Kapitel 60
Davids Handy klingelte. Fünf Tage lang hatte er jetzt in seinem Zimmer gesessen und einfach nur funktioniert, wenn er es musste, zu den Mahlzeiten zum Beispiel, wenn seine Eltern dabei waren. Ansonsten hatte er nur auf dem Sofa oder im Bett gelegen und an die Wand gestarrt.
Er blickte auf das Display und seufzte. Schon wieder Tessa. Seit sie mitbekommen hatte, dass das mit der Versöhnung nicht geklappt hatte, war sie ständig dabei, ihn auf andere Gedanken bringen zu wollen. Für heute hatte sie vor, mit ihm shoppen zu gehen und sich dafür mit seiner Mutter verbündet, die ihm schon seit Ostern damit in den Ohren lag, endlich einen Anzug für den Abschlussball zu kaufen. Heute wollte Tessa das in Angriff nehmen und ihn durch die Läden in der Innenstadt schleifen. Genervt nahm er ab.
„Hi Tessa“
„Hi Dave, bist du fertig? Können wir los?“, sprudelte sie los und versuchte ihre Euphorie vergeblich auf ihn zu übertragen.
„Komm rüber“, antwortete er knapp, „ich versteh zwar nicht, wozu ich nen Anzug brauche, wenn ich sowieso nicht zum Abschlussball gehe, aber wenn du unbedingt das Geld meiner Mutter dafür ausgeben willst…“ Er kam nicht dazu den Satz zu beenden.
„David Engelhardt! Der Ball ist in drei Tagen und du wirst mit mir da hin gehen! Ich kann doch nicht alleine da aufschlagen. Wie armselig wäre das denn? Du kommst mit. Es gibt schließlich nur einen Abschlussball im Leben“, fuhr seine beste Freundin ihn da auch schon an.
David seufzte erneut. „Du hättest ja nur zu einem deiner Verehrer ‚ja‘ sagen müssen, dann müsstest du dir den Abend nicht mit mir verderben.“
„Fang nicht schon wieder damit an. Ich komme rüber und dann fahren wir los.“
Tessas Ton duldete keine Widerrede, also fügte er sich seinem Schicksal.
Er legte auf. Dann erhob er sich, nahm die erstbeste Jeans aus dem Schrank, griff das T-Shirt, was ganz oben auf dem Stapel lag, ohne darauf zu achten, welches es war, zog beides an und stopfte dann sein Portemonaie, Handy und Schlüssel in die Hosentaschen.
Schon schlurfte er lustlos die Treppe herunter und zog barfüßig seine ausgelatschten Sneaker an.
Gisela stand in der Küchentür: „Fährst du jetzt mit Tessa los zum Einkaufen? Ich wünsch euch viel Spaß“, sagte sie ehrlich und musterte ihn verstohlen.
„Danke“, murmelte er ausdruckslos.
„Hast du das Geld, Schatz?“, wollte sie wissen.
David nickte zur Antwort.
„Gut, dann such dir was Schickes aus und lass dich von Tessa gut beraten.“ Sie grinste und verschwand wieder in der Küche.
Im selben Moment klingelte Tessa.
„Hi Dave, bist du fertig?“
Irgendwie kam ihm das vor wie ein Dejà vú.
„Wie siehst du denn aus?“ Sie beäugte ihn kritisch. „Wenn du so einen vernünftigen Anzug kaufen willst, na dann viel Spaß. Du siehst aus, als würdest du gerade mal fünf Euro in der Tasche haben und nicht die Kreditkarte deiner Mutter.“
Genervt rollte er mit den Augen.
„Die Klamotten sind frisch aus dem Schrank. Also lass uns losfahren“, gab er zurück.
„Kommt nicht in Frage“, bestimmte Tessa und zog ihn schon die Treppe hoch. „So gehe ich nicht mit dir los. Das T-Shirt hat nen Loch und du hattest es letztens auf den Stapel für Gartenarbeitsklamotten gepackt. Na zum Glück hat deine Mutter die neue Jeans nach oben ins Fach gelegt.“
Empört schüttelte sie den Kopf, machte den Schrank auf und suchte ein kurzärmliges, weißes Hemd heraus, dazu eine schmale, schwarze Krawatte, die sie ihm locker um band, nachdem er sich gleichgültig das Hemd übergestreift hatte.
„Bleib hier stehen“, kommandierte sie dann, holte aus dem Bad etwas Gel und verwuschelte seine Haare. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und seufzte dann.
„Bist du fertig?“, maulte David. Er hatte schon geahnt, dass Tessa mal wieder unzufrieden mit ihm sein würde, aber es war ihm egal, wie so vieles, seit dem Nico nicht mehr „sein Nico“ war.
„Wenn du jetzt noch freundlich gucken würdest, könnte man sich sogar mit dir sehen lassen“, grinste sie ihn an. „Komm jetzt.“
Ohne Widerspruch trottete David hinter ihr her. Sie machten sich auf den Weg in die Innenstadt und kaum hatte David den Polo gestartet und sich in den Verkehr eingefädelt, legte Tessa los: „Mensch David, so kann das doch nicht weiter gehen. Die ganze letzte Woche lässt du dich schon so gehen. Du musst zu ihm hin fahren und noch mal mit ihm reden. Sag ihm, dass es dir Leid tut und sag ihm, was du mir erzählt hast.“
Natürlich hatte er ihr alles erzählt. Dass Nico wütend gegangen war, nachdem er David unterstellt hatte, er hätte ihn mit Ulrike betrogen, dass er gewütet hatte, wie ein wild gewordener Stier, dass Nico zu ihm gekommen war um mit ihm zu reden und auch, dass er Nico nicht noch einmal weh tun wollte und ihn deshalb hatte abblitzen lassen, obwohl er ihn so sehr liebte.
Tessa hatte ihn gleich für verrückt erklärt und in den letzten Tagen immer wieder versucht, ihn dazu zu bringen mit Nico zu reden. Doch das wollte er nicht. Er war nicht gut für Nico, das hatte er ja bewiesen.
„Tessa, das kann ich nicht. Er hat was Besseres verdient“, antwortete er niedergeschlagen und gab Tessa das Gefühl, die Konversation wäre damit beendet, doch die gab sich damit nicht zufrieden.
„Dave, er denkt, du liebst ihn nicht und geht daran fast kaputt. Tobi hat mich gestern angerufen, weil er nicht mehr wusste, was er mit ihm machen sollte. Du musst ihm sagen, was er dir bedeutet. Sonst geht ihr beide zu Grunde“, sprach sie eindringlich.
„Er kommt sicher drüber hinweg. Können wir bitte das Thema wechseln?“ Obwohl David das als Frage formuliert hatte, ließ sein Tonfall keinen Zweifel daran, dass er es nicht als Frage gemeint hatte.
Tessa sank frustriert in den Sitz zurück und beschränkte sich darauf, ihn anzuweisen, das erste Geschäft anzusteuern.
Zuerst versuchten sie es bei einem Herrenausstatter in der Fußgängerzone, aber dort fanden sie nicht das Richtige. Tessa befand, dass dieser eher „Mode“ für ihren Großvater führte. Also ging es weiter, wobei David am liebsten einfach den erstbesten Anzug genommen hätte um schnell diese Shoppingtortur hinter sich zu bringen. Aber Tessa ließ ihm keine Wahl. Es schien, als hätte sie sich in den Kopf gesetzt, ihn heute den ganzen Tag durch sämtliche Läden zu ziehen.
Nach den ersten zwei Stunden lud sie David zu einem Kaffee ein und plapperte immer wieder vor sich hin. Danach war er wieder im Bilde, was den neuesten Klatsch und Tratsch anging. Doch alles, was mit ihm und Nico zu tun hatte, ließ sie jetzt aus und dafür war David ihr wirklich dankbar. Dank der seichten Unterhaltung ließ er sich sogar ein bisschen ablenken und stellte überrascht fest, dass der strahlende Sonnenschein seine miese Stimmung ein kleines bisschen verbesserte, wenn auch nicht viel.
Im nächsten Laden fanden sie endlich einen Anzug, der Tessa gefiel. Ganz offensichtlich gefiel er ihr, denn als David aus der Kabine kam und sich ihr präsentierte, bekam sie den Mund kaum noch zu. Es war ein schwarzer Anzug mit feinen weißen Nadelstreifen. Dazu trug er ein edles weißes Hemd und eine Krawatte, die farblich genau zu Tessas Kleid passen würde.
„Der ist es! Den nehmen wir“, verkündete sie dem netten Verkäufer, der sie beraten hatte. Dieser nickte und bewunderte David noch einmal fachmännisch in der perfekt sitzenden Abendgarderobe.
David war das schon zu viel des Guten und schnell verzog er sich zurück in die Kabine um seine Jeans wieder anzuziehen.
Tessa war trotzdem zufrieden. Jetzt hatte David wenigstens nicht mehr die Ausrede, er habe nichts anzuziehen um sich vor dem Ball zu drücken. Aber sie war sich sicher, dass er auch eine Andere finden würde.
Kapitel 61
Nico schob einen Einkaufswagen lustlos neben Tobi her. Der hatte ihn überredet, doch die geplante Abschlussparty am Abend nach dem Ball zu schmeißen und sogar seine Mutter überzeugt, ihnen das Haus dafür zu überlassen. Nicos sehr gute Noten in den Prüfungen hatten es Tobias leicht gemacht, sie um den Finger zu wickeln und sie dazu zu bringen, doch zu ihrem Termin nach London zu fliegen, anstatt den Tag widerwillig mit Nico zu verbringen und dafür war Nico ihm wirklich dankbar gewesen. Kaum jemanden hätte er jetzt weniger gern um sich gehabt.
Also hatten Tobi und seine Freundin Anna die Planung kurzer Hand übernommen und das Budget, das sie zur Verfügung hatten, schon großzügig verplant. Mit den Vorbereitungen beschäftigten sie Nico den ganzen Tag, so dass er kaum eine Möglichkeit hatte, wieder in seine Lethargie zu verfallen, die er in den letzten Tagen auf die Spitze getrieben hatte. Als Tobias ihn gestern mehr oder weniger gezwungen hatte, mit zu ihm zu kommen um sich einen Film anzusehen, war er beinahe zusammengebrochen, weil er seit vier Tagen nichts mehr gegessen hatte. Er hatte sich einfach nicht dazu aufraffen können, auch nur eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben. Durch die Leere, die sich in ihm breit gemacht hatte, war er sowieso so betäubt, dass er nichts spürte.
Das war der Moment gewesen, in dem Tobias beschlossen hatte, dass er etwas tun musste und Tessa angerufen hatte, die ihm von der geplanten Party erzählte.
Nun wanderten sie also mit einem langen Einkaufszettel, den Anna ihnen mitgegeben hatte, durch die Regalreihen. Nico schob den Wagen und Tobi versuchte alles zu finden, was auf dem Zettel stand und war dabei größtenteils erfolgreich.
„Hey, jetzt fehlt nur noch Cola und Bier“, stellte Tobias nach einer halben Ewigkeit fest. Nico grummelte nur irgendetwas Unverständliches. Ihm war es egal. Ob Tobias ihn nun zu Hause nicht in Ruhe ließ oder im Supermarkt, war ihm gleich und dass sein Freund ihn allein ließ, darauf machte er sich schon keine Hoffnungen mehr. Zu oft hatten sie das Thema in den letzten 31 Stunden gehabt. Nicht einmal Anna schien zu stören, dass sie ihren Schatz im Moment nicht für sich hatte.
„Du brauchst ihn jetzt wesentlich dringender“, hatte sie nur gesagt und ihm zugelächelt.
„Meinst du, wir sollten noch was von den härteren Sachen mitnehmen? Wodka oder so?“, schlug Tobi vor, als sie an dem Regal mit den Spirituosen vorbei gingen.
Wieder zuckte Nico nur mit den Schultern und sah Tobi dabei zu, wie er kurzer Hand drei Flaschen des klaren Gesöffs in den Korb stellte. Dann kamen noch zwei Kisten Bier und drei Kisten Cola dazu und schon standen die beiden an der Kasse um zu bezahlen.
Anna hatte in der Zwischenzeit alle möglichen Leute aus dem Jahrgang angerufen und sie zu der Party eingeladen. Nur einen nicht – David.
Den würde sie Tessa überlassen, denn sie waren sich einig gewesen. Falls Tessa überhaupt eine Chance hatte, ihn dazu zu überreden, mit ihr irgendwo hin zu gehen an dem Abend, dann würde die gleich Null sein, wenn David von der Feier wüsste.
Und sie wollten ihn unbedingt dazu bringen zu kommen. Tessa hatte Anna erzählt, wie es David ging und Anna hatte ihr erzählt, wie Nico zusammen gebrochen war. Der Plan stand also. Vielleicht würden sie ja, wenn sie sahen, wie es dem Anderen ging, wieder zur Vernunft kommen.
Kapitel 62
Der Ball rückte immer näher und heute Abend war es so weit. David sträubte sich immer noch, dort aufzutauchen und Tessa war sich immer noch sicher, dass er ihr nicht davon kommen würde. Die ganzen letzten Tage hatte sie ihn schon ununterbrochen beschäftigt, so, das er kaum zum Grübeln gekommen war. Sie hatte ihm einfach keine Gelegenheit gegeben. Nur nachts, wenn er allein in seinem Bett lag, kamen die Gedanken wieder an die Oberfläche. Er vermisste Nico so sehr, dass er nicht wusste, wie er den nächsten Tag überstehen sollte und am Schlimmsten war, dass er genau wusste, dass er selbst dafür verantwortlich war.
Der Anzug hing schon an der Schranktür bereit, noch von der Kleiderhülle verborgen. Die feierliche Zeugnisübergabe hatte es schon am Vormittag gegeben. Mehr oder weniger Feierlich hatte der Direktor seine Rede gehalten, die erfolgreichsten Schüler mit Namen benannt und die Abiturzeugnisse an jeden einzelnen übergeben.
Als David seinen eigenen Namen als letzten einer der Vierergruppen, die auf das Podest gerufen wurden, hörte, atmete er ein mal erleichtert durch, denn er hatte schon befürchtet, Nico dort oben zu begegnen, denn zwischen „Engelhardt“ und „Gronsberg“ lag nur der Buchstabe „F“ und es gab niemanden im Jahrgang, dessen Nachname mit „F“ begann.
„David? Machst du dich schon fertig für den Ball? Du musst Tessa in einer Stunde abholen. Ruiniere ihr nicht den Abend indem du zu spät kommst oder dich nicht hübsch machst. Sie kann nichts dafür“, rief Gisela nach oben und riss David aus seinen Gedanken.
„Bin schon dabei“, antwortete David schleppend und erhob sich. Er wusste genau, dass seine Mutter wusste, dass er noch nicht damit begonnen hatte, aber genauso gut wusste sie, dass er jetzt damit anfangen würde.
David stieg noch einmal kurz unter die Dusche und machte dann seine Haare zurecht. Im Spiegel starrte ihn ein blasses, ausdrucksloses Gesicht an, das mit dem glücklichen David vor ein paar Wochen nicht mehr viel gemeinsam hatte. Er hoffte, dass er sich heute Abend so schnell wie möglich wieder abseilen konnte.
Wenige Minuten später schlüpfte er in seinen Anzug, kämpfte kurz mit der Krawatte und befand sich dann selbst für vorzeigbar. Ob Tessa das auch so sah, blieb abzuwarten, aber er war sich sicher, dass sie schon dankbar war, dass er überhaupt mitkam.