesammelt. Einige hatte sogar Freunde und Verwandte durch die Hand eines Orks verloren und wurden von diesen als Teil der Nahrungskette betrachtet. Niemand war daher verwundert, dass es hier und da harte Gefühle gegenüber Uskav gab. Dass diese sehr schnell verstummten, hatte zwei Gründe. Der erste war: die Drachen vertrauten Uskav. Kein denkendes, vernunftbegabtes Wesen war in der Lage eine ganze Halle, voll gestopft mit Drachen, zu belügen. Als Uskav in der golden Halle des Rates von Daelbar stand, fühlte er, wie die Drachen bis in den hinterletzten Winkel seiner Seele schauten. Nichts blieb verborgen, doch wurde auch nichts enthüllt. Die Drachen und Uskav verstanden einander. Sprache war überflüssig.
Der zweite Grund war ähnlich erstaunlich und für viele überraschend. Uskav stellte sich jedem einzelnen Bürger, der ein Problem mit ihm hatte. Es ging nicht darum, dass er jedermanns Freund werden wollte. Doch wenn es ihm schon nicht gelang, von jedermann gemocht zu werden, dann sollte man ihn wenigstens respektieren. Erstaunlicherweise ging genau diese Idee auf. Innerhalb weniger Wochen wurde Uskav zu einem geschätzten und geachteten Bürger. Bis Narsul ihn erwählte.
Die Tatsache, dass ein Drache einen Uruk als Seele erwählte, dass dieser Drache ein roter Drache war und die Umstände, unter denen die Wahl und Vereinigung erfolgte, sorgten für helle Aufregung. Rote Drachen waren schon immer ein Symbol des Krieges gewesen. Dass ein roter Drache nun ausgerechnet einen Uruk erwählte, wurde als doppelt dunkles Omen angesehen. Uskav und Narsul waren die untrüglichen Vorzeichen eines heraufziehenden Sturms des Blutes und Todes. Auf Daelbars Bergen und Tälern mochte noch kein dunkler Schatten liegen, doch an Daelbars Rändern tastete sich etwas Bedrohliches vorsichtig heran.
Für Mithval, Eariglin und Narsul spielte dies alles keine Rolle. Gerade die beiden Jungdrachen genossen die kurze sorglose Zeit ihrer Adoleszenz und freuten sich, dass ein so mächtiger Drache wie Mithval ihr bester Freund geworden war. Man konnte so unendlich viel von ihm lernen. Und der Flugunterricht mit ihm war einfach unbeschreiblich geil.
»Und, wie machen sich die beiden?«, fragte Gilfea.
»Wie wohl? Was erwartest du von einem Seedrachen? Der Kleine schlängelt sich durch die Luft, als wenn er durch die Schluchten der Tiefsee tauchen würde. Und Narsul? Ich sage nur: rot und heißblütig!«, Mithval kicherte, »Apropos heißblütig, wie geht es deinem Liebesleben?«
Gilfea schüttelte resigniert den Kopf. Warum konnte Mithval dieses spezielle Thema nicht einfach mal für eine Weile ruhen lassen? »Mein Liebensleben«, seufzte Gilfea und dachte an Gildofal, »besteht aus Hoffen und Warten.«
Ohne es zuerst selbst zu bemerken, hatte sich Gilfea in Gildofal verliebt. Ein Blick hatte gereicht, dass er dem Reiz des Elben verfallen war. Dabei war der erste Kontakt alles andere als elbisch gewesen. Gildofal war ein Lycanthrop. Die Umstände, unter denen sie sich begegneten hatten dazu geführt, dass sich Gildofal ihm in seiner Wolfsform präsentierte. Gilfea war beeindruckt und fasziniert. Dass, wie er später selbst bemerkte, dieser Wolf sich auch noch besonders flauschig anfühlte, machte die Sache auch nicht unbedingt leichter. Hinzu kam, dass an diesem Elb einfach alles zu stimmen schien. Er war freundlich, intelligent, höflich, selbstlos und sogar charmant. Wenn man an seine Flucht aus Goldor dachte und daran, was er währenddessen durchgemacht hatte, musste er zudem mutig, willensstark und tapfer sein. Seine Freundschaft zu Uskav, die Art, wie er für ihn eintrat und sich schützend vor ihn stellte, als Roderick und Thonfilas den Ork erschlagen wollten, bewies zudem, dass er Rückgrat besaß und ein treuer, verlässlicher Freund war.
Je öfter Gilfea mit Gildofal zusammen war, desto überzeugter war er davon, dass er diesen Elb liebte. Er war ein gutes Wesen und, was sicherlich nicht schädlich war, er sah auch noch gut aus, als Elb und als Wolf. Einen Haken hatte die Sache für Gilfea allerdings schon. Er wusste weder, ob Gildofal so wie er selbst, schwul war und wenn ja, ob er das Gleiche für Gilfea empfand, wie Gilfea für ihn. Um ja keine Probleme oder unschöne Szenen zu provozieren, achtete Gilfea peinlich darauf, nichts von seinen Gefühlen zu verraten.
Was Gilfea nicht ahnte war, dass Gildofal längst wusste, dass Gilfea in ihn verliebt war. Als er und der Uruk zum Rat von Daelbar geladen wurden, hatte Uskav ihn gefragt, ob ihm eigentlich aufgefallen sei, wie Gilfea ihn anhimmeln würde. Man sollte nie die Auffassungsgabe eines Uruks unterschätzen. Gildofals Reaktion war, um es gelinde zu sagen, ambivalent. Uskavs Entdeckung zwangen ihn dazu, sich selbst über einige ungeklärte Punkte seines eigenen Ichs klar zu werden. Bisher hatte sich Gildofal nie sonderliche Gedanken um seine Sexualität gemacht. Als Elb ging man das Thema wesentlich gelassener an, als dies die Menschen zu tun pflegten, was vermutlich an der im Vergleich zu Menschen doch eher längeren Lebensspanne der Elben lag. Jedenfalls stand Gildofal plötzlich vor der Frage, ob er eher männliche oder weibliche Partner bevorzugte und, für den Fall dass es männliche waren, ob Gilfea ein möglicher Kandidat war. Süß sah er ja aus, diese kleine Drachenreiter.
Noch bevor Gildofal diese Frage klären konnte, nahm sein Leben eine erneute, völlig unerwartete Wendung. Gildofal wurde selbst ein Drachenreiter. Er wurde zur Seele Eariglin. Vom Moment der Vereinigung an, stand Gildofals Leben auf dem Kopf.
Es begann damit, dass er erneut mit einer Institution konfrontiert wurde, die er eigentlich dachte hinter sich gelassen zu haben: Schule. Zum Glück unterschied sich die Drachenreiterschule von seiner alten Schule in Goldor wie Tag und Nacht. Es gab keine Orks, wie Krotos, die ihn beschimpften, bespuckten oder gelegentlich verprügelten. Auch gab es keine Lehrer, die Elben verachteten. Ganz im Gegenteil waren alle Mitglieder der Schule, Lehrer wie Schüler, bemüht sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Schließlich ging es nicht darum mit allen Mitteln der Beste zu werden, um anschließend einen guten und hoch bezahlten Arbeitsplatz zu ergattern. In der Drachenreiterschule ging es um etwas viel, viel Wichtigeres. Es ging darum, ein guter, verantwortungsvoller Drachenreiter zu werden. Doch das gestaltete sich als Albtraum.
Gildofal machte die gleichen Erfahrungen wie Gilfea. Die Drachenreiterschule war extrem anspruchsvoll. Das vermittelte Wissen war so überwältigend und allumfassend, dass Gildofal fast jeden Abend der Kopf dröhnte. Dass sein Drache, wie alle Drachen, recht albern war, wenn auch nicht ganz so extrem wie Mithval, gestaltete die Aufgabe nicht wirklich leichter, aber immerhin erträglicher.
Seit der Vereinigung mit Eariglin waren drei Wochen vergangen. Im Leben Gildofals hatte sich so etwas wie Routine eingespielt. Gilfea hatte Gildofal angeboten, bei ihm zu wohnen und Gildofal hatte das Angebot angenommen. Er fühlte sich einsam. Er war ein Flüchtling ohne Freunde, der niemanden in Daelbar wirklich kannte, obwohl jedermann sehr freundlich zu ihm war. Gilfeas Freunde waren nett, mache sogar tollkühn, wie Xurina, die Amazone. Auch ihr Drache war ein blauer Seedrache, Ythlingas. Niemand war überrascht, dass sich Eariglin sehr schnell mit Ythlingas anfreundete. Blaue Drachen waren zwar nicht so exotisch wie silberne oder gar goldene, doch immerhin so selten, dass sich die beiden freuten, eine vertraute Schuppe zu sehen. Uskav, mit dem Gildofal nach Daelbar gekommen war und den er seit ihren gemeinsamen Erlebnissen als Freund betrachtete, wurde von dessen neuen Aufgaben sehr in Anspruch genommen. Nicht nur, dass der Rat der Stadt den Uruk gebeten hatte, ihr Senator für Verteidigung zu werden. Uskav war ebenfalls eine Drachenseele geworden.
Wer Uskav zusammen mit seinem Drachen sah, wollte nicht glauben, dass er ein echter, ausgewachsener Uruk war. Uskav, dieser tödlichen Kampfmaschine, einem Berg aus Muskeln und Sehnen, einem Meister des Mordes und begnadetem Schwertkämpfer, stiegen Tränen der Freude und des Glücks in die Augen, wenn er seinen Drachen sah, berührte und streichelte. Man mag es kaum glauben, aber dieser Ork entwickelte zu Narsul eine fast zärtliche Beziehung, die jeden der es sah, einfach nur staunen ließ.
Gleichzeitig General der Stadt und frisch gebackener Drachenreiter zu sein, verlangte Uskavs ganze Kraft. Wenn er seine Zeit nicht gerade damit verbrachte in der Drachreiterschule Stoff zu büffeln, diskutierte er mit dem Rat der Stadt wichtige strategische Fragen. Weswegen sich seine und Gildofals Wege nur selten kreuzten.
Umso mehr freute sich Gildofal, dass Gilfea ihn freien Herzens in sein Haus aufnahm. Gildofal wusste natürlich um Gilfeas Empfindungen für ihn, was ihn anfangs etwas beunruhigte. Da sich Gilfea ihm gegenüber aber nie offenbarte, sah Gildofal seinerseits keinen Grund es von sich aus zu thematisieren. Umso überraschter war Gildofal, als er sich nach drei Wochen dabei ertappte, Gilfea nicht nur als einen Freund zu betrachten, sondern ihn auch rein körperlich attraktiv zu finden.
Auf einem sonnigen, aber kalten Wintertag folgte ein strenger Winterabend. Gildofal war vor zwei Stunden vom Unterricht in der Drachenreiterschule zurückgekehrt und blätterte lustlos in seinen Notizen umher, als Gilfea ihn zum Abendbrot rief. Zwischen den beiden jungen Drachenreitern hatte sich mit der Zeit eine natürliche Aufgabenverteilung herauskristallisiert. Gilfeas Domäne war eindeutig die Küche, oder präziser, das Kochen, während sich Gildofal um die Ordnung im Haus kümmerte. Tagsüber, während Gildofal die Schulbank drückte, verbrachte Gilfea die meiste Zeit damit, sich in seine Aufgaben beim Rat von Daelbar einzuarbeiten. Eine der Aufgaben bestand unter anderem darin, sich von Uskav im Schwertkampf unterweisen zu lassen. Gilfea war mächtig stolz, als Uskav ihn eines Tages als einen seiner besten Schüler lobte. Als nun die beiden jungen Männer am Tisch saßen und Gilfeas köstliches Abendbrot verzehrten und es draußen klirrend kalt wurde, entwickelte sich in der Drachenhöhle eine anheimelnde Gemütlichkeit. Im Kamin knisterte ein lebendig flackerndes Feuer. Mithval und Eariglin hatten sich nach einem anstrengenden Tag Flugtraining in der Kuppelhalle der Höhle zusammengekringelt und dösten leise summend vor sich hin.
»Gilfea?«, begann Gildofal, nachdem jeder von ihnen einen guten Becher Wein geleert hatten.
»Ja?«, fragte Gilfea leicht angesäuselt und sehr entspannt zurück.
»Ich wollte mich bei dir bedanken?«
»Wofür?«, Gilfea schaute Gildofal verwundert an, während er einen weiteren Holzscheit ins Kaminfeuer legte.
»Dass du mich bei dir aufgenommen und mich mit offenen Armen empfangen hast. Dass du für mich, als ich mich einsam fühlte, einfach nur da warst.«
Gilfea stocherte mit einem Schürhaken nachdenklich in der Glut herum, als er antwortete: »Du brauchst mir nicht zu danken. Ich habe es gern getan. Ich weiß, wie du dich fühltest. Du hast deine Familie in Goldor zurückgelassen. Du bist geflohen, um dein Leben zu retten. Ich weiß selbst am besten, wie man sich dabei fühlt. Ich kenne die Einsamkeit, die selbst Mithval nicht vertreiben kann. Obwohl er sich redlich bemüht, mich aufzumuntern. Nein, du brauchst dich nicht zu bedanken. Ich bin froh, dass du mein Angebot angenommen hast und ich nicht mehr allein diese Höhle bewohnen muss. «
Gildofal schwieg eine Weile, während Gilfea weiter in der Glut herum stocherte. Weder er noch Gildofal sahen den jeweils anderen an. Erst nach mehreren Minuten Stille griff Gildofal zu seinem Wein, nahm einen großen Schluck und schaute in den Becher. Ohne aufzusehen begann er zu sprechen: »Uskav meint, du wärst in mich verliebt.«
Gilfea stocherte weiter in der Glut, zuckte aber mit den Schultern: »So, sagt er das?«
»Hat er Recht?«, fragte Gildofal sanft.
Gilfea seufzte, legte den Schürhaken beiseite und sah Gildofal an: »Ja.«
»Wie? Einfach nur >Ja<?«
»Was erwartest du? Dass ich es leugne? Du weißt, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle und dass du ein Mann bist, wird wohl niemand bestreiten können? Ja, ich habe mich in dich verliebt. Zuerst war es nur dein Aussehen. Weißt du, dass du eine Schönheit bist?«
»Lass es! Ich kann es wirklich nicht mehr hören. >Die Schönheit der Elben!<«, knurrte Gildofal mit kaum verhohlener Resignation in seiner Stimme, »Weißt du, dass es ein Fluch ist? Es machte mich zu einem Außenseiter. In meiner Schule war ich die >Elbenschwuchtel<, der gelackte Schönling mit den goldblonden Haaren. Meine Mitschüler bekamen Pickel, ich schimmerte im Sternenglanz. Ich hab es wirklich gehasst, anders zu sein. Ich habe sogar versucht, mich piercen und tätowieren zu lassen. Was für ein Witz, nach zwei Tagen war alles verheilt und jegliche Farbe verschwunden.«
»Das habe ich nicht gewusst.«, Gildofal versank in eine tiefe Nachdenklichkeit, »Ich hätte nie gedacht, dass es Menschen gibt, die nicht von der Schönheit deines Volkes verzaubert wären. Vermutlich bin ich etwas naiv und weiß nicht viel von der wirklichen Welt. Aber du hast mir nicht bis zum Ende zugehört. Zuerst war es dein Aussehen, die Magie der Elben, die mich faszinierte. Aber mit der Zeit verliebte ich mich in die Person >Gildofal< und nicht in sein Äußeres. Du hast ein großes Herz, du bist mutig, fröhlich, tapfer, ehrlich, selbstlos. Ich konnte mich noch nie so offen, unbefangen und gut unterhalten, wie mit dir. Denn auch ich fühlte mich in meinem Dorf immer wie ein Außenseiter. Nein, Gildofal, schäme dich nicht dessen was du bist, denn es ist das, was ich zu lieben gelernt habe.«
»Warum hast du nie etwas gesagt?«
Gilfea zögerte: »Warum…? Weil… Ich wollte dich nicht bedrängen. Das Letzte, was dir nach deiner Flucht fehlte, wäre ein liebeskranker Drachenreiter. Ich weiß, wie du dich gefühlt haben musst, als wir Uskav und dich aufgelesen haben. Die Flucht nach Daelbar, dann Daelbar selbst… Ich kenne das, ich habe es selbst erlebt. Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Du weißt nicht, ob du heulen oder lachen sollst. Du fühlst dich glücklich und gleichzeitig abgrundtief traurig, du wirst von neuen Freunden empfangen und bist trotzdem einsam. Nein, in solch einem Moment wollte ich dich nicht auch noch mit meinen Gefühlen belasten.«
»Belasten? Warum sagst du so etwas?«
»Weil du dann eine Entscheidung hättest treffen müssen; dir selbst ein paar Fragen beantworten: Wie mit mir umgehen? Meine Gefühle dir gegenüber erwidern oder sich doch eher von ihnen abgestoßen fühlen? Du hättest dich selbst fragen müssen, ob du am eigenen oder am anderen Geschlecht interessiert bist.«
»Und?«, fragte Gildofal leise, während er regungslos in seinen Weinbecher starrte.
»Diese Fragen hätten dich belastet. Ich habe nicht das Recht, dir meine Probleme aufzuhalsen. Denn es ist mein Problem, dass ich mich in dich verliebt habe.«, Gilfea schüttelte seinen Kopf und seufzte, »So jetzt kennst du die Wahrheit…«
»Ja!«, lachte Gildofal und schüttelte seinen Kopf.
»Warum lachst du?«, Gildofal konnte die Verunsicherung deutlich in Gilfeas Stimme zu hören.
»Kein Angst, ich lache nicht über dich.«, schmunzelte Gildofal, »Ich muss nur an Krotos denken.«
»Krotos?«, Gilfea verstand nichts.
»Wenn man die Sache konsequent zu Ende denkt, ist er der Grund warum ich jetzt hier bin.«, amüsiert über die Ironie seiner Erkenntnis, sprang Gildofal von seinem Platz am Tisch auf, ging zu Gilfea und hockte sich neben ihn auf den Boden, »Krotos ist ein Ork und war mein Mitschüler. Er und seine Freunde machten mir das Leben in der Schule nicht gerade leicht.«
Die nächste Stunde erzählte Gilfea von seiner Jugend im Elbenreservat, von der Schule, seinen Lehrern und wie diese ihn ungerecht behandelt hatten, nur weil er ein Elb war; von Krotos und seinen Freunden und davon, wie ihm schließlich der Kragen platzte und er sich weigerte, sich bei Krotos dafür zu entschuldigen, dass dieser ihn beleidigt hatte.
Gilfea hörte schweigend zu. Er hatte sich Gildofal zugewandt und betrachtete den Elben, während dieser erzählte. Je länger Gildofal erzählte, desto mehr verfing sich Gilfea in Gildofals Anblick. Außer einer kleinen Lampe am Esstisch, hatten die beiden jungen Drachenreiter alle Lichtquellen gelöscht. Nur die Flammen des Kamins warfen ihren flackernden Schein an die Wände des geräumigen Wohnraums. Das rot-orange Licht verfing sich in Gildofals Elbenhaar. Es sah aus, als wenn der Elb von einer feurigen Aura umgeben war. Seine Augen funkelten in einem schwarzen Glanz, der so klar war, dass sich die Flammen des Kaminfeuers darin spiegelten.
Natürlich war Gilfea über den Punkt hinaus, an dem er noch rational denken konnte. Mehr unbewusst als bewusst, nahm er Gildofals Erzählung auf. Natürlich schimmerte Resignation und auch ein wenig Bitterkeit durch, als jener von seiner Schulzeit in Goldor sprach. Doch war in keiner seiner Erzählungen Hass oder Verachtung zu spüren. Er verabscheute die Art, wie ihn seine Lehrer und seine Mitschüler behandelten, aber er hasste sie nicht. Fast hatte man den Eindruck, als wenn dieser Elb zu keinen bösen Gefühlen fähig wäre.
Das gemütlich knisternde Feuer, Gildofals warme Elbenstimme, sein Aussehen im Schein des Feuer, seine Erzählung, der Alkohol des Weins, all diese Dinge überwältigten Gilfea. Aus einem plötzlichen Impuls heraus und noch ehe er selbst merkte, was er tat, hatte Gilfea Gildofals Kopf mit seinen Händen ergriffen, zu sich sanft herangezogen. Was folgte, war einer der sinnlichsten Küsse der beiden Drachenreiter je erlebten.
»Wow!«, entgegnete Gildofal überrascht.
»Scheiße!«, meinte Gilfea, als er wieder zu Besinnung kam und begriff, was er gerade getan hatte, »Das wollte ich nicht. Ich…«
Sondereinsatzkommando
»Absolut tödlich«
U SKAV auf die Frage, wie Uruks kämpfen
»Ich muss dringend mit Gilfea und Mithval sprechen!«
Bevor Gilfea die Chance bekam, sein Verhalten zu erklären oder umgekehrt, Gildofal die Chance zu reagieren, platzte Uskav, mit Turondur im Schlepptau, zur Tür herein. Der Elb wirkte besorgt, Uskav, wie üblich, einfach nur professionell.
Etwas verlegen warfen sich Gildofal und Gilfea ein paar unsichere Blicke zu, um dann ihre Aufmerksamkeit dem unerwarteten Besuch zuzuwenden. Schließlich raffte sich Gilfea auf, die Besucher anzusprechen: »Was können wir für euch tun?«
Turondur schaute kurz zu Uskav, welcher zustimmend nickte, dann begann der Elb zu sprechen: »Gestern Abend erhielt Kasimir N’Gardo eine Nachricht, dass drei Gildebrüder sich auf der Flucht zu uns befinden. Wenn man seiner Quelle glauben kann, scheinen die drei im Besitz sehr wichtiger Informationen zu sein. Sie sind allem Anschein nach derart brisant, dass der halbe Geheimdienst Goldors hinter den dreien her ist. Einer der drei ist zudem verwundet und befindet sich in Geisterstasis.«
»Wer ist Kasimir N’Gardo? Was ist Geisterstasis?«, fragten Gildofal und Gilfea synchron.
»Natürlich…«, nickte Turondur, »Du kennst Kasimir ja noch nicht. Kasimir ist Fingolfs Seele.«
Fingolf, der letzte goldene Drache Daelbars! Das heißt, Fingolf war der letzt goldene Drache Daelbars, bis Franciscus zur Seele Guldurs wurde.
Turondur fuhr mit seinen Ausführungen fort: »Kasimir ist nicht nur Guldurs Seele, er ist auch unsere Verbindung zur Gilde. Ihr wisst, dass Guldur sehr alt ist. Wie alt er wirklich ist, wird einem erst klar, wenn man Kasimir sieht. Doch lasst euch nicht täuschen, in dem alten, sehnigen Kerl steckt noch einiges an Kraft. Wie auch immer… Es kommt sehr selten vor, dass Kasimir uns um etwas bittet, doch wenn er es tut, dann ist es von extremer Wichtigkeit.«
»Und was hat das mit Mithval und mir zu tun?«, fragte Gilfea. Sicher, was Turondur erzählte war zweifelsfrei wichtig und bedeutsam, doch wo lag die Verbindung zu Mithval?
Statt Turondur antwortete Uskav: »Wir brauchen ein paar schnelle und kräftige Drachen, um drei Flüchtlinge tragen zu können, wovon einer sogar in einer Art Sarg liegt. Ich werde den Einsatz leiten, doch ist Narsul natürlich noch viel zu klein, als dass ich auf ihr reiten könnte.«
»Du brauchst also einen Lastesel?«, lachte Gildofal, »Was für ein Glück, dass Eariglin sogar zwei Minuten jünger als Narsul ist.«
»Gilfea, ich bitte dich, hilf mir. Ich weiß, dass du dich im Zweifelsfall verteidigen kannst. Das Risiko sollte somit überschaubar sein. Mithval ist einer der schnellsten und kräftigsten Drachen, die wir in Daelbar haben. Wir könnten ihn wirklich sehr gut gebrauchen. Roderick und Thonfilas haben schon zugesagt, ebenso Akira und Egmont.«
»Es ist also nur eine Rettungsaktion?«, fragte Gilfea.
»Hin, auflesen und zurück. Wir fliegen in die Nähe von Blaufurt, einer hässlichen und nicht ganz ungefährlichen Stadt diesseits der Grenze von Goldor. Dort sammeln wir die drei ein und hauen sofort wieder ab.«
»Au ja, lass uns mitfliegen! Endlich mal wieder ein wenig Aktion!«, jubelte Mithval.
Gilfea schüttelte schmunzelnd seinen Kopf: »Mithval ist begeistert und ich werde meinem Drachen wohl kaum widersprechen. Wann geht es los?«
»Morgen früh um 6:00 Uhr.«, entgegnete Uskav und erläuterte noch einige Details. Nach gut einer Stunde war alles geklärt. Turondur und Uskav verabschiedeten sich und verließen die beiden jungen Drachenreiter. Sofort fiel Gilfea der Kuss ein, den er mit Gildofal geteilt oder ihm vielleicht eher aufgezwungen hatte. Unsicher schaute er zu Gildofal hinüber, doch der machte keine Anstalten das Thema anzusprechen. Stattdessen formulierte er eine Frage: »Was weißt du über die Gilde? Neben meiner Schule befand sich auch eine Schule der Gilde, doch galten die Gildebrüder bei meinen Lehrern als tabu. Alles, was man uns erzählte, war, dass die Gilde eine obskure und wenig vertrauenswürdige Sekte sei, die den Grundprinzipien der unifizierten Technokratie diametral widersprechen würden. Wir sollten uns auf keinem Fall von deren abwegigen Gedankengut beeinflussen lassen. Schließlich würde die Gilde die reinste Häresie verbreiten.«
Gilfea gestand, dass er selbst nicht viel über die Gilde wusste. Nur das, was ihm sein Meister Arbogast und die Drachenreiterschule gelehrt hatten. Demnach verfolgte die Gilde sehr ehrenwerte Ziele. Wahrheit, Nächstenliebe, Tapferkeit und Selbstlosigkeit schienen ihr Motto zu sein. Sie waren karitativ tätig, sorgten, wie die Kirche, für Bildung und Wissen und schienen sehr wohlhabend zu sein. Doch damit erschöpften sich bereits Gilfeas Informationen. Vielleicht wusste Egmont D’Gal etwas mehr, einer der Drachenreiter, die damals Mithval und ihn gerettet hatten und nun so etwas wie Gilfeas Familie waren. Da Egmont einen Gildenamen trug, lag der Verdacht nahe, dass er entweder ein Gildebruder oder bei ihnen aufgewachsen war.
»Ich glaube, ich sollte schlafen gehen, um für morgen fit zu sein.«, verkündete Gilfea und wusste, dass es eine lahme Ausrede war. In Wirklichkeit hatte er Angst, dass der Vorfall mit dem Kuss doch noch einmal zur Sprache kam. Gildofal musterte Gilfea, zog kurz seine Stirn in Falten, als wenn er über etwas nachdachte, um dann zustimmend zu nicken: »Ich werde auch ins Bett gehen. Die Schule war mal wieder mörderisch. Du musst mir irgendwann einmal erklären, wie man diese verfluchen Qantenmagiegleichungen löst.«
Pünktlich um 5:00 Uhr morgens begann Gilfeas Wecker zu rasseln. Müde und mit verquollenen Augen riskierte der junge Drachenreiter einen ersten Blick in eine ansonsten noch fest schlafende Welt. Außerhalb der Drachenhöhle lag über der Welt noch tiefe Dunkelheit. Schließlich war es Winter, vor halb neun würde man keinen Sonnenstrahl zu sehen bekommen. Der Finsternis entsprechend quälte sich Gilfea nur mühsam aus seinem Bett. In jedem Knochen steckte Wintermüdigkeit und machten seine Gelenke steif, was selbst die morgendliche Dusche nicht vollständig vertreiben konnte. Die halbe Nacht hatte sich Gilfea rastlos hin- und hergewälzt, doch wollte der Schlaf partout nicht kommen. Es lag nicht an dem bevorstehenden Einsatz, dass er keine Ruhe finden konnte. Es war dieser unkontrollierte, unerwartete, unverantwortliche und unvorstellbar schöne Kuss gewesen, der ihn nicht los ließ. »Was hast du dir Idiot nur dabei gedacht?«, war die Frage, die Gilfea immer und immer wieder durch den Kopf ging.
Um Gildofal nicht zu wecken, schlich sich Gilfea still und leise zehn Minuten vor sechs zu Mithval in dessen Halle. Dort bestieg er seinen wartenden Drachen und flog mit ihm direkt zum Sammelpunkt. Dass ein ebenfalls übernächtigter und müder Gildofal nicht schlief und ihm schweigend beim Abflug mit einem versonnenen Gesichtsausdruck hinterher schaute, bemerkte Gilfea nicht.
Es war ein eisiger Morgen. Der Sammelplatz war mit dem nebelartigen Atem der Drachen verhangen. Zum Glück störten sich die Drachen nicht an der frostigen Witterung, ganz im Gegensatz zu ihren menschlichen Reitern, denen die Kälte arg zu schaffen machte. Ohne ihre Fluganzüge aus Elbenstoffen hätte keiner von ihnen auch nur einen Meter freiwillig vor die Haustür gesetzt. Doch selbst dem Elben, Thonfilas, war es ein wenig zu kalt. Der einzige, dem der Frost nichts auszumachen schien, war Uskav. Der Uruk stiefelte gut gelaunt von Reiter zu Reiter und Drachen zu Drachen. Pünktlich um sechs erhoben sich die Drachen in die Lüfte, der Rettungseinsatz konnte beginnen.
Da Uskav bei Thonfilas mit flog, führte Lindor die Staffel an. Ihm folgten Caransil mit Roderick zur Rechten und Mithval zur Linken. Hinter ihnen, als Nachhut, flogen die Drachen Kifirin und Seregsil mit Egmont D’Gal und Akria. Da Uskav noch nicht mit Narsul zwischen den Welten geflogen war, blieb der Gruppe nichts anderes übrig, als konventionell zu fliegen. Dies stellte zwar ein gewisses Risiko dar, doch war man sich einig, dass Uskavs Wissen um Goldor und seine Kampfeskunst, dieses Risiko wettmachen würde.
Der erste Teilabschnitt ihrer Reise führte sie direkt nach Süden. Sie folgten dem gleichen Weg, auf dem Uskav und Gildofal nach Daelbar gebracht wurden. Nicht unweit der Stelle, an der Uskav von seinem Fluch befreit wurde, schlug die Gruppe einen anderen Weg ein, in Richtung Westen. Meile um Meile, Stunde um Stunde strich dahin. Mit einem Drachen zu fliegen mag ein aufregendes, phantastisches Abenteuer sein, doch stundenlang fast regungslos, frierend in einem Sattel zu hocken, wird auf Dauer zur Qual, selbst auf dem Rücken eines Drachens.
»Ich könnte dir einen Witz erzählen?«, durchbrach Mithval plötzlich die Stille und schreckte Gilfea aus dem Halbschlaf, in den der Drachenreiter verfallen war.
»Uhh, lieber nicht. Ich kenne deine Witze!«
»Ohhh…«, machte Mithval gespielt beleidigt.
»Die Fliegerei ist anstrengend. Mir tun alle Knochen weh. Außerdem ist es saukalt!«
»Warte…«, meinte Mithval und begann leise zu summen.
Zuerst war es nur ein ganz leises Summen, dann wurde es lauter, und plötzlich stimmte ein Drache nach dem anderen in das Summen ein. Das Summen nahm an Kraft zu, wurde zu einer Melodie, zu jener Melodie, die nur die Drachen erschallen lassen konnten. Die Melodie war überall. Sie war in den Köpfen der Reiter, sie schien in den Bergen, die sie umgaben, zu sein, in den Pflanzen und Tieren, im Wasser der Bäche und Flüsse, doch am meisten in den Drachen und ihren Reitern. Sie füllte die Reiter aus, machte sie glücklich und vertrieb den Schmerz aus ihren Knochen und die Kälte aus ihren Gliedern. Und wieder einmal fühlten die Reiter, die Seelen, wie sehr sie von ihren Drachen geliebt wurden und dass sie beide, Drache und Seele, eins waren.
Am Nachmittag überflog die Gruppe eine Gegend, in der frischer Schnee gefallen war. Baum, Strauch und Wiesen waren in weiße Watte gehüllt. Nur ein kleiner Bach zeichnete eine dunkle Linie in den Schnee. So friedlich die Welt auch aussehen mochte, wünschten sich die Reiter ein weniger auffälliges Gelände für ihr Nachtlager. Doch blieb ihnen nichts anderes übrig. Die Dämmerung nahm schnell zu, wodurch es immer schwieriger wurde, Details des Geländes zu erkennen. Zumal der gleichmäßig weiße Schnee alle Konturen verwischte und damit die Orientierung zusätzlich erschwerte.
Ob sie es wollten oder nicht, die Gruppe musste landen. Innerhalb weniger Minuten waren zwei Zelte errichtet. Uskav kam bei Roderick und Thonfilas unter, während sich Gilfea zu Egmont und Akria gesellte.
»Und, kleiner Drachenreiter, wie geht es dir und deinem Drachen?«, begrüßte Akria Gilfea in ihrem Zelt. Beide hatten sich seit Monaten nicht gesehen, da sich Akira mit einem Spezialauftrag längere Zeit im Bereich der U.T.U., der unabhängigen technologischen Union aufgehalten hatte.
Gilfea lachte: »Du kennst Mithval, wie soll es dem wohl gehen?«
»Und dir, kleiner Bruder?«, lächelte Akira freundlich, doch gleichzeitig mit einem Gesichtsausdruck, der sagen wollte: »Du kannst mir nichts vormachen. Ich weiß, dass dich etwas bewegt.«
Gilfea seufzte, insbesondere, weil ihn Akira »kleiner Bruder« genannt hatte. Es war seine Art Gilfea deutlich zu machen, dass er ihn als Teil seiner Familie ansah. So, wie es alle Drachenreiter taten, die Mithval und Gilfea damals gerettet und nach Daelbar gebracht hatten.
»Ich glaube, ich habe mich verliebt. Nein, das stimmt so nicht… Ich bin verliebt, doch weiß ich nicht, ob er meine Liebe erwidert. Ob er sie überhaupt erwidern kann.«
»Gildofal?«, fragte Akira leise. Dass sich Gilfea gerade vor ihm und Egmont geoutet hatte, ließ er unkommentiert.
Statt mit Worten zu antworten, nickt Gilfea nur kurz.
»Ich weiß nicht, ob Gildofal ähnlich empfindet, wie du, doch unmöglich ist es nicht. Schau dir Rod und Thonfi an! Wenn du die beiden nicht kennen würdest, hättest du je erwartet, dass sich ein Elb und ein Neovikinger ineinander verlieben könnten? Gut, es hat zehn Jahre gedauert, doch was sind zehn Jahre im Leben eines Drachenreiters?«
»Die beiden haben zehn Jahre gebraucht, um sich ineinander zu verlieben?«
Egmont hatte bisher geschwiegen, doch bei Gilfeas Frage musste er schallend loslachen: »Nein, nein, nein! Verliebt haben sie sich innerhalb einer Sekunde. Es hat nur zehn Jahre gedauert, sich das auch gegenseitig einzugestehen. Das war eine harte Zeit, eine sehr harte Zeit, insbesondere für die Umgebung der beiden.«
»Oh, bitte, erinnere mich nicht daran!«, jammerte Akira lachend, »Ich sage nur, Roderick und seine nächtlichen Frustflüge über Daelbar. Stundenlang kreiste er über der Stadt.«
»Egmont, darf ich dich etwas fragen?«, wechselte Gilfea das Thema.
»Alles!«
»Dein Name, Egmont D’Gal, das ist ein Gildename, oder? Bist du ein Gildebruder? Vielleicht sogar ein Meister? Was ist die Gilde?«
Egmont nickte freundlich, dann begann er zu erzählen: »Ja, ich bin ein Gildebruder, denn ich habe eine Gildeschule besucht. Ob ich ein Meister bin? Nun, wenn ich eine wäre, würde ich es abstreiten. Die Meister sind ein Geheimnis. Manche behaupten sogar, es würde sie gar nicht geben. Jeder Meister ist verpflichtet das Geheimnis zu schützen, notfalls mit seinem Leben. Wäre ich also ein Meister und würdest du mich enttarnen, müsste ich uns beide töten. So lautet das Gesetz der Gilde, im Kampf um das Gute in der Welt. Es gibt nur eine Ausnahme: Drachenseelen. Eine Seele kann vor seinem Drachen nichts verbergen.«
»Aber dann wissen es alle Drachen, oder?«
»Ja, aber du kennst sie. Wenn sie wollen, können sie sehr verschwiegen sein und würden selbst ihren Seelen gegenüber nichts verraten. Dies tun sie nicht, um uns auszuschließen, sondern um uns zu schützen. Doch wenn du deinen direkt fragen würdest, würde er antworten und dich dabei niemals belügen. Du könntest also Mithval fragen, ob ich ein Meister bin und er würde dir antworten.«
»Ich werde Mithval nicht Fragen.«, antwortete Gilfea entschlossen.
Egmont verstand, was Gilfea damit ausdrücken wollte, nämlich, dass er das Geheimnis der Gilde respektierte. Es war völlig egal, ob Egmont ein Meister war oder nicht. Er war ein Drachenreiter, dem Gilfea jederzeit ohne zu zögern sein Leben anvertrauen würde.
»Die Gilde kämpft den gleichen Kampf, den auch wir ausfechten. Wir kämpfen gegen das Böse in der Welt, gegen Unwissenheit, Falschheit, Ignoranz, Bosheit, Habgier, gegen Zerstörung und Vernichtung von Leben, gegen die Lüge und den Hass. Es sind gute Leute, die Brüder und Meister der Gilde.«
Gilfea konnte nicht anders, als Egmont für seine Inbrunst zu bewundern, mit der er von der Gilde sprach.
Wenig später kamen die Drachenreiter zum Abendbrot zusammen. Für einen kurzen Moment war der Anlass ihrer Reise vergessen. Alle Seelen saßen zusammen und genossen es. Was Gilfea am meisten erstaunte war, wie gut sich Uskav in ihre Gruppe einfügte und von ihr akzeptiert wurde. Jeder schien es als das selbstverständlichste auf der Welt zu halten, dass ein Uruk mit ihnen am Tisch saß. Obwohl man zugeben muss, dass es keinen größeren Kontrast gab, als Uskav und Thonfilas beim Essen zu zusehen. Während die Nahrung des Elben rein vegetarisch war und er sie immer mit einer gewissen Andacht verköstigte, konnte Uskavs Fleischklumpen nicht blutig genug sein. Ein Ork blieb halt ein Ork.
Während Gilfea nun seine Familie beobachtete, bemerkte er eine sehr unorksche Nachdenklichkeit bei Uskav. Zwar war er fröhlich und genoss es sichtlich, von Leuten umgeben zu sein, die unter anderen Umständen seine tödlichsten Feinde gewesen wären, doch tief in ihm, nagte etwas am Uruk. Von Minute zu Minute wurde Uskav Unrastiger, bis er schließlich aufstand und das Zelt verließ.
Gilfea zögerte nur einen kurzen Moment, dann folgte er Uskav. Er brauchte nicht lange, um Uskav zu finden. Der Ork stand etwas abseits im Schnee und starrte Richtung Nordwesten. Ohne sich Gilfea zuzuwenden, richtete Uskav das Wort an ihn: »Ich vermisse sie. Sie ist noch so klein. Ich hätte diesen Einsatz nicht annehmen dürfen.«
Gilfea brauchte zehn Sekunden, dann begriff er, wen Uskav meinte: Narsul.
»Narsul geht es gut. Vermutlich ist sie zusammen mit Eariglin gerade dabei Mithvals Höhle auf den Kopf zu stellen und Gildofal die Nerven zu rauben.«
Uskav lächelte, was bei einem Uruk ebenso ungewöhnlich wie unheimlich war: »Natürlich tun sie das. Ich kann sie hören. Selbst auf diese Entfernung.« Uskav schaute zu Gilfea hinüber: »Ich hätte nie gedacht, dass ein Drache einen Uruk wie mich, zur Seele erwählen würde. Ich habe in meinem bisherigen Leben einiges an Verletzungen einstecken müssen, sei es Schwerthieb oder Schussverletzung. Manche war schwer, einige sogar lebensbedrohlich, wobei ich mich nicht beschweren will, schließlich bin ich dafür gezüchtet worden. Ein Messer im Schenkel oder ein Pfeil in der Brust ist lästig, aber nicht wirklich ein Problem. Die Verletzung hingegen, die mir Narsul zugefügt hat, ist anders. Ich kann sie fühlen, sie schmerzt und ist auf ihre Weise tödlich. Sie hat mein Herz durchbohrt, ein Organ, von dem viele Elben und Menschen behaupten, wir Orks würden es nicht besitzen. Doch egal wie schmerzhaft diese Verletzung auch ist, ich ertrage sie gern. Der Tag, an dem sich Narsul mit mir in die Lüfte erhebt, wird der schönste sein, den ich je erleben werde.«
Nachdem Uskav geendet hatte, betrachtete Gilfea ihn mit völlig anderen Augen. Dieser Uruk war beeindruckend.
»Ich bin selbst erst seit vier Jahren Drachenreiter und wohl noch ziemlich grün hinter den Ohren, doch bin ich ziemlich sicher, dass du eine gute Drachenseele bist. Narsul konnte sich keinen Besseren aussuchen, als dich. Außerdem passt es zu unseren schuppigen Gefährten. Es ist typisch für ihre Ironie, sich ausgerechnet einen Uruk als Seele auszusuchen. Hast du dich nie gefragt, warum Narsul dich erwählt hat?«
»Natürlich, ich habe sie sogar gefragt.«, Uskav grunzte belustigt, »Die Antwort war der totale Reinfall!«
»Lass mich raten, sie hat >Weil du der Richtige bist!< geantwortet?«
»Wortwörtlich!«, jetzt kicherte der Uruk sogar, »Diese alberne Echse! Ständig albert sie rum oder verarscht mich und ich Weichei freu mich auch noch darüber! Ich bin geliefert. Wenn das meine Orkbrüder erfahren, bin ich totes Fleisch! Was bleibt von meinem Ruf als erbarmungslose Killermaschine übrig?«
Uskav und Gilfea standen schweigend nebeneinander und schauten in Richtung Daelbar. Ein paar Meter von den Zelten entfernt lagerten die Drachen und dösten vor sich hin. Gilfea entdeckte Mithval, der müde ein Auge öffnete und seiner Seele zublinzelte. Diese Müdigkeit schien ansteckend zu sein, Gilfea musste gähnen und stellte selbst etwas überrascht fest, dass er sehr müde war. Zugegeben, der Flug war lang und anstrengend. Außerdem durfte man die eisige Witterung nicht vergessen, die einem zusätzlich Kräfte raubte. Der Schnee begann kalt und weiß zu schimmern, als der Mond hinter einer Wolke hervor kam. Die Welt war totenstill, außer den leise grummelnden Atemgeräuschen der Drachen. Selbst die Stimmen ihrer Freunde waren kaum noch zu hören. Gilfea fühlte, dass er nach der langen Reise extrem müde wurde, und wollte gerade in sein Zelt gehen, als ihn Uskav stoppte. Der Uruk ergriff seinen Arm und hielt ihn fest: »Hörst du das?«
»Was?«, gähnte Gilfea müde und hielt sich die Hand vor den Mund, »Es ist sehr still und friedlich hier. Der Schnee erstickt alle Geräusche. Ich glaube, ich werde schlafen gehen.«
»Warte!«, Uskav lauschte, schnupperte, sah sich ganz genau um, schnupperte erneut, deutete Gilfea an, still stehen zu bleiben, um selbst einige Meter vom Zeltlager weg zu rennen, um dort erneut zu lauschen und zu schnuppern. Der Uruk wirkte beunruhigt. Als er dann auch noch etwas von dem Schnee in seine Pranken nahm, daran leckte und ihn sofort wieder ausspuckte, war Gilfea absolut klar, dass dieser Ork einfach völlig durchgeknallt sein musste. Doch da er viel zu müde war, um sich mit den Macken des Uruks beschäftigen zu können, mussten diese eben bis morgen warten.
»Schnell, weck Mithval, wir müssen hier sofort weg!«, schrie Uskav und stürmte in das Zelt mit den Drachenreitern.
Gilfea zuckte schläfrig mit den Schultern, fragte aber nicht warum. Wenn Uskav unbedingt einen knatschigen Drachen haben wollte, dann würde er halt Mithval wecken.
»Mithval, wach auf. Uskav meint, wir müssen hier sofort weg.«
»…«
»Mithval! Wach auf!«
»Müde… so müde…«
Schnee
»Schach, Lesen, Orchideenzucht, Kriegsführung und Sammelfiguren«
LORD NIKODEMUS ASKENDIX III, oberster Heerführer des Königs von Goldor, als Antwort auf die Frage nach seinen Hobbys
»Mit dem Drachen stimmt etwas nicht!«, dachte Gilfea. Langsam kroch ein Verdacht in Gilfeas müden Geist, dass es mit seiner und Mithvals Müdigkeit möglicherweise nicht mit rechten Dingen zuging.
Uskav kam ohne die restlichen Drachenreiter aus dem Zelt gerannt und lief sofort auf Gilfea zu: »Bleib wach! Schlaf auf keinen Fall ein!«
»Was ist passiert? Was ist mit den Anderen?«
Uskav griff sich eine Hand voll Schnee und zerdrückte ihn:»Sie schlafen, wie die Drachen! Dieser Schnee ist verhext! Ich kann es riechen. Er stinkt nach Boshaftigkeit. Wir müssen die Drachen wecken und hier sofort weg. Ich werde versuchen, ob ich etwas gegen die Müdigkeit machen kann. Gilfea, bleib wach. Wenn es mir gelingt, werde ich dich brauchen.«
Gilfea nickt, müde, aber kämpferisch. Inzwischen konnte er spüren, dass seine Müdigkeit von außen kam. Uskav lief zu den Drachen. Gilfea folgte langsam, wenn er auch nicht verstand, wie er von Nutzen sein konnte.
»Du hast mir schon einmal geholfen und ich möchte, dass du es wieder tust.«, meinte Uskav und kam damit sofort auf den Punkt, »Erinnerst du dich, wie du diesen fremden Willen in mir bekämpft hast?«
Gilfea nickte, sagte aber nichts. Das Erlebnis war nicht unbedingt eines, an dass er gerne erinnert werden wollte.
»Ich werde versuchen, einen Teil des Zaubers zu brechen. «, erläuterte Uskav.
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Du wirst die Drachen beruhigen müssen. Sie mögen dich, aber unsere lieben Superechsen werden es überhaupt nicht schätzen, wenn ich sie mit schwarze Magie wecke.«
Gilfea war skeptisch, was er mit einer hochgezogenen Augenbraue auch nicht sonderlich verbarg. Uskav sah seine Unsicherheit und bedachte ihn daher mit einem aufmunternden und aufbauenden Blick. Dann begann Uskav mit seiner Beschwörung. Er entfernte sich ein paar Schritte vom Lager und Drachen und stellte sich dann mit leicht gespreizten Beinen in den Schnee. Der Uruk ballte seine Pranken zu Fäusten und presste sie vor seiner Brust aneinander, während er eine Beschwörungsformel rezitierte. Gilfeas Blick wechselte zwischen den Drachen und Uskav hin und her. Die Drachen lagen beunruhigend ruhig im Schnee. Nur das regelmäßige Heben und Senken ihrer Körper beim Atmen zeigte, dass noch Leben in ihnen steckte. Gilfeas müder Blick ging wieder zu Uskav, genau in dem Moment, als sich um dessen Fäuste ein lodernder roter Feuerball bildete. Plötzlich schmiss Uskav seinen Kopf in den Nacken, brüllte aus vollen Lungen, dass es von den umliegenden Hügeln zurückschallte und schleuderte den Feuerball auf den Boden vor sich. Sofort breitete sich eine rot lodernde Schockwelle in konzentrischen Ringen um Uskavs Standort herum aus. Der feurige Ring fraß sich durch den Schnee, löste ihn auf, so dass nur ein grauer Dampfnebel zurück blieb, der von einer leicht wehenden Brise davongetragen wurde. Kaum hatte die Schockwelle Gilfea erreicht, verschwand dessen Müdigkeit, wurde aber durch eine spontan einsetzende Übelkeit ersetzt, Gilfea musste all seine Willenskraft zusammennehmen, um an sich zu halten. Den Geräuschen aus dem Zelt nach zu urteilen, hatten mindestens zwei seiner Drachenreiterfreunde nicht so viel Glück. Egmont und Roderick kamen würgend aus dem Zelt gerannt und entledigten sich ihres Mageninhalts.
Im selben Moment bäumten sich die Drachen auf. Mithval schlug mit seinem Schwanz um sich und hustete etliche Feuerwölkchen aus, die faulig und nach Schwefel stanken. Den anderen Echsen ging es nicht besser.
»Was ist los?«, jammerte Mithval in Gilfeas Kopf.
»Der Schnee ist verhext. Er hat dich müde gemacht.«, erklärte Gilfea im beruhigensten Tonfall, der ihm in dieser Situation möglich war. Während dessen rannte Uskav in verschiedene Himmelsrichtungen und wiederholte dort seinen Zauber. Die von ihm angelaufenen Punkte wählte er so, dass sich die Wirkung seines Zaubers auf den Bereich des Lagers und dem der Drachen konzentrierte. Nach dem dritten von Uskav abgefeuerten Feuerbällen versagte Gilfeas Selbstbeherrschung. Sein Magen zog sich zusammen, Speichel sammelte sich in seinem Mund, Gilfea suchte schnell das Weite.
Am heftigsten reagierten die Drachen. Offenbar fühlten sie sich ähnlich beschissen, wie ihre Reiter, nur dass ihr Weg sich zu entleeren mit erheblicher Feuerentwicklung verbunden war. Ein Drachen nach dem anderem spie eklige Klumpen gelbgrünlich brennenden Schleims aus.
»Sag diesem Ork, er kann aufhören! Wir sind wach!«, jammerte Mithval mit gequälter Stimme in Gilfeas Schädel.
Gilfea brauchte Mithvals Wunsch nicht mehr überbringen, denn Uskav war mit seinem Werk fertig. Im Bereich des Lagers war kein einziger Flecken Schnee mehr zu sehen. Erst etliche Meter entfernt begann es weißlich zu schimmern. Kaum hatte Gilfea den Schneesaum entdeckt, packte ihn die Panik. Langsam, aber unaufhörlich begann der Schnee wieder an das Lager heran zu kriechen. Bei optimistischer Schätzung hatten sie bestenfalls zwanzig Minuten Zeit, um diesen Ort zu verlassen.
Die Zeit schmolz dahin. Von den zwanzig Minuten vergingen sieben, bis Drachen und Reiter soweit fit waren, dass sie sich von Uskavs Gegenzauber erholt hatten und wieder klar denken konnten. Kaum waren sie wieder bei Besinnung, brach organisierte Hektik aus. Alles was irgendwichtig war wurde eingesammelt und verpackt, doch für die Zelte und die Mehrzahl der weniger wichtigen Ausrüstungsgegenstände blieb keine Zeit mehr. Sie blieben zurück. Siebzehn Minuten nach Uskavs letztem Zauber waren alle Drachen in der Luft. Es war stockdunkel geworden. Die Drachen flogen die ganze Nacht durch, ohne eine Stelle zu finden, die nicht mit weißem Schnee bedeckt war. Erst gegen morgen, zu jener Jahreszeit war es immer noch dunkel, veränderte sich die Welt. Hier und da konnte man dunkle Flecken im Schnee erkennen, die mit der Zeit immer größer wurden. Nach ein paar Meilen hatte sich das Bild gedreht, statt einer geschlossenen Schneedecke gab es nur noch vereinzelte Flecken an geschützten Stellen, die aber mit jeder Meile ebenfalls weniger wurden und schließlich ganz verschwanden. Erst, als die Gruppe über eine Stecke von über zwei Meilen keinen Schnee entdecken konnte, setzten sie zur Landung an.
Niemand sprach, dafür waren Reiter und Drachen zu erschöpft. Schweigend wurde schnell ein kleines Notlager aufgebaut. Uskav übernahm die erste Wache, die alle zwei Stunden wechselte. Die anderen legten sich sofort schlafen. Nach zwei Stunden, die Morgendämmerung setzte langsam ein, weckte Uskav Gilfea, doch statt selbst schlafen zu gehen, leistete der Uruk Gilfea Gesellschaft.
Die kleine Gruppe Drachenreiter verbrachten den ganzen Tag damit, sich von den Auswirkungen des verhexten Schnees, aber auch Uskavs Gegenzauber zu erholen. Erst gegen Abend hatten sich Drachen und Reiter soweit erholt, dass sie den Vorfall bei einem kargen aber willkommenen Mahl besprechen konnten.
»Was ist jetzt eigentlich passiert?«, Mit dieser Frage fasste Thonfilas die allgemeine Verwirrung in Worte.
»Der Schnee war verhext. Ohne dass wir es merkten machte er die Drachen müde und schläfrig. Und durch unsere Verbindung mit ihnen wurden wir ebenfalls müde und dösten ein. Zu unser aller Glück ist Narsul noch zu klein, um bei diesem Einsatz mit zufliegen. Da sie nicht bei uns war, blieb der Zauber bei Uskav wirkungslos, so dass er uns alle mit einem Gegenzauber retten konnte.«, fasste Gilfea das Geschehene zusammen.
»Ich weiß nicht, was schlimmer war. Der verhexte Schnee oder Uskavs Gegenzauber.«, keuchte Akira, »Nichts für Ungut, Freund, aber beim Gedanken an deinen Feuerring könnte ich sofort wieder… Ähm, ihr wisst schon…«
Uskav grinste hinterhältig: »Ja, mein kleiner Gegenzauber dreht einem ziemlich den Magen um. Ich hätte nie gedacht, einmal einen Drachen kotzen zu sehen.«
Uskavs letzte Bemerkung wurde von Mithval mit ein Knurren und Schnauben quittiert, wobei zwei kleine schwarze Rauchwölkchen den Nasenlöchern des Drachens entwichen. Der albernste Drache Daelbars reagierte erstaunlich kleinlaut und dünnhäutig.
»Schon gut!«, rief Uskav mit gespielt beleidigter Stimme, »Dankt mir bloß nicht alle auf einmal, dass ich euer Leben gerettet habe!«
Das brachte Roderick auf den Plan, Er nickte Uskav dankbar zu und meinte: »Ihr Orks müsst Mägen aus Stahl haben, wenn ihr derartige Zauber übersteht. Mann, mir ist in meinem ganzen Leben noch nie so speiübel gewesen. Aber wir haben es überlebt. Ich vermute, dass wir ohne Uskavs Hilfe jetzt tot wären. Doch was haben wir eigentlich überlebt?«
Es war Thonfilas, der auf Rodericks Frage antwortete, wobei er sie nicht beantwortete: »Ich weiß es nicht. Ich habe schon einige Zauber, Beschwörungen und Magien gesehen, aber dieser Schnee… Das ist etwas völlig Neues.«
»Es war eine Falle!«, rief Roderick, »Jeder Drache, der dieses Gebiet überquert und nicht zwischen den Welten fliegt, wäre irgendwann gelandet und hätte eine Rast eingelegt. Die Schneefläche war viel zu groß, als dass wir sie ohne Rast überflogen hätten.«
»Aber wenn das eine Falle war,«, gab Akira zu bedenken, »müsste es dann nicht Fallensteller geben?«
Uskavs Stirn kräuselte sich, dann sagte er nur ein Wort:»Fliegenpapier!«
»Fliegenpapier?«
»Fliegenpapier!«, wiederholte Uskav, »Warum ist mir das nicht früher eingefallen. >Fliegenpapier< ist eine Strategie der weniger netten Militärstrategen. Der Gegner soll gar nicht bemerken, dass er in eine Falle geht. Und wenn er es schließlich bemerkt hat, ist es zu spät, wie Fliegen, die sich auf Leimruten verfangen.«
»Aber das macht doch alles keinen Sinn!«, mischte sich Egmont ein, »Es ist doch eher ungewöhnlich, dass wir lange Strecken über Land und nicht zwischen den Welten fliegen. Es wäre schon ein großer Zufall, auf diese Weise einen Drachen zu fangen und auf andere Lebewesen wirkt der Zauber doch nicht, oder?«
»Vermutlich nicht.«, meinte Gilfea, »Uskav war der einzige, der nicht müde würde und wir wurden müde, weil unsere Drachen müde wurden.«
»Es ist ein erster, vorsichtiger Angriff auf Daelbar!«, meinte Uskav, »Unser Gegner weiß ganz genau, dass Drachenreiter normalerweise zwischen den Welten fliegen. Aber eben nur normalerweise. Es geht nicht darum, einen offen Angriff gegen unsere Stadt zu führen. Noch nicht! Der Gegner hält sich bedeckt. Er will nicht, dass seine Absichten vor der Zeit offenbart werden. Er testet unsere Wachsamkeit. Was passiert denn? Ein Drache, der aus welchen Gründen auch immer, nicht zwischen den Welten fliegt und im Schnee rastet, wird einschlafen. Der Reiter schläft ebenfalls ein. Den Rest besorgt die Kälte. Sie wird den Drachen nicht direkt töten, aber indirekt durch den Reiter, der in ihr erfriert. Eine fast perfekte Waffe, denn sie hinterlässt keine Wunden, keine Spuren. Man wird den Tod als bedauerlichen Unfall abtun.«
Jeder starrte Uskav an, als die Bedeutung seiner Worte langsam in ihr Bewusstsein einsank. Es war Mithval, der es auf den Punkt brachte: »Wir sind im Krieg!«
»Ja!«, Uskav nickte mit seinem Kopf, »Uns wurde der Krieg erklärt! Ein Sturm zieht auf und er hält direkt auf Daelbar zu.«
Gegen späten Abend setzte der Trupp seinen Flug in Richtung Blaufurt fort. Obwohl die Drachen weit von ihrer Normalform entfernt waren, versuchten sie so schnell wie es eben ging zu fliegen. Durch den Zwischenfall mit dem verhexten Schnee hingen sie ihrem Zeitplan weit hinterher. Wenn alles gut ging und sie die notwendige Rast auf das absolut notwendige Minimum reduzierten, war der Termin, an dem sie die Flüchtlinge treffen sollten, gerade noch einzuhalten. Allerdings würde keine Zeit bleiben, um vorher das Gelände intensiv nach Hinterhalten oder Fallen abzusuchen.
Die Drachen flogen die ganze Nacht und den ganzen Vormittag ohne Unterbrechung. Ihre Reiter schliefen in ihren Sätteln. Erst gegen Mittag gönnten sich Drachen und Seelen eine Rast an einem Gebirgssee. Sie hatten bereits die Ausläufer des Gebirgszuges erreicht, der bis hinunter nach Blaufurt führte. Nach der Sache mit dem Schnee zeigten sich die Reiter und ihre Echsen übernervös und vorsichtig. Erst als Uskav das Wasser des Sees und die Umgebung abgesucht und für unbedenklich erklärte, sprangen die Drachen in den See, kühlten ihre Muskeln und stillten ihren Durst.
Nachdem sich Drachen und Reiter erholt und mit einem kleinen Imbiss gestärkt hatten, setzten sie sich zusammen und besprachen die Lage. Der Zwischenfall mit dem Schnee hatte nicht nur viel Zeit gekostet, einige der Drachen und Reiter fühlten sich nach wir vor angeschlagen und erschöpft.
»Ich glaube nicht, dass wir alle bis nach Blaufurt fliegen müssen. Ich bin mir nicht mal mehr sicher, dass wir es sollten. Der Zwischenfall hat mir zu denken gegeben, dass wir bisher viel zu unvorsichtig waren. Eine Herde von 5 Drachen wird sicherlich nicht unbemerkt bleiben. Wir sollten versuchen mit weniger auszukommen. Drei Drachen müssten reichen.«, fasste Gilfea die Situation zusammen, »Zwei für die beiden Flüchtlinge und einen, der diesen ominösen Sarg tragen kann, was vermutlich auf Mithval hinausläuft.«
Niemand widersprach dieser Analyse. Von Mithval kam der kurze Kommentar, dass er fit genug sei und notfalls auch zwei Särge tragen könnte.
»Auf jeden Fall müsste Uskav mitfliegen.«, gab Akira zu bedenken, »Er kennt die unmittelbare Umgebung von Blaufurt. Und wenn Mithval fliegt, solltest auch du mitfliegen.«
»Machen wir es, wie damals bei Gildofal und Uskav.«, schlug Roderick vor, »Thonfilas und ich nehmen die beiden Flüchtlinge auf, während du Uskav bei dir mitnimmst.«
»Meinst du, du kannst Uskav, einen Sarg und mich tragen?«
»Ist die Päpstin eine unifizierte Technokratin? Natürlich kann ich.«
»Wann brechen wir auf?«
»Sofort!«
Rückflug
»Unfähigste Dilettanten!«
ZACHARIAS VON ROCHSINASUL IV zur Qualität seiner Mitarbeiter
Das »Sofort« wurde genau so umgesetzt. Fünfzehn Minuten später waren Caransil, Lindor und Mithval in der Luft. Außer Uskav, der Mithval nach Blaufurt lotste, nutzten die drei anderen Drachenreiter den Flug, um etwas Schlaf nachzuholen. Im Sattel eines Drachens zu schlafen, war für einen Reiter absolut sicher. Kein Drache würde jemals seine Seele fallen lassen.
Nach weiteren vier Stunden Flug erreichten sie ihr Ziel, einem großen Gebirgssee nördlich von Blaufurt. Als Elb in ihrer Gruppe hatte Thonfilas die besten Augen, die selbst einem Adler weit überlegen waren. Es war natürlich dann auch Thonfilas, der die drei Drachen dazu brachte, eine Weile zu kreisen und nicht weiter zu fliegen. Während Mithval und Caransil ihre Runden drehten, unternahm der Elb zusammen mit Lindor eine intensive Beschau des Geländes.
»Ich kann vier Männer und einen Gleiter ausmachen. Sie beobachten das südliche Ufer. Der Kleidung nach zu urteilen würde ich sie für goldorianische Geheimpolizisten halten.«, teilte Thonfilas mit.
»Sonst kannst du nichts sehen?«, fragte Uskav.
»Nein. Direkt hinter dem Ufer beginnt ein Wald. Ich kann nicht weit in ihn hineinsehen, aber so wie es aussieht, sind die vier allein. Unsere Flüchtlinge kann ich bisher nicht entdecken.«
»Kannst du einen Landeplatz für uns ausmachen, der uns unbemerkt in die Nähe des südlichen Ufers bringt?«
»Ich denke schon.«
Thonfilas übernahm die Führung. Mithval und Caransil flogen im Gänsemarsch. Der Elb führte sie in einem weiten Bogen so in die Nähe des Ufers, dass sie quasi im Rücken der Geheimpolizisten landeten. Kaum gelandet, versteckten sich die Drachen so gut es ging zwischen den Bäumen oder, wie Lindor, in Buschwerk. Von Uskav angeführt schlichen Thonfilas und Gilfea in Richtung Ufer, während Roderick bei den Drachen blieb und alles für einen möglichen Notstart bereithielt.
Zum Glück hatte Uskav in den vergangenen Wochen einem ersten Teil der Drachenreiter, darunter auch Gilfea und Thonfilas, seine militärische Zeichensprache beigebracht. So konnten sie ohne Worte untereinander kommunizieren. Der Uruk bewegte sich mit einer Präzision und Eleganz durch das Unterholz, die selbst Thonfilas überraschte. Dass Elben geräuschlos durch Wälder wandern können, liegt in ihrer Natur begründet. Orks hingegen gelten als nicht sonderlich leise Geschöpfe. Uskav hingegen war fast so geräuschlos, wie Thonfilas.
Nicht zuletzt durch ihre extrem leisen Bewegung durch den Wald konnten alle drei Drachenreiter die Stimme eines der Geheimpolizisten verstehen, als dieser plötzlich in Richtung See rief: »Ok, Gildemann, fahr langsam ans Ufer und komm ja nicht auf die Idee irgend einen Trick zu versuchen. Wir haben dich im Visier!«
Die letzten Worte wurden, als ob man ihnen dadurch besonderen Nachdruck verleihen wollte, vom Knirschen mehrerer Sehnen begleitet, als vier Bögen gespannt und auf mich gerichtet wurden. Da die Aufmerksamkeit der Polizisten nun vollends mir und Suman in seinem Sarg zugewandt war, gab Uskav das Zeichen so schnell wie möglich vorzurücken.
»Hat der Chef mal wieder den richtigen Riecher gehabt! Wollte unser kleiner Gildebruder sich doch tatsächlich aus dem Staub machen.«, jubelte der Geheimpolizist, der schon vorher gesprochen hatte, während er mir gleichzeitig ein paar Tritte und Schläge verpasste.
»Wo ist dein Gildekollege?«, fragte der Sprecher der vier.
»Tot! Ertrunken!«, würgte ich blut spuckend heraus.
Während ich mich nicht beherrschen konnte, die Geheimpolizisten des Königs zu provozieren und dafür auch entsprechende Prügel erntete, achteten Thonfilas und Gilfea auf Uskavs Zeichen. Der Uruk prüfte vorsichtig die Lage und deutete ihnen dann, zu warten, während er sich an die Polizisten heran schlich.
Mich hatte man zwischenzeitlich dermaßen bearbeitet, dass meine Augen zu gequollen waren und ich nicht mehr richtig sehen konnte. Immerhin konnte ich noch hören.
»Entschuldigung, wenn ich störe…«, ertönte eine tiefe, kraft- und machtvolle Stimme.
»Wer…«, hörte ich den Chef der Polizisten ansetzen und wunderte mich, warum er nicht weiter sprach.
»Ich glaube, ihr solltet jetzt verschwinden!«, drohte die Stimme, bei dessen Klang ich mir fast vor Angst in die Hose geschissen hätte. Zugegeben, mein Zustand war jämmerlich.
»Du dreckiger Ork!«, fauchte der Chef der Geheimpolizisten und hatte offenbar seine Stimme wieder gefunden, »Was wagst du es dich in eine Aktion der Geheimpolizei Goldors einzumischen? Du bist Kanonenfutter, Eigentum des Königs, und hast unseren Befehlen zu gehorchen! Und ich gebe dir einen Befehl: verschwinde, bevor ich dich neutralisiere.«
»Irrtum, ich gehöre niemanden!«, der Ork klang beeindruckend, »Ihr verschwindet oder ihr kämpft.«
Dann ging alles sehr schnell. Eine Schwertklinge wurde aus einer Scheide gezogen. Vier mal hörte ich, wie die Klinge durch die Luft sauste und Muskeln, Gewebe und Knochen zerschnitt. Viermal hörte ich einen Körper zu Boden fallen. Danach verschwand die Klinge wieder in ihrer Hülle. Dann herrschte totale Stille. Ich lag immer noch am Boden und kämpfte mit dem nur sehr zögernd nachlassenden Schmerz in meinem Schoß.
Plötzlich berührte mich eine Hand und tastete mich ab. Sie war kräftig, doch gleichzeitig auch vorsichtig. Genauso vorsichtig öffnete ich meine Augen und erschrak. Vor mir stand nicht etwa ein Ork, sondern ein riesiger Hüne von einem Uruk, eine der tödlichsten Kampfmaschinen, die es gab.
Doch statt mich zu töten, begann dieser Uruk mich zu verarzten: »Bitte bleib ruhig und bewege dich nicht. Du hast ein paar gebrochene Rippen und einen angebrochenen Kiefer. Ich werde dir ein schmerzstillendes Mittel geben und dich dann tragen. Habe keine Angst, ich bin Uskav und ich bin hier, um dich zu retten.«
Ein Ork, sogar ein Uruk, der einen nicht umbringt, sondern verarztet? Wo gibt es denn sowas? Nicht, dass ich mich beschwert hätte. Trotzdem zitterte ich wie Espenlaub, als mir dieses Monster, diese gezüchtete Killermaschine, Schmerzmittel injizierte und diverse Verbände anlegte. Dazu hatte er mich einfach gepackt, wobei er gleichzeitig kräftig zupackte und trotzdem vorsichtig mit mir umging, und auf einen Stein gesetzt.
»Verflucht!«, knurrte der Ork, »Kannst du mal stillhalten!«
»Wozu? Damit ich frisch bleibe, bis du Appetit auf mich hast?«, ein weniger sarkastischer Kommentar fiel mir nicht ein.
»Uskav mag zwar wild aussehen, hat aber ein Herz aus Gold!«, der Urheber dieser Bemerkung war von Uskavs mächtigen Körper verdeckt. Mein Versuch meinen Kopf in Richtung der Stimme entgegen zu recken, wurde von zwei zupackenden Pranken unterbunden.
»Ich sagte >Stillhalten!<!«, knurrte Uskav.
Zum Glück brauchte ich meinen Hals nicht mehr verrenken, denn die Quelle der Stimme kam wenige Sekunden später aus dem Wald gestiefelt, der ein paar Meter vom See entfernt begann. Genau genommen handelte es sich um zwei potentielle Ursprünge: ein Typ, der etwa in meinem Alter war, und ein Elb, dessen Alter man prinzipiell nicht schätzen konnte. Zum einem war er erst der vierte Elb, den ich je gesehen hatte. Zum anderen waren Elben, wenn man den Beschreibungen meiner Lehrbücher glauben wollte, alterslose Wesen.
»Junge, dich haben die Typen aber arg in die Mangel genommen.«, bemerkte der junge Typ, nachdem er zu mir herangetreten war, »Du kannst froh sein, dass unser orkscher Freund ein begnadeter Sanitäter ist.«
»Wer seid ihr?«, nuschelte ich und versuchte, meinen angeknacksten Kiefer so wenig wie möglich zu belasten.
»Der Rettungstrupp.«, entgegnete der junge Typ und hockte sich neben mich, »Ich bin Gilfea. Der Uruk, der dich gerade verarztet ist Uskav und der Elb neben mir ist Thonfilas. Wir sind auf Bitten eines gewissen Meridus hergekommen, um euch zu retten. Allerdings sehe ich nur dich und den Sarg. Solltet ihr nicht zu dritt sein?«
Obwohl mein Gesicht ein einziger Klumpen geschwollenen Fleisches war, konnten die drei immer noch erkennen, wie sich meine Miene verfinsterte, als Meridus‘ Name fiel: »Meridus… Er… er… hat es nicht geschafft.«
Erst jetzt wurde mir richtig klar, was Meridus getan hatte; für Suman und mich getan hatte. Er hatte sich geopfert. Natürlich wusste ich das bereits in der Pipeline, aber zu jenem Zeitpunkt war es nur ein Faktum, eine Tatsache. Erst jetzt begriff ich, welche Tragweite diese Tatsache besaß. Meridus musste tot sein – ertrunken. Er hatte das nasse Grab der Zisternen von Blaufurt gewählt, damit ich leben konnte und Suman die Chance erhielt, wieder zum Leben erweckt zu werden. Meine Augen begannen wie Feuer zu brennen, als ich anfing zu weinen.
Der junge Typ, der sich als Gilfea vorgestellt hatte, legte mir tröstend eine Hand auf mein rechtes Knie: »Überanstreng dich nicht. Wenn wir in Daelbar sind und deine Wunden versorgt wurden, werden wir reden.«
»Träum was schönes!«, hörte ich plötzlich den Uruk neben mir. Im selben Moment verspürte ich einen Stich am Hals. Die Einstichstelle brannte und wurde heiß. Die Hitze breitete sich aus, ich knurrte noch ein »Was?«, dann setzte die Wirkung des Betäubungsmittels ein. Ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Meine nächste Erinnerung bestand darin, dass ich erwachte und überrascht feststellte, dass sich die Szenerie um mich herum verändert hatte. Aus dem Stein, auf dem ich gesessen hatte, war ein Bett geworden. Der Wald und der See hatten sich in ein Zimmer mit Fenstern verwandelt, durch die hell eine tief stehende Wintersonne herein schien. Nur die Personen hatten sich nicht geändert. Vor mir standen immer noch der Uruk, der Elb und der junge Typ. Allerdings waren zwei weitere Personen hinzugekommen. Der eine erinnerte an Ole Olson. Er war ebenfalls hünenhaft und breitschultrig. Allerdings waren seine Haare nicht blond sondern feuerrot, was ihn noch mehr zum Neovikinger machte, als dies Olson ohnehin schon war. Der andere war ein Elb, der für einen Elben überraschend jung aussah.
»Wie geht es dir?«, fragte der junge Typ mit dem Namen Gilfea.
Ich tastete vorsichtig mein Gesicht ab. Erleichterte stellte ich fest, dass noch alles an seinem Platz zu sein schien. Ich trug wohl noch das eine oder andere Pflaster im Gesicht, aber das war es dann auch. Mehr Sorgen bereitete mir der stramme Verband um meine Brust.
»Wir haben deine Rippen und deinen Kiefer mit einem Heilzauber wieder zusammengefügt. Die nächsten Tage wird beides noch etwas empfindlich sein. Du solltest dich also nicht überanstrengen und noch ein wenig schonen, wobei dir der Verband um deine Brust helfen sollte.«
Ich nickte stumm. Die ungewohnte Umgebung hatte mich einen Moment lang abgelenkt, doch kehrte nun die Erinnerung schlagartig zurück. Suman, Meridus, unsere Flucht, die Geisterstasis, das Projektil des Todesigels in Sumans Körper – Alles war plötzlich wieder da und überwältigte mich. Ich brach zusammen. Die Leute um mich herum mussten mich für einen Waschlappen halten, denn ich fing völlig hemmungslos zu heulen an.
Gilfea nickte dem Ork und den anderen Anwesenden zu. Alle verstanden sofort, was Gilfea meinte und verließen, bis auf den jungen Elb, wortlos den Raum.
»Hey!«, hörte ich jenen Typen mit dem Namen Gilfea mit beruhigender Stimme sprechen. Er hatte sich einen Stuhl genommen und zu mir ans Bett gesetzt: »Alles wird gut. Du bist in Sicherheit, in Daelbar. Hier kann dir nichts mehr passieren.«
»Suman?«, gelang es mir zu stammeln.
»Der Gildebruder in diesem seltsamen Sarg? Er ist auch hier. Wir haben ihn zu Kasimir N’Gardo gebracht. Da wir nicht wussten, was mit ihm ist, haben wir ihn in seinem Zustand belassen. Wir werden alles tun, um ihm zu helfen. Aber die Hauptsache ist, dass du lebst.«
»Nein!«, krächzte ich, »Ihr versteht das nicht. Suman ist mein Leben! Wenn ihr ihn nicht retten könnt, dann war alles umsonst. Dann hättet ihr mich auch den Geheimpolizisten des Königs überlassen können.«
Gilfea antwortete nicht sofort, sondern musterte mich aufmerksam. Seine Augen fingen meinen Blick auf, hielten ihn fest und bohrten sich in meine Seele. Ich konnte nicht wegsehen. Gilfeas Blick hatten etwas magisches, als wenn in ihm eine Art Glut oder ein dunkelrotes Feuer lodern würde.
»Du liebst ihn?«
Ich zuckte erschrocken zusammen. Ich hörte Gilfeas Stimme, aber seine Lippen bewegten sich nicht. Panisch starrte ich in seine Augen.
»Habe keine Angst. Ich verstehe deinen Schmerz.«
»Der Typ ist nämlich genau so gestrickt, wie du!«, kicherte plötzlich eine tiefe, irdene, fruchtige und machtvolle Stimme in meinem Schädel umher. Eigentlich sollte ich Angst empfinden, doch dieses Kichern brachte mich ungewollt selbst zum schmunzeln. Außerdem hatte sie etwas, das Vertrauen und Freundschaft vermittelte.
»Was war das?«, fragte ich trotzdem ein wenig eingeschüchtert.
»Das war Mithval, mein Drache.«, verkündete Gilfea freundlich, wobei er einen versonnen, fast träumerischen Gesichtsausdruck bekam.
»Du bist ein Drachenreiter?«
»Ja, das bin ich.«, lachte Gilfea fröhlich, »Willkommen in Daelbar.«
»Gil, musste du dem armen Jungen gleich so einschüchtern?«, meldete sich der junge Elb zu Wort, »Lass ihn doch erst mal zu Besinnung kommen.«
»Ist schon gut… Denke ich jedenfalls… Was mach ich hier?«
In den nächsten eineinhalb Stunden erklärten mir dann Gilfea und er junge Elb, der sich mir als Gildofal vorstellte, was nach meiner Rettung passiert war. Sie berichteten, wie sie Suman in seinem Sarg und mich nach Daelbar geflogen hatten. Die Mediziner Daelbars hatten sich sofort um mich gekümmert und die Verletzungen behandelt. Die Geheimpolizisten waren nicht sonderlich zurückhaltend gewesen, was den Einsatz direkter körperlicher Gewalt betraf. Allerdings hegte ich keine bösen Gefühle ihnen gegenüber. Wie auch? Die Klinge dieses merkwürdigen Uruks, jenem, der mich verarztet hatte, hatte eine recht deutliche, sozusagen endgültige, Sprache gesprochen.
Womit ich bei einem Thema war, das mich bereits am Blaufurter Gebirgssee irritiert hatte: Wer oder was war dieses Monster von einem Uruk? Orks im Allgemeinen, aber Uruks im Besonderen, galten nicht unbedingt als gesellschaftskompatibel. Aber dieser Uruk schien nicht nur den Elben aus der Truppe, der mich gerettet hatte, nicht als Nahrungsquelle zu betrachten, sondern sogar mit ihm befreundet zu sein. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte jedem, der eine derartige Geschichte erzählt hätte, dringend geraten, sich an einen Psychiater seines Vertrauens zu wenden.
»Uskav?«, fragte Gilfea rhetorisch, als ich meine Irritation verbal formulierte, »Uskav ist ein Freund und Drachenreiter. Er ist der erste Ork, der jemals von einem Drachen erwählt wurde. Das mag überraschend klingen, aber Uskav hat vielen Freunden in Daelbar, machen sogar mehrfach, das Leben gerettet, Gildofal und mich eingeschlossen. Für Gildofal hätte dieser Uruk sogar fast sein eigenes Leben geopfert. Zugegeben, der Gedanke mit einen Ork, sogar einem Uruk, befreundet zu sein, mag unheimlich und gewöhnungsbedürftig sein, doch dieser Uruk ist einzigartig. Wenn man ihn erst richtig kennen lernt, entdeckt man eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Moral und Ethik. Uskav würde sich jederzeit in sein eigenes Schwert stürzen, wenn er dadurch einen Freund retten könnte. Er würde nicht eine Sekunde zögern. Außerdem… Na ja, er hat einen wirklich geilen Körper!«
Den letzten Satz beendete Gilfea mit einem Haifischgrinsen. Interessant war die Reaktion des jungen Elbens neben Gilfea. Er rief knall rot an. Ich wiederum stutzte beim Namen des Uruks: »Uskav? Irgendetwas klingelt da bei mir. General Uskav?« Ich brauchte die Frage eigentlich nicht stellen, da mir mein PDA-Implantat bereits alle Informationen über General Uskav lieferte, inklusive eines wenig schmeichelhaften Bildes. Er war ein Meister des Mordes und galt nach den Informationen des Gildearchivs als hochintelligent, als brillanter Stratege und Feldherr, aber auch als absolut erbarmungslos und brutal. Letztere Charakterisierung stand im Widerspruch zu dem, was ich bisher gesehen hatte.
»Er ist General Uskav und auch wieder nicht. Eigentlich müsste es heißen, er war General Uskav, Feldherr des Königs von Goldor. Aber jetzt ist er General Uskav, Senator der Drachenheimstadt Daelbar. Uskav hat die Fesseln seiner angezüchteten Bösartigkeit zerbrochen. Natürlich ist er nach wie vor ein Ork und würde jeden von uns mit Wonne verspeisen. Auch ist er nach wie vor eine erbarmungslose, tödliche Kampfmaschine. Doch hat sich seine Motivation verändert. Wenn Uskav jetzt kämpft, dann, um das Leben gegen Bedrohungen zu verteidigen. Er kämpft nur, wenn er oder einer von uns angegriffen wird. Uskav hat sich selbst einen Eid abgenommen, niemals wieder auf Geheiß eines fremden Befehls zu töten oder zu kämpfen.«
Das klang ja ganz nett, doch überzeugte es mich nicht im Geringsten: »Und was, wenn euch Uskav nur etwas vorspielt? Was, wenn er in Wirklichkeit ein Agent des Königs ist, der den Auftrag hat, eure nette kleine Drachenstadt zu zerstören?«
Offenbar teilten meine Gastgeber mein Argument nicht. Gildofal und Gilfea sahen sich an und begannen breit zu grinsen. Schließlich antwortete Gildofal, der junge Elb: »Selbst, wenn dies Uskavs Auftrag gewesen sein sollte, könnte er ihn nicht mehr erfüllen.«
»Wieso?«
»Weil Uskav, so wie Gilfea und ich, ein Drache geworden ist. Er ist die Seele Narsuls.«
»Wie? Ihr seid Drachen? Wo sind denn eure Schuppen?«
»Die hocken gemütlich in ihrer Höhle. Du bist kein Drachenreiter, weswegen du es nicht wissen kannst. Wenn ein Drache einen Reiter erwählt, verschmelzen beide Wesen miteinander. Uskav ist Narsul, so wie Narsul Uskav ist. Es sind zwei Ausprägungen eines Wesens. Kein Drache würde sich jemals mit einem bösen Wesen vereinen. Bevor er seine Seele wählt, schaut er in dessen Seele, denn sie ist es, die Seele, die Drachen und Reiter miteinander verbindet. Im Moment der Vereinigung wird alles offenbart. Ein Drache würde eher Selbstmord begehen, als zum Verräter zu werden. Im einem gewissen Sinne sind wir Drachen alle eins.«
»Wow!«, entfuhr es mir, »Das heißt, auf unserer Seite kämpft einer der mächtigsten Uruks aller Zeiten?«
»Yap!«, kam es synchron von Gilfea und Gildofal.
Konfluenz
»Verdammte Drachenscheiße!«
ZACHARIAS VON ROCHSINASUL IV auf die Nachricht von Sumans und Segatos Flucht
Ich hatte also Daelbar erreicht. Mein Traum, die Stadt der Drachen zu besuchen, war also wahr geworden. Allerdings hatte ich bisher noch keinen einzigen Drachen gesehen. Gilfea behauptete zwar, er sei ein Drache, aber dafür hatte er nach meinem Geschmack etwas wenig Schuppen. Irgendwie hatte ich mir Drachen dann doch etwas anders vorgestellt: groß, majestätisch und mit Flügeln.
So sehr ich mich sehnte einen echten Drachen zu Gesicht zu bekommen, so wenig stand dies an erster Stelle meiner Prioritätenliste. Diesen Platz hielt Suman. Ohne ihn schien die Welt blasser und weniger lebenswert zu sein. Ich hätte nie gedacht, wie sehr man sich in einen Menschen verlieben konnte. Doch genau das war mit mir geschehen.
Die Geheimpolizisten hatte mir wohl mehr zugesetzt, als ich in der Hitze des Gefechts mitbekommen hatte. Noch während ich mich mit Gilfea und Gildofal unterhielt, begann ich zu gähnen und hatte Schwierigkeiten, meine Augen offen zu halten. Gildofal erzählte, wie Uskav eher unfreiwillig zum Drachenreiter wurde. Ich hörte zu, schloss meine Augen und schlummerte sofort ein.
Stunden später, es war mittlerweile später Nachmittag geworden. Von der Wintersonne war nur ein letzter Schein zu sehen, der durch ein Fenster im Westen des Raums herein schien und schnell verblasste. Gildofal ging durch das Zimmer und erweckte mehrere Elbenlichter zum Leben. Ihr übernatürliches, traumhaftes Licht tauchte die Umgebung schnell in ein eine wohlige Stimmung. Im einen Kamin prasselte ein Feuer und verbreitete Wärme.
»Schön, dass du wieder wach bist.«, bemerkte Gildofal und lächelte mir zu, »Hast du Hunger?«
Bevor ich antworten konnte, antwortete mein Magen mit lautem Grummeln. Gildofal lachte fröhlich auf, wie nur Elben es konnten: »Offensichtlich! Warte eine Sekunde. Ich werde dir sofort etwas bringen.«
Dankbar nickte ich Gildofal zu, der wenig später mit einem kleinen Tablett zurückkehrte. Leichtes Elbenbrot, Früchte, Butter und ein würzig duftender Kräuterquark stillten meinen Hunger. Mit einem belebend duftenden Trunk kehrten meine Lebensgeister zurück.
»Darf ich dich etwas fragen?«
Gildofal hatte sich auf einem Stuhl neben meinem Bett niedergelassen. Er wirkte ausgesprochen verlegen. Auch seine Frage klang schüchtern und unsicher.
»Du darfst mich alles fragen. Ich behalte mir aber vor, möglicherweise nicht zu antworten.«, antwortete ich und lächelte Gildofal dabei aufmunternd an. Zu meiner größten Überraschung, lief der Elb rot an.
»Er ist… etwas… ähm, persönlich…«, stammelte Gildofal.
»Nur zu!«, ermutigte ich ihn, »Wenn du nicht sagst, worum es geht, kann ich auch nicht antworten.«
»Dieser andere Junge… der in dem Sarg…«, begann Gildofal vorsichtig, doch die simple Erwähnung von Suman und seinem momentanen Zustand zwischen Leben und Tod reichte, dass mir eng in der Brust wurde.
»Ja…«, flüsterte ich mehr, als das ich sprach.
»Ihr…«, stammelte er mehr, als das er sprach.
»Ihr seid zusammen?«, ich sah, dass Gildofal all seinen Mut zusammen nahm, um diese Frage zu stellen, »Ihr seid ein Liebespaar?«
»Liebespaar?«, trotz meiner Beklemmung musste ich über diesen altertümlichen Begriff schmunzeln, »Wir lieben uns, wenn es das ist, was du wissen wolltest. «
»Wie lange seid ihr zusammen?«
»Ein paar Tage. Wir haben uns in Xengabad kennen gelernt.«
»Ein paar Tage?«, Gildofal klang überrascht. Seine anfängliche Zurückhaltung war fast komplett verschwunden. »Wie könnt ihr euch sicher sein, dass ihr euch liebt, wenn ihr euch nur ein paar Tage kennt? Was ist, wenn es nur… ähm… körperliche Anziehung ist?«
»Geilheit?«, ich schüttelte meine Kopf, was ich in Anbetracht meiner Verletzungen nicht hätte tun sollen, »Nein. Ich weiß, dass es Liebe ist. Suman hat sein Leben für mich riskiert und ich würde jederzeit mein Leben für seines riskieren. Ich kann dir nicht sagen, warum wir uns lieben. Es ist einfach so. Es hat einfach zwischen uns gefunkt. Es mag merkwürdig klingen, aber seit Suman in mein Leben getreten ist, habe ich das Gefühl, etwas gefunden zu haben, das mir mein bisheriges Leben lang gefehlt hat.«
»Aha…«, stammelte Gildofal und schaute unsicher überall und nirgends hin, außer mir in die Augen.
»Darf ich dich ebenfalls etwas fragen?«, Gildofal nickte, wich meinem Blick aber nach wie vor aus.
»Warum wolltest du wissen, ob Suman und ich zusammen sind? Hast du ein Problem damit?«
»Nein!«, rief der Elb entsetzt auf, »Es ist… Ich weiß nicht… Ich bin mir meiner eigenen Gefühle nicht sicher. Du hast es vielleicht bemerkt, Gilfea liebt mich.«
Ich nickte. Dass Gilfea diesen jungen Elben liebte war nicht zu übersehen: »Aber du kannst diese Liebe nicht erwidern?«
»Ja… Nein… Ach, ich weiß es einfach nicht.«, seufzte Gildofal, »Es ist schwierig. Ich bin im Elbenreservat Goldors aufgewachsen. Meine Schulzeit habe ich in einer Schule der Kirche verbracht. Schwul zu sein…«
Ich nickte: »Oh, ich ahne, was dein Problem ist. Du bist ein Elb. Man hat dich wahrscheinlich mit allerlei wenig freundlichen Namen belegt.«
»Jeden den es gibt. Außerdem ist es nicht bei Worten geblieben. Viele meiner Mitschüler meinten, alle Elben sein schwul. Und einige meinten, Schwule, insbesondere schwule Elben, hätten nichts auf ihrer Schule zu suchen. Ich hasste es, ein Elb zu sein. Ich wollte so wie mein Mitschüler sein.«
»Und jetzt?«
»Jetzt ist da Gilfea und ich entdecke plötzlich, dass ich Gefühle für ihn habe. Aber…«
Dieser arme Junge: »Nichts aber! Lass sie nicht gewinnen!«
»Was? Wen?«
»Deine alten Schulkameraden. Lass sie nicht gewinnen, indem du dich für etwas schämst, für das man sich nicht schämen muss! Es ist keine Schande schwul zu sein, auch nicht für einen Elben, wie dich. Wenn du etwas für Gilfea empfindest, dann steh dazu. Er liebt dich! Befreie dich von den Geistern deiner Vergangenheit.«
»Danke, ich…«, weiter kam Gildofal nicht, da die Tür zum Zimmer aufgerissen wurde und Gilfea herein kam. Ihm folgte ein Elb, den ich bisher noch nicht gesehen hatte. Entfernt erinnerte er an Thonfilas, wirkte aber weit aristokratischer. Dieser Elb besaß die Aura eines Fürsten unter den Elben. Er war ein Mann, der Entscheidungen traf.
»Ah, du bist wach und munter. Das ist gut!«, begann Gilfea und deutete auf den Elben neben sich, »Darf ich dir Turondur vorstellen, den Vorsitzenden des Rates von Daelbar, vorstellen?«
»Ihr seid Turondur?«, rief ich überrascht aus.
Der Elb schaute mich verwundert an: »Kennen wir uns?«
»Nein, das nicht, aber…«, mir war mein Ausbruch etwas peinlich, »Ihr kennt meinen Lehrer, Erogal D’Santo.«
Im Gesicht des Elbens vollzog sich eine erstaunliche Wandlung. Die aristokratischen, fast arroganten Züge verschwanden und machten einem weichen, fast träumerischen Gesichtsausdruck Platz. In einen tranceartigen Taumel angelte Turondur nach einem Stuhl und ließ sich darauf nieder.
»Erogal…«, flüsterte der Elb. Es dauerte ein paar Sekunden, dann hatte er seine Fassung wiedererlangt. Seine großen, tiefen Augen richteten sich auf mich und bohrten sich in meinen Geist, forschend und suchend. Ich hielt seinem Blick stand.
»Bitte lasst uns für einen Moment allein.«, bat Turondur Gildofal und Gilfea mit einem entschuldigenden Ton, wobei er mich keine Sekunde aus seinem Blick ließ, »Es ist wichtig und sehr persönlich. Ich weiß es ist unhöflich so etwas in eurem Haus zu erbitten, aber es muss sein.«
Weder Gilfea noch Gildofal zögerten und verließen sofort das Zimmer, wobei sie vorher Turondur noch einen verständnisvollen Blick zuwarfen. Zehn Sekunden später waren wir allein im Zimmer.
»Erogal…«, wiederholte Turondur den Namen meines Lehrers und väterlichen Freundes. Wenn ich seine Körpersprache richtig deutete, kämpften in Turondur zwei Emotionen darum, die Oberhand zu gewinnen. Einerseits schien er einen tief sitzenden Groll gegen Erogal zu hegen, andererseits war da aber auch eine ebenso tiefe Verbundenheit und Freundschaft zu spüren. Diese Ambivalenz spiegelte sich auch in Turondurs Worten wieder. Seine nächste Frage sollte locker klingen, sie tat es aber nicht. In der Stimme des Elben konnte ich deutliche Spuren einer verletzten Seele heraushören: »Du bist also Erogals Schüler. Was treibt der alte Hitzkopf denn so?«
»Erogal bat mich, dir eine Nachricht zu überbringen.«, bevor ich weiter sprach, musterte ich Turondurs Miene. Sie war ausdruckslos. Langsam und mit gedämpfter Stimme, damit sich Turondur auf mich konzentrieren musste, sprach ich weiter: »Er lässt dich grüßen…«
»Pah!«, entgegnete Turondur verächtlich.
Sehr langsam, jedes einzelne Wort abwägend, um die richtige Betonung zu finden, sprach ich weiter: »Er sagt, es täte ihm Leid und er wäre im Unrecht gewesen.«
Turondurs Reaktion war interessant. Zuerst passierte nichts. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Seine Augen schauten in die Ferne. So verharrte der Elb minutenlang. Ich wagte nicht, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Mein Atmen kam mir in der einsetzenden Stille entsetzlich laut vor.
»Nein…«, Turondurs brach das Schweigen, »Wir waren ebenso im Unrecht – Ich war im Unrecht.«
Turondur seufzte, dann begann er zu erzählen: »Vaire war meine Halbschwester. Mein Vater wurde vor mehr als 500 Jahren beim Kampf mit einem Feuerdämon getötet. Meine Mutter hat lange gebraucht, den Schmerz zu überwinden. Über 450 Jahre lang war sie ein Schatten ihrer selbst. Sie zog sich zurück, flüchtete in die tiefsten Tiefen der Wälder meiner Heimat. Dort lebte sie allein, nur umgeben von den Erinnerungen an meinen Vater. Bis sie eines Tages über den Körper eines Orkjägers stolperte. Der junge Mann war halb tot. Er war schwer verwundet. Ein Kampf mit einem Warlog hatte ihn fast das Leben gekostet. Als nun meine Mutter diesen tapferen, wenn auch etwas naiven jungen Mann sah, erwärmte sich ihr in Trauer erfrorenes Herz. Sie nahm ihn mit in ihr Heim und verband seine Wunden. Doch die Wunden waren tief und schwer. Die Klauen und Fänge des Warlogs sind giftig. Den jungen Orkjäger befiel ein schweres Fieber. Sein Leben hing für viele Tage an einem seidenen Faden. Die Heilkünste meiner Mutter retteten ihn. Doch die Rettung hatte ihren Preis: Meine Mutter verliebte sich in Eragil, wie der Orkjäger hieß. Ein Jahr später erblickte Vaire das Licht der Welt. Vaire, meine Halbschwester. In ihr vereinigte sich die Anmut und Schönheit meiner Mutter mit der Kühnheit und dem Mut meines Stiefvaters. Ich war damals schon seit über 600 Jahren ein Drachenreiter. Als meine Halbschwester von mir und meinem Leben hörte, gab es für sie kein Halten mehr. Sie wollte Drachenreiterin werden. Und genau das wurde sie. Vaire und ihr Drache, Gulfir, der Schöne, hatten gerade ihren ersten Flug zwischen den Welten erlebt, als Erogal, er hieß damals noch nicht so, zu uns kam. Er war jung, heißblütig, kämpferisch, extrem intelligent und mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit beseelt. Sein größter Wunsch war, Drachenreiter zu werden und für das Gute in der Welt zu kämpfen.«
Ich lauschte Turondurs Erzählung. Der Elb strahlte, als er von seiner Schwester erzählte: »Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als sich Vaire und Erogal das erste Mal sahen. Es hat sofort zwischen den beiden gefunkt. Danach sah man beide nur noch zusammen. Wenig später gaben sie bekannt, heiraten zu wollen. Doch dazu kam es nicht mehr.«
Turondurs Mine verfinsterte sich: »Gulfir war zusammen mit zwei anderen Drachen allein auf Patrouille unterwegs. In der Nähe von Daelbar war es zu Überfällen auf Viehherden gekommen. Einzelne Tiere waren geschlagen worden. Den Spuren zu Folge von Orks. Ich gab den Befehl, dass mehrere Drachengruppen das Gebiet überwachen sollten. Es war nicht ungewöhnlich, dass nur einer der Drachen mit Reiter flog. Eigentlich wäre es Vaires Aufgabe gewesen, die Staffel anzuführen. Doch sie bat mich, mit einem der anderen Reiter tauschen zu dürfen, da Erogal mit ihr das Brautkleid aussuchen wollte.«
Turondur hatte Tränen in den Augen, seine Stimme wurde stockend, als er fortfuhr: »Und dann passierte das Unglaubliche. Während Vaire gerade einen Traum von weißem Tüll und Seide trug, wurde der Trupp der Drachen mit Jagdlanzen angegriffen. Dem ersten Angriff konnten sie ausweichen, doch der Reiter, der die drei Drachen führte, war zu jung und zu unerfahren. Er verlor die Kontrolle. Alle drei Drachen wurden getroffen, stürzten zu Boden und wurden von erbarmungslosen Drachenjägern erschlagen. Vaire konnte nichts dagegen tun. Als das Herz Gulfirs aufhörte zu schlagen, starb sie – Eine in weiß gehüllte Braut in den Armen ihres Geliebten.«
Nach dieser Geschichte hatte ich einen Kloss in meinem Hals. Erogal hatte mir zwar erzählte, dass seine Geliebte in seinen Armen starb, aber nicht unter welchen dramatischen Umständen dies geschah.
»Auf das, was ich dann tat, bin ich nicht stolz…«, Turondur sah mir direkt in die Augen, »Ich gab Erogal die Schuld an Vaires Tod. Ich wusste, dass es falsch war, aber mein Schmerz machte mich blind. Schlimmer noch, es ließ mich ungerecht handeln. Ich wusste, dass Erogal genau so, wenn nicht noch schwerer, unter Vaires Tod litt. Statt die Trauer und den Schmerz mit ihm zu teilen, lud ich meinen Schmerz auf Erogal ab. Und was tat er? Er ertrug auch meine Vorwürfe! Erogal beschämte mich, doch meine Arroganz und mein Stolz erlaubten es mir nicht, meinen Fehler einzugestehen und mich bei ihm zu entschuldigen. Toldin hat wochenlang kein Wort mit mir gewechselt.«
»Und das mit Recht!«, ließ sich eine sonore Stimme, die unverkennbar die eines Drachens war, in meinem Schädel vernehmen, »Turondur kann eine richtige Hämorrhoide im Arsch sein, wenn seine aristokratische Hochnäsigkeit wieder einmal mit ihm durchgeht.«
»Ich sage es ungern, aber Toldin hat Recht. Ich bin der Sohn eines Fürsten der Elben. Die Arroganz liegt mir im Blut.«
»Es war schon mal schlimmer…«
Erogals und Vaires Geschichte war traurig, trotzdem musste ich lachen. Mit Toldins, Turondurs Drachen, Stimme im Kopf konnte ich nicht traurig sein. Dafür war sie zu fröhlich, belebend und aufmunternd.
»Und wie ging es weiter?«, natürlich wollte ich wissen, wie die Geschichte ausging.
»Traurig und unschön.«, seufzte Turondur, »Erogal kannte nur noch ein Ziel – Rache!« Turondur holte Luft und fuhr langsam und mit gesenkter Stimme fort: »Rache kann einen stark machen, aber auch blind; genau so blind wie die Trauer mich blind machte. Der Zorn und Hass, der Erogal antrieb, trübten sein Urteilsvermögen. Er jagte die Drachenjäger, doch scheiterte er. Fast wäre er selbst zum Gejagten geworden. Schwer verletzt kehrte er zurück. Doch damit war Erogals Leidensweg nicht zu Ende. Die Drachen begannen sich vor seiner Wut zu fürchten. Sie fragten sich, welche Auswirkungen ein verwirrter Geist wie Erogals auf einen Drachen haben könnte, sollte jener Erogal als Seele erwählen. Die Drachen entschieden dieses Risiko nicht einzugehen. Als Erogal davon erfuhr, zerbrach er. Voller Zorn und Wut tobte er umher und gab mir die Schuld. Ich hätte die Drachen gegen ihn aufgehetzt. Die Situation drohte zu eskalieren, bis Fingolf ein Machtwort sprach.«
»Fingolf?«
»Fingolf, der älteste lebende Drache. Der weiseste und ehrwürdigste seiner Art. Bis vor wenigen Monaten war er sogar der einzige goldene Drache.«, erläuterte Turondur. Dabei fiel mir ein, dass ich den Namen kannte. Meridus, der arme Meridus, hatte ihn erwähnt. Fingolf und Kasimir N’Gardo waren diejenigen, die Suman helfen sollten.
»Fingolf bat Erogal zu sich. Niemand, außer Kasimir, Erogal und Fingolf weiß, was bei diesem Zusammentreffen geschah. Ich weiß nur, dass es mehr als zwölf Stunden gedauert hat. Danach verließen Kasimir und Fingolf für über einen Monat Daelbar. Und auch Erogal verließ Daelbar. Er hatte ein neues Ziel für sein Leben gefunden. Er wollte, so wie du, ein Gildebruder werden. Das letzte, was Kasimir N’Gardo tat, bevor er mit Fingolf verschwand, war, Erogal an ein Gildehaus zu vermitteln. Erogal ging und kehrte nie zurück. Ich habe nie die Möglichkeit gehabt, mich bei ihm zu entschuldigen. Es tut mir Leid. Ich war im Unrecht. Für Vaires Tod ist nur einer verantwortlich, der seelenlose, verfluchte Drachenjäger, der Gulfir erschlug.«
Drachenblut
»Liebe!«
FINGOLF auf die Frage, was das innere Element der Drachen sei
Nachdem Turondur mit seiner Erzählung fertig war, schwiegen wir und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Ich musste an Erogal denken. Wie er mich von der Straße holte und mich, wie man wohl zugeben muss, faktisch rettete. Selbst wie er mich mit Suman verkuppelte. Dieser Gildemeister war ein guter Mensch. Ich weiß nicht, welche Person er damals war, der Erogal, den ich kannte, hätte einen guten Drachenreiter abgegeben.
Turondurs Stimme holte mich zurück in die Wirklichkeit: »Und was, mein junger Freund, bringt dich nach Daelbar?«
Ich vertraute Turondur und war bereit meine und Sumans Geschichte zu erzählen. Nachdem er Gildofal und Gilfea wieder ins Zimmer hereingebeten hatte, begann ich zu erzählen. Natürlich erzählte ich nicht alles, etwa dass sowohl Suman als auch ich Meister der Gilde waren. Doch im Großen und Ganzen hielt ich mich mit der Wahrheit nicht zurück. Ich berichtete sogar von Erogals Behauptung, ich sei ein Nachkomme der Istarilari, was ein erstauntes Funkeln in die Augen meiner Gastgeber zauberte. Als ich zum Schluss von Boldins Yacht, dem Todesigel und Sumans Zustand berichtete, meinte Turondur: »Wo sind der Datenkristall und dieser Siegelblock jetzt?«
»Meridus hat sie in Sumans Sarg versteckt.«, ich seufzte, »Meridus, der arme Meridus. Er hat sich für uns, für Suman und mich, geopfert. Ich hoffe, dass wir es wert sind.«
»Fühlst du dich kräftig genug, mit uns einen kleinen Ausflug zu unternehmen?«, fragte Turondur und zwinkerte verschwörerisch Gilfea zu.
»Ich weiß nicht? Ich trage noch einen Verband um meine Brust, aber die Schmerzen sind fast nicht mehr zu spüren. Warum? Wo wollen wir hin?«
»Zu Kasimir. Suman und sein Sarg sind bei ihm.«, erläuterte Turondur. Ich zuckte mit den Schultern. Ein paar Schritte auf meinen Beinen würden mir sicherlich gut tun. Außerdem weckte die Aussicht, Suman zu sehen meine Lebensgeister. Im Zweifelsfall würde ich mich einfach zusammenreißen müssen.
Gilfea hatte in der Zwischenzeit einem Schrank geöffnet, um mir ein paar warme Kleidungsstücke rausgesucht: »Dies müsste dir passen. Wir beiden haben ungefähr die gleiche Größe und Statur.«
Gilfea hatte Recht. Seine Sachen passten perfekt. Es war leichte, aber warme, elbische Winterkleidung. Sie war nicht nur sehr fein und absolut makellos gearbeitet, sie trug sich auch extrem angenehm auf der Haut. Komplett eingekleidet verließen wir das Zimmer, in dem man mich bisher gepflegt hatte und gelangten in einen großen Raum, der dem Anschein nach gleichzeitig als Wohnzimmer und Diele diente. Gilfea ging zu einer Garderobe, nahm sich zwei Mäntel von denen er einen selbst anzog und mir den anderen reichte, den ich meinerseits anzog. Gut eingepackt lief ich in Richtung Haustür.
Niemand folgte mir. Ich drehte mich um und sah die drei Drachenreiter an: »Sagtet ihr nicht, wir wollten zu Kasimir?«
Gilfea grinste: »Natürlich, aber zu Kasimir geht es hier lang.«
Sprachs und hielt auf einen Durchgang zu, der mit einem großen Vorhang verhangen war. Einer nach dem anderen kroch durch einen Spalt zwischen zwei sich überlappenden Vorhangbahnen. Ich war der letzte, der sich hindurch zwängte und dabei fragte, wohin es eigentlich ging. Ein Geheimgang? Ein Hinterausgang? Nichts davon. Völlig unerwartet stand ich am Rand einer hell erleuchteten Halle. In deren Mitte standen zwei riesige Drachen und ein kleiner Drache. Die eine große Echse war mattschwarz, die andere silbern. Der kleine Drache, offenbar ein Jungtier, war ein grüner Grasdrache. Und alle drei standen in der Mitte der Halle und breiteten ihre gigantischen Flügel aus.
»Flugtaxi gefällig?«
»Ach du heilige Scheiße!«, stammelte ich, als mir klar wurde, dass das Wort »Ausflug« wörtlich zu verstehen war.
»Keine Panik!«, versuchte Gilfea mich zu beruhigen, was ihm nur bedingt gelang.
Gildofal lief zu dem kleinen grünen Drachen und streichelte ihm die Schuppen. Die kleine Echse schien sich mächtig zu freuen, den Elben zu sehen und stupste ihn sanft mit seiner Schnauze an.
»Dieser grüne Prachtkerl ist Eariglin und ich bin seine Seele.«, erklärte Gildofal stolz und mit glücklich strahlenden Augen. Vorsichtig näherte ich mich dem grünen Drachen, der mich aus wachen Augen mit einem kecken, fast frechen Ausdruck musterte. Ich wollte es kaum glauben, aber das Vieh grinste!
»Segato, du fliegst bei mir mit.«, meinte Gilfea und deutete auf einen Doppelsattel auf dem Rücken des großen schwarzen Drachens, »Du sitzt vorne.«
»Vorne?«, warum denn ausgerechnet vorne?
Statt auf meine etwas ängstliche geäußerte Frage zu antworten, schmunzelten die drei Drachenreiter nur viel sagend. Ich wiederum stand wie angewurzelt vor der schwarzen Echse und wusste nicht, wie ich an ihr hochklettern sollte. Ich wollte auf keinem Fall riskieren irgendwo drauf zu treten, was dem Drachen potentiell unangenehm sein könnte. Nachher vergaß er noch seine hoffentlich gute Erziehung und konsumierte mich als Appetithäppchen.
»Keine Panik«, tönte der Drache plötzlich in meinem Schädel, »Gilfea wusste am Anfang auch nicht, wo er hintreten soll. Benutze einfach meine Flügelknochen als Treppenstufen.«
Zuerst wusste ich nicht, was der Drache genau meinte, bis ich sah, dass er einen seiner Flügel etwas abgespreizt hielt, so dass ich tatsächlich Stufen ausmachen konnte. Meine Kletterei dürfte vermutlich keinen Preis für Eleganz gewonnen haben, aber immerhin erreichte ich den Sattel und ließ mich in ihm nieder, nur um neidvoll mit ansehen zu müssen, wie Gilfea mit traumwandlerischer Leichtigkeit seinen Drachen erklomm. Zu selben Zeit hatten auch Turondur und Gildofal auf dem silbernen Reptil Platz genommen.
»Alle bereit?«, fragte Turondur.
»Ja.«, »Ja.«, »Nein!« – die letzte Wortmeldung kam von mir und klang ansatzweise hysterisch.
Und, wie ich entsetzt feststellen musste, mit berechtigtem Grund! Kaum hatten die drei Drachenreiter meinen Ausdruck der Unsicherheit geflissentlich ignoriert, kam Leben in die Drachen. Das Monster unter mir erhob sich zur vollen Größe. Panisch klammerte ich mich an meinen Sattel, nur um zu sehen, wie sich eine Seite der Kuppelhalle öffnete und den Blick nach draußen frei gab. Draußen, das war der Blick auf mehrere Hügel und ein Tal. Um die Halle herum lief ein Steinweg, der von einer Brüstung eingefasste war. Hinter der Brüstung ging es senkrecht abwärts. Erst etwa 150 Meter tiefer konnte ich weitere Hallen mit Brüstungen ausmachen. Der ganze Berg, auf dem wir uns befanden, bestand aus konzentrisch umlaufenden Ringen mit Drachenhöhlen und sie verbindenden Wegen, die in versetzten Terrassen angeordnet waren.
Plötzlich setzte sich der schwarze Drache in Bewegung. Statt mit seinen Flügeln zu schlagen und sich in die Lüfte zu erheben, tapste er eine Rampe entlang, die einige Meter über die Brüstung hinaus ragte. Zu meinem allergrößten Entsetzen standen wir am Rand der Rampe. Unter, links und rechts von uns war nichts, nur Abgrund.
»Ähm, wollten wir nicht fliegen?«, fragte ich ängstlich den hinter mir sitzenden Gilfea.
»Sicher!«, lachte jener.
Ich hätte nicht fragen sollen! Ich hätte niemals die schützenden Mauern der Gildeschule Crossars verlassen dürfen! Dieser verfluchte, vollkommen wahnsinnige Drache ließ sich einfach nach vorne über die Rampe fallen! Wir stürzten senkrecht abwärts. Ich wusste, dass ich schrie oder besser gesagt sogar brüllte, als der Grund des Abhangs, den wir hinunterstürzten, viel zu schnell, geradezu rasend schnell, näher kam.
»Bleib locker!«, tönte es in meinem Kopf genau in dem Moment, als der schwarze Drache seine Schwingen ausbreitete und seinen Sturz abfing. Die vertikale Bewegung ging in einer geschmeidigen parabelförmigen Kurve in einen atemberaubenden Gleitflug über. Meine erste Panik legte sich. Mich begannen die Flugkünste dieser schwarzen Echse wirklich zu beeindrucken. Obwohl es Winter war und saukalt schien der Drache sogar bei dieser Witterung selbst schwächste Thermikwinde erfühlen und ausnutzen zu können.
»Wenn du ein Reiter bist, wirst du wissen, wie man mit der Thermik spielt.« flüsterte die Stimme des Drachens in meinem Kopf. Woher wusste das schwarze Riesenviech, dass meine Gedanken, seit ich in der Gildeschule das Buch über Drachen und ihre Reiter gelesen hatte, um Drachenreiter kreisten?
»Ich weiß es, weil du so laut daran denkst! Außerdem sitzt du auf mir. Bei derart engem Körperkontakt zu einem Istarilari müsste ich schon tot und zu Staub zerfallen sein, um deine Gedanken überhören zu können.«
Da mir keine passende Erwiderung, weder eine schlagfertige noch eine geistreiche, einfiel, lehnte ich mich in meinem Sattel zurück und genoss, mehr oder weniger, der Flug. Die beiden Drachen flogen nebeneinander. Der silberne Drache Turondurs war ein beeindruckendes Tier und trug seine beiden Passagiere, Turondur und Gildofal, mit Leichtigkeit. Er war wunderschön anzusehen. Seine hellgrau glänzenden Schuppen fingen das Licht der Wintersonne ein, brachen es und verwandelten den Drachen in eine funkelnde Sternschnuppe. Silberdrachen, so wusste ich aus meinen Büchern, waren sehr selten und galten als die größten Drachen nach den noch selteneren Golddrachen. Um so irritierter war ich, dass der schwarze Drache, auf dem Gilfea und ich saßen, offenbar um einiges größer war. Überhaupt hatte ich noch nie von einem schwarzen Drachen gehört oder gelesen. Wobei schwarz seine Farbe auch nicht richtig beschrieb. Die Wintersonne verfing sich in seinen Schuppen genau so, wie in denen des Silberdrachens. Nur schien bei ihm das Licht seinen Schuppen einen besonderen Glanz und eine unergründliche Tiefe zu verleihen. Man konnte in sie hineinsehen und sich regelrecht darin verlieren. Ich ahnte, dass Gilfeas Drache etwas Besonderes war.
Der Flug zu Kasimirs Drachenhöhle führte uns zu einem der ältesten Stadtteile Daelbars. An einen Hang, der mit immergrünen Pflanzen übersät war, schmiegte sich eine einzelne große Drachenhöhle. Der Stein der Kuppelhalle wirkte uralt, aber nicht brüchig oder marode. Überhaupt wirkte alles sehr alt, würdevoll und auf seine eigene Art winterlich. Die Startrampe, auf der die Drachen landeten, war von Efeu umrankt. Zur Rechten der Rampe hatte man einen kleinen Kräutergarten angelegt, der mit einem verschnörkelten Zaun aus Schmiedeeisen eingefriedet war. Linker Hand befand sich eine überdachte Terrasse, deren Möbel ebenfalls sehr verschnörkelt waren und überaus verwunschen wirkten. Ich mochte kein Bewohner Daelbars sein, doch war sogar mir klar, dass diese Drachenhöhle selbst für die Maßstäbe Daelbars sehr, sehr alt war.
»Kommt herein!«, begrüßte uns ein Greis von einem Mann, der plötzlich in der Tür des Hauses auftauchte, »Wir haben euch erwartet.«
Für einen Greis war der Alte aber recht behände und agil. Mit einer Geschmeidigkeit, die ich bei einem Mann seines Alters nicht für möglich gehalten hätte, kam er auf uns zu und begann Gilfeas schwarzen Drachen zu tätscheln: »Na Mithval, wie geht es denn meinem Lieblingsdrachen?«
Gilfeas Drache reagierte sofort und begann zu kichern. Ich konnte mich des Eindrucks nicht verwehren, dass dieser Mithval ein ziemlich albernes Vieh war. Noch während ich darüber nachdachte, kam der Alte plötzlich auf mich zugestürmt.
»So, mein junger Gildebruder, du möchtest also, dass wir deinem Freund das Leben retten?«
Ich weiß nicht, ob es an seiner Stimme oder seinem Auftreten lag, doch überkam mich ein wirklich unangenehmes Schamgefühl und ich schaute unsicher zu Boden.
»Meridus hatte recht!«, rief der Alte belustigt aus, der offensichtlich Kasimir N’Gardo war, »Du scheinst eine aufrechte Seele zu sein. Nur etwas schüchtern. Schau mir mal in die Augen, Kleiner!«
Ich wollte es nicht, doch in Kasimirs an sich netter Stimme lag etwas Zwingendes. Ich schaute auf und direkt in die Augen Kasimirs. Was für Augen dieser Mann hatte. Dunkle, alte, und trotzdem glasklare Abgründe voller Weisheit und Erfahrung. Und noch etwas mehr. So wie mich Kasimir ansah, fühlte ich mich nackt. Sein Blick hielt mich nur wenige Sekunden fest, dann lachte er auf.
»Ja, ich verstehe, warum dich Meridus und Erogal für etwas Besonderes halten. Mein Junge, du hast vermutlich nicht die geringste Ahnung, was in dir steckt. Nun ja, am besten hörst du erst gar nicht auf das Geplapper eines alten Zausels wie mir.«
Mit diesen eher kryptischen Worten wandte sich der Alte ab, ging zum Haus und deutete uns ihm zu folgen, was wir natürlich auch taten. Kasimir N’Gardos Wohnung war innen genau so wie außen: alt, verschnörkelt und verwunschen. Entweder trotz oder gerade wegen des Alters der Einrichtung, die sehr kostbar und in einem fast neuwertigen Zustand war, verströmte die Wohnung eine Aura von Geborgenheit und Wärme. Viele kleine Elbenlichter, wie ich sie noch nie gesehen hatte, tauchten die Wohnung in ein sanftes und gleichzeitig lebendig glitzerndes Licht.
Kasimir führte uns durch den offenbar üblichen Vorhang in die Halle des Drachens. Mithval und der silberne Drache waren bereits durch das große Hallentor hereingehopst, so dass nunmehr drei riesige Drachen die Halle ausfüllten. Ein silberner, ein schwarzer und ein sehr alter ehrwürdiger goldener Drache. Ich war sprachlos. Ich hatte nie zuvor etwas Majestätischeres gesehen, als diesen Drachen und würde vermutlich auch niemals etwas zu Gesicht bekommen, was diesen Anblick überbieten könnte.
»Hallo, meine Freunde!«, begrüßte uns Fingolf, der älteste lebende Drache der Welt mit einer so warmen und melodiösen Stimme, dass es mir regelrecht warm ums Herz wurde. Jedenfalls so lange, bis mein Blick auf Sumans Sarg fiel, der an der gegenüberliegenden Seite der Halle aufgebahrt war. Ich dachte nicht lange nach, sondern stürmte sofort zu meinem Liebling.
Da lag er und schien friedlich zu schlafen, wäre da nicht der graue Nebel der Geisterstasis, die ihn umwehte. Mit Tränen in den Augen schaute ich zu Kasimir: »Könnt ihr ihm helfen? Bitte, sagt, dass ihr ihm helfen könnt. Ich verdanke ihm mein Leben, Meridus hat sich für uns geopfert, was ich mir nie verzeihen werde. Wenn ihr ihn nicht retten könnt, wäre sein Opfer so sinnlos.«, begann ich, sinnloses Zeugs zu stammeln. Auf jeden Fall liefen mir Tränen über beide Wagen, als ich mich zu Suman drehte und seine kalte Hand in die meine nahm: »Ich liebe ihn!«
In die strengen, weil recht hageren, Gesichtszüge des Greises schlich sich eine gewisse Weichheit: »Mach dir wegen Meridus keine Vorwürfe. Der alte Quacksalber hat überlebt. Es kam wohl noch zu einer etwas handgreiflichen Auseinandersetzung mit ein paar Wassertechnikern, die allerdings zu deren Ungunsten ausging. Unser Gildebruder ist wohlbehalten nach Rochsir zurückgekehrt.«
»Aber seine Luft!«, stammelte ich fassungslos, »Sie konnte unmöglich zurück bis zur Zisterne reichen.«
»Du bist ein Meister der Gilde, so wie Meridus. Du solltest mehr Vertrauen in eure Fähigkeiten haben.«
Ich wusste, dass Fingolf zu mir gesprochen hatte. Ich schaute den goldenen Drachen an und er zwinkerte mir zu. Ich schaute zu Kasimir und er zwinkerte mir ebenfalls zu. Plötzlich wurde mir alles klar. Auch Kasimir N’Gardo war ein Meister der Gilde. Deswegen wunderte es mich auch nicht, dass er alle Details unsere Reise seid Xengabad kannte. Natürlich stand Kasimir mit Septimus und vermutlich auch mit Erogal in Kontakt.
»Was hältst du davon, wenn du uns nun die Dinge zeigst, die Boldin, Szwang und Vaughan das Leben gekostet haben?«
Ich nickte und öffnete ein Versteck in Sumans Sarg. Als erstes holte ich den Datenkristall heraus.
»Ein Datenkristall?«, meinte Turondur, »Den kannst du mir geben. Ich werde ihn sofort entschlüsseln lassen.«
Ohne zu zögern händigte ich Turondur den Kristall aus: »Das Objekt, das wir im Todesigel fanden, war ein Siegelblock. Er enthält eine Phiole mit einer seltsamen Flüssigkeit. Hier schaut!«
Ich zog den Siegelblock aus seinem Versteck und hielt ihn für alle gut sichtbar hoch in die Luft. Ich war gespannt, was meine neuen Freunde von der Substanz in der Phiole hielten, doch war ich auf die nun folgende Reaktion nicht vorbereitet.
Alle drei Drachen kreischten schrill auf, als hätte man ihnen glühende Schwerter in ihr Fleisch gebohrt. Mit krampfartig entstellten Mienen wichen sie von mir zurück. Alle drei Drachen sahen bleich, von Schmerz gequält und regelrecht panisch aus. Nichts von ihrer ansonsten immer präsenten verspielten, ja fast albernen Fröhlichkeit war übrig. Doch nicht nur die Drachen reagierten auf die Phiole, selbst die vier Drachenreiter schauten schockiert und starr auf den Siegelblock. Erschrocken und von einer derart heftigen Reaktion überrascht, zog ich meine Hand zurück und verhüllte die Phiole mit dem Ärmel meiner Jacke. Stammelnd brachte ich ein »Was?«, heraus.
Kasimir fand als erstes seine Fassung wieder. Mit krächzender Stimme und sichtbar zitternd, fragte er mich: »Hast du den blassesten Schimmer, was du dort in deinen Händen hältst?« Tränen liefen seinen, Gilfeas, Turondurs und Gildofals Wangen herunter.
»Nein!«, stotterte ich entschuldigend, »Ich weiß nur, dass es von extremer Wichtigkeit sein muss. Es sind ein Zwerg und zwei Menschen dafür gestorben.«
»Und ein Drache!«, korrigierte Kasimir mit einer Vehemenz, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Dann fügte er etwas sanfter, aber kaum weniger dramatisch, hinzu, »Für diese Substanz wurden bereits ganze Völker ermordet! Es ist die wohl kostbarste und seltenste Substanz der Welt. Sie ist millionenfach wertvoller als Mithril. Königreiche gingen ihretwegen zu Grunde. Freunde wurden zu erbittertsten Todfeinden. Um sie wurde bereits vor tausenden Jahren Kriege geführt, die keine Sieger sondern nur Opfer kannten. Sie ist Leben und Tod zugleich – Es ist das Blut eines Drachen!«
Sumans Rettung
»Alter, tatternder, zynischer Zausel!«
»Alberne Blechechse!«
KASIMIR N’GARDO und FINGOLF übereinander
»Nein!«, 7 Köpfe drehten sich einer belegten Stimme entgegen. Es war Mithval, Gilfeas Drache, der gebrochen und mit seiner akustischen Stimme sprach, »Es ist nicht das Blut eines Drachens. Es ist ihr Blut. Gilfea, meine Seele, du kannst es fühlen! Du hast ihre Stimme gehört!«
Gilfea sagte nichts, sondern ging auf mich zu und nahm mir die Phiole aus der Hand. Er selbst hielt sie mit beiden Händen, wie eine Kostbarkeit. Er schaute wohl ein oder zwei Minuten auf den Siegelblock und das darin enthaltene Drachenblut, bis er plötzlich langsam und schluchzend nickte. Gilfea heulte. Er weinte nicht sondern er heulte Rotz und Wasser. Langsam begann er stockend zu sprechen: »Es ist das Blut von Mithvals Mutter. Ich kann sie hören, sogar fast sehen. Ich habe ihren Schrei gehört, als man sie abschlachtete. Dieser Schrei, ihr Schmerz im Todeskampf, all das, ist auf ewig in ihr Blut eingeprägt. Aber, da ist noch mehr…«, und bei diesen Worten schlich sich ein schwacher, aber hoffnungsvoller Ausdruck auf Gilfeas Gesicht, »Ich kann auch sehen, wie sie vorher war. Sie war ein Drache voller Leidenschaft und Liebe. Mithval, du warst ihr das Wichtigste, was es für sie gab. Alles was du heute bist, ist ihr Geschenk an dich. Sie muss ein fantastischer Drache gewesen sein.«
Was dann folgte, verschlug mir und allen anderen Anwesenden die Sprache. Gilfea drückte die Phiole an sein Herz und schloss seine Augen. Plötzlich fing das Blut in ihr an, aufzuflammen. Gleißend helle goldfarbene Strahlen entwichen zwischen seinen Fingern. Das Licht war so hell und brillant, dass ich für einen Moment meine Augen zusammenkneifen musste. Als ich sie wieder öffnete, konnte ich sehen, wie Gilfea von einem roten Licht eingehüllt wurde. Die Form seines Körpers wurde undeutlich, etwas verschwommen und für einen Augenblick sah es so aus, als ob Gilfea sich in einen Drachen verwandelt hätte. Gleichzeitig, vermutlich war es ein Streich, den mir meine Sinne spielten, meinte ich jemanden eine wunderschöne Melodie summen zu hören.
Ich schaute zu den anderen, um zu sehen, ob sie das Gleiche sahen, was ich sah. Ich könnte nicht sagen, ob sie tatsächlich das Gleiche sahen, da wir später niemals wieder über das, was geschah sprachen. Aber ich fühlte es in der Sekunde, als ich sah, dass alle Drachen weinten.
Noch während Gilfea in das rote Licht gehüllt war, wurde mir klar, dass ich eine Aufgabe erfüllt hatte, von der ich vorher nicht einmal wusste, dass es meine Aufgabe sein würde. Ich hatte das Blut eines Drachen nach Hause gebracht. Als Gilfea mir die Phiole im Siegelblock zurückgeben wollte, schüttelte ich sofort meinen Kopf: »Nein, ich glaube, dieser Schatz ist dazu bestimmt euch, Mithval und dir, zu gehören. «
Gilfea seufzte, nickte kurz und verstaute den Siegelblock in seinem Drachenreitermantel. Etwas unsicher schaute ich zu Mithval, doch der Drache lächelt sanft und dankbar. Überhaupt schien ein Bann gebrochen worden zu sein. Die Drachen und ihre Reiter waren nach wie vor ernst, doch war der Schmerz aus ihren Gesichtern verschwunden. Stattdessen hatte sich ein Ausdruck von Frieden in ihren Minen breit gemacht. Frieden für den Geist von Mithvals Mutter.
Eine Weile blieben wir schweigend und nachdenklich beieinander stehen. Die Szene hatte etwas andächtiges, wie bei einer Trauerfeier. Vermutlich war es sogar genau dies. Eine Trauerfeier für Mithvals Mutter.
»Segato, ich stehe in deiner Schuld. Ich kann dir kaum erklären, was du für uns getan hast. Du wirst es verstehen, solltest du jemals ein Drachenreiter werden. Im Augenblick möchten wir, alle Drachen Daelbars, dir danken, dass du den Geist einer unserer Schwestern zu uns zurück gebracht hast. Segato, wir nennen dich von nun an einen Freund der Drachen.«
»Segato, Freund der Drachen, was Mithval dir eben sagte, gilt für jeden von uns.«, nicht nur Mithval sah mich dankbar an, sondern jeder einzelne, Drache und Seele. »Deswegen lass uns sehen, wie wir deinen Freund retten können. Erzähle mir bitte Schritt für Schritt, wie Suman von dem Projektil getroffen wurde und was du und später Meridus unternommen habt, um ihn zu retten.«
Ich erklärte Kasimir und den anderen was geschehen war. Ich berichtete jedes Detail, sei es, wie meine istarilarisches Fähigkeiten mit der Magie des Projektils kämpfte, oder, wie ich mit den Geistern der Erstgeborenen sprach. Kasimir hörte aufmerksam zu. Nachdem ich meinen Bericht beendet hatte ging er zu Suman und berührte ihn an Stirn, Wangen und Brust. An jeder Stelle, die Kasimir berührte, wich der graue Nebel der Stasis zurück, löste sich gar auf und ließ Sumans Haut rosig schimmern. Nahm Kasimir seine Hand zurück, wurde die betroffene Stelle nach einiger Zeit wieder vom Nebel eingehüllt. Kasimir überlegte, schaute dabei minutenlang schweigend auf Suman, um dann seine Hand auf seine Stirn zu legen und lautlos Worte zu murmeln. Nach ein paar Sekunden unterbrach er sein Gemurmel und sprach zu uns.
»Bitte wartet in meiner Wohnung. Dies ist etwas, bei dem ich allein sein muss.«
Wir gingen zum Vorhang, der die Halle von Kasimirs Wohnung abtrennte. Bevor ich hindurch ging, warf ich noch einen Blick in die Halle. Alle drei Drachen und Kasimir sahen mich mit zuversichtlichen Mienen an. Kasimir nickte mir zu, als wolle er sagen, dass alles gut werden würde. Ich nickte zurück und verschwand hinter dem Vorhang.
»Danke Segato.«, waren die ersten Worte, die ich hörte, als ich zu den Drachenreitern stieß, die in Kasimirs Wohnzimmer bereits auf mich warteten. Turondur sprach weiter: »Du kannst glücklich sein, dass du nicht wusstest, was ihr aus Boldins Yacht mitgebracht habt und dass niemand ahnte oder wusste, was es war. Hätte auch nur der Ansatz eines Verdachts bestanden, ihr wärt im Besitz eines Siegelblocks mit Drachenblut, hättet ihr keine fünf Minuten überlebt. Was Kasimir sagte, ist wahr. Drachenblut wird für sehr viele Dinge missbraucht. Dunkle, schwarzmagische Dinge, an die ich nicht einmal zu denken wage. Doch die wahre Grausamkeit liegt darin, dass für die Gewinnung von Drachenblut ein Drache sterben muss. Doch er stirbt nicht wirklich. Ein Teil ihres Geistes, ihres Wesens und ihrer Seele sind für immer in ihrem Blut und all den Dingen, die aus dem Blut gefertigt werden, gefangen. Nur dadurch, dass du und Suman, die Phiole zu uns brachtet, werden wir in die Lage sein, ihren Geist zu befreien.«
»Wow!«, mehr und sinnigeres fiel mir dazu nicht ein. Allerdings ging mir ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Die Phiole war recht klein. Ein Drache müsste doch über weit mehr Blut verfügen, oder? Was war mit dem Rest geschehen?
Wir schwiegen, während wir auf Kasimir warteten. Während ich unruhig auf einem in elbischem Stil gefertigten Stuhl hin- und her rutschte, fiel mir auf, wie Gildofal Gilfea ansah. Gildofals Blick hatte sich verändert. Bisher schien mir Bewunderung die vorherrschende Emotion zu sein, nun schien tatsächlich Gildofal Gilfea total verliebt anzuhimmeln. Ich wollte gerade eine vorsichtige Bemerkung machen, als Kasimir sein Wohnzimmer betrat. Sein Gesichtsausdruck ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Kasimir N’Gardo sah müde, erschöpft und resigniert aus. Kopfschüttelnd und traurig sah er mich an und sprach: »Ich weiß nicht, was ich für Suman tun könnte. Dieses Projektil ist die teuflischste Waffe, die ich je gesehen habe. Und ich habe in meinem sehr, sehr langen Leben einiges an Waffen gesehen. Segato, Drachenfreund, es tut mir Leid…«
»Nein!«, brüllte ich los und schlug wild um mich. Ich heulte, flennte, wie ein kleines Kind. Es musste doch etwas geben, das Suman retten kann. Es muss! Es muss! Es muss!
»Ja!«
Ein einziges Wort ließ mich ruhig werden. Es war die warme, lebendige, liebevolle Stimme Fingolfs, des alten ehrwürdigen goldenen Drachens, die dieses Wort sagte.
»Ja?«, fragte Kasimir erstaunt.
»Ja, wir können etwas tun, das Suman retten kann. Du weißt es. Ich bin müde. Du bist müde. Meinst du nicht, es wäre an der Zeit? Was vorhin geschah, war ein Zeichen. Es wird unsere letzte Aufgabe sein: Suman retten und den Geist einer guten Freundin den Frieden geben.«
»Ja! Du hast recht!«, entgegnete Kasimir und seine Augen glänzten. »Ja«, fuhr er in einem feierlichen Tonfall fort, »Ich verstehe, was du meinst. Dies wird in der Tat unsere letzte Aufgabe sein. Fingolf, Freund, ich bin bereit!«
»Was? Wozu seid ihr bereit? Wovon redet ihr?«, Kasimir und Fingolfs Gerede gefiel mir nicht. Die Worte hatten etwas endgültiges, dass es mir kalt über den Rücken lief.
»Wir werden Suman retten. Es gibt eine Möglichkeit, an die ich bisher nicht gedacht habe. Ich kann das Projektil nicht entfernen, aber ich kann es auf mich übertragen.«
Es braucht eine Weile, bis mir die Bedeutung des letzten Satzes klar wurde: »Aber… Nein! Dass könnt ihr nicht, es wird euch und Fingolf umbringen!«
Kasimir schaute mich an und lächelte kurz, um sich dann Gildofal, Gilfea und Turondur zuzuwenden: »Meine Freunde, würdet ihr Segato und mich für einen Moment alleine lassen?«
Alle drei Angesprochen nickten, verließen den Wohnraum und gingen zu den Drachen. Kaum allein schnappte sich Kasimir N’Gardo einen Stuhl und setzte sich direkt vor mich hin.
»Segato G’Narn, 3. Graumeister der Gilde der Wächter, für wie alt hältst du mich?«, fragte mich Kasimir N’Gardo und teilte mir damit indirekt mit, dass er ebenfalls ein Meister der Gilde war.
»Ich weiß, dass ihr alt seid. Ich habe gelesen, dass eine Drachenseele genau so lange lebt, wie sein Drache. Aber ich könnte nicht sagen, wie alt ihr in Jahren seid.«
»Die Zahl der Jahre ist unwichtig. Es macht kaum einen Unterschied, ob es 80 oder 800 Jahre sind. Ich bin müde und Fingolf ist es auch. Guldurs Geburt, der goldene Drache des jungen Franciscus, war ein erstes Zeichen, dass sich unsere Aufgabe dem Ende neigte. Aber erst dein Erscheinen und das, was du mit dir brachtest, hat uns überzeugt, dass wir glücklich und zufrieden diese Welt verlassen können.«
»Verlassen? Was meint ihr?«
»Fingolf und ich, werden ein letztes Mal zwischen den Welten fliegen. Es ist ein Flug ohne Wiederkehr, denn eigentlich ist es ein Flug nach Hause. Wir Drachen, denn obwohl ich einen menschlichen Körper besitze, bin ich ein Drache, sind magische Wesen. Mit unserem letzten Flug kehren wir zurück an den Ort, von dem wir hergekommen sind.«
»Aber ihr seid doch ein Mensch?«
»Ich »war« ein Mensch. Mit der Vereinigung mit Fingolf wurde ich zum Drachen. In all den Jahren habe ich es nie bereut und sehe es immer noch als das wunderbarste Geschenk an, das mir mein Leben gebracht hat. Ich habe nie verstanden, warum Fingolf ausgerechnet mich erwählt hat. Ich war ein junger Meister der Gilde. So wie du, aber doppelt so ahnungslos. Fasziniert von Drachen entschloss ich mich, sie zu suchen. Und tatsächlich. In der Nähe eines Vulkans, dessen Namen man heute nicht mehr kennt, fand ich sie: Eine Kolonie von Drachen und Drachenreitern. Sie nahmen mich auf, schulten mich, zeigten mir alles, was es über Drachen zu wissen gab. Eines Tages war es soweit. Die Reiter brachten mich zu einem der Vulkanschlote, an denen die Drachen ihre Eier ablegten. Sie fragten mich, ob ich mir wirklich sicher sei, dass ich einer von ihnen werden wollte. Ich zögerte keine Sekunde. Ich wollte und ich wurde belohnt. Fingolfs Seele zu sein, ist mein Leben.«
Kasimirs Mine verfinsterte sich: »Es war ein gutes Leben, ein Drachenreiter zu sein. Damals gab es noch viele Drachen, was sich eines Tages vollkommen ändern sollte. Wir haben nie erfahren, wo sie herkamen. Es waren Drachenjäger, erbarmungslose Drachenjäger. Sie verfolgten uns, wo sie uns fanden und metzelten einen Drachen nach dem anderen nieder. Am Ende waren weniger als ein Zehntel von uns übrig. Doch gerade als wir eine Allianz mit den Elben schließen wollten, um gegen die Jäger anzutreten, waren sie genau so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Wir übrig gebliebenen Drachen suchten die ganze Welt nach unseren Brüdern und Schwestern ab. Fast jeder, den wir fanden, schloss sich uns an. 212 Drachen von ehemals über 3000 hatten die Massaker der Drachenjäger überlebt. 212 Drachen, die sich schworen, niemals wieder zuzulassen, dass man uns jagte. Dieser Schwur war die Geburt Daelbars, der Heimstadt der Drachen. Unserem heiligen Zufluchtsort. Wir, Fingolf und ich, sind der letzte Drache der 212, der noch auf dieser Welt wandelt.«
»Du fragst dich, warum ich dir dies alles erzähle, oder?«
Ich nickte schweigend und voller Ehrfurcht vor Kasimir und Fingolf. Nicht nur, dass Daelbar weit mehr als 2000 Jahre alt war. dieser Drache war lebende Geschichte.
»Die Welt steht vor einem Umbruch. Du weißt, welcher Art von Drache Mithval ist?«
Wahrheitsgemäß schüttelte ich meinen Kopf. Ich wusste es nicht.
»Mithval ist der Drache der Drachen. Er ist der erste Mithrildrache den es je gegeben hat und es wird nach ihm niemals einen weiteren geben. Mithval wurde uns als Signal, als Nachricht geschickt, dass uns etwas Gewaltiges bevorsteht. Mithval und Gilfea waren das erste Zeichen. Uskav, ein Uruk, der zum Drachenreiter wurde, war das Zweite. Und du, mein Freund, bist das dritte. Du trägst das Erbe der Istarilari in dir. Du bist ein Zauberer von jenseits aller Meere. Wenn ich in meinem langen Leben auch nur eine Sache gelernt habe, dann das, dass drei Zeichen dieser Art kein Zufall sein können. Ich fürchte, es wird eure Aufgabe sein, die Welt vor dem Bösen zu schützen, wenn nicht sogar zu retten. Du bist ein Meister der Gilde, du weißt um das Wesen des Bösen: Leid, Zerstörung und Tod. «
»Aber…«, stammelte ich los, »Warum wollt ihr dann die Welt verlassen? Eure Erfahrung, euer Wissen, es wird uns fehlen.«
»Ich weiß und es betrübt mich, doch weiß ich auch, dass Fingolf und mir nur noch eine kleine Rolle im Schauspiel der Geschichte zugedacht ist. Ich werde Suman für dich retten. Ihr seid verwandte Seele. Ihr braucht einander. Denn auch dass ihr euch ineinander verliebt habt, ist sicherlich kein Zufall gewesen. Komm, lass uns deinen Freund retten und gräme dich nicht. Fingolf und ich, wir sind glücklich, dass wir am Ende diese Aufgabe auf uns nehmen dürfen.«
Kasimir lächelte und strich mir großväterlich über meine Haare: »Du bist ein Meister der Gilde, Segato. Du kennst unsere Aufgabe: Bekämpfe das Böse, wo immer du es findest!«
Mit diesen Worten stand Kasimir N’Gardo auf und ging in die Halle der Drachen, wo sich Sumans Sarg befand. Ich folgte ihm. In der Halle herrschte eine ganz merkwürdige andächtige Stille. Mithval und Toldin hockten neben Fingolf und summten eine Melodie. Sie erinnerte mich sofort an jene Melodie, die ich meinte gehört zu haben, als Gilfea die Phiole mit dem Drachenblut in seinen Händen hielt. Sie klang ähnlich, war aber nicht die gleiche. Es war Fingolfs Melodie, die den Raum durchzog. Ihre Schallwellen brachen sich an Wand und Tür, an Fenster und Kamin. Und überall dort, wo sie sich brach, ließ sie die Welt erstrahlen. Kasimir ging auf Suman zu. Zusammen mit Turondurs, Gilfeas und Gildofals Hilfe, hoben sie ihn aus seinem Sarg und legten ihn Fingolf vor dessen mächtige Klauen. Kasimir kniete vor Suman nieder und legte ihm seine rechte Hand auf die Stirn.
Zuerst passierte nichts. Zumindest dachte ich, es würde nichts passieren, bis ich bemerkte, dass der graue Nebel der Geisterstasis sich langsam auflöste und verschwand. Sumans Haut gewann an Farbe, sein Brustkorb begann sich zu heben und zu senken. Er atmete. Hände und Beine, sein ganzer Körper bebten und zitterten. Kasimirs Hand ruhte weiterhin auf Sumans Stirn. Von ihr ging ein rotes Glühen aus, das anwuchs, sich um Kasimirs Hand auf Sumans Kopf, Hals und Körper ausbreitete. Aber auch Kasimir hüllte das rote Glühen ein. Beide, Suman und Kasimir, wurden undeutlich und verschmolzen zu einer einzigen rot glühenden Wolke. Genau in dem Moment, als die Wolke ihr Maximum erreicht hatte, hörten wir einen dumpfen, unterdrückten Schrei.
Das rote Glühen löste sich auf und gab den Blick auf Kasimir und Suman frei. Kasimir nickte: »Es ist gut. Suman wird leben.« Kaum hatte er die Worte gesprochen strauchelte Kasimir, sein Gesicht war verzerrt. Ich kannte den Anblick. Das Projektil verursachte Schmerzen. Kasimir grinste gequält und meinte: »Ich habe den Eindruck, dass Sumans kleiner Begleiter wenig Lust verspürt, seine Aufgabe nicht erfüllen zu dürfen. Ich…« Ein von den Schmerzen verursachter Hustenanfall unterbrach Kasimir, »Bitte helft mir Fingolf zu erklimmen. Ich befürchte meine Kräfte schwinden schneller, als mir lieb ist.«
Sofort sprangen wir auf Kasimir zu und trugen ihn gemeinsam zu Fingolfs Flügel. Vorsichtig hoben wir ihn in seinen Sattel. Der Alte nickte: »Ich danke euch. Mithval ich werde den Geist deiner Mutter mit mir nehmen. Sie soll den Schrecken, den sie in dieser Welt erfahren hat, vergessen dürfen.«
Schweigend gab Gilfea Kasimir den Siegelblock mit dem Blut von Mithvals Mutter. Der Alte nahm die Phiole und verstaute sie in seiner Satteltasche. Dann richtete er den Blick auf mich: »Segato, Gildebruder, hiermit übertrage ich dir alles, was ich bin und was mir gehört. Von nun an soll diese Höhle dein und Sumans Heim sein und hoffentlich bald von kleinen frechen Drachenjungen bevölkert werden, obwohl letztes natürlich deine Entscheidung ist.«
Kasimir schaute noch einmal von Drache zu Reiter und lächelte: »Ein bisschen werden wir diese Welt vermissen und nicht zuletzt die guten und aufrechten Menschen, Elben und Drachen, die ich meine Freunde nennen durfte. Fingolf, Freund, bist du bereit für einen letzten Flug?«
»Ja, Kasimir, Freund, lass uns noch einmal den Wind zwischen den Schuppen spüren.«
Das Tor der Halle öffnete sich. Fingolf tapste heraus, wobei sein Tapsen etwas sehr elegantes und würdevolles hatte. Wir folgten und traten ebenfalls ins Freie. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Der Himmel war voller Drachen. Jeder, wirklich jeder Drache Daelbars war da, um Fingolf und Kasimir bei ihrem letzten Flug Respekt zu zollen und ihre Liebe zu zeigen. Toldin und Mithval erhoben sich ebenfalls in die Luft. Meine Augen öffneten alle Schleusen.
»Hey, sei nicht traurig. Wir werden uns wieder sehen… So etwa in ein paar hundert Jahren! Kopf hoch, Bruder Segato, Freund der Drachen!«
Mit diesem Wort hob Fingolf ab. Seine Flügel katapultierten ihn und Kasimir in immer größere Höhen. Als er kaum noch am Himmel zu erkennen war, nicht mehr als ein winziger Punkt, stieß er wie ein Pfeil hinab, schoss einmal über Daelbar hinweg, um dann plötzlich aufzuglühen, gleißend hell, silbern und golden zu erstrahlen und mit einem Blitz diese Welt zu verlassen.
Hier endete die Geschichte von Fingolf und Kasimir N’Gardo, dem letzten Drachen der Gründer von Daelbar.
Drachenreiter
»Ein blauer Seedrache? Niemals, dass passt doch unmöglich zu meinem Teint!«
SUMAN
Für einen Moment schien es, als wenn ganz Daelbar den Atem anhielt. Als wenn die Zeit selbst eine Pause einlegte. Eine Aura feierlicher Melancholie lag über der Stadt, hing, fast greifbar, zwischen ihren Hügeln. Fingolf war mit Kasimir zu seinem letzten Flug gestartet und hatte unsere Welt verlassen. Daelbar wurde still. Leise summend und im Segelflug zogen sich die Drachen in ihre Höhlen zurück. Doch Daelbar trauerte nicht. Eines Tages würde sie Fingolf und Kasimir wieder sehen.
»Oh, schreib mal jemand das Kennzeichen des Trolls auf, der mich überrannt hat!«
Eine mir wohlbekannte Stimme riss mich aus meiner eigenen andächtigen Starre und elektrisierte mich. Es war unverkennbar Suman, der aus der nun leeren Halle herausschallte. Natürlich stürzte ich sofort auf meinen Liebling zu, unmittelbar gefolgt von Turondur, Gildofal, Gilfea und ihren beiden Drachen, die gerade zur Landung ansetzten.
»Suman!«, rief ich halb jubilierend, halb heulend aus. Alles natürlich nur aus Freude, dass mein Freund sein Bewusstsein wiedererlangt hatte.
»Oh, Mann…«, stöhnte mein junger Gildemeister und massierte mit seiner rechten Hand Augenhöhlen und Stirn, »Meridus, an deiner Narkosetechnik musst du noch Arbeiten. Mir dröhnt der Schädel als hätte ich drei Stiefel Orkbier getrunken Oh, Scheiße, tut das weh!«
Meridus? Wieso Meridus? Im ersten Moment war ich verwirrt, was Suman eigentlich meinte, dann dämmerte es mir. Für Suman befanden wir uns immer noch in Meridus Krankenstation im Gildehaus von Minas Rochsir.
Suman stöhnte: »Ich weiß ja nicht, was Meridus mir gegeben hat. Aber ich kann dir sagen, ich habe vielleicht wildes Zeugs geträumt. Das glaubst du mir nie.«, stöhnte Suman und rieb sich weiter den Schädel. Er lag immer noch dort, wo ihn Kasimir und Fingolf geheilt hatten: auf dem nackten Boden der Drachenhalle. Ich stürzte geradezu zu ihm, packte seinen Oberkörper, umarmte ihn, klammerte mich an ihn und heulte ein weiteres Mal hemmungslos los: »Du lebst! Suman, du lebst! Ich…« Mein Verhalten war dermaßen klischeehaft, dass ich mich normalerweise dafür abgrundtief geschämt hätte, trotzdem sprach ich aus, was ich fühlte: »Ich bin so glücklich, dass es dir wieder gut geht. Schatz, ich liebe dich so sehr!«
Suman antwortete auf seine Weise, er küsste mich. Ich nahm seinen Kopf in meine Hände, schaute ihn an und küsste ihn zurück, bis mir auffiel, dass er seine Augen zusammen kniff.
»Was ist mit deinen Augen?«
»Vermutlich nichts. Mir dröhnt der Schädel und meine Augen brennen. Ich habe versucht sie zu öffnen, aber das Licht blendet.«
Gildofal reagierte sofort und dämpfte das Licht in der Halle. Die meisten Drachenhallen verfügen über umfangreiche Beleuchtungseinrichtungen. Von tageslichthell bis schummerig war alles frei wählbar. Kasimir hatte maximale Helligkeit eingestellt, um Suman untersuchen zu können und dieses Licht schien ihn nun zu blenden.
»Ah, besser… Danke!«, meinte Suman und öffnete ganz vorsichtig seine Augen. Ich hielt ihm immer noch in meinem Armen und schaute ihm direkt ins Gesicht. Langsam hoben sich seine Augenlider. Suman blinzelte, sah mich an und begann zu lächeln. »Hallo Segato!«, kam es leise und sehr verliebt aus seinem Mund.
»Hallo Suman!«, entgegnete ich und grinste ihn dabei ziemlich dämlich, dafür aber überglücklich an.
»Meridus OP war wohl erfolgreich?«, stellte Suman fest und bestätigte meine Vermutung, dass er sich immer noch im Gildehaus von Minas Rochsir wähnte.
»Ähm, ich glaub, ich muss dir etwas erklären…«, begann ich möglichst unverfänglich, kam aber nicht viel weiter. Suman zog irritiert eine Augenbraue hoch, brach den Blickkontakt ab und schaute an meinem Kopf vorbei. Es brauchte nur drei Sekunden, bis seine Augen groß wie Salatschüsseln wurden.
»Da… da… da… da sind…«, stotterte er hysterisch los, »Dra… Dra… Dra…«
»Drachen?«, fragte ich breit grinsend. Suman nickte heftig und bereute es sofort.
»Darf ich dir die Mithval und Toldin vorstellen?«
»Mithval? Toldin?«, Suman schaute mich entgeistert an, »Du kennst sie? Wo sind wir? Dies ist nicht die Krankenstation, oder? Wo ist Meridus? Wo sind wir?«
Ich zuckte etwas unbeholfen und verlegen mit meinen Schultern, »Ähm, ich sagte ja schon, dass ich mit dir reden muss.«
Ich stand auf, nahm Sumans Hand und half ihm auf die Beine. Seine Bewegungen waren wackelig und schwach, so dass ich ihm stützend unter den Arm griff. Als Gilfea dies sah, sprang er sofort auf Suman zu und stützte ihn auf dessen anderer Seite. Wir gingen in Kasimirs Wohnzimmer. Gilfea und ich legten Suman auf eine größere Liege, die mir sehr bequem erschien und hockte mich selbst auf einen Schemel direkt davor hin. Gildofal und Turondur folgten uns ebenfalls ins Wohnzimmer, hielten sich aber vorerst im Hintergrund.
»Wir sind in Daelbar.«, begann ich zu erklären, »Dies sind…«
»Ich weiß. Gilfea, Turondur und Gildofal. Sie sind Drachenreiter.«, die Erwähnten wurden hellhörig.
»Du weißt das?«, ich war mehr als verblüfft. Woher konnte Suman wissen, wer die drei waren?
»Ich bin mir nicht ganz sicher…«, gestand Suman, »Ich sah sie und kannte ihre Namen… Hm… Ich kenne auch dieses Zimmer, es ist… ich weiß nicht… vertraut… Als wenn ich hier ewig gewohnt hätte. Aber das war nicht ich, sondern jemand anderes…Fingolf? Kasimir? Sagen dir die Namen etwas?«
Ich nickte.
»Die Operation? Das Projektil? Die Sache lief nicht wie geplant, oder?«
Ich nickte erneut.
»Ich… Wie lange war ich weg?«
Ich verzog meinen Mund und meinte: »Über eine Woche. Du warst in Stasis, eingefroren in der Zeit.«
»Was?«, Suman schaute ungläubig von mir zu Gilfea und den anderen beiden Drachenreitern, »Was heißt Stasis?«
»Segato wird dir alles erklären.«, meinte Turondur, »Doch vorher solltest du etwas trinken. Kasimir müsste noch etwas von einem elbischen Trunk in seiner Küche haben, den ich für ihn gebraut habe. Er wird dich stärken. Danach werden wir dir alles erklären. Habe keine Angst. Du bist unter Freunden.«
Suman nickte müde. Er war schwach. Die Stasis konservierte zwar seinen Körper, doch die Operation davor, bei der Meridus versuchte, das Projektil zu entfernen, hatte ihn stark geschwächt. Turondur braucht nur zwei Minuten, dann kam er mit einer Karaffe und fünf Gläsern zurück. Der klare, leicht grünliche Trunk verströmte ein prickelndes und belebendes Aroma. Nach dem ersten Schluck fühlte ich mich wacher und kräftiger und auch Suman sah gleich viel besser aus.
So gestärkt begann ich Suman von den Ereignissen zu erzählen, die dazu geführt hatten, dass er vor wenigen Minuten in einer Drachenhöhle aufgewacht war. Ich erzählte von Meridus, wie er versuchte, das Projektil zu entfernen, dabei aber scheiterte. Ich erzählte Suman von der Geisterstasis und den Geistern der Erstgeborenen. Ich schilderte unsere Fahrt nach Blaufurt und die Flucht durch die Zisternen der Stadt. Suman hörte zu, lauschte meinen Worten. An machen Stellen lachte er, an anderen kämpfte er damit, nicht in Tränen auszubrechen. Als ich an das Ende meines Berichtes kam und von Fingolf und Kasimir erzählte, war es mit seiner Selbstbeherrschung zu Ende. Suman weinte, wie wir anderen auch.
»Ich weiß nicht, was ich denken, fühlen oder nun tun soll. Du, Meridus, die Leute aus Daelbar von denen du gesprochen hast, alle haben so viel für mich getan. Warum? Wer bin ich, dass sich ein Drache meinetwegen opfert? Das sich Meridus für mich opfern wollte? Wie kann ich das jemals wieder…«
»Denk nicht einmal daran jemals irgend etwas zurückzahlen zu wollen!«, fiel Gilfea Sumans ins Wort und sprang auf, um sich zu mir und Suman zu gesellen. Die zwei anderen Drachenreiter folgten ihm.
»Segato liebt dich!«, begann Gilfea sanft aber entschlossen. Sumans Blick wechselte erschrocken zwischen Gilfea und mir hin und her. Der junge Drachenreiter lachte: »Keine Panik, das ist Ok. Ihr seid nicht die einzigen, die nicht in der Männlein-Weiblein-Liga spielen…« Gilfea grinste breit, »Aber das war es nicht, was ich sagen wollte. Segato liebt dich, und zwar absolut und bedingungslos. Es war seine Liebe, die Meridus, Septimus, die Geister der Erstgeborenen, Fingolf, Kasimir und auch mich davon überzeugt haben, dich zu retten. Wir taten es aus freien Stücken und wir taten es gern. Niemand erwartet eine Gegenleistung von dir. Wir taten es, weil wir in Segatos Liebe zu dir sahen, dass du es mehr als wert bist. Doch wenn du wirklich darüber grübelst, wie du etwas zurückzahlen könntest, dann muss ich dir leider sagen, dass dein Konto mehr als ausgeglichen ist. Du hast das Blut von Mithvals Mutter nach Hause gebracht. Gut, du wusstest nicht, was in dem Siegelblock war, aber du hast geahnt, dass es wichtig war. Du und Segato, ihr beiden habt alles getan, damit das Blut nicht in die falsche Hände gerät. Allein dafür stehen wir tief in eurer Schuld.«
Suman nickte stumm, schien aber nicht vollständig überzeugt zu sein. Gilfea hockte sich zwischen Suman und mich, nahm meine rechte und Sumans linke Hand in die seine, schaute zwischen uns hin und her und meinte: »Ihr beiden gehört hier her – nach Daelbar. Fingolf wusste das. Meridus weiß es. Ich kann es fühlen. Es mag etwas merkwürdig klingen, aber mir ist, als wenn wir auf auch gewartet hätten.«
Gildofal räusperte sich, kratzte sich am Kopf und meinte: »Du könntest sogar recht haben.«, Gildofal schaute etwas unsicher drein, »Ich hätte schon früher etwas gesagt, hatte aber Angst, ihr würdet mich für verrückt halten. Ich habe dieses merkwürdige Gefühl, dass wir, Gilfea, Uskav, Suman, Segato und ich, miteinander verbunden sind. Jeder von uns ist unter mehr als nur ungewöhnlichen Umständen nach Daelbar gekommen. Glaubt ihr, dass das Zufall war?«
Gildofals Frage blieb nicht unbeantwortet. Gildofal schaute von mir zu Gilfea und zu Suman. Wir schüttelten unsere Köpfe. Dass wir uns alle in Daelbar trafen, war kein Zufall, davon war ich inzwischen ebenfalls überzeugt. Ich wäre nicht so weit gegangen zu behaupten, jemand würde einen Plan verfolgen und uns an unsichtbaren Fäden wie Marionetten steuern, aber die Grundtendenz war klar. Irgendetwas wollte, dass wir hier zusammen kamen. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass ich Gildofal und Gilfea sofort vertraute. Ich erinnerte mich an das Buch über die Drachen, das mich vor Jahren in Gildeschule Crossars fasziniert hatte. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass es mich nach Daelbar zu den Drachen hin zog.
»Sind wir denn überhaupt willkommen?«, fragte Suman, »Die Menschen, Elben und Drachen der Stadt haben sicherlich etwas Besseres zu tun, als sich um zwei gestrandete Gildebrüder zu kümmern. Außerdem, wo sollen wir wohnen? Wovon sollen wir leben?«
»Eine gute Frage…«, dass wir uns auf die eine oder andere Weise um unseren Unterhalt kümmern mussten, war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen, vermutlich, weil ich mich bisher schon immer irgendwie durchgeschlagen hatte.
Turondur, der bisher nur zugehört hatte, grinste hinterhältig: »Die erst Frage ist einfach beantwortet: Ihr seid mehr als willkommen. Zur zweiten Frage, wo ihr leben sollt. Nun, Segato, hast du Kasimir vorhin nicht zugehört?«
»Wieso? Was?«, worauf wollte Turondur hinaus.
»Du hast nicht zugehört!«, lachte Turondur amüsiert, »Ihr beiden seid Kasimirs und Fingolfs Erben. Er hat es klar und deutlich und unter Zeugen gesagt. Alles was ihm und Fingolf gehörte hat er auf euch übertragen. Eine nette Drachenhöhle habt ihr hier…«
»Wirklich?«, fragten Suman und ich synchron.
Gilfea und Gildofal nickten bestätigend: »Wirklich!« Gilfea fügte hinzu: »Ich könnte allerdings verstehen, wenn ihr nicht sofort einziehen wollt. Ihr könnt gerne unser Gästezimmer nutzen.«
Ich verstand sofort, worauf Gilfea anspielt. Es war Kasimirs und Fingols Drachenhöhle. Sie schaute so aus, als wenn Kasimir nur kurz weggegangen wäre und gleich wiederkommen würde. In der Küche standen noch ein dreckiger Teller und ein benutztes Glas in der Spüle. Die Wäscheschränke waren mit Kasimir Bekleidung gefüllt. Es war seine Höhle und sie trug unverkennbar seine Handschrift, nein, mehr noch, sie atmete seinen und Fingolfs Geist. Mir gefiel die Einrichtung, sie war uralt aber auch gleichzeitig zeitlos modern und in einem tadellosen, fast neuwertigen Zustand. Die meisten Gegenstände waren antik und vermutlich sehr, sehr wertvoll. Damit konnte ich soweit noch gut leben. Es waren die Erinnerungen an Kasimir, den ich, zwar nur für kurze Zeit, wie eine Art Großvater lieben lernte. Seine Persönlichkeit quoll aus jeder Ecke und jedem Winkel des Drachenheims. Wenn Suman und ich uns hier heimisch fühlen wollten, dann mussten wir das Haus verändern. Wir mussten es für uns erobern, ohne das Andenken Fingolfs und Kasimirs dabei zu schmälern.
»Er hat nichts dagegen, wenn wir dieses Haus zu unserem Haus machen.«, erriet Suman meine Gedanken.
»Vermutlich nicht.«
»Nein, sicher! Ich weiß es! Ich glaube Kasimir und Fingolf haben mir einen Teil ihrer Erinnerungen und ihres Wissens geschenkt, als sie mich retteten.«, Suman lachte melancholisch auf, »Der alte Drachenreiter! Weißt du, dass er eine Nachricht zu diesem Haus in meinem Kopf hinterlassen hat? >Es ist von nun an eure Höhle. Schmeißt meinen alten Krempel einfach raus!<«
»Gut, dann helfen wir euch morgen beim Auf- und Umräumen!« Gildofal hatte keine Hemmungen Gilfea einfach mit einzuplanen. Gut gelaunt, stieß er ihn mit seiner Schulter an und fragte: »Oder hat Mithvals Sklaventreiber schon etwas anderes vor?«
»Öhm, nein!«, murmelte Gilfea und bedachte dann Suman mit einem nachdenklichen und leicht hinterhältigen Blick: »Dann sollten wir wohl langsam aufbrechen. Mithval meinte gerade, dass Lindor bereits unterwegs ist.«
Wie sich die Dinge doch wiederholen. Kaum hieß es, dass wir aufbrechen wollten, erhob sich Suman von seiner Liege und ging in Richtung Haustür. Ich konnte nicht anders und musste lachen. Mit dem Zeigefinger auf die Drachenhöhle deutend, rief ich: »Ähm, Suman, hier lang…«
In der Höhle erwarteten uns nunmehr drei Drachen. Zu Mithval und Toldin hatten sich Lindor und seine Seele Thonfilas, ein sympathisch wirkender Elb, hinzugesellt. Gildofal entschied sich bei Thonfilas mit zufliegen, was Suman den Platz bei Turondur eröffnete. Ich wollte gerade zu Gilfea hinaufklettern, als Suman hektisch und abwehrend mit seinen Händen fuchtelte: »Oh, nein! Nee, nee, nee! Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich auf einem Drachen reite?«
»Oh doch!«, entgegnete ich und ließ meine Lippen von einem wirklich diabolischen Grinsen umspielen. Suman schluckte, während ich ihm einen Reitermantel in die Hand drückte, den Gilfea aus Kasimirs Garderobe besorgt hatte, »Du machst das schon.«
Es kam wie es kommen musste. Das Hallentor öffnete sich, die Drachen hopsten einer nach dem anderen bis zum Rand der Startrampe. Ich wusste natürlich was jetzt kam und war darauf vorbereitet. Mithval ließ sich einfach Kopf voran von der Rampe fallen und stürzte in die Tiefe. Nachdem ich meine erste Angst überwunden hatte, begann ich die Drachenfliegerei zu genießen. Mit Mithval zu fliegen war schlichtweg fantastisch. Keinen Moment lang fühlte ich mich unsicher oder hatte das Gefühl herunterfallen zu können.
»Oh, verdammte Schei… Ahhhhhhhhhhhh!«, hörte ich Suman hinter mir kreischen. Toldin stürzte sich ebenfalls die Rampe herunter und folgte dem von Mithval vorgegebenen Kurs. Lindor bildete die Nachhut. Mithvals tollkühne Manöver wurden exakt nach geflogen, so dass auch Suman in den Genuss eines einzigartigen Drachenflugerlebnisses kam. Seinen Schreien nach zu urteilen, schien er anfangs seinen Ritt nur bedingt zu genießen. Doch auch er wurde, so wie ich, ruhiger und seine Rufe wandelten sich von panisch in begeistert. Nach einem leider viel zu kurzen Flug erreichten wir Gilfeas Drachenhöhle. Nachdem ich von Mithvals Sattel heruntergeklettert war, lief ich sofort zu Suman.
Mein Schatz strahlte bis über beide Ohren und kraulte Toldins Schuppen. Der große Silberdrache gab ein gurrendes Geräusch des Wohlbefindens von sich. Turondur schmunzelte zufrieden: »Haben wir heute möglicherweise zwei neue zukünftige Drachenreiter gefunden?«
»Definitiv!«, rief Suman kurz und knapp. Ich konnte über soviel Enthusiasmus nur meinen Kopf schütteln und meinte: »Natürlich, was auch sonst?«
Schnapp!
»Du haarst!«
»Du schuppst!«
GILDOFAL und Eariglin
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll…«, Suman und ich lagen in unserem Bett, dass heißt im Bett des Gästezimmer in Gilfeas Drachenhöhle. Mein Schatz hatte sich an mich gekuschelt. Wir waren unbekleidet. Endlich konnte ich Sumans Haut wieder auf meiner Haut fühlen, die Wärme seines Körpers spüren.
»Danken? Wofür? Dass ich völlig eigennützig meinen Liebhaber gerettet habe?«, lachte ich mit einem leicht nachdenklichen Unterton. Ich gab Suman einen Kuss auf Nase und Mund und zog ihn dichter zu mir heran. Ernst und leise, knapp davor zu flüstern, sprach ich weiter: »Du hast mir so gefehlt. Dich zwischen tot und lebendig zu sehen… Ich weiß nicht, wie lange ich ohne dich überlebt hätte. Ich hätte alles getan, um dich zu retten, alles!«
»Du hast alles getan, sogar mehr als das! Du hast alle Grenzen überschritten und selbst die Ewigkeit der Geister der Erstgeborenen herausgefordert.«, Sumans nüchterne Stimme erschrak mich, »Du bist weiter gegangen als dies jeder andere getan hätte.« Suman seufzte. Ich wurde nervös. Dass an ihm etwas nagte, war offensichtlich.
»Was bedrückt dich?«
»Bitte sei ganz ehrlich, Segato, was siehst du in mir?«, Suman schaute mir direkt in die Augen. Noch bevor ich auf seine Frage antworten konnte sprach er weiter: »Ich bin niemand besonderes. Ich weiß nicht einmal, ob ich ein guter Mensch bin. Ich gelte als gut aussehend, so gut, dass fette Geldsäcke mit mir ins Bett steigen wollen. Ich hab‘ ihnen die Schwänze gelutscht, um an Informationen zu kommen. Was meinst du, was unsere lieben Drachenreiter von mir halten, wenn sie erst wissen, wer ich bin. Glaubst du, sie werden dann immer noch so begeistert sein, mich gerettet zu haben?«
Statt direkt zu antworten, küsste ich Suman sanft auf den Mund, zog ihn ganz dicht an mich heran, umklammerte ihn und hielt ihn einfach nur fest: »Es ist unwichtig, was du getan hast. Ich weiß nur eins: Ich liebe dich und ich brauche dich so sehr, wie die Luft zum atmen. Außerdem irrst du. Du bist etwas Besonderes. Mir ist egal, was Gilfea, Gildofal, Turondur, Mithval, Lindor oder sonst jemand sagt. Ich liebe dich, als Mensch, als Liebhaber, als Mitbruder, als dich, Suman, den Einzigartigen!«
Suman sagte nichts mehr, sondern blinzelte mich nur glücklich und verliebt an. Leise flüsterte ich ihm ins Ohr: »Ich will dich in mir! Jetzt!« Suman sagte immer noch nichts, dafür wurden seine Lippen von einem bösartigen Grinsen umspielt.
In jener Nacht holten wir nach, was uns durch Sumans Verletzung und seine Stasis entgangen war. Wir liebten uns körperlich, von sanft bis animalisch. Ich konnte von meinem Schatz einfach nicht genug bekommen und umgekehrt er nicht von mir. Es war so gegen drei Uhr Nachts, dass wir erschöpft und vollkommen ausgelaugt nebeneinander zu liegen kamen.
»Lach bitte nicht…«, lächelte mich Suman an.
»Ich lache nicht. Ich schmunzele.«, antwortete ich.
»Warum?«, schmunzelte Suman.
»Weil ich glücklich bin.«
»Ich auch…«
»Aber?«, ich hob eine Augenbraue.
»Ich habe Durst!«
Ich kicherte albern: »Ich auch. Ich könnte einen Löschteich aussaufen!«
Wir schnappten uns frische Unterhosen und schlichen leise aus unserem Zimmer. Gilfeas Haus war zu dieser Zeit nur mit kleinen Orientierungslichtern erleuchtet. Der sanfte und weiche Schimmer schonte unsere Augen, die noch auf die Dunkelheit unseres Zimmers eingestellt waren. Trotz des schwachen Scheins konnten wir den Weg zur Küche ausmachen. Er führte durch einen Flur zum Wohnzimmer. Hier gab es keine Lichter, dafür flackerte im Kamin ein kleines Feuer, das wilde Schatten und Reflexe an die Wände warf.
»Verdammte Schei…«, begann Suman plötzlich zu fluchen, um sofort zu verstummen. Statt seiner Stimme hörte ich zwei andere Geräusche. Erst stolperte jemand, dann schlug ein stürzender Körper dumpf auf. Es folgten weitere Geräusche, ein kehliges Knurren, wie von einem Hund, ein Schnappen und einem Schrei: »Misttöle! Hör auf mich zu beißen!«
Im ersten Moment konnte ich mir nicht zusammenreimen, was da vor mir im Halbdunkel passierte. In der spärlichen Beleuchtung des Kaminfeuers angelte ich nach der Raumkontrolle und aktivierte eine Schaltfläche. Innerhalb weniger Sekunden flammten drei Elbenlichter auf und erhellten nicht nur die Szene sondern auch meinen irritierten Verstand. Vor dem Kamin lag ein Hund, oder sollte ich besser sagen, ein Wolf? Denn jener Hund war einfach riesig. Quer über ihm lag Suman und rieb sich sein Schienbein, das eine kleine, aber doch ganz leicht blutende Wunde trug. Hund wie Gildebruder starrten sich gegenseitig erschrocken an.
»Ähm… Entschuldigung!«, meinte der Hund in einem deutlich verlegenen und ebenso verschlafenen Tonfall.
Ich sagte nichts. Hunde die sprachen, waren mir nicht wirklich geheuer. Insbesondere wenn diese Hunde obendrein von außergewöhnlicher Größe waren, was auf das Exemplar vor Gilfeas Kamin mehr als zutraf. Überhaupt, seit wann hatte Gilfea einen Hund, oder war es Gildofals Hund? Während meiner Genesung war mir kein Haustier aufgefallen. Allerdings hatte ich mein Zimmer auch nicht verlassen, so dass mir der Hund vermutlich auch nicht begegnen konnte.
»Ich… Moment…«, stammelte der Hund. Er sprang auf seine Pfoten, reckte und streckte sich, um den Schlaf zu vertreiben und verwandelte sich, zu unserem größten Erstaunen, in Gildofal. Was soviel bedeutete, dass er sich in einen splitterfasernackten Gildofal verwandelte. Dort, wo eben noch Fell war, war nun nackte Haut, die nichts mehr verhüllte oder verdeckte. Seiner Blöße mehr als bewusst lief Gildofal rot an und schnappte sich einen Slip, der neben dem Kamin lag. Ich muss zugeben, dass dieser Elb wirklich attraktiv aussah und ein nettes Päckchen sein Eigen nannte.
»Du hast mich gebissen!«, knurrte Suman säuerlich, »Überhaupt, was liegst du hier mitten in der Nacht vor dem Kamin?«
Gildofal riss entsetzt seine Augen auf: »Scheiße! Hab ich? Verdammt, das wollte ich nicht! Bei allen Drachen, was mach ich denn jetzt! Suman, entschuldige, aber das wollte ich wirklich nicht. Bitte verzeih mir. Verdammt, wie konnte ich nur… Scheiße!«
Der junge Elb redete sich um Kopf und Kragen, als wenn etwas wirklich katastrophales geschehen wäre. Suman seufzte und begann zu lächeln: »Hey, ist doch halb so wild. Ich habe mich nur erschrocken als du zugeschnappt hast. Ich wollte dich nicht anblaffen. Es tat ja nicht mal richtig weh, inzwischen spüre ich kaum noch etwas. Schau mal, es blutet nicht mal mehr. Ich weiß, dass das keine Absicht von dir war. Schließlich bin ich über dich gestolpert.«
Gildofal schüttelte hektisch seinen Kopf: »Nein, nein, nein, du verstehst nicht! Ich bin ein Lycanthrop, ein Wehrwolf! Ich hab‘ dich gebissen!«
Mir dämmerte es, Suman noch nicht, weswegen ich mich genötigt sah, meinen Liebling aufzuklären: »Ach, Baby, dann werd ich dir wohl ein Flohhalsband besorgen müssen.«
»Was?«, rief Suman.
»Suman, er ist ein Lycanthrop. Er hat dich gebissen. Wenn ich mich an mein Biobuch in der Gildeschule richtig erinnere, bist du jetzt ebenfalls ein Lycanthrop. Vielleicht sollte ich dich lieber >Wolfi< nennen.«
»Was? Du meinst, ich bin jetzt auch so ein… Hund?«
»Lycanthrop«, korrigierte Gildofal, »Wir können unsere Form jederzeit frei wählen, während echte Wehrwölfe… nun ja, bei Vollmond sind sie nicht wirklich gesellschaftsfähig.«
»Ich kann mich verwandeln? In einen Wolf? Wie?«, nach dem ersten Schreck schien Suman die Idee, ein Lycanthrop zu sein, etwas anders zu bewerten.
»Das kann ich dir nicht mal genau sagen.«, gestand Gildofal zerknirscht, »Nachdem ich gebissen wurde, passierte erstmal gar nichts. Erst während der nächsten Vollmondnacht, der Mond schien direkt auf mein Bett, verwandelte ich mich in einen Wolf. Ob das bei dir genau so abläuft, weiß ich nicht, vermute es aber. Wir werden wohl abwarten müssen. Suman, wirklich, ich wollte das nicht.«
»So schlimm klingt das für mich jetzt nicht.«, überlegte Suman laut, »Wann ist denn Vollmond?«
»Morgen!«, gab ich zu bedenken.
Am nächsten Morgen weckte uns der Duft frisch gebrühten Kaffees. Gilfea, ganz der perfekte Gastgeber, hatte ein opulentes Frühstück aufgefahren. Geduscht, gekämmt und in frisch duftende Wäsche gehüllt ließen Suman und ich uns am Esstisch nieder. Gildofal war bereits anwesend und schlürfte seinen Kaffee. Als er uns, insbesondere Suman sah, lief er rot an. Als Gilfea dies sah, schaute er von Gildofal zu Suman und lachte: »Ah, da sind ja Segato und Wolfi. Ich glaube, ich sollte mir doch noch einen Fressnapf zulegen.«
»Wolfi?«, knurrte Suman. Ihm war die Angelegenheit sichtlich peinlich.
»Mich nennt er immer Hundchen.«, fiel Gildofal in Sumans Knurren ein.
»Wäre euch Spike oder Hasso lieber?«, zog Gilfea die beiden weiter auf. Ich musste mich verdammt zusammenreißen, um mein Pokerface nicht zu verlieren.
Suman versuchte ein wenig vom Thema abzulenken: »Warum hast du eigentlich vor dem Kamin gelegen?«
»Mir war kalt.«, erklärte Hasso, alias Gildofal, zwischen zwei Bissen, »Ich hatte vergessen das Fenster meines Zimmers zu schließen. Als wir gestern Abend nach Hause kamen hätten eigentlich nur noch Eiszapfen an der Decke gefehlt. Ich hab mich zwar unter meine Bettdecke verkrochen, uns Elben macht Kälte nicht so viel aus wie euch Menschen, aber wirklich gemütlich war es nicht. Als Hund wiederum kann ich wirklich überall schlafen. Also wechselte ich meine Form, lief ins Wohnzimmer zum Kamin und rollte mich dort zusammen.«
»Gilfea hätte dich bestimmt gerne in seinem Bett geduldet…«
Noch während ich meinen Gedanken gedankenlos freien Lauf ließ, merkte ich, dass ich im Schlusssprung in einen Fettnapf gesprungen war. Gildofal lief rot, knallrot an, während Gilfea… Nun ja, die Sehnsucht in seinen Augen war nicht zu übersehen. Er liebte diesen Elben. Und Gildofal? Für mich war es offensichtlich, dass er Gilfea ebenfalls liebte. So wie sich beide ansahen, wie sie miteinander umgingen, hatte ich nicht daran gezweifelt, dass beide ein Paar wären. Doch da hatte ich mich wohl arg geirrt.
»Ich glaube, ich habe eben etwas sehr dummes gesagt. Entschuldigt. Ich wollte nicht… Nur… Es war«, faselte ich wirr und unzusammenhängend drauf los.
»Wie, ihr zwei seid nicht zusammen? Wieso das denn nicht?«, sprang Suman an. Mein Liebling kannte keine Skrupel, die Dinge beim Namen zu nennen.
»Es ist kompliziert…«, versuchte Gilfea das Thema zu relativieren, doch so leicht lässt einen Suman nicht vom Haken.
»Was ist kompliziert? Hey, ich seh doch, wie du dein Hundchen anschmachtest. Ich kenn den Blick. Segato glotzt auch immer so verzückt, wenn er mich sieht.«
»Hey, ich glotze nicht!«
»Nein, stimmt, du glotzt nicht.«, korrigierte sich Suman, »Du sabberst! Doch zwischen seinem Gesabber schaut dieser Blick hindurch und der kennt nur eins: bedingungslose Liebe. Es ist der gleich Blick, mit dem du Gildofal ansiehst.«
Gilfea wollte Sumans Bemerkung etwas entgegensetzen. Er öffnete sogar seinen Mund, doch kam kein Wort heraus. Stattdessen senkte er Kopf und schaute traurig auf den Tisch. Seine Augen waren feucht, als er flüsterte: »Ich kann nichts dagegen tun. Ich liebe diesen Mann. Egal, ob als Elb oder Wolf. Ich liebe ihn, aber ich kann nicht verlangen, nicht erzwingen, dass meine Liebe erwidert wird.«
Der indirekt Adressierte reagierte mit einer Mischung aus Schock und Unsicherheit. Als erstes lief er rot an, dann zeigte sich Schweiß auf seiner Stirn: »Ich…«
»Du musst dich nicht rechtfertigen.«, unterbrach Gilfea Gildofal und stand vom Frühstückstisch auf, »Ich bin derjenige mit den verkorksten Gefühlen. Ich schau mal nach den Drachen.«
Nichts war überflüssiger, als nach den Drachen zu schauen. Das wusste Gilfea so gut wie wir.
»Oh, Mann!«, stöhnte Suman, »Und ich dachte, Segato und ich hätten Probleme.«
»Ihr habt Probleme?«, Gildofal blinzelte uns überrascht an, »Ich dachte, euch könnte nicht einmal der Tod selbst trennen.«
»Genau das ist ja das Problem.«, gestand Suman und sah mich fragend an. Ich nickte. Suman sollte Gildofal ruhig erzählen, was wir letzte Nacht besprochen hatten: Sumans Unsicherheit eine Rettung wie die seine wirklich verdient zu haben. Seine unbegründete, aber eben doch vorhandene Scham, mit Männern geschlafen zu haben, um an Informationen zu gelangen. Als Suman sein Leben geschildert hatte, erzählte ich von meiner Kindheit als Sohn einer Hure, meinem Leben im Haus meines Onkels und dem auf Strasse.
»Du warst ein Dieb?«
»Ja. Ich wollte überleben. Ich habe gestohlen, um mir Lebensmittel kaufen zu können.«
»Und wie bist du zu einem Bruder der Gilde geworden?«
»Ich habe den falschen beklaut und wurde erwischt.«, die Geschichte war zwar etwas anders verlaufen, aber dass ich einen Meister bestahl, durfte ich nicht enthüllen.
Gildofal wurde nachdenklich. Sein Blick wechselte zwischen Suman und mir hin und her. Der junge Elb war ratlos, vermutlich wusste er einfach nicht, was er eigentlich wollte. Was lag da näher, als ihn zu fragen: »Gildofal, was willst du? Willst du geliebt werden?«
»Ja, natürlich!«
»Möchtest du jemanden lieben?«
»Ja. Wirklich… Aber…«, stammelte Gildofal, »Aber ich habe Angst.«
Suman und ich sahen Gildofal an, dann sahen wir einander an. Die Frage kam synchron von uns beiden: »Angst? Wovor?«
»Dass Krotos doch recht behält.«, seufzte Gildofal. Als er unsere fragenden Mienen sah, erzählte Gildofal uns die Geschichte.
»Das meinst du nicht ernst!«, Suman war gepestet, manche Dinge, wie Dummheit auf höchstem Niveau, brachten meinen Schatz einfach auf die Palme, »Ist dir Dumpfbacke eigentlich in den Sinn gekommen, dass du mit dieser Einstellungen den Orkarsch gewinnen lässt?«
»Was?«, Gildofal machte große Augen.
»Na ja, wenn ich dich richtig verstanden habe, dann hast du es gehasst, als Schwuchtel beschimpft zu werden. Weil dich der Pöbel von einem Ork damit immer wieder aufzog, hast du alles verleugnet, was dich möglicherweise schwul erscheinen ließ. Soweit kann ich das noch nachvollziehen. Doch jetzt könntest du dir vorstellen schwul zu sein, haderst aber damit, weil dein lieber Freund Krotos im Nachhinein Recht behalten könnte. Bin ich hier der einzige, dem das arg schwachsinnig vorkommt?«
Diese direkte Art die Dinge auf den Punkt zu bringen war es, die ich an Suman so liebte. Man konnte fast sehen, wie sich die Rädchen in Gildofals Kopf zu drehen begannen. Aber Suman war noch nicht fertig. Er nahm sogar noch Fahrt auf und legte erst richtig los.
»Wer ist dieser Krotos überhaupt? Ein Nichts. Ein jämmerlicher kleiner Ork, der es nötig hatte einen jungen, unsicheren Elben zu schikanieren? Wow, der Typ scheint ja ein echter Überflieger zu sein. Schon mal überlegt, ihm mit deinem Drachen einen Besuch abzustatten?«
Gildofal brach in Gelächter aus: »Krotos würde sich vor Angst in die Hosen scheißen!«
»Ach?«, triumphierte Suman, jetzt hatte er Gildofal da, wo er ihn haben wollte, »Und solch einem Typen erlaubst du, dass er dein Leben kontrolliert?«
»Öhm…«, entwich alle Luft aus Gildofal.
»Das dachte ich mir…«, Suman wurde ernst, »Liebst du Gilfea?«
Zögerlich und ganz schüchtern nickte Gildofal. Wer auch immer behauptet hat, alle Elben wären arrogante, aristokratische Arschlöcher, kannte Gildofal nicht. Mit großen Augen schaute er Suman an, als wenn dieser eine Art Heiliger sei, der soeben die ultimative Wahrheit verkündet hatte.
»Und was mach ich jetzt?«, vor lauter Aufregung zitterte Gildofal wie Espenlaub, »Er muss doch denken, ich würde ihn hassen.«
»Wartet hier!«, befahl ich kopfschüttelnd, stand auf und suchte Gilfea. Ich fand ihn bei Mithval. Ganz in sich gekehrt kraulte er seinem Drachen den Hals. Als ich näher kam, grinste mich dieses riesige Reptil frech an, zwinkerte mir sogar zu, als wenn es genau wusste, weswegen ich gekommen war. Gilfea hingegen, bemerkte mich nicht einmal, so sehr war er mit Grübeln beschäftigt. Auf seinen Wangen konnte ich die feuchten Spuren von Tränen erkennen. Ich ahnte, wie sich Gilfea fühlte: beschissen.
»Hi!«, meinte Gilfea knapp, als er mich bemerkte, und schenkte mir ein gequältes Lächeln.
»Drachen und Drachenreiter…«, begann ich das Gespräch und kratzte mich am Kopf, »Ihr zwei seid ein Wesen und trotzdem zwei getrennte Persönlichkeiten, zwei verschiedene Bewusstsein?«
»Ja, verrückt, was?«, Gilfeas Lächeln wirkte nicht mehr ganz so gequält.
»Er…«, ich deutete auf Mithval, »ist beeindruckend, fast furcht einflößend.«
»Wie? Ich bin nur fast furcht einflößend?«, kicherte eine voluminöse, erdig-warme Stimme in meinem Kopf. Mithval hob seinen Hals, drehte seinen Kopf zu mir und näherte sich meinem Gesicht bis auf wenige Zentimeter. Dann tat er etwas wirklich furcht einflößendes – Er grinste mich dermaßen breit an, dass er dabei zwei Reihen ebenso schneeweißer wie messerscharfer Reißzähne entblößte. Ich musste schlucken. Entweder betrachtete dieser Drache mich als einen leckeren Snack oder er hatte einen sehr eigenen Humor.
Gilfea lachte sich scheckig: »Hey, Mithval, unser Freund hier macht sich noch in die Hose, wenn du ihn weiter so angrinst, als wenn er ein netter Appetithappen wäre.«, und an mich gewandt, »Entspann dich. Mithval ist meistens Vegetarier.«
»Meistens?«, also gab es Ausnahmen?
»Und, möchtest du deine Aussage noch irgendwie verändern?«
»Ok, ok, du bist furcht einflößend.«
»Brav!«, schmunzelte Mithval und fuhr fort: »Du darfst meiner sturen Seele jetzt den Kopf waschen oder in den Arsch treten, Hauptsache es hilft.«
Es war offensichtlich, dass Gilfea Mithvals letzten Satz nicht gehört hatte. Ich wunderte mich noch, woher der Drache wusste, weswegen ich in die Halle gekommen war, als ich sah, wie sich Gilfea auf den Boden hockte, an Mithval lehnte und anfing zu schluchzen: »Verdammt, warum musste ich mich ausgerechnet in diesen Elbenköter verlieben?«
»Weil er nicht nur nett aussieht, sondern auch sein Herz am rechten Fleck hat.«, schlug ich vor und hockte mich neben Gilfea.
»Ja, verflucht! Wenn er wenigstens ein Arschloch wäre oder mir gesagt hätte, ich soll mich verpissen, wäre es leichter. Dann könnte ich ihn mir aus dem Kopf schlagen. Aber dieser Hund in Elbengestalt…«
»…liebt dich! Er war nur zu ängstlich, es zu sehen.«, vervollständigte ich Gilfeas Satz. »Zu lieben erfordert Mut. Insbesondere, wenn man erst lernen muss, sich selbst zu lieben, zu achten und zu respektieren.«
Gilfea schaute mich an, als wenn ich in einer unverständlichen Sprache sprechen würde. Ich seufzte und versuchte es noch einmal: »Gildofal liebt dich.«
»Warum hat er denn nie etwas gesagt? Hat er Angst vor mir? Ich habe ihn nie gedrängt. Ich habe deswegen sogar meine Liebe zu ihm verschwiegen. Erst als er mich fragte, ob ich ihn lieben würde, habe ich ehrlich geantwortet. War das falsch?«
»Hey, ich bin in solchen Dingen genau so wenig ein Experte, wie du. Ich habe nur ein Gefühl, eine Idee, was zwischen euch los ist. Die kann aber genauso gut falsch sein, Ok?«, ich war ganz offen und ehrlich zu Gilfea. Der nickte und ich fuhr fort, »Ich glaube nicht, dass das Problem bei dir lag. Gildofal hat vor sich Angst, vor dem was er ist.«
»Was ist er?«
»Ein Elb, der sich in einen jungen Drachenreiter verliebt hat. Jemand, der jahrelang verleugnet hat, was er ist. Du weißt, wie man ihn in seiner Schule genannt hat? Elbenschwuchtel! Es hasste es, ein Elb zu sein und er hasste es, eine Schwuchtel zu sein, obwohl er nicht einmal wusste, was eine Schwuchtel ist. Verstehst du, was ich sagen will? Gildofal hasste sich selbst. So sehr, dass er sich sogar einen anderen, einen menschlichen, Namen gab. Er hat dir doch sicherlich von Krotos erzählt, oder?«
»Sicher… Hm, ich wusste nicht, wie sehr ihn das beeinflusst hat. Es tut mir leid, ich wollte Gildofals Gefühle nicht verletzten.«
»Das weiß er. Wie gesagt, du warst nicht das Problem.«, ich hörte ein Geräusch. Suman hatte die Drachenhöhle betreten und deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Wohnzimmer. Ich verstand was er meinte und sagte zu Gilfea: »Geh zu ihm! Er wartet auf dich!«
Gilfea nickte, erhob sich, atmete einmal kräftig durch, presste die Lippen zusammen und ging zurück ins Wohnzimmer. Suman blieb bei mir. Ich schnappte mir seine Hand und zog ihn zu mir runter. Beide lehnten wir uns an Mithvals Flanke.
»Sowas nennt man wohl eine Zangengeburt.«, seufzte ich.
»Dabei ist es so offensichtlich, dass die beiden ineinander verschossen sind.«, seufzte Suman, »Muss Liebe blind machen… Hoffentlich packen die zwei das!«
»Keine Sorge, die ersten Kleidungsstücke sind schon gefallen.«
Ich sah Suman an, Suman sah mich an, beide sahen wir Mithval an. Der Drache grinste breit – sehr breit.
Metamorphose
»Wir bitten unsere Gäste ihre Drachen nicht auf der Terrasse zu parken«
Schild am Gildehaus von Daelbar (Urheber unbekannt)
Nachdem wir Gilfea zu Gildofal geschickt hatten, waren die beiden Drachenreiter die nächsten vier Stunden faktisch von der Erdoberfläche verschwunden. Was heißen soll, dass sich beide in Gilfeas private Räumlichkeiten zurückgezogen hatten. Dass wir von ihnen nichts sahen hieß allerdings nicht, dass wir von ihnen auch nichts hörten. Ganz im Gegenteil drangen hin und wieder jauchzende Schreie zu uns vor, was Suman ein rattiges Grinsen auf die Lippen zauberte. Was soll ich sagen? Mein Mann ist einfach scharf. Ich schnappte mir Suman und zog ihn ins Gästezimmer. Ob Gildofal und Gilfea wohl unsere jauchzenden Schreie ebenfalls hörten?
Etwa zur Mittagszeit trieb uns der Appetit auf einen kleinen Snack in die Küche, wo wir auf zwei glücklich strahlende Drachenreiter stießen. Gildofal, der als Elb etwas größer war als Gilfea, hatte diesen gerade von hinten umarmt. Wange an Wange geschmiegt schauten uns die beiden an und verbreiteten dabei eine Zufriedenheit, wie es nur frisch Verliebte taten.
»Das heißt dann wohl, dass ihr zwei nicht mehr Single seid…«
»Korrekt!«, bestätigte Gilfea und entwand sich vorsichtig und liebevoll der Umarmung. Nach einem obligatorischen Kuss fragte Gilfea: »Kaffee?«
Drei »Ja!« Rufe und eine Kaffeebrühphase später saßen wir am Küchentisch, tranken Kaffee, knabberten Lembas und grinsten uns gegenseitig blöd an.
»Was haltet ihr davon, wenn wir uns so langsam mal um eure Drachenhöhle kümmern. Früher oder später wollt ich sicherlich dort einziehen.«, griff Gildofal ein Thema vom Vortag auf. Wir stimmten zu. Eine halbe Stunde später standen wir in der Halle unseres neuen Heims. Mithval und Lindor hatten uns hinüber geflogen. Gildofals blauer Drache Eariglin war uns hinterher geflattert und hatte im Schlepptau Uskavs roten Drachen Narsul mitgebracht.
»Nette Höhle, fehlen eigentlich nur noch die Drachen.«, kommentierte Eariglin keck.
»Es wäre leichter, wenn die beiden nicht die ganzen Zeit ficken würden.«, gab Narsul ungefragt ihren Senf dazu. Mich beschlich das Gefühl, in ihrer etwas sehr direkten Art den Einfluss Uskavs zu spüren.
Die nächsten Stunden beschäftigten wir uns damit die Höhle und ihre Schätze zu erkunden. Die Höhle war nicht nur alt, sondern auch riesig. Außer der großen Halle, in der bequem sechs Drachen der Größe Mithvals Platz fanden, verfügte sie über eine Unmenge von Räumen. So gab es einen großen, sehr gediegen eingerichteten Raum mit einem frei in der Mitte stehenden Kamin und großer Veranda von der man das Tal von Daelbar überblickte. Dieser Raum war mehr als nur ein Wohnzimmer. Es war ein Ort der Zusammenkunft, an dem sich Freunde treffen konnten und gemütlich am Kamin saßen. Suman, der Teile der Erinnerungen Kasimirs bewahrte, erklärte, dass dieser Raum einst ständig von Leben erfüllt war, bis Fingolfs und Kasimirs Freunde einer nach dem anderen ihren letzten Flug angetreten hatten. Kasimir war der letzte der alten Drachen. Es war daher nicht sonderlich verwunderlich, dass dieser Raum in den letzten Jahren selten genutzt wurde. Zu viele Erinnerungen waren mit ihm verbunden. Kasimir zog es daher vor, die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer zu verbringen, jenem Raum den wir bereits kannten.
Mit dem großen Raum und dem Arbeitszimmer waren die Räumlichkeiten der Drachenhöhle bei weitem nicht erschöpft. Nachdem wir bei unserem Rundgang insgesamt drei weitere Wohnzimmer mit jeweils eigenen Bädern und Schlafräumen entdeckt hatten, meinte Gilfea nüchtern: »Diese Höhle ist mehr ein Herrenhaus als eine einfache Drachenhöhle.«
Suman stimmte zu und erklärte, dass, soweit ihn seine Erinnerungen nicht trögen, Fingolfs Höhle als genau das konstruiert worden war, als ein Herrenhaus Daelbars. Es war die Keimzelle Daelbars gewesen, das Haus, das jedem Freund Tags wie Nachts offen stand.
»Mir gefällt der Gedanke.«, gestand ich meinen Freunden, »Eigentlich sind es drei Drachenhöhlen in einer. Für Suman und mich allein ist es viel zu groß. Ich würde mir verloren vorkommen.«
Ich musterte Gildofal und Gilfea, zog Suman zu mir heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mein Freund strahlte auf und nickte enthusiastisch. Ich räusperte mich: »Ähm… Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll… Gildofal, Gilfea, könntet ihr euch vorstellen, diese Höhle mit uns zu teilen? Ich weiß, ihr habt bereits…«
»Ja!«, unterbrach mich Gilfea. Gildofal nickte zustimmend, während Gilfea weiter sprach, »Ja, ich könnte mir vorstellen mit euch allen zusammen in dieser Höhle zu leben. Ich glaube sogar, dass sie genau zu diesem Zweck erschaffen wurde. Um ein Heim einer großen Familie von Freunden zu sein.«
War es nur Einbildung oder entwickelte sich zwischen Suman, Gilfea, Gildofal und mir eine besondere Art von Beziehung. Wir, Suman und ich, kannten die beiden erst seit ein paar Tagen, doch schwammen wir auf einer ähnlichen, wenn nicht sogar der gleichen, Wellenlänge. Wir mussten es nicht aussprechen, wir wussten einfach, dass wir vier dazu bestimmt waren, Freunde zu sein.
Nach diesem etwas rührigen Moment setzten wir unsere Erkundungen fort. Erwartungsgemäß fiel die Küche sehr groß aus, genauso wie die Speisekammer. Was wir weniger erwarteten war, dass es neben der Küche eine kleine in sich abgeschlossene Wohnung gab. Offenbar gab es früher Dienstboten in diesem Haus.
