Viele Aspekte dieser Geschichte sind NICHT frei erfunden. Ich habe mich jedoch bemüht, alles so zu verfremden, dass niemand Angst haben muss, ins Rampenlicht gezerrt zu werden. 😉
Die vorliegende Kurzgeschichte ist mein zweiter Versuch, etwas zu Papier zu bringen. Über Rückmeldungen freue ich mich immer sehr.
1. Micha – Erinnerungen I
„Es fährt ein … der ICE 581 … von Hamburg nach München … über Fulda, Würzburg, Nürnberg, Ingolstadt … der nächste Halt ist Göttingen … bitte Vorsicht bei der Einfahrt …“ erschall es blechern und gelangweilt aus den dröhnenden Lautsprechern. Hier stand ich nun in Hannover auf dem Bahnhof, die Kälte kroch mir in die Knochen, trotz meiner hochgeschlossenen Daunenjacke fror ich erbärmlich. Der Zug hatte Verspätung, wie sollte es auch anders sein. Es war mindestens zehn Grad unter Null, also allemal 20 Grad zu kalt für meinen Geschmack. Den Winter habe ich noch nie gemocht.
Ich zuckte zusammen, schnappte schnell meinen Rucksack und sprintete in den Zug. Mein Gott, wo war ich nur wieder mit meinen Gedanken? Fast hätte ich den ICE nun noch verpasst. Immer wieder musste ich an Enrico denken, den ich nun besuchen würde. Wir hatten uns im Internet in einem Chat einer schwulen Community kennen gelernt und waren uns von Anfang an zugetan. Von „Liebe auf den ersten Blick“ kann man in einer virtuellen Umgebung sicher nicht sprechen, aber „Sympathie auf das erste Wort“ träfe es schon recht gut. Ich war ganz vernarrt in Enrico und ich glaube, ein wenig ging es ihm auch so, was mich betraf. Beide dachten wir recht bald an ein Treffen, um unserem Umgang miteinander ein besseres Fundament zu verschaffen und vor allem, damit man weiß, woran man ist. Bilder hatten wir bereits ausgetauscht und Enrico hatte sich auch schon ziemlich freizügig vor seiner Webcam gezeigt. Ich musste schmunzeln. Enrico war ein ganz lieber Mensch, selten habe ich jemanden getroffen, der so sensitiv, emotional und romantisch sein kann. Dieser Kerl war ein Sommersturm, warm, belebend, von einer unglaublichen Vitalität und Wucht.
Klar gefiel mir, was ich sah. Schon das Foto ließ mich schlucken. Schwarze Haare, ein sehr schönes Gesicht, unheimlich männlich, mit feurigen strahlenden blauen Augen. Man sah ihm seine 33 Jahre wahrlich nicht an. Es war seine Idee, die Webcam zu starten, obwohl ich selbst keine besaß. Er lachte mich an und saß dort, soweit ich sehen konnte, nackt. Interessanter Weise hatte das gar nichts Billiges an sich. Enrico hatte eine völlig natürliche erotische Ausstrahlung, und obwohl man sich unheimlich gut mit ihm über die anspruchsvollsten Themen unterhalten konnte, hatte er mitunter etwas Schalkhaftes, ja absolut Jugendliches und Ungestümes an sich bewahrt, irgendwie liebte ich ihn schon jetzt dafür. Zugegeben, er schickte mir auch ein Bild von seinem besten Stück, erigiert, da dachte ich, mir bleibt die Spucke weg, so appetitlich sah das Bild aus, mir brach sogleich der Schweiß aus. Das war einfach Enrico, unkompliziert, offen, liebevoll, ein bisschen verrückt, und man konnte ihm nichts übel nehmen. Ansonsten blieb der Ausflug vor der Webcam gesittet und brav.
Wenn ich uns beide verglich, musste ich unweigerlich lächeln. Wir waren schon so ein Paar! Er, 193 cm groß, kräftig gebaut – und auf der anderen Seite ich, 172cm klein, fast ein wenig schmächtige Statur, passte das? Schwarze Haare hatte ich auch wie er, aber dunkelbraune Augen. Meine Figur war gar nicht so übel, eigentlich kam ich immer gut an, wo mir daran gelegen war, aber im Vergleich zu ihm war ich schlicht und einfach eine halbe Portion. Jedoch versuchte ich diese Gedanken bald zu verdrängen, erstens kamen sie verfrüht, außerdem waren sie im Prinzip überflüssig, denn wenn wir uns ineinander verlieben sollten, würde es keine Rolle spielen, da war ich mir sicher. Und für eine Freundschaft war es sowieso gleichgültig.
Schweigend sah ich aus dem Fenster. Zum Glück hatte ich einen Zweiersitzplatz für mich allein ergattert. So konnte ich mich ungehindert meinen Gedanken hingeben und starrte ins graue trübe Wetter.
Vor 11 Jahren hatte ich meinen ersten schwulen Sex, ich war 20 Jahre alt, er war ein Jahr älter und hieß ebenso wie ich Michael, allerdings nannte ich mich schon immer bloss Micha. Michael studierte in Bielefeld Chemie, kam aber wie ich aus Hannover. Über eine Freundin von mir hatten wir uns kennengelernt:
„Endlich eine eigene Wohnung!“ jubelte ich und ließ mich in den Sessel fallen.
„Stimmt, und eine schöne noch dazu, obwohl sie ja nicht mal besonders groß ist“ kam es von Nicole.
„Ach, das ist mir gar nicht so wichtig, Hauptsache, endlich den Eltern entkommen…“ grinste ich frech.
„Ja, ja, dann kann das Leben jetzt richtig losgehen“ sagte Nicole und musste lachen.
„Vor allem, jetzt kann ich endlich mal nen Kerl suchen, ich muss nix mehr verstecken.“
Das freute mich in der Tat riesig. Ich gebe zu, aus Feigheit hatte ich – aber auch einfach um Konflikte zu vermeiden – das Thema Homosexualität bisher in meinem Leben ausgeblendet. Und es war mir klar, wenn ich nun alleine wohne, dann kann ich endlich anfangen zu leben. Ich weiß, ich bin ein Spätzünder. Aber besser mit 20 Jahren als gar nicht mehr.
Nicole grinste mich verschlagen an und meinte bloss: „Na dann mal los…“
Ein Schatten verdunkelte mein Gesicht.
„Nicole, bloss wo soll ich einen Typen für mich finden? Du weißt, dass ich ziemlich schüchtern bin und noch gar keine Erfahrungen auf dem Gebiet habe. Es war schon eine Überwindung, Dir überhaupt zu erzählen, dass ich schwul bin.“
Traurig senkte ich mein Gesicht, denn ich wusste wirklich nicht, wie ich meinen inneren Sehnsüchten und Bedürfnissen zur Erfüllung verhelfen konnte.
„Hihi, ich hätte da eine Idee, es käme auf einen Versuch an“ kam es geheimnisvoll von Nicole.
Ich schaute auf und mein Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
„Nun guck nicht so, Micha! Ich mach doch jetzt noch meine zweite Ausbildung zur Industriekauffrau und ich erzählte dir bereits von Torben. Ich verstehe mich super mit ihm und wir haben uns schon oft unterhalten. Er hat einen schwulen Freund, der heißt – wie du – Michael, und studiert Chemie in Bielefeld. Einmal hab ich ihn auch schon gesehen, er war gerade bei Torben, als ich vorbeikam…“
Nicole fing an, diabolisch zu grinsen.
„Und er ist ein Schnuckel, der wäre was für dich, Micha.“
Mein Gesicht verfärbte sich zu einem tiefen Rot.
„Scherzkeks!“
Mehr brachte ich nicht hervor, aber der Gedanke gefiel mir ziemlich gut, denn die Aussicht darauf, einen schwulen jungen Mann zu treffen, löste bereits einen Aufstand in meiner Hose aus. Wie lange hatte ich darauf gewartet!
„Er ist ein Jahr älter als du, Micha, das passt sehr gut und du hattest selbst Chemie Leistungskurs, das verbindet euch schon mal. … Pass auf, ich hab eine Idee, ich hab doch in drei Wochen Geburtstag. Ich werde Torben UND auch Michael einladen und so könnt ihr euch mal beschnuppern, was hältst du davon?“
„Ihre Fahrkarte bitte“, wurde ich unsanft aus meinen Tagträumen gerissen.
Vermutlich hatte der Schaffner schon einmal gefragt, denn er machte ein ziemlich griesgrämiges Gesicht und schaute mich missbilligend an. Seufzend kramte ich meinen Geldbeutel hervor und reichte dem Schaffner schweigend meine Bahncard und die Fahrkarte.
Die Party von Nicole war ein voller Erfolg. Die Stimmung war einfach großartig und auch mit Michael kam ich ins Gespräch. Ich glaube, ein wenig schüchtern waren wir erst beide und das Thema Schwulsein wurde nicht berührt. Aber wir verabredeten uns für das kommende Wochenende. Er wollte mich besuchen. Jeden Tag hatten wir dann telefoniert und uns auch ein wenig über unsere Homosexualität ausgetauscht. Er hatte schon mehrere Kontakte zu Jungs gehabt und auch eine feste Beziehung, die allerdings nur vier Monate angedauert hatte. Je näher der Freitagabend heranrückte, desto nervöser wurde ich. Wir hatten uns vorgenommen, uns Zeit zu nehmen, um uns kennen zu lernen. So wollten wir nicht ausgehen, sondern bei mir zu Hause bleiben, uns eine Pizza bestellen, und es uns dann gemütlich machen. Dafür hatte ich Rotwein und einige Knabbersachen besorgt.
Es klingelte. Ich drückte den Summer, die Spannung stieg, mein Herz klopfte. Nach einigen Sekunden hörte ich Schritte auf dem Flur und mein Herz schlug bis zum Hals. Dann stand er vor mir, Michael, mit einem Lächeln, kurzgeschorene braune Haare, grünblaue leuchtende Augen, ungefähr 185 cm groß, sportlich schlank, enges weißes T-Shirt, blaue Jeans, schwarze Caterpillars.
„Hi …“ kam es von mir und ich strahlte Michael an.
„Hallo Micha!“
Mann, war dieses Lächeln süß, ich hatte mich jetzt schon in diesen jungen Mann verguckt. Sicher, ich sehnte mich nach schwulen Erfahrungen, nach Liebe und Zuneigung, nach Nähe und Zärtlichkeit, ich dürstete geradezu danach, und doch war es aufrichtige Sympathie und Zuneigung, die mich mit Michael bereits jetzt verband.
„Komm doch erst mal rein, Michael. Ich freu mich riesig, dass du da bist“ und wurde sogleich rot, weil ich es nun wirklich nicht gewöhnt war, anderen Jungs Komplimente zu machen.
„Ich freu mich auch, mein Kleiner“, sagte er und nahm mich in den Arm.
Die Umarmung von Michael war einfach umwerfend, warm und zärtlich. Meinerseits umschlang ich ihn, ich hätte platzen können vor Glück … und bekam gleich einen Steifen. Natürlich war mir das sehr peinlich und ich hoffte inständig, Michael würde meine ausgebeulte Hose nicht gleich bemerken. Nein, ich übertreibe übrigens nicht. Wer seit sieben Jahren danach hungert, einen Mann im Arm zu halten und von ihm liebkost zu werden, mit ihm versaute Sachen zu machen, aber dann doch bloss von Wunschträumen leben muss, dem ergeht es so! Damals hatte ich noch keinen Internetanschluss und mein Elternhaus war recht streng, der einzige Ort, wo ich mich austobte, war in meinem Herzen.
Keiner von uns beiden ließ den anderen los und so kuschelten wir uns aneinander. Das Eis war spätestens hier gebrochen. Schließlich lösten wir uns mit einem Lachen voneinander.
„Wir haben ja noch den ganzen Abend lang Zeit.“
Daraufhin grinste mich Michael verschlagen an. Ich sah ein Funkeln in seinen Augen und mir wurde ganz heiß vor Glück.
Der ICE schoss wie ein Pfeil über die Hochgeschwindigkeitsstrecke. Gleich würden wir in Göttingen halten. Ich kramte in meinem Rucksack nach der Flasche Wasser und löschte den gröbsten Durst. Seit Tagen dieses trübe Wetter, grau in grau, Regen, Nebel, etwas Schnee, und diese Kälte. Regelrecht bedrückend wirkte das auf mich, ich weiß nicht wirklich warum. Wieder schaute ich auf die Landschaft draußen, die an mir vorbeiflog.
Michael hatte eine Pizza Salami bestellt, ich eine Hawaii. Bei Da Rocco gab es einfach die beste Pizza in der ganzen Umgebung. Zufrieden rieben wir uns die Bäuche und ich goss uns beiden Rotwein nach. Wir hatten viel gelacht und die Stimmung war harmonisch und froh.
„Komm, wir nehmen unseren Wein mit und machen es uns auf dem Sofa gemütlich, was hältst du davon?“ fragte ich und war bereits in Gedanken damit beschäftigt, diesen süßen Kerl zu knuddeln.
„Gern“, antwortete Michael mit einem Lächeln und schon sprang er auf und setzte sich ins Sofa, mich erwartungsvoll und einladend anschauend.
„Moment, ich hole noch etwas Knabberkram, nicht weglaufen“ ließ ich verlauten und zwinkerte ihm zu.
War das schön, mich neben ihn zu setzen und meinen Arm um ihn zu legen. Schließlich kuschelten wir uns gemütlich aneinander und begannen, über Gott und die Welt zu reden. Wir erzählten uns unser ganzes Leben, was uns bewegt, was für Sehnsüchte wir haben.
Irgendwann nach Stunden wurden unsere Gespräche stiller und wir schauten uns immer wieder tief in die Augen. Michael wuschelte mir zärtlich durch die Haare und ich streichelte ihm über den Nacken und seinen Oberkörper. Zu gern hätte ich meine Hand unter sein T-Shirt geschoben. Aber ich traute mir nicht recht, es ihm aus der Hose zu ziehen.
„Michael, so einen Freund wie dich hätte ich gern!“
War ich völlig übergeschnappt? Was redete ich da für ein dummes Zeug? Prompt errötete ich und senkte meinen Blick.
„Hey Micha, lass doch, ist alles ok, musst nicht rot werden.“
Michael lachte, aber es war kein Lachen, welches sich über wen lustig macht, sondern es war ein freundliches warmes Lachen.
Er fuhr fort: „Ich meine … , es geht jetzt sehr schnell, wir haben fünf- oder sechsmal miteinander telefoniert und wir treffen uns den ersten Abend zu zweit … , aber nun ja, was solls, ich muss sagen, ich hab mich schon etwas in dich verknallt, ich find dich super niedlich, und was spricht eigentlich dagegen? Lass uns doch ein bisschen verrückt sein und einfach zusammen sein. Ich hätte wirklich Lust dazu, es miteinander zu probieren.“
Wieder bemerkte ich dieses Funkeln in seinen Augen und ich konnte nicht anders und fing an zu strahlen wie eine Leuchtkugel, denn der Gedanke gefiel mir sehr.
„Mmmh, wenn wir zusammen sind, dann darf ich dich sicher auch küssen“ erwiderte ich keck und schon beugte ich mich zu ihm und küsste ihn sehr zärtlich auf den Mund.
Ich spürte Michaels warmen und weichen Lippen, es war einfach unglaublich. Michael öffnete leicht seinen Mund und schon schlängelte er seine Zunge zu der meinen und wir küssten uns leidenschaftlich.