Diese Geschichte und die darin handelnden Personen sind ein Produkt meiner Phantasie, wobei nicht auszuschließen ist, dass ähnliche als die darin beschriebenen Handlungen bereits passiert sind, oder sich künftig so zutragen werden. Eine Haftung dafür übernehme ich nicht.
28. August 2030, Mittwoch, Bilbao
Man, ist mir schlecht und dringend pinkeln muss ich auch. Dass ich statt in meinem Bett neben Nico auf der Matratze liege, wie ich im morgendlichen Dämmerlicht schon beim Erwachen mit einiger Mühe erkannt habe, ist momentan unerheblich und nicht mal unangenehm.
Denn normalerweise werde ich um diese Zeit bereits vom dröhnenden Straßenverkehr regelrecht genervt, aber hier ist außer den ruhigen Atemgeräuschen der anderen Bewohner und dem leichten Vogelgezwitscher, welches durch das weit offen stehende Fenster vom Garten hereindringt, nichts weiter zu hören, was ich wirklich als sehr wohltuend empfinde. Auch das Liegen auf der bloßen Matratze erweist sich eher als erholsam statt unkomfortabel.
Keine Ahnung, wann ich mich hingepackt habe, wie ich hier überhaupt hochgekommen bin, aber dass ich es mitten in der Nacht noch ins Hotel geschafft hätte, wäre bei meiner Müdigkeit und dem reichlichen Alkoholpegel eher unwahrscheinlich gewesen. Sicher wäre ich geradewegs mitten durch den Fluss marschiert und hätte das Wasser, welches mir reichlich in den Hals hinein gelaufen wäre, mit Rotwein verwechselt…
Dann werde ich mal versuchen, den Leuten nicht irgendwo hin zu treten und sie nicht aufzuwecken, was aber in der Enge der umher liegenden schlafenden Körper für mich als Gast eher schwierig ist. Jetzt nur schnellstens die Treppe hinunter, ohne Krach zu machen.
*-*-*
Hier draußen schon so früh am Morgen auf den Eingangsstufen zu sitzen, ist wirklich herrlich. Im Zimmer ist es trotz offenen Fensters sehr heiß, was bei der Augusthitze unterm Pappdach auch nicht verwunderlich ist, während es hier angenehm frisch ist.
Wie spät ist es eigentlich? Jedenfalls sind die Fenster der Mietshäuser, die den großen, als Gartenlandschaft gestalteten Innenhof umgeben, zumeist noch unbeleuchtet und auf der oberen Etage ist es still.
Die Leute gestern Abend kennenzulernen, war für mich echt ein Gewinn. Gut zu wissen, dass es noch echte Leistungsträger mit Anstand, Ehre und viel Geld gibt, die anstatt dieses zu verzocken, es viel lieber in die Ausbildung der Jugend und in Kultur investieren, und zwar vorzugsweise in solche jungen Menschen, die zwar die allerbesten Fähigkeiten für ein Studium vorweisen können, aber aus Geldmangel und wegen ihres eher problematischen Elternhauses bisher nicht mal davon zu träumen wagten!
Und ich? Was die Leute von der Musikschule wohl zu Dienstbeginn sagen werden, wenn sie erfahren, dass gewisse Sponsoren es ausdrücklich erwünschen, dass ich als hauptamtlicher Mitarbeiter in der Musikschule für den Bereich des Tonstudios eingestellt werde, als zukünftiger Toningenieur! Rückwirkende Bezahlung vom Ersten des laufenden Monats an und monatliches Gehalt, inklusive.
Allerdings mit der Auflage, mich weiterhin um meine Qualifizierung erfolgreich zu bemühen, einschließlich eines längeren Praktikums beim hiesigen staatlichen Rundfunksender. Wird wohl auf ein längeres Fernstudium hinauslaufen.
Mein Handy hat nun bestimmt ebenso viele Rufnummern gespeichert wie Fabio seins, und ich habe die Chance, falls ich die mir auferlegte Bewährungsprobe im Tonstudio bestehe, später mal diesem Netzwerk von wirklich wichtigen Leuten im Ort anzugehören.
Wenn ich das meinem Vater erzähle… Aber den rufe ich momentan lieber gar nicht erst an, denn wenn der das mit Fabio erfährt, wird er sich nur extrem aufregen, so wie ich den kenne…
Große Pläne bedürfen eines ausgeruhten Körpers. Ich lege mich lieber noch ein wenig hin.
*-*-*
„Manuel. Manu, ahhh.“ Da stört mich einer im Schlaf. Kerl, zuck hier nicht rum und schlafe noch ’ne Runde, ich bin von morgendlicher Gesprächsbereitschaft weit entfernt.
„Oh, Manuel…“
Nico redet mit mir. „Ja, Nico, was ist los?“
Keine Antwort, aber sein Seufzen und Atemtempo nimmt zu.
Jetzt bekomme ich es mit, der träumt – von mir! … Schade, dass ich seine Gedanken nicht lesen kann, denn ich wüsste nur zu gern, auf welche Weise er es gerade mit mir treibt. Ist der etwa wirklich in mich verknallt oder einfach nur geil.
Noch ein ganz tiefer Seufzer, dann wird sein Atmen merklich ruhiger.
„Äh, Mist, Scheiße.“ Irgendetwas scheint ihn nun zu stören. Sich vorsichtig aufrichtend, schlängelt er sich zwischen den herumliegenden „schlafenden“ Leibern durch. Die Treppe danach leise runter tapsend, kann man leises Plätschern im Bad vernehmen.
„Typisch Nico“, tönt es aus der Ecke, „der ist so etwas von notgeil. Wer den mal abbekommt, wird sich dran gewöhnen müssen, dass Nico den lieben langen Tag nur vögeln will.
Du bist Manuel, vermute ich mal. Wir haben uns bei dem Wuhling am Abend noch gar nicht kennenlernen können. Ich habe nicht mal eine Ahnung, wie du überhaupt aussiehst.
Ich kann jetzt nicht mehr schlafen. Und du, kommst du mit nach unten?“
„Ja, Manuel ist ok. Und wer bist du eigentlich, ich konnte mir so schnell die ganzen Leute und deren Namen nicht merken. Moment, höre dir gleich wieder zu, ich muss nur schnell noch pinkeln.“
– – –
Wo steckt der Kerl, wo bedeutet bei ihm unten? Vor der Tür ist er jedenfalls nicht.
„Manuel, ich sitze auf der Parkbank unterm Apfelbaum. Komm schon her.“
„Guten Morgen, erstmal. Also ich bin Manuel, und du?“
„Krzysztof Cugowski, vorn Krzysztof, hinten Cugowski, ist doch ganz einfach.“
„Was, wie heißt du? Kannst du das noch mal wiederholen.“
„Ach, Manu, mit seinem Namen versucht er doch alle nur zu ärgern. Mache keine Ausnahme und nenne ihn einfach Chris, wie wir alle hier. Setz dich zu uns.“ Nico ist gekommen.
Setzen will ich mich noch nicht, denn diesen Chris möchte ich mir vorher genau ansehen und beschnuppern. Einen ziemlich festen Händedruck hat er.
Ich sehe schon, das ist ein ganz anderer Typ: Etwa meine Größe, vollkommen unschlank, mit gut gepolsterten Körper und kleinem Bauchansatz und etwas vorstehenden Nabel. Und schulterlanges, braunes Haare mit Mittelscheitel hat er, das ein ovales Gesicht mit weichen runden Formen umrahmt.
Hell-graue wache Augen, eine niedliche Nase und ein schön geformter Mund mit vollen Lippen zeichnen ihn aus. Und schwächlich scheint er auch nicht gerade zu sein.
Typ Wonneproppen und mit sich und der Welt vollkommen im Reinen. ‚Dass Lust schon vollkommen sein kann, wenn man etwas Schönes erblickt, und das ganz ohne Sex‘, dieses Zitat fällt mir gerade ein und das passt perfekt.
Während ich im Bestaunen der üppig ausfallenden Schönheit meiner neuen Bekanntschaft vertieft bin, fällt mir plötzlich ein großer Apfel direkt vor die Füße, dabei dicht an meiner Nase vorbei rauschend. Der sieht richtig lecker aus, denke ich, aber als ich ihn aufhebe und schon reinbeißen will, bemerke ich auf der zu mir gerichteten Seite ein Wurmloch. Auf der anderen Seite dagegen wirkt er sehr appetitlich und zeigt eine kräftige Rotfärbung.
Gern überlasse ich den Apfel Nico, dessen gierigen Blick aufs Rot von mir nicht unbemerkt bleibt. Ich ziehe es vor, mich neben Chris zu setzen.
„Übrigens, Manuel, was hast du über Nacht nur für einen Scheiß geträumt. Von wegen: ‚Fabio, liebst du mich noch‘ und ‚bin ich dir überhaupt gut genug.‘
Man, mache dich nur nicht verrückt, wenn der überhaupt einen liebt, dann nur dich!“
Ich was geträumt, kann mich gar nicht daran erinnern, „Ja, Nico, wer von uns wohl geträumt hat…“
Chris steigt mit ein. Unsere gemeinsame Betrachtung ist auf die Vorderseite von Nicos hellgrauer Unterhose gerichtet. Der Ort ist gut markiert.
„Oh, mein lieber Nico, was ist denn das da unten, was kann das nur sein…“, spottet Chris.
„Ach, hört schon auf. Das kann in unserem Alter schon mal passieren, ist doch vollkommen normal. Noch dazu, wenn überall im Zimmer solche superhübschen Jungs neben einen auf der Matte liegen.“
„Hast recht, Nico, ist mir auch schon oft passiert.“
„Und mir auch.“
„Seht ihr. Sagt mal, wo ist denn eigentlich unser Mitbewohner Antonio abgeblieben?“, fragt Nico.
Wer soll denn das sein, wohnen hier etwa noch mehr Leute.
„Antonio hat am Abend gleich wieder Anschluss gefunden und ist am Ende der Party mit einem Typen weg. Mit dem von der Polizei“, entgegnet Chris.
„Ach, Manuel, den kennt du ja noch gar nicht. Antonio ist unser Beziehungsweltmeister. Redet wenig, handelt viel. Seine Liebschaften dauern für gewöhnlich nie lange, du wirst ihn darum schon bald wieder hier antreffen und kennenlernen können.“
„Nico und Chris, ich habe ein großes Anliegen. Schade, dass Antonio sich dazu nicht äußern kann, aber am Abend wurde schon mal kurz erwähnt, dass ich mich hier einquartieren könnte.“
„Also, von mir aus sehr gerne. Du bist Fabios Freund und ein wirklich dufter Kumpel, da ist das doch naheliegend. Außerdem ist es hier ziemlich preiswert und zum ungestörten Lernen ist der große Garten wirklich ideal. Am besten, du gehst nachher gleich mal zum Vermieter rüber; natürlich erst, wenn der aufgestanden ist.
Aber alles fließt und ändert sich fortlaufend. Ich muss mich wohