Feliz Navidad oder nie wieder Weihnachten – Teil 2

Weihnachten 2006

Soeben habe ich das Kalenderblatt vom 23. Dezember abgerissen. Den 24. Dezember haben wir also heute, Heiliger Abend. Ein Jahr ist seit dem Unfalltod von Alex vergangen.

Den meisten Leuten vergeht ein Jahr doch viel zu schnell. So mancher fragt sich am Ende eines Jahres, wo nur dieses Jahr „hingekommen“ ist. Nein, bei mir war es ganz anders, mir kam dieses zu Ende gehende Jahr unendlich lange vor. Das Jahr eins nach Alex, das schlimmste Jahr meines bisherigen Lebens!

Ich glaube kaum, dass ich dieses Jahr ohne die Hilfe, den Trost und den Beistand meiner und Alex Eltern überstanden hätte. Sie haben mir wirklich unendlich viel geholfen und mir immer wieder Mut gemacht, wenn ich am Verzweifeln war.

„Das Leben geht weiter, auch ohne Alex, so grausam das auch klingen mag!“

„Du darfst nicht aufgeben, Alex wäre das nicht recht!“

Ja, so oder ähnlich habe ich es immer wieder vernommen.

Meine Eltern waren es auch, die darauf bestanden, dass ich vorübergehend wieder bei ihnen wohnte. Ich hätte es auch in unserer, das heißt ja jetzt in meiner Wohnung, niemals alleine ausgehalten. Hätte mich doch alles an Alex erinnert. Und es war noch schlimm genug, als ich nach etwa drei Monaten wieder ganz in meiner Wohnung war.

Meine Eltern haben gleich nach Weihnachten alle Weihnachtsdekoration und den Christbaum weggeräumt. Erst später hat mir mein Vater erzählt, dass man im völlig zertrümmerten Unfallwagen von Alex eine original verpackte Lichterkette vom Baumarkt gefunden hat. Völlig heil ist sie geblieben. Wegen der ist er ja noch weggefahren. Und wenn wir damals auf diese Kette verzichtet hätten, dann würde Alex… Aber das bringt ja nichts! Was geschehen ist, das kann keiner mehr ändern, so schlimm es auch ist.

Monate später habe ich in einer Sommerjacke nochmals ein Zettelchen von Alex gefunden, mit seinen wunderbaren Zeilen, an mich gerichtet. Er wird es irgendwann im vorletzten Sommer geschrieben haben. Und da ich diese Jacke erst diesen Sommer wieder anzog, hab ich seine Zeilen leider erst jetzt gefunden. Er hat mir darin wieder seine Liebe gestanden und dass er immer auf mich aufpassen wird. Und dann zum Schluss:

„Und wenn ich einmal nicht mehr bei Dir sein darf, dann passe ich umso besser von oben auf Dich auf!“

Soll es einem da nicht das Herz zerreißen? Wenige Monate vor seinem Tod hat Alex das geschrieben. Eine Vorahnung?

Eine wertvolle Hilfe in dieser schrecklichen Zeit war auch Peter, der sich im Gegensatz zu manch anderen sog. Freunden, nicht zurückgezogen hat. Viele Freunde hatten wir ja eh nicht, aber Peter war wirklich unser bester Freund!

Noch an Weihnachten, als er von dem Unfall erfahren hatte, ist er vorbeigekommen, hat nichts gesagt, mich umarmt und mit mir geweint. Wie oft hat er mich besucht, solange ich vorübergehend bei meinen Eltern wohnte. Und auch hernach, als ich wieder in meiner Wohnung war, ist er gekommen, hat mich aufgemuntert, mich zu überreden versucht, etwas zu unternehmen. Armer Peter! Er hatte es bestimmt mit mir nicht leicht! Aber er hat nie aufgegeben, bis ich endlich nachgab und wir im Sommer unseren ersten größeren Ausflug machten und ich erstmals wieder von Herzen lachen konnte. Ja, Peter war wirklich ein echter Freund in dieser Zeit, auch wenn er natürlich Alex niemals ersetzen konnte und kann.

Doch so von September an, machte sich Peter seltsamerweise immer rarer. Es gab nur mehr ein paar Telefonate und die wurden auch immer kürzer. Er habe viel zu tun und es täte ihm eh leid und so. Plötzlich hörte ich gar nichts mehr von ihm. Ich konnte ich telefonisch nicht mehr erreichen und auch von seinen Eltern habe ich nichts Konkretes erfahren, nur, dass er jetzt eine eigene Wohnung hat. Das war alles. Naja, ich weiß ja, dass das Verhältnis von Peter zu seinen Eltern nicht immer das Beste war. Vor allem mit seinem Vater hat er sich nicht verstanden.

Mir tat es unendlich leid, so gar nichts mehr von Peter zu hören, aber es war halt nicht zu ändern. Ich vermute ja, dass jemand in sein Leben trat, der ihm mehr bedeutet als ich, kurz gesagt, dass er eine Freundin hat. Denn dass Peter auf Frauen steht, davon bin ich immer ausgegangen. Er hat unser Schwulsein erstaunlich locker hingenommen, selbst sich aber nie zu dem Thema geäußert. Aber ich vergönne ihm ja einen lieben Menschen an seiner Seite, gerade jetzt an Weihnachten. Er hat es wie kein Zweiter verdient.

Apropos Weihnachten: Das Fest gibt es für mich nicht mehr! Gut, ich verzichte nicht auf das mir zustehende Weihnachtsgeld und ich gehe auch nicht arbeiten an den Feiertagen. Aber sonst – null Weihnachtsdekoration, kein Weihnachtsmarktbesuch, keine Lebkuchen, keine Plätzchen, keine Weihnachtsmusik, also auch kein „Feliz Navidad“, keinen Christmettenbesuch und schon gar keinen Christbaum zu hause! Absolut nichts!

Zu Weihnachten wurde mir das Wertvollste genommen, was es hier auf Erden geben kann, meine große Liebe. Und das am Fest, das sich „Fest der Liebe“ nennt! Wie sollte ich da Weihnachten noch mögen? Nein, aus und vorbei! Bei mir am Kalender steht zwar „Heiliger Abend“, aber das ignoriere ich, für mich ist heute Karfreitag!

Ja, ich weiß, ich bin verbittert, aber ist das ein Wunder? Vor einem Jahr, als die Glocken Weihnachten einläuteten, musste meine Liebe sterben und damit ist auch Weihnachten für mich gestorben!

Natürlich haben meine Eltern und auch Alex Eltern, zu denen ich nach wie vor einen guten Kontakt habe, versucht, mich zu überreden, Weihnachten mit ihnen zu feiern. Ich habe immer abgelehnt. Nein, ich kann nicht mehr Weihnachten feiern!

Sogar einen Tannenbaum haben mir meine Eltern gebracht. Er steht draußen am Balkon und wird nach den Feiertagen zerstückelt und entsorgt, ohne jemals in den Genuss gekommen zu sein, in der „guten Stube“ stehen zu dürfen und der Mittelpunkt des ganzen Weihnachtsbrimboriums zu sein. Anfangs hatte ich ja sogar vor, den Christbaumschmuck weg zuwerfen. Hab es aber dann nicht übers Herz gebracht, weil doch viel selbst gebasteltes von Alex dabei ist. Denn das ist, nein war, neben dem Schreiben ein weiteres Hobby von ihm. Er hatte unendlich Geduld beim Basteln.

Die Betriebsweihnachtsfeier musste ich wohl oder übel über mich ergehen lassen, weil es Dienst ist. Ist ja eh immer nur ein mehr oder weniger großes Besäufnis. Und zum „feierlichen“ Abschluss grölen sie dann das Lied von der fröhlich und seligen Weihnachtszeit, widerlich!

Fröhliche Weihnachten, wenn ich das schon höre! Ich wäre am liebsten jedem, der mir in den letzten Tagen diese gewünscht hat, mit dem nackten Hintern ins Gesicht gesprungen. Aber weil ich doch ein höflicher Mensch bin, hab ich es schweigend hingenommen oder lediglich ein leises „ebenfalls“ gemurmelt.

So ist für mich heute ein zwar arbeitsfreier, aber ganz normaler Werktag, den ich abends mit einem guten Buch oder einer Spielfilm-DVD im gemütlichen Wohnzimmer ausklingen lasse.

Nur ein Zugeständnis mache ich dem heutigen Tag: Der 24. Dezember ist der Todestag von Alex. Und so werde ich am späten Nachmittag zum Friedhof fahren und dort am Grab – nein, natürlich nichts Weihnachtliches – einen Strauß weißer Rosen, seine Lieblingsblumen, hinlegen. Es sind nicht die ersten Rosen, die Alex bekommt, aber gerade heute an diesem Tag, da bedeuten sie eben etwas Besonderes. Sicher kenne ich den wohl wahren Spruch von „viel mehr Blumen während des Lebens, denn auf den Gräbern sind sie vergebens“. Aber Alex Leben war ja so kurz, wie hätte ich ihn da mit mehr Blumen verwöhnen können! Mir bleibt ja nichts mehr, als das Gebinde aufs Grab zu legen.

Und dazu bin ich nun unterwegs. Ich habe das Auto am Parkplatz abgestellt und marschiere den weiten Weg durch die vielen Gräberreihen bis hinter zu den neueren Gräbern, wo eben auch Alex seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Es schneit schon ein paar Stunden und deckt alle Gräber mit der weißen Pracht zu.

Endlich bin ich am Grab angekommen, zünde ein Lichtlein an und stelle es in die Laterne. Und dann unterhalte ich mich, wie schon so oft, mit Alex. Erzähle ihm, wie sehr er mir fehlt und wie gerne ich ihn bei mir hätte.

„Aber Alex, ich nehme fest an und hoffe es zumindest, dass es dir dort oben gut geht, besser als uns allen hier unten und dass du gar nicht mehr tauschen möchtest.

„Aber trotzdem, Alex, meine Liebe, du fehlst mir halt so sehr, ich…“

Und nun passiert doch das, was ich mir fest vorgenommen habe, unter allen Umständen zu vermeiden: Mir rinnen die Tränen nur so herunter.

Ich kann nicht mehr hier bleiben, eilig mache ich mich auf den Rückweg. Es wird auch schon dämmrig und der Schneefall hat zugenommen. Nur noch vereinzelt begegnen mir Friedhofsbesucher.

Ich biege gerade um eine Hecke, da glaube ich plötzlich ein leises Weinen zu hören. Ich bleibe kurz stehen, sehe in die Richtung, wo ich glaube, etwas gehört zu haben. Wieder, jetzt etwas lauter, ein Schluchzen und ein Jammern. Ich gehe langsam in die Richtung, von der die Geräusche kommen. Tatsächlich sehe ich ein paar Meter vor mir eine Gestalt, die im Schnee vor einem Grab kniet und herzzerreißend weint.

Für einen Moment überlege ich tatsächlich, ob ich nicht einfach so tun soll, als hätte ich nichts gehört und gesehen. Was gehen mich fremde Menschen und deren Kummer an, hab ja selbst davon genug. Aber ich sehe auch, dass es sich um ein neueres Grab handeln muss, weil noch Kränze und Gebinde aus dem Schnee heraus schauen. Außerdem ist der junge Mann, der da vor dem Grab kniet, schon halb eingeschneit und hat nicht mal eine Winterjacke an. Der erfriert doch!

Nein, ich muss sofort handeln, gehe zu ihm hin, beuge mich hinunter und ziehe ihn hoch, dass er endlich vom Boden wegkommt. Da er mich wahrscheinlich gar nicht hat kommen sehen, erschrickt er, als er so plötzlich von mir angefasst wird. Aber ich erschrecke nicht minder, als ich in sein Gesicht sehe.

Vor mir steht nämlich halb erfroren und zugeschneit niemand anders als Peter!

„Peter, um Gotteswillen, Peter, was machst du hier? Du holst dir den Tod!“

Er sieht mich mit seinen verweinten Augen an, erkennt mich nun und fällt mir um den Hals. Er schluchzt und weint und will etwas sagen, bringt aber nichts heraus als ein Zähneklappern. Immer wieder deutet er auf das Grab, will mir damit etwas sagen. Aber wer ist der Verstorbene, den Peter so sehr betrauert? Die Toten, die auf dem Grabstein eingraviert sind, die sind vor Jahren gestorben, wie ich den Sterbedaten entnehme. Aber es steckt auch ein hölzernen Kreuz vor dem Grabstein und darauf ist ein Sterbebildchen angeheftet, auf dem ein Bild und ein Name steht. „Andreas“ kann ich als Name lesen, der Zuname ist nicht mehr zu entziffern. Ansonsten ist mir die Person aber völlig unbekannt. Ich kann nur an dem Bild erkennen, dass es sich um einen nicht unhübschen Jungen etwa in unserem Alter handelt.

„Ein Freund?“ wage ich die Frage an Peter.

Er bringt nur ein Nicken zustande und wird wieder von einem Weinkrampf geschüttelt.

„Komm Peter, wir müssen hier weg, komm mit zu meinem Auto, du fährst jetzt mit zu mir und wenn du dich aufgewärmt hast, kannst du mir ja alles erzählen!“

Nur mit sanfter Gewalt kann ich ihn wegziehen. Immer wieder wendet er seinen Kopf Richtung Grab und ich glaube ein leises „Andi“ unter seinem Geschluchze herauszuhören.

Nun sind wir längst wieder bei mir zu Hause. Peter hat inzwischen ein heißes Bad genommen, hat warme und vor allem trockene Kleidung von mir bekommen, heißen Tee getrunken und mir dann, immer wieder von einem Weinkrampf unterbrochen, seine Geschichte erzählt.

Wir saßen beide auf der Coach. Ich habe ihn immer wieder an mich gedrückt und ihn ermuntert weiter zu erzählen, wenn in für Momente die schmerzhafte Erinnerung übermannte.

Inzwischen schläft Peter im Wohnzimmer, gut für ihn! Ich habe ihn extra noch in eine zweite Decke gehüllt und mit einer Wärmflasche ausgestattet. Der Schlaf ist ihm absolut zu gönnen, kann er so wenigstens für kurze Zeit seinen Schmerz vergessen.

Noch geschockt über das Gehörte sitze ich nun allein auf der Eckbank in meiner Küche und kann mir das tragische Geschehen nochmals in Erinnerung rufen. Verstehen werde ich es ohnehin nie!

Peter, der übrigens vor kurzem zwanzig wurde, hat lange gebraucht, bis er sich darüber klar wurde, dass er mit Freundinnen, die er auch hatte, nichts anfangen kann. Zu seinen Eltern hatte er kein so gutes Verhältnis. Und als er ihnen dann erzählte, dass er glaube, schwul zu sein, da war es ganz aus. Es führte schließlich dazu, dass er sich eine eigene Wohnung suchte am anderen Ende der Stadt, möglichst weit weg von den Eltern.

Eines Tages lernte er eben diesen etwas jüngeren Andreas kennen und sie verliebten sich. Jetzt weiß ich natürlich auch, warum sich Peter bei mir immer seltener sehen ließ und dann schließlich gar nicht mehr kam. Ich habe es ja geahnt, dass er jemanden kennen gelernt hat. Nur dachte ich halt eher an eine Andrea als an einen Andreas. So kann man sich täuschen!

Naja, es wäre alles wunderbar gewesen, wenn nicht Andreas in der grenzenlosen Euphorie seiner Liebe zu Peter, seinen Eltern daheim alles erzählt hätte. Er dachte doch tatsächlich, dass sich diese mit ihm freuen würden, denn sie wussten doch, welch Einzelgänger er bisher war und wie einsam und unglücklich er sich trotz seiner noch nicht mal achtzehn Jahre fühlte.

Aber er hatte sich in seinen Erziehern getäuscht! Sie versuchten erstmal ihm sein „angebliches“ Schwulsein auszureden und verboten ihm weiterhin jeden Kontakt zu seinem Freund, der ein „perverser Verführer“ sei. Trotzdem trafen sie sich die beiden heimlich in Peters Wohnung und das wurde ihnen zum Verhängnis.

Es war der erste Adventssonntag, als es sich die beiden auf der Coach so richtig gemütlich machten. Das erste Licht am Adventskranz brannte, der Duft von frischem Tannengrün, Glühwein und Lebkuchen verschaffte vorweihnachtliches Flair. Und die beiden, unbändige Romantiker und absolute Fans von Advent und Weihnachten waren glücklich und träumten von der gemeinsamen Zukunft..

Da läutete es und Peter, ohne jeden Argwohn, öffnete die Tür. Wie konnte er auch wissen, dass Andreas Vater draußen stehen würde. Er hatte keine Ruhe gegeben, bis er, woher auch immer, Peters Adresse bekam. Jedenfalls stürmte er an Peter vorbei ins Wohnzimmer, packte seinen Sohn und schleppte ihn mit. Für Peter muss das entsetzlich gewesen sein, mit ansehen zu müssen, wie seine junge und doch schon große Liebe von ihm genommen wurde und er gar nichts dagegen machen konnte. Andreas war nun mal noch minderjährig. Dass er nebenbei von diesem Rabenvater wüst beschimpft wurde, nahm er gar nicht richtig wahr. Es war im übrigen das letzte mal, dass er seinen Freund gesehen hat.

Sie haben noch ein paar mal telefoniert miteinander und Peter merkte, wie verzweifelt sein Freund war. Immer wieder versuchte er ihn zu trösten, ihm Mut zuzusprechen und ihn daran zu erinnern, dass er ja bald achtzehn wird und sein Vater dann sagen könne, was er wolle. Die müssen ihm zu Hause das Leben zur Hölle gemacht haben, denn Andreas hörte sich immer verzweifelter an. Die ältere Schwester von Andreas versuchte zu vermitteln, sie hatte keine noch so geringe Chance gegen die Sturheit und Boshaftigkeit des Vaters.

Andreas muss so verzweifelt gewesen sein, dass er keinen Sinn mehr in seinem Leben, seinem noch so jungen Leben sah und eben diesem Leben ein Ende setzte. Ich habe Peter gar nicht gefragt, wie sein Freund aus dem Leben geschieden ist. Ich wollte ihn nicht noch mehr quälen und im Grunde ist es ja auch egal. Von Andreas Schwester hat Peter es erfahren müssen.

Und nicht mal zur Beerdigung hat man ihn zugelassen. So hat er sich eben am Abend des Beerdigungstages aufgemacht und hat einen Strauß roter Rosen aufs frische Grab gelegt und so Abschied genommen. Als er dann am nächsten Tag wieder zum Grab kam, da waren die Rosen verschwunden. Er fand sie zerrupft wieder in dem in der Nähe befindlichen Komposthaufen. Nicht mal das hat man ihm vergönnt!

Was muss das alles für ein Schmerz für ihn gewesen sein. Und dann hat er niemanden, der ihn tröstet und mit dem er diesen Schmerz teilen kann.

„Und warum nur bist du nicht zu mir gekommen, ich wusste doch von allem nichts?“ habe ich ihn gefragt.

Er hat nur mild lächelnd geantwortet:

„Aber du hattest doch selber so einen schlimmen Verlust zu ertragen, da wollte ich dich doch nicht auch noch mit meinem Problem belasten!“

„Hast du schon mal was von dem geteilten Leid….gehört?“

Peter nickte nur und drückte meine Hand.

Auch einen Abschiedsbrief hat er erhalten. Er hat ihm darin nochmals seine Liebe gestanden, ihm für alles gedankt, ihn um Verzeihung gebeten. Was sonst noch in dem Brief stand, das konnte er mir vor lauter Schluchzen gar nicht mehr erzählen.

„Und dabei haben wir uns doch so auf Weihnachten gefreut, unser erstes gemeinsames Weihnachten, ist doch was Besonderes. Wir wollten ein Tannenbäumchen besorgen und es richtig schön schmücken. Irgendwie hätte er schon einen Vorwand gefunden, von daheim weg zukommen.

Wir liebten doch beide Weihnachten so sehr!“

Ich stehe nun auf dem Balkon, atme die frische Schneeluft ein und versuche das alles, was ich in der letzten Stunde gehört habe zu verstehen. Nein, das ist unmöglich, verstehen kann man das mit Sicherheit nicht! Warum nur wollte er alles alleine tragen, warum nur ist er nicht zu mir gekommen! Und das alles so kurz vor Weihnachten, auf das sie sich so freuten. Die Parallelen zu meiner Geschichte sind unübersehbar, beide male wurde ein junges Leben ausgelöscht, bei Alex war es ausgerechnet der Heilige Abend, Andreas starb wenige Tage vor dem Fest. Wir alle hatten uns so auf Weihnachten gefreut und mussten oder müssen es dann alleine verbringen.

Da fällt mein Blick auf das hier am Balkon liegende Tannenbäumchen, das mir meine Eltern gebracht haben und für das ich Weihnachtsverweigerer keine Verwendung habe.

Weihnachtsverweigerer? Darf ich das wirklich sein? Für mich ist in Zukunft der Heilige Abend der Karfreitag, so habe ich heute morgen zu mir selber gesagt. Ja, ich weiß! Aber ist es denn nicht so, dass mit dem Karfreitag nichts vorbei ist? Auf jeden Karfreitag folgt ein Ostern und neues Leben!

Ich habe in der Verzweiflung über den Verlust meines Liebsten alles andere vergessen, alles war unwichtig. Warum nur habe ich nicht nachgeforscht, als ich nichts mehr von Peter hörte, wo er denn nun wohnt? Hätte ich vielleicht sogar das schlimme Geschehen um seinen Freund verhindern können, hätte eventuell ich mit den Eltern von Andreas reden können? Man darf doch nichts unversucht lassen, wenn es darum geht, ein Leben zu retten!

Aber ich habe nichts getan, habe mich in meinem Schmerz in mein Schneckenhaus verkrochen und nur an mich selbst gedacht.

„Weihnachten ist für mich gestorben!“ Was für ein Schwachsinn! Weihnachten „passierte“ doch nicht nur einmal vor mehr als 2000 Jahren, damals in Bethlehem. Weihnachten ist auch heute, hier und jetzt! Überall wo sich ein Mensch um einen anderen annimmt, ihm seine Liebe schenkt, da ist Weihnachten!

Ich kann Peter seinen Freund nicht mehr zurückgeben, so wie er mir meinen Alex nicht wieder bringen kann. Aber was ich kann, das werde ich jetzt tun, nämlich ihm ein bisschen Weihnachten schenken!

Ich habe Peter, nachdem er etwas erholt aus seinem Schlaf erwacht ist, in die Küche bugsiert, wo er uns etwas zu essen machen soll. Ich weiß nämlich aus Erfahrung, dass er der bessere Koch von uns Zweien ist. Es kann kein Festtagsmenü werden, dazu habe ich Weihnachtsignorant auch gar nicht eingekauft. Aber ein paar Sachen sind schon da und Peter weiß mit Sicherheit, was er damit auf den Tisch zaubern kann.

Ich aber bin im Wohnzimmer beschäftigt, zu dem Peter für die nächste Zeit keinen Zutritt hat. Ich sehe auf das eingerahmte Bild von Alex, das, mit Blumen geschmückt, auf dem Sideboard steht.

„Tut mir leid Alex, ich habe nur an mich und meinen Schmerz gedacht und vergessen, dass das Leben weiter geht, dass Peter meine Hilfe gebraucht hätte. Aber ich hole es jetzt nach. Ich mache es doch richtig, oder?“

Bilde ich es mir nur ein oder lächelt mir Alex tatsächlich mit einem Kopfnicken zu? Das war wohl Einbildung, aber ich weiß jetzt, dass es im Sinn von Alex ist, wenn es heute doch noch Weihnachten wird.

Ich hole nun Peter aus der Küche, der dort immer noch bemüht ist, ein Weihnachtsessen auf den Tisch zu bringen. Ich nehme ihn einfach bei der Hand und führe in ins Wohnzimmer. Er sieht mich fragend an. Aber dann, als er den geschmückten Christbaum mit all seiner Pracht, den Strohsternen, den glänzenden Kugeln und den funkelnden Kerzen sieht, da leuchten auch seine Augen und strahlend sieht er mich an und flüstert ein leises „dass du das für mich tust, danke Tom!“

Wir bewundern beide den Lichterbaum und natürlich die darunter stehende Krippe, die ich in aller Eile aufgebaut habe. Freilich, frisches Moos, wie es sich für eine Weihnachtskrippe gehört, konnte ich nicht mehr auftreiben. So musste es halt ein moosgrünes Deckchen sein. Aber das tut der Freude, die ich in Peters Augen erblicke keinen Abbruch. Und wenn er sich freut, dann habe ich das erreicht, was ich wollte!

Nun aber kommen Peters Bemühungen in der Küche zum Tragen, wir kosten unser „Weihnachtsessen“. Naja, es gibt Spargelcremesuppe, Wiener Schnitzel und Schokopudding. Ist doch auch nicht schlecht und wir lassen es uns schmecken!

Wir sitzen nun im Wohnzimmer, hören eine Weihnachts-CD mit den altbekannten und doch immer wieder schönen alten, aber auch neueren Weihnachtsliedern. Aber als jetzt das „Feliz Navidad“ mit Semino Rossi erklingt, da gibt es mir doch einen Stich und erinnere mich schmerzhaft an den Heiligen Abend vor einem Jahr. Schon sammeln sich Tränen in meinen Augen. Aber Peter, der das bemerkt haben muss, nimmt meine Hand und drückt sie fest. Nein, nicht zurückdenken, nach vorne schauen. Peter sitzt neben mir und er braucht meine Hilfe.

Da fällt mir ein, dass ich meine Eltern anrufen könnte, um ihnen ein frohes Fest zu wünschen. Bisher habe ich ja auch das abgelehnt, weil es doch für mich kein Weihnachten mehr gab. Meine Eltern sind ja auch alleine und sorgen sich um mich.

Wie freuen sie sich, als sie mich nun hören und dass es mir soweit gut geht. Eine größere Weihnachtsfreude hätte ich ihnen gar nicht bereiten können. Und so sage ich ihnen auch zu, dass ich die Einladung zum morgigen Weihnachtsessen gerne annehme und dass ich eventuell einen Gast mitbringen werde, was ihnen nur recht ist.

„So gibt es für uns doch auch noch ein Weihnachten!“ so die Aussage meiner Mutter. Und mir wird damit erst so recht bewusst, was ich mit meiner Weihnachtsmuffelei angerichtet habe.

Auch die Eltern von Alex rufe ich nun an und wünsche ihnen ein gesegnetes Fest und verspreche, in den nächsten Tagen vorbeizukommen. Auch sie freuen sich sehr.

Nach den Telefonaten setze ich mich wieder zu Peter, der, wie ich merke, etwas nervös wirkt und herum zappelt.

„Was ist los, Peter, warum so nervös?“

„Ach, ich überlege schon die ganze Zeit, ob ich nicht doch versuchen sollte, meine Eltern anzurufen, was meinst du?“

Ich bin doch etwas überrascht, weiß ich doch um das ungute Verhältnis zu seinen Eltern, schon gar nach seinem Outing. Freilich ganz abgebrochen ist der Kontakt nie, telefoniert hat er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern ab und zu.

Und Peter ruft tatsächlich bei den Eltern an. Dazu ist er aber aus dem Wohnzimmer gegangen, er will alleine sein, was ich nur zu gut verstehen kann.

Das Gespräch dauert ziemlich lange, ist das ein gutes Zeichen?

Endlich nach zwanzig Minuten kehrt er zu mir zurück, mit verweinten Augen, aber doch freudigem Gesichtsausdruck, wie mir scheint.

„Und?“ sehe ich in fragend an.

„Also erstmals soll ich dir Grüße bestellen. Ja, es war gut, dass ich angerufen habe, meine Mutter hat sich riesig gefreut, ihr schönstes Weihnachtsgeschenk ist das, hat sie gesagt. Und stell dir vor, der Vater von Andreas war bei meinen Eltern und wollte sich bei ihnen über mich beschweren, weil ich seinen unschuldigen Sohn verdorben habe, wie er sich ausdrückte. Das muss noch vor dem Tod von Andreas gewesen sein, denn davon wussten sie noch gar nichts.

Jedenfalls, und jetzt halte dich fest, mein Vater hat zu mir gehalten, hat mich verteidigt und den Vater von Andreas einfach hinausgeworfen. Ich kann das immer noch nicht glauben! Mein Vater hält zu mir! Er war auch kurz am Telefon und hat gesagt, ich soll doch wieder mal nach Hause kommen und ruhig meinen Freund mitbringen, er hat doch nichts mehr dagegen. Ich bin und bleibe sein Sohn und er hat mich doch gern! Mit dem Freund meinte er natürlich Andreas, denn er wusste ja noch nicht, was ich meiner Mutter zuvor schon erzählt hatte. Ich kann das immer noch nicht fassen, grenzt das nicht an ein Wunder? Mein Vater hat nichts gegen einen Freund!“

„Ja Peter, es ist Weihnachten, da geschehen manchmal Dinge, die vorher unvorstellbar waren. Weihnachtswunder gibt es immer mal, man muss nur daran glauben und sie sehen!“

Peter erzählt mir dann noch so einiges von Andreas und ihren gemeinsam Plänen. So hatten sie sich für das nächste Jahr fest vorgenommen, gemeinsam Urlaub zu machen, nach Gran Canaria wollten sie fliegen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Peter von unseren Plänen, also von Alex und mir, wusste, im letzten Jahr dem heimatlichen Winter gegen den südlichen Frühling zu tauschen.

„Aber wer weiß, ob wir es je geschafft hätten, kostet ja doch eine Stange Geld“, argumentiert ein trauriger Peter.

„Weißt du Peter, wenn man sich etwas ganz fest vornimmt und dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, dann klappt es auch!“

„Was willst du damit sagen?“

„Ganz einfach, was ist, wenn wir für Gran Canaria sparen? Und dann vielleicht im nächsten Jahr um diese Zeit dort unten sind?“

Ich weiß nicht, ob es richtig ist, Peter Hoffnungen zu machen, die dann nicht erfüllt werden können. Aber andererseits, wenn wir es beide wollen?

„Du würdest mir mir…?“

„Ja Peter, ich würde sehr gerne mit dir…Lass es einfach auf uns zukommen. Wir wissen beide nicht, was uns das kommende Jahr alles beschert. Aber wer weiß, vielleicht klappt es ja doch!“

Und um schon mal ein spanisches Zeichen zu setzen lege ich nochmals die Weihnachts-CD auf und wir lauschen und summen leise die Melodie mit:

„Feliz Navidad!

Feliz Navidad!

Feliz Navidad!

Prospero ano y felizidad!“

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