Feliz Navidad oder nie wieder Weihnachten – Teil 1

Diese Geschichte ist von meinem Co-Autor geschrieben, viel Spaß dabei…

Radio Rondo auf Kanal 103,4 bringt soeben den aktuellen Wetterbericht: Weiterhin sonnig, Luft 26 Grad, Wasser 22 Grad.

Die Sonne scheint vom strahlend blauen Himmel, fast schon zu viel des Guten. Wir schreiben heute den 27. November, also nur noch wenige Tage bis zum ersten Lichtlein am Adventskranz und mir fällt einfach keine Weihnachtsgeschichte ein.

Moment – Ende November und 26 Grad, zu viel Sonne? Das kann doch unmöglich im winterlichen Westeuropa sein!?

Richtig, ich sitze hier mit meinem Freund auf der Terrasse unseres Bungalows im Süden von Gran Canaria. Die Bougainvillea blüht in verschiedenen Farben und wetteifert mit der Blütenvielfalt des Hibiskus. Wie soll man auch in dieser Umgebung und bei diesem Wetter auf eine Weihnachtsgeschichte kommen! Weihnachten verbinden wir Mitteleuropäer doch mit Schnee und Kälte. Und auch der an der Rezeption bereits aufgestellte Christbaum, mit weißen Weihnachtssternen und Bändern geschmückt, und die Lichterumkränzten Palmen an den verschiedensten Plätzen können keine echte Weihnachtsstimmung zaubern. Also,… wie kriegen wir jetzt die Kurve und bringen hier auf der „Insel des ewigen Frühlings“ eine Geschichte zu Papier, die irgendwie mit Weihnachten zu tun hat? Eigentlich unmöglich! Oder doch nicht?

Weihnachten 2005

„Feliz Navidad

Feliz Navidad

Feliz Navidad

Prospero ano y felizidad!“

So klingts von meinem CD-Player, der auf Endlosschleife eingestellt ist und das Lied immer wieder abspielt. Ich mag es, kann es nicht oft genug hören. Schließlich ist Heiliger Abend, es ist kurz nach Mittag und ich freue mich auf diesen wohl schönsten Abend des Jahres.

Übrigens mein Name ist Thomas, von allen Tom genannt, bin 23 Jahre alt und seit nunmehr drei Jahren fest mit meinem Freund Alex beisammen. Wir kennen uns seit der Grundschulzeit, aber erst vor drei Jahren hat es quasi gefunkt und wir haben uns eingestanden, dass wir mehr füreinander empfinden, ja dass wir uns lieben. Das Outing bei unseren Eltern bereitete keinerlei Schwierigkeiten. Sie hatten es, wie es ja häufig vorkommt, schon lange geahnt, nun hatten sie die Gewissheit. Auch unsere Freunde, sind ja eh nur ein paar, haben es locker weg gesteckt.

Seit einem halben Jahr haben wir nun eine gemeinsame Wohnung und wir sind stolz darauf. Und so ist es eben das erste Weihnachten in unserer Wohnung und schon deshalb ist es ein besonderer Heiliger Abend und auch deshalb summe ich das „Feliz Navidad“ immer wieder mit.

„Feliz Navidad…“

Aber es gibt schon noch einen Grund für meine ausgesprochen euphorische Weihnachtsstimmung und mein gesteigertes Interesse an spanischer Weihnachtsmusik: In zwei Tagen, also am zweiten Feiertag sagen wir dem Winter in Deutschland ade und fliegen dem Frühling entgegen. Für zwei Wochen haben wir einen schmucken Bungalow in Playa del Ingles auf Gran Canaria gemietet. Und wie wir uns darauf freuen! Ist es doch unsere erste größere Reise! Mussten wir uns bisher aus finanziellen Gründen mit Städtereisen und Kurzaufenthalte in Deutschland oder Österreich begnügen, haben wir uns eben diesmal entschlossen, den Jahreswechsel auf der Insel zu feiern. Seit drei Jahren reden wir von Gran Canaria und träumen davon. Lange haben wir darauf gespart, uns diesen Traum erfüllen zu können. Gleichzeitig ist dieser „Traum“ unser Weihnachtsgeschenk. Wir schenken uns also gegenseitig diesen Urlaub und wissen mit Sicherheit, dem anderen kein schöneres Geschenk machen zu können. Ist doch verständlich, dass wir uns beide darauf freuen, wenn sich unser größter Wunsch endlich erfüllt.

„Feliz Navidad…“

Vorläufig aber steht Weihnachten an, der Heilige Abend, den wir unbedingt, genau wie den ersten Feiertag noch hier verbringen wollen.

Die Vorbereitungen für das schönste aller Feste sind getroffen. Der Christbaum steht fast ganz geschmückt im Wohnzimmer. Leider haben wir ja bisher kaum Erfahrung im Baumschmücken. So haben wir auch nicht bedacht, dass für einen zwei Meter hohen Baum eine Lichterkette nicht ausreicht. Gut, es wäre schon gegangen, aber Alex war der Meinung, da es ja unser erster gemeinsamer Christbaum ist, muss er eben besonders gut aussehen. So ist er also nach dem Mittagessen mit dem Auto nochmals los, um im Baumarkt ein zweite Kette zu besorgen. Da die ja heute nur bis um vierzehn Uhr offen haben, musste er sich beeilen.

Er wird bei der Gelegenheit auch noch bei seinen Eltern, die im nächsten Ort wohnen, vorbei schauen, um die Geschenke, die wir für sie besorgt haben, abzuliefern. Zwar sind wir morgen ohnehin bei ihnen zum Mittagessen eingeladen, aber da ist Alex jüngere Schwester nicht da. Und für sie haben wir ja auch ein kleines Geschenk.

Ja, da haben wir ja morgen noch ein volles Programm, zuerst das schon erwähnte Weihnachtsessen, schließlich am Nachmittag der Weihnachtskaffee bei meinen Eltern. Für den Abend werden wir dann noch kurz bei Peter sein, ein guter Freund von uns beiden, der uns auch vor dem Urlaub noch sehen wollte. Ist nur gut, dass sie alle im Umkreis von zwanzig Kilometern wohnen, so dass der Stress nicht zu groß werden dürfte.

Auf alle Fälle aber sind wir in jetzt genau 48 Stunden unterwegs Richtung Süden. Und ich freue mich darauf!

„Feliz Navidad…“

Natürlich kriegt Alex außer dem bereits bekannten Inselurlaub schon noch ein kleines Geschenk von mir. Ist wirklich nur eine Kleinigkeit, ein Silberkettchen mit Herzchen und Gravur „In Liebe – Tom“. Ich hoffe, ihm gefällt´s und er freut sich. Ein ähnliches Kettchen hat er mir zum letzten Geburtstag geschenkt. Ja, ich liebe ihn und kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Und ich darf mir seiner Liebe sicher sein.

Auch er hat eine Überraschung für den heutigen Abend bereit. Alex schreibt gerne, unter anderem auch Gedichte. Schon ein paar wunderschöne Reime, die er mir gewidmet hat, durfte ich lesen. Durch Zufall habe ich entdeckt, dass er wieder mal am Dichten ist. Und als ich ihn darauf ansprach, da sagte er was von Weihnachtsüberraschung. Ich weiß schon jetzt, dass es wieder wunderschöne Zeilen sein werden, die ich von meinem Liebsten lesen darf.

„Feliz Navidad…“

Erst heute Morgen habe ich am Frühstückstisch neben meiner Kaffeetasse ein Zettelchen von Alex gefunden mit diesem Text:

„Wenn Du die Schönen liebst, liebe nicht mich, es gibt Schönere als mich!

Wenn Du die Reichen liebst, liebe nicht mich, es gibt Reichere als ich!

Aber bestimmt liebst Du die Liebe, dann liebe nur mich, denn es gibt keinen anderen, der Dich so liebt wie ich!!!“

In unregelmäßigen Abständen finde ich immer wieder solche schriftlichen Liebeserklärungen. Und wo er die Zettelchen überall versteckt! Mal taucht eines in meinem Zahnputzbecher auf, dann in meiner Brotzeittasche, die ich zur Arbeit mitnehme, in der Fernsehzeitung bei der jeweiligen Tagesprogramm-Seite, mal in der Zuckerdose, mal im Kühlschrank, am häufigsten aber auf meinem Kopfkissen im Bett vorm Schlafen gehen. Und das ist natürlich der idealste Ort, um ihm seine Liebeserklärungen „heimzuzahlen!“

„Feliz Navidad…“

So, nun ist auch das Kettchen für Alex hübsch verpackt. Wie freue ich mich schon jetzt darauf, wenn er es dann auspackt und ich es ihm umhängen darf, meinem Alex, mein Ein und Alles!

Naja, ich verrate es ja ungern, aber ich hab noch etwas für Alex, etwas zum Anziehen, von dem ich auch was hab. Wie das geht? Nun ich hab ein paar Retroshorts gekauft für ihn, wirklich unheimlich sexy, die muss er mir dann nacheinander vorführen, da bestehe ich drauf! Nun und bei seiner tollen sportlichen Figur und der nicht minder tollen Ausstattung, da gibt es mit Sicherheit was zu bewundern.

„Feliz Navidad…“

Inzwischen habe ich auch die letzten Vorbereitungen für unser Abendessen getroffen. Naja, das hört sich jetzt an, als gäbe es ein richtiges Weihnachtsmenü, derweil hab ich nur ganz profan Sauerkraut gekocht. Es gibt, wie wir es seit Jahren von daheim gewohnt sind, Würstl aller Art mit Kraut. Von meiner Mutter habe ich gelernt, dass Sauerkraut bekömmlicher ist, wenn es ein paar Stunden vorher gekocht wird, deshalb habe ich es schon jetzt auf den Herd gestellt. Die Würstl sind auch alle vorbereitet. Mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich sie sehe und vor allem rieche. Und ich weiß auch, wie sich Alex auf das Essen freut.

„Feliz Navidad…“

Kurz nach dem Einzug in unsere Wohnung erwischte ich eine schlimme Sommergrippe mit Fieber, Schnupfen, Husten und all dem Zeug. Alex hat sich extra Urlaub genommen, um mich pflegen zu können. Er hat sich um mich gesorgt, wie ich es mir nicht hätte besser vorstellen können. Von früh bis spät hat er sich um mich gekümmert.

„Ich will doch, dass du schnell wieder gesund wirst. Mir geht es auch nicht gut, wenn ich weiß, dass du krank bist!“

Ist er nicht ein wahrer Schatz?

„Feliz Navidad…“

Gut in Erinnerung ist mir auch noch eine Sache, die sich vor mehreren Wochen abgespielt hat. Wir waren bei Alex Eltern zu Besuch und dort war auch ein Onkel von ihm. Dieser hat sich in einem Gespräch ziemlich abfällig über Schwule geäußert, obwohl er doch genau wusste, dass sein Neffe mit mir zusammen ist. Jetzt hättet ihr meinen Alex erleben sollen! Während alle anderen Anwesenden zuerst mal betroffen schwiegen, hat Alex seinem Onkel herausgegeben, dass wir alle nur staunen konnten. Gleichzeitig hat er spontan seinen Arm um mich gelegt und mir einen Kuss gegeben.

„Und wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann musst du es dir nicht mehr antun, herzukommen“, sagte er an die Adresse seines Onkels. Wie war ich stolz auf ihn und sein Onkel sagte gar nichts mehr. Ja, ich war stolz auf ihn und bin es auch heute!

„Feliz Navidad…“

Weihnachtsfans waren wir beide immer schon und sind es bis heute geblieben. Auch eine der vielen Übereinstimmungen, die unsere Partnerschaft auszeichnet. Sicher, wir mögen den Frühling, wenn endlich wieder alles blüht und grünt, wir lieben den Sommer mit Sonne pur, mit Baden und Draußensitzen. Aber wir freuen uns jedes Jahr aufs Neue auf den Advent und die Weihnachtszeit, mit allem, was dazu gehört, also Adventskranz, Kerzenschein, kuschelige Abende mit Glühwein, Lebkuchen, erste Weihnachtsplätzchen und stimmungsvoller Musik.

Und wir mögen die Weihnachts- oder Christkindlmärkte, wie es sie ja hier in fast jeder Stadt gibt. So haben wir heuer endlich auch mal den berühmtesten aller Märkte erleben dürfen, den Nürnberger Christkindlesmarkt, wie der sich ja nennt. Und das war in der Tat ein Erlebnis. Zwar muss man sich manchmal durch die Menschenmassen kämpfen, aber wenn dann die vielen Lichter brennen, die Sterne und bunten Kugeln glitzern, die Luft erfüllt ist von Glühwein- und Lebkuchenduft, da geht einem das weihnachtliche Herz auf und verzaubert auch den größten Weihnachtsmuffel.

Wir sahen den stimmungsvollen Weihnachtsmarkt direkt vor dem Passauer Dom, wir bewunderten die vielen herrlich geschmückten Christbäume beim Straubinger Markt, wir staunten über einen schwimmenden Weihnachtsmarkt in Vilshofen auf der Donau, und wir waren beeindruckt vom wohl romantischsten aller Märkte im Hof des fürstlichen Schlosses in Regensburg, wo wir sogar auf Fürstin Gloria trafen, die sich dort immer wieder unter die Besucher mischt.

Kollegen, denen ich von unseren vielen Marktbesuchen erzähle, fragen mich dann, ob das nicht langweilig wird, seien doch alle gleich. Nein, uns ist nie langweilig geworden, ganz im Gegenteil, immer gabs was Neues zu entdecken. Und vor allem: Wie freue ich mich immer, wenn ich dann in Alex´s Augen schaue und merke, mit welcher Begeisterung und Freude er bei der Sache ist und immer wieder nach meiner Hand greift und sie drückt. Ja, er liebt die Weihnachtsmärkte, genau wie ich!

„Feliz Navidad…“

Ich stehe nun vor dem fast fertigen Christbaum in unserem Wohnzimmer. Es soll ja nur noch eine Lichterkette dazukommen, die Alex gerade holt. Langsam müsste er aber wirklich auftauchen, aber werden ihn wahrscheinlich seine Eltern noch etwas aufgehalten haben, denn die Geschäfte sind längst geschlossen.

Unterm Baum haben wir eine Krippe aufgestellt, die wir uns erst vor wenigen Tagen beim Straubinger Christkindlmarkt gekauft haben. War nicht ganz billig, aber uns hat sie beiden auf Anhieb gefallen, so dass wir uns zum Kauf entschlossen haben. Wunderschöne geschnitzte Holzfiguren stehen im oder vor dem Stall. Ein kleines Licht erhellt die Szenerie im Gebäude und auch bei den Hirten im Freien leuchtet ein Lämpchen, das Hirtenfeuer darstellend. Etwas im Hintergrund tauchen die heiligen drei Könige auf. Sie haben ja noch etwas Zeit, bis sie zum Stall dürfen.

O wie freue ich mich, wenn wir hernach vor dem Baum stehen, ihn ebenso bewundern wie unsere wunderschöne Krippe, unsere Geschenke austauschen und im Hintergrund Weihnachtsmusik spielt. Später werden wir dann die Christmette besuchen, gehört für uns einfach dazu und ist auch immer ein stimmungsvoller Abschluss, wenn am Schluss der Feier in der nur vom Christbaum erleuchteten Kirche das schönste aller Weihnachtslieder, das „Stille Nacht“ erklingt. Und ich weiß, dass wir uns dabei an den Händen fassen werden, so wie jedes Jahr.

„Feliz Navidad…“

Nun werde ich aber doch unruhig. Alex ist immer noch nicht da! Inzwischen beginnt es draußen bereits zu dämmern. Dass ihn seine Eltern so lange aufhalten? Ich werde dort mal anrufen.

Nein, meldet sich keiner. Ist schon komisch. Wo können die sein? Heute am Heiligen Abend?

Sein Handy hat Alex hier liegen lassen, so kann ich ihn also selbst nicht anrufen.

„Feliz Navi..“

Nein, den CD-Player habe ich jetzt ausgeschaltet, ich kann es nicht mehr hören. Wo bleibt Alex? Es ist unser erster Heiliger Abend in unserer Wohnung und wie haben wir uns beide darauf gefreut! Er wollte doch so rasch als möglich wieder hier sein!

Nein, da muss etwas passiert sein! Ich fühle eine unbändige Angst in mir aufsteigen. Längst hält mich nichts mehr im Wohnzimmer auf der Coach, wo ich saß. Jetzt laufe ich durch die ganze Wohnung, voller Unruhe in mir, sehe immer wieder aus dem Fenster auf die Straße. Aber da ist kein Auto und kein Alex zu sehen, nur die laternenerhellte Straße und leichtes Schneetreiben. Wie sehr haben wir uns etwas Schnee zu Weihnachten gewünscht, ist einfach das i-Tüpfelchen zu einem perfekten Fest. Und dann der krasse Gegensatz in zwei Tagen, wenn wir auf der Insel landen!

Wo bleibt Alex? Nein, jetzt weiß ich bestimmt, da ist was geschehen! Niemals würde er mich so lange allein lassen und vor allem im Ungewissen alleine lassen.

Inzwischen habe ich nochmals versucht, die Eltern von Alex zu erreichen, ohne Erfolg. Auch bei meinen Eltern habe ich angerufen. Dort war Alex nicht. Sie haben mich getröstet, ich soll nicht immer gleich das Schlimmste annehmen, wird sich bestimmt alles klären. Ich habe bei Peter angerufen, unser gemeinsame Freund. Peter ist solo und wohnt bei den Eltern. Hätte ja sein können, dass Alex dort kurz vorbeigekommen wäre. Ist er aber nicht.

Gerade als ich den Hörer auflege, läutet es an der Wohnungstür. Meine Angst verstärkt sich rapide, während ich mit klopfenden Herzen zur Tür gehe. Alex kann das nicht sein, der hätte selber einen Schlüssel. Also wer steht da draußen und welche schreckliche Nachricht erwartet mich?

Es ist Johann, der Vater von Alex und ich brauche nur in sein versteinertes Gesicht zu schauen und meine Befürchtungen werden zur Gewissheit.

„Was ist mit Alex?“ kann ich nur stammeln, noch bevor er etwas sagen kann. Ich frage ihn und fürchte mich gleichzeitig entsetzlich vor der Antwort, denn es kann nichts Gutes bedeuten, wenn statt Alex dessen Vater erscheint, noch dazu mit dieser ernsten Miene.

„Alex hatte einen schweren Unfall, wurde schwer verletzt, aber er lebt!“ erzählt Johann und drückt meine Hände, um mich zu beruhigen.

Meine Befürchtungen waren also berechtigt. Alex hatte einen Unfall. Aber gleichzeitig klammere ich mich an die letzten Worte von Johann, nämlich dass Alex lebt und nur das zählt. Und er wird wieder gesund, er muss wieder gesund werden.

„Ich muss sofort zu ihm“, ist dann meine erste Reaktion nach der schlimmen, aber gleichzeitig auch wieder hoffnungsvollen Botschaft.

Im Auto auf dem Weg ins Krankenhaus erzählt mir Johann, dass der Unfall an einer berüchtigten, weil unfallträchtigen Kreuzung passierte. Alex Auto wurde von einem offensichtlich alkoholisierten Fahrer, der ihm die Vorfahrt nahm, gerammt. Der Unfallverursacher soll ebenso schwerst verletzt sein, sein Zustand sei kritisch. Von Alex wisse man nur, dass er außer Brüchen auch innere Verletzungen habe. Als Johann das Krankenhaus verließ, um zu mir zu fahren, lag Alex noch im OP, daher weiß er auch nichts über den gegenwärtigen Zustand.

Nun ist mir auch klar, warum ich zu Hause telefonisch niemand erreicht habe. Und mir wird auch klar, warum die Polizei Alex Eltern verständigt hat. Alex hat es bisher versäumt, sich in unsere Wohnung umzumelden. So ist also im Ausweis und Kfz-Schein immer noch die Elternwohnung eingetragen.

Inzwischen haben wir endlich das Krankenhaus erreicht. Ich stürme auf die Eingangstüre zu, will ich doch so rasch als möglich zu meinem Liebsten. Johann, der mir nachgelaufen ist, holt mich am Eingang ein und erklärt mir:

„Langsam Tom, ich verstehe dich ja, aber Alex ist mit Sicherheit noch im OP und da kannst du nicht rein.“

Er hat ja recht und so gehen wir gemeinsam in das Haus.

Nun sitzen wir bereits eine ganze Stunde in dem Warteraum und wissen immer noch nichts Genaueres. Wir wissen nur, dass Alex immer noch operiert wird. Wenn ich sage, wir „sitzen“ hier, dann ist das nicht ganz richtig. Keinen hält es lange auf diesen Plastikstühlen, wir alle sind viel zu nervös und ängstlich, um ruhig und untätig dazusitzen. Wir – das sind neben Alex Eltern auch seine Schwester und seit kurzem auch meine Eltern, die ich angerufen habe. Immer wieder nimmt mich einer in den Arm und sagt irgendwelche hoffnungsvollen Worte und immer wieder wische ich mir die Tränen aus den Augen. Alex, mein Alex, liegt hier irgendwo nebenan, ist schwer verletzt und ich kann nicht zu ihm, muss hilflos hier draußen warten und kann nur hoffen.

Was hatten wir für wundervolle Pläne für den heutigen Abend, unser erstes Weihnachten in der neuen Wohnung. Und so sieht er nun also aus, unser Heilige Abend! Und in zwei Tagen – o mein Gott, natürlich wird es auch nichts mit dem Urlaub. Aber das ist im Moment auch absolut unwichtig! Dass Alex überlebt und wieder gesund wird, nur das allein zählt.

Inzwischen haben wir erfahren, dass der Unfallverursacher verstorben ist. Soll er mir leid tun? Sicher nicht! Ist eh das Beste für ihn.

Ich sehe ein Schild neben dem Warteraum, dass es links hinten zur Krankenhauskapelle geht. Und so mache ich mich auf den Weg dorthin.

Zwei kleinere geschmückte Christbäume stehen links und rechts vom Altar in der ansonsten ziemlich schmucklosen Kapelle. Ich setze mich, sehe auf das große Kreuz, das an der Wand angebracht ist und ich bete, bete so innig wie wohl nie zuvor, um das Leben und die Gesundheit von Alex. Er muss leben, ich brauche ihn doch!

Nun bin ich wieder zurück bei den anderen. Noch immer keine Nachricht, noch immer Hoffen und Bangen und Angst. Wie können die nur so lange operieren? Sicher, er hat komplizierte Brüche und dann eben die inneren Verletzungen, aber das geht ja jetzt schon Stunden so!

Meine Mutter steht am Fenster, ich gehe hin zu ihr. Gemeinsam sehen wir in die Nacht hinaus. Hier im fünften Stock des Gebäudes hat man natürlich einen wundervollen Blick auf die nächtliche Stadt und ihr unzähligen Lichter. Aber ich registriere das nur nebenbei, genau wie das Flockentreiben, das nun verstärkt einsetzt. Also doch weiße Weihnachten! Wenn das Alex sehen könnte, wie freute er sich immer über Schnee zum Fest, weil es einfach dazu gehört, wie er sagte.

Mutter öffnet kurz das Fenster und wir hören feierliches Geläute der Kirchenglocken, die nun zur Christmette einladen. Ja, jetzt wären wir beide auch unterwegs, Alex und ich. Und wieder wische ich mir die Tränen weg. Meine Mutter hat dies wohl bemerkt, denn sie drückt mich fest an sich.

„Es wird alles wieder gut, es….“

Weiter redet sie nicht, denn ein Arzt im weißen Kittel erscheint, sichtlich gezeichnet von den Anstrengungen der letzten Stunden. Er redet leise mit Johann, gibt ihm die Hand, sieht kurz zu uns, nickt uns zu und verschwindet wieder. Was hat das zu bedeuten? Keiner sagt ein Wort, wir alle sehen Johann an, hoffen inständig auf eine gute Nachricht und befürchten nach den letzten Beobachtungen doch das Schlimmste.

Johann sieht uns stumm an und schüttelt seinen Kopf.

„Sie haben alles versucht“ stammelt er mit tränenerstickter Stimme, „vergeblich!“

„   N     e    i    n   !“

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