»Das müsst ihr euch unbedingt ansehen!«, rief Suman plötzlich und deutete auf eine Treppe, die vom Hauptflur sowohl nach oben als auch nach unten führte. Als erstes wählten wir den Weg nach unten. Nach vier Windungen der Treppe erreichten wir einen langen Flur mit reihen weise Türen die nach links und rechts abgingen. Hinter jeder Tür verbarg sich ein kleines Zimmer mit Fenster, Schreibtisch, Bett und sogar einem kleinem Bad. Die Einrichtungsgegenstände waren alle abgedeckt und etwas staubig. So wie es aussah, waren sie seit längerer Zeit nicht mehr benutzt worden, was sehr schade war. Es waren schöne und wohnliche Räume. Die nach Südwesten ausgerichteten Zimmer waren sogar noch etwas geräumiger als die anderen und verfügten über eine kleine Terrasse.
»Sag mal…«, begann Suman, »Kommt dir gerade die gleiche Idee wie mir?«
»Absolut!«, stimmte ich meinem Freund zu, »Diese Drachenhöhle könnte wirklich schönes Gildehaus abgeben.«
»Gildehaus?«, fragte Gilfea.
»Gildehaus!«, antwortete ich und begann zu erklären, was Suman und mir vorschwebte. Die Drachenhöhle war einfach perfekt, fast, als hätte sie Kasimir damals genau für diesen Zweck erbaut. Was, wie uns Suman erklärte, auch nicht gar so weit von der Wahrheit entfernt lag. In den Anfängen Daelbars war die Stadt nicht mehr, als ein Haufen Berge und ein Tal mit einem See. Die ersten Drachenhöhlen wurden zur besseren Verteidigung des Geländes auf den Bergspitzen errichtet, womit sie eher kleinen Burgen oder Festungen als bequemen und wohnlichen Häusern entsprachen. Die größte Feste wurde an jeder Stelle errichtet, wo sich nun die goldene Halle des Rates erhob. Die letzten 212 Drachen wollten nicht riskieren, in ihren Heimen von Feinden überrascht zu werden. Mit der Zeit schwand die Notwendigkeit bewehrter Burgen. Die Stadt wuchs, man errichtete eine Stadtmauer und plötzlich lagen die ehemaligen Festungen mitten in der Stadt. Nach und nach bauten die Reiter daher ihre Höhlen um und schufen so freundliche Drachenheime, die jeden Freund willkommen hießen.
Zu jener Zeit war Daelbar weit davon entfernt, das Zentrum der Drachenschaft zu sein. Ein Teil der 212 Drachen war wieder in die Welt hinausgeflogen und hatte Nachkommen gezeugt, so dass die meisten Drachen mit ihren Seelen wieder weit über die Welt verstreut in natürlichen Höhlen oder auf einsamen Bergebenen lebten. Doch sprach sich die Kunde von einer Stadt der Drachen schnell herum. Wenn auf etwas Verlass ist, dann auf die Neugier der Drachen. Alle wollten Daelbar früher oder später sehen. Die einen, weil sie sehen wollten, wie sich ihre Zuflucht nach dem großen Massaker entwickelt hatte, die anderen, weil ihre Eltern mit ihren Erzählungen ihr Interesse an der Stadt geweckt hatten. Und so kam es, dass von Jahr zu Jahr ein stetig ansteigender Besucherstrom über die Stadt hereinbrach. Da Kasimir und Fingolf gerade damit beschäftigt waren, ihre Festung zu einer wohnlichen Höhle umzubauen, kam ihnen die Idee eine Herberge zu schaffen, in der Drachenreiter aller Herren Länder willkommen waren. Diesen Gedanken mit einem Gildehaus wieder aufzugreifen, schien daher einfach nur konsequent.
»Das ist eine tolle Idee!«, jubelte Gilfea, »Doch wer soll das Gästehaus bewirtschaften? Wir? Wir sind Drachenreiter und kein Hoteliers.«
»Nein, natürlich nicht. Das würde die Gilde übernehmen. In vielen, fast allen, Ländern unterhalten wir Gildehäuser zu denen auch öffentliche Schulen gehören. Segato und ich sind selbst Schüler der Gilde gewesen. Ich bin mir sicher, dass viele Schüler nach ihrer Ausbildung begeistert wären, für ein paar Jahre nach Daelbar zu kommen. Es ist ja nicht so, dass dies ein richtiges Hotel wäre. Ich stelle es mir mehr als eine Art Gästehaus vor, bei dem sich die Gäste überwiegend selbst versorgen. Mit drei oder vier Angestellten sollte sich das Haus betreiben lassen.«
Die Idee fand allgemein Zustimmung. Gilfea bot sich an mit dem Rat der Stadt zu sprechen, schließlich berührte die Existenz eines offiziellen Gildehauses die territoriale Souveränität Daelbars. Ich wiederum bot mich an, mit dem Rat der Meister zu sprechen, um unsere Idee absegnen zu lassen.
Wir setzten die Erkundung des Untergeschosses fort. Im Stockwerk fand sich außer den Gästezimmern auch noch ein großzügiger Aufenthaltsraum mit Kamin und Terrasse. Am Ende des Flurs fanden wir eine weitere Treppe, die abwärts führte. Kurze Zeit später fanden wir uns im zweiten Untergeschoss wieder. Obwohl Untergeschoss es nicht wirklich korrekt beschrieb. Neben einem Pool, der allerdings leer war, gab es ein Dampfbad, das, dem etwas muffigen Geruch nach, ebenfalls seit langem nicht mehr genutzt wurde. Den Abschluss fand das untere Stockwerk in einer Wohnung für die ehemaligen Angestellten des Hauses und einem großen Lager samt Kühlraum. Wir entdeckten sogar einen kleinen Speisenaufzug, der alle Stockwerke anfuhr.
»Es ist perfekt!«, bemerkte Suman, »Wusstet ihr von dieser Drachenhöhle?«
»Nein!«, wehrte Gilfea ab, »Ich bin genau so überrascht wie ihr. Allerdings muss ich gestehen, dass ich Kasimir nicht wirklich kannte. Fingolf war mit Mithval befreundet und so etwas, wie sein Mentor. Aber dies… Es ist wirklich überwältigend. Ich kann es kaum erwarten, diese Höhle wieder mit Leben gefüllt zu sehen.«
»Dann seid ihr, du und Gildofal, immer noch bereit, mit uns hier einzuziehen?«
»Bereit?«, riefen die beiden Drachenreiter gleichzeitig, »Wir können es kaum abwarten!«
»Gab es nicht noch eine Treppe, die ganz nach oben führte?«
Wir gingen zurück und erreichten nach etlichen Stufen eine verschlossene Tür ohne Schloss.
»Und jetzt?«
»Einen Moment, ich glaube Kasimir hat mir einen Schlüssel hinterlassen!«, Suman legte seine rechte Handfläche auf das Türblatt und sprach drei Worte, die ich zwar als Druidisch erkannte, deren Bedeutung mir aber unbekannt war.
Kaum war die letzte Silbe verklungen, schwang die Tür auf. Sprachlos schauten wir in einen wahrlich verzauberten Raum. Wir wussten zwar, dass Kasimir ein Druide war, doch was dies bedeutete, zeigte sich erst hier. Der Raum glich einem Märchen. Eine Wand war mit Regalen voller Tiegelchen, Gläsern und Flaschen gesäumt, deren Inhalte mir überaus obskur und befremdlich vorkamen. Ich erkannte getrocknete Pflanzen, vermutlich Kräuter, aber auch Mineralien und andere Substanzen. Manche Gläser enthielten sogar in Flüssigkeit eingelegte Tierkörper. Das Regal verströmte die alchemistische Aura einer alten und vergessenen Zeit. Auf einem wuchtigen Tisch lagen uralte Folianten, deren Beschriftung auf seltene, teilweise einzigartige Werke der unterschiedlichsten Arten der Magie schließen ließ. Einer Bücherwand gegenüber öffnete sich eine breite Fensterfront, die mit leichten Stoffbahnen verhüllt war. Gildofal griff nach einer Schnur und zog daran. Die Stoffbahnen wurden nach oben hinweg gezogen und gaben einen weiteren atemberaubenden Blick über Daelbar frei. Rechter Hand, im Westen, war der Horizont vom roten Glühen der untergehenden Wintersonne erleuchtet, während vor uns, im Tal und den Bergen von Daelbar ein Licht nach dem anderen aufflammte, um die hereinbrechende Nacht zu vertreiben.
»Ein fantastischer Ort!«, ließ Gilfea seinen Gefühlen freien lauf, »Schaut euch mal die Decke an.«
Wir schauten nach oben. Die Decke des Raumes war kuppelförmig und in einem sehr dunklen, tiefen Blau gehalten, das von unzähligen Sternen aus einem silbern schimmernden Material übersät war. Natürlich war es Mithril, welches im Schein kleiner Elbenlichter, die im gleichen Moment aufleuchteten, als das Tageslicht schwand, funkelte. Es sah fast so aus, als wenn es gar keine Decke gab und wir direkt in den Sternenhimmel schauen würden. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass wir genau das taten. Die Mithrilsterne waren nicht fest mit der Decke verbunden uns zeigten auch kein bedeutungsloses Muster, sondern schwebten direkt unter ihr. Sie bewegten sich sogar und zeigten ein genaues Abbild des Himmels, wenn auch eines für eine andere Jahreszeit.
»Das ist der Sommerhimmel.«, meinte Gilfea, der sich mit Astronomie auszukennen schien, und zeigte auf einen Sternhaufen, der nur zwischen Mai und Juli zu sehen war, »Ob man wohl auch andere Sterndaten sehen kann?«
Kaum hatte Gilfea diese Frage gestellt, erschienen direkt vor seiner Nase Bedienungselemente aus Licht, die ein unifizierte Technokrat als Hologramm bezeichnet hätte. Mein Drachenreiterfreund tippte ein paar Lichtknöpfe an und das Bedienfeld verschwand. Im gleichen Moment fingen die Mithrilsterne an sich schnell durcheinander zu bewegen, bis schließlich das von Gilfea eingestellte Datum erreicht war. Er hatte absolut Recht. Dieser Raum war Planetarium, Studierzimmer und Bibliothek in einem. Ich glaube, er spiegelte Kasimirs Wesen in seiner klarsten und deutlichsten Form wieder.
Kaum war die Sonne vollends untergegangen, stieg der Mond auf und schien durch die großen Fenster des Planetariums. Suman zuckte zusammen und griff sich an sein rechtes Handgelenk. Neben mir, sah auch Gildofal Sumans Reaktion auf das Mondlicht.
»Es wird Abend!«, bemerkte Gildofal und ging auf Suman zu, »Komm, es wird Zeit!«
Suman nickte und ließ sich von Gildofal zu einem breiten und langen Ledersofa am anderen Ende des Raumes führen. Der Mond schien inzwischen direkt in das Zimmer. Es war Vollmond und sehr hell. Die Mithrilsterne strahlten. Kaum hatte sich Suman auf das Sofa gelegt, stöhnte er.
»Was hat er?«, schrie ich und rannte zu meinem Schatz.
»Es ist die erste Verwandlung zum Lycanthropen.«, erläuterte Gildofal, »Halte ihn leicht, damit er sich nicht verletzt.«
Suman wandte sich vor Schmerzen: »Meine Gelenke, meine Hände… Sie brennen wie Feuer!«, stöhnte er auf.
Und dann geschah es. Sumans Finger wurden kürzer, knochiger und verwandelten sich in Tatzen. Gleichzeitig wuchsen meinem Schatz überall Haare, kurze, flauschige Haare, die sich schnell zu einem Fell verdichteten. Suman bäumte sich auf, drehte und wandte sich. Sein Rücken krümmte sich, verformte sich zu dem eines riesigen Wolfs. Zum Schluss verwandelte sich noch Sumans Gesicht. Aus seinem Mund formte sich eine Schnauze. Er bekam Wolfsohren und eine Hundenase. Kaum war die Verwandlung vollzogen, sprang Suman auf seine Pfoten und heulte den Mond an. Ich war völlig fasziniert und auch ein wenig von meinen ersten Gedanken geschockt. Suman sah als Wolf einfach nur attraktiv aus. Ich ging zu ihm und musste ihm einfach durchs Fell streicheln. Ich war überrascht wie flauschig und weich sein Fell war.
»Und, was hältst du von deinem Köter?«, fragte Gilfea lachend und deutete auf Gildofal, der sich ebenfalls in seine Wolfsform verwandelt hatte, »Sind die zwei nicht süß. Vielleicht sollten wir zwei Hundehütten in den Hof stellen.«
»Untersteht euch!«, knurrte Gildofal, »Oder ihr dürft uns nicht mehr durchs Fell streichen!«
»Segato!«, hörte ich Sumans Stimme, »Es ist einfach unbeschreiblich, wie anders die Welt als Wolf ist. Allein, wie sich mein Geruchssinn verändert hat. Ich kann riechen, dass Kasimir das letzte Mal vor drei Tagen in diesem Raum war. Ich kann Mithval unter in der Halle atmen hören.«
Suman klang aufgeregt und begeistert, bis er mich aus traurigen Hundenaugen anschaute und seinen Kopf schief hielt. Ich musste grinsen: »Hey, schau mich nicht so an. Sag mir lieber, was du willst?«
»Wärst du mir sehr böse, wenn ich mit Gildofal einen kleinen Ausflug unternehme? Ich platze fast vor Energie und muss diesen Körper einfach ausprobieren.«
»Schwirr ab! Gilfea und ich werden auf euch warten.«
Noch während ich sprach, wedelte Suman freudig mit seinem Schwanz und fegte Sekunden später zusammen mit Gildofal aus dem Haus. Gilfea und ich ließen uns gemeinsam in das Sofa fallen und blickten über die Stadt. Aus der Ferne drang das Geheul zweier fröhlich tobender Wölfe an unsere Ohren.
»Da haben sich wohl zwei gefunden.«, bemerkte Gilfea.
»Ja, ich glaube auch. Sollten wir eifersüchtig sein?«, fragte ich halb scherzhaft.
»Nicht wirklich!«, lachte Gilfea.
Suman als Lycanthrop – Unser Leben nahm eine interessante Richtung. Gilfea und ich warteten bei Mithval in der großen Drachenhalle auf die Rückkehr unserer beiden Lieblinge. Doch die ließen sich alle Zeit der Welt. Nach zwei Stunden vergeblichen Wartens, in denen wir uns die Zeit damit vertrieben uns zu unterhalten und näher kennen zu lernen, meinte Gilfea, dass wir auch genau so gut nach Hause fliegen könnten. Er würde Mithval bitten dies auch Eariglin, Gildofals Drachen, mitzuteilen. Die beiden Hundchen würden dann schon wissen, dass sie zu Gilfeas Höhle laufen sollten.
»Einen Schluck elbischen Wein gefällig?«, fragte mich Gilfea in seiner Höhle. Ich nickte. Elbischer Wein galt als überaus gut und verursachte selbst bei übermäßigem Genuss keine Kopfschmerzen. Gilfea holte zwei Becher, schenkte uns ein und reichte mir mein Getränk. Wir prosteten uns zu. Der Wein war exzellent. Er lockerte die Stimmung. Ich will nicht behaupten, dass ich mir Gilfea schön getrunken hätte, denn dazu bestand absolut keine Veranlassung. Gilfea sah, wie sein Freund Gildofal, wirklich nett aus. Doch mit etwas Alkohol im Blut fielen meine Hemmungen, mir dies einzugestehen. Mit jedem weiteren Schluck des vorzüglichen Elbenweins, wurde unsere Plauderei lockerer.
»Kann es sein, dass du mir mir flirtest?«, fragte mich Gilfea mit einem schelmischen Ausdruck in seiner schnuckeligen Fresse.
»Vielleicht…«, honigkuchenpferdete ich zurück.
»Wir sollten wohl lieber…«, begann Gilfea, bis sich unsere Blicke trafen. Der junge Drachenreiter sah so süß aus. Mit seinen markanten Wangenknochen wirkte er sehr männlich, was von einem kleinen Grübchen im Kinn wieder abgemildert wurde, »Ich bete, dass wir das nie bereuen…«
Und wieder fand Gilfeas Satz kein Ende, da sich unsere Köpfe an ihren Mündern verkuppelten und unsere Zungen fremde Gefilde erstürmten. Gilfeas Hände waren plötzlich überall, und, was nur fair war, meine überall bei ihm. Wir arbeiteten uns mehr oder weniger zielstrebig von oberen Körperregionen zu eher tiefer gelegenen Gefilden vor. Gilfeas Hand schob sich suchend hinter den Bund meiner Unterhose, wurde fündig und griff, zu meinem größten Vergnügen, sehr erregend zu. Der Anstand gebot es, dass ich mich bei Gilfea für diese stimulierende Handlung revanchierte. Im weiteren Verlauf unserer körperlichen Interaktion dominierte die Lust sowohl unser beiderseitig schlechtes Gewissen, unsere Lieblinge betrogen zu haben, als auch unser Zeitgefühl. Ich kam erst wieder zur Besinnung, als ich ein lautes Poltern und Scheppern hörte, das mich aus der Konzentration brachte. Gilfeas bestes Stück steckte gerade tief in meinem Hals. Die unerwartete akustische Ablenkung löste bei mir einen Würgereflex aus.
»Was war das?«, schreckte Gilfea auf, während die Eichel seines Schwanzes mit einem leisen »Plöpp!« meinem Rachenraum verließ.
»Es kaum aus der Drachenhöhle!«, antwortete ich und ordnete meine Kleidung.
»Mithval, was ist bei dir los?«
»Öhm, na ja, nichts, was mich direkt angehen würde.«
»Irgendwas geht bei Mithval vor. Er will mir aber nicht sagen, was es ist. Komm!«, forderte mich Gilfea auf, ihm in Mithvals Halle zu folgen. Ich nickte matt. Mein Gewissen war gerade dabei, sich mit voller Macht zurückzumelden. Wäre mir in diesem Moment Suman über den Weg gelaufen, ich hätte mich vor ihm in den Dreck geworfen und losgeheult. Was war nur über mich gekommen, ihm derart in den Rücken zu fallen.
»Ich…«, stammelte Gilfea, »Ich weiß, was du fühlst. Du fühlst dich beschissen, so wie ich. Ich weiß nicht, ob ich Gildofal in die Augen schauen kann.«
Ich nickte; zähneknirschend folgte ich Gilfea in die Drachenhöhle. Kaum hatten wir den Vorhang beiseite geschoben, löste sich meine Zerknirschung in Wohlgefallen auf. Der Anblick, der sich uns bot war gleichzeitig schockierend, bedenklich, lächerlich und im höchsten Maße peinlich. Allerdings mehr für unsere zwei lupinoiden Freunde als für uns.
»Ist es Suman, der da Gildofal besteigt, oder umgekehrt?«, meine Frage zeugte nicht von sonderlich viel Esprit.
»Es ist Suman. Gildofals Fell ist das hellere.«, erläuterte Gilfea, gleichzeitig irritiert und amüsiert, »Wieso mache ich mir eigentlich Gewissenbisse?«
Unsere zwei Lycanthropen hatten uns bisher noch nicht bemerkt und fuhren daher auch munter mit ihrem lustvollen Treiben fort. Gildofal stand auf seinen vier Pfoten. Seinen Kopf hatte er in den Nacken zurückgeworfen. Suman stand nur auf seinen Hinterbeinen und knabberte mit seiner Schnauze verspielt an Gildofals Schnauze. Das gelang ihm dadurch, dass er gerade dabei war Gildofal zu besteigen. Seine stoßenden Bewegungen schienen beiden Wehrwölfen sehr viel Freude zu breiten.
»Hey, ihr zwei!«, rief Gilfea so laut, dass es selbst die beiden rammelnden Köter nicht überhören konnten, »Ich dachte, ihr wolltet nur um die Häuser toben.«
Suman und Gildofal erstarrten. Ruckartig rissen die beiden ihre Köpfe herum und starrten uns entsetzt an, soweit man das bei einem Hundegesicht erkennen kann.
»Scheiße!«, knurrte Suman und ließ seinen Kopf hängen, machte aber keine Anstalten, von Gildofal hinab zu klettern.
»Wir haben nur…«, versuchte sich Gildofal in einem Erklärungsversuch.
»Ich sehe, was ihr habt!«, schnitt Gilfea seinem Freund das Wort ab, »Ich bin nicht blind. Wir sollten reden! Jetzt!«
Unsere zwei Hundchen schämten sich viel zu sehr, als dass sie bemerken konnten, dass Gilfeas Ärger nur gespielt war. Ich stand neben ihm und konnte sehen, wie er einen in sich aufkeimenden Lachanfall krampfhaft unterdrückte. Die beiden fickenden Wehrwölfe sahen einfach zu komisch aus.
»Los jetzt!«, spielte ich mit, »Suman, komm von Gildofal runter!«
»Ich… ähm, …ich kann nicht.«, stammelte mein Schatz, »Ich hänge fest!«
Das war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Weder ich noch Gilfea konnte sich zurückhalten. Beide prusteten wir los. Wir kugelten uns regelrecht vor Gelächter, als uns klar wurde, was Suman meinte. Er war ein Wehrwolf und besaß damit eine Wolfs- oder Hundephysiognomie, was auch sein Fortpflanzungsorgan einschloss. Gilfea kannte sich als ehemaliger Dorfbewohner natürlich mit Hunden aus. Ich hatte alles Wissenswerte während meines Biologieunterrichtes erfahren. Hunde verhaken sich beim Sex. Suman würde also in Gildofal so lange gefangen bleiben, bis seine Erektion langsam nachließ, was bei deren Gemütslage wohl ziemlich bald der Fall sein durfte.
»Ok, es tut uns wirklich Leid. Ich weiß nicht, was über uns gekommen ist.«, begann Gildofal zerknirscht. Wir saßen alle in Gilfeas Wohnzimmer. Die beiden hatten wieder ihre normale Form angenommen.
»Segato, ich schäme mich so. Du bist an die Grenze gegangen, um mein Leben zu retten und ich…«
»Suman, Schatz, halt’s Maul!«, fiel ich meinem ein und alles ins Wort, »Es gibt keinen Grund, warum ihr zwei euch bei uns entschuldigen müsstet. Wir waren nicht viel besser als ihr. Hätte euer Lärm uns nicht gestört, wäre es vermutlich ebenfalls zum Äußersten gekommen.«
»Ihr zwei habt…?«, Gildofals Augen wurden groß. Wir, Gilfea und ich, liefen rot an.
Suman nickte grinsend: »Sie haben!«
Eine unangenehme Stimmung breitete sich aus. Wir schwiegen. Schlimmer noch, wir wagten einander nicht in die Augen zu schauen. Wir starrten Löcher in die Luft.
»Und was machen wir jetzt? So tun, als ob nichts geschehen wäre?«, fragte Gildofal.
»Oh Leute! Ihr seid sowas von kompliziert!«, mischte sich plötzlich Eargilin in unsere Gedanken ein.
»Ich hab es dir doch gleich gesagt. Menschen und Elben haben eine Begabung aus manchen Dingen Probleme zu konstruieren, die wirklich keine sind.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«, knurrte Gilfea seinen Drachen an, »Wie bitteschön, sollen wir denn sonst damit umgehen. Wie soll Gildofal mir jemals wieder vertrauen, dass ich ihn wirklich liebe, wenn ich ihn 5 Stunden nachdem wir zusammengekommen sind, schon mit einem anderen betrüge?«
»Besser nach 5 Stunden, als nach 100 Jahren!«
»Hä?«
»Was Mithval euch klar machen will ist, dass ihr endlich beginnen sollt, wie Drachenreiter zu denken. Suman und Segato sind zwar noch keine, aber das ist nur eine Frage von Tagen. «
»Und was hat das mit der momentanen Situation zu tun?«
»Betrachtet ihr euch als Freunde?«
»Ja, sicher!«
»Ja, wo ist dann da das Problem? Was ist den gegen ein bisschen freundschaftlichen Sex einzuwenden, um, …, ähm, die Freundschaft noch etwas zu vertiefen? Ihr wollt zusammen ein Gildehaus aufbauen. Glaubt ihr, dass würde klappen, wenn euch ständig euer schlechtes Gewissen im Weg steht? Natürlich findet es Suman geil, Gildofal zu besteigen. So viele Wehrwölfe gibt es Daelbar nicht. Sollen die beiden ständig gegen diesen Wunsch ankämpfen? Oder du, meine Seele, glaubst du mir macht das Spaß einen muffeligen Reiter zu kutschieren, nur weil er ein schlechtes Gewissen hat, weil er gerne mit seinem besten Freund schlafen möchte?«
»Die Drachen spinnen, oder?«, ich schaute von einem zu anderen. Zugegeben, der Gedanke mit Gildofal und Gilfea eine erweiterte Familie zu gründen, klang wirklich verlockend. Natürlich war Suman mein ein und alles. Wir waren füreinander bestimmt und ich wusste, dass er das genau so empfand, wie ich. Aber andererseits, was passiert war, war passiert. Ich war Suman keineswegs böse, dass er Gildofal bestiegen hatte, ich fand sogar, dass die beiden Wehrwölfe zusammen richtig süß aussahen. Ihr Treiben hatte etwas Verspieltes an sich. Meine Sorge bestand ausschließlich darin, was Suman von mir dachte, dass ich mit Gilfea am rummachen war.
»Mithval, was schlägst du vor?«, fragte Gilfea nach einer kurzen Bedenkzeit.
»Was wohl? Wenn unsere zwei Gildebrüder es wirklich wollen, können sie übermorgen bereits zu Seelen werden. Sobald das geschehen ist, sind sie Drachen wie wir. Gildofal, Gilfea, ihr wisst es, was es bedeutet ein Drache zu sein. Es gibt keine Geheimnisse zwischen euch. Ihr könnt eure Liebe zueinander sehen. Ihr wisst, dass ihr einander immer vertrauen könnt. So wie Suman und Segato sehen werden, dass sich einander immer vertrauen können. Ihr vier seid Freunde, ihr sollte eure Freundschaft auch ausleben.«
»Mit Sex?«
»Mit was denn sonst? Mann, sind Menschen immer so schwer von Begriff?«
»Was ist mit Roderick und Thonfilas?«
»Ja, was ist mit denen?«
»Haben die auch weitere, ähm, Freunde?«
»Was meint ihr wohl, warum Uskav bei ihnen wohnt?«
Mithvals letzte Bemerkung zog uns den Boden unter den Füßen weg. Die Vorstellung, wie ein Elb mit einem Uruk… Nein, das war etwas, was wir uns alle einfach nicht vorstellen wollten. Immerhin, der Bann war gebrochen. Suman kam zu mir aufs Sofa, während Gildofal zu Gilfea ging. Wir schauten uns gegenseitig an und mussten versonnen lächeln. Warum eigentlich nicht?
Gildofal wollte gerade etwas sagen, als es an der Haustür laut und nachdrücklich klopfte.
»Es ist offen!«, rief Gilfea. Da in Daelbar Haustüren eigentlich nie verschlossen waren, galt dieser Satz mehr als ein verklausuliertes »Komm rein!«.
Die Tür öffnete sich und herein kamen Turondur und Uskav. Weder der Uruk noch der Elb sah besonders glücklich aus, ganz im Gegenteil, sie trugen finstere unheilvolle Mienen. Thurondur ergriff das Wort: »Wir haben den Datenkristall entschlüsselt, den Suman und Segato mitgebracht haben.«
Thurondur schaute zu Uskav und nickte ihm zu. Der Uruk seufzte, dann sprach auch er: »Dieses Mal geht es um alles. Der Fortbestand der Drachen steht auf dem Spiel. Daelbar befindet sich von diesem Moment an im Krieg. Einem Krieg, der über unser aller Schicksal entscheiden wird. Wir kämpfen um unser Überleben!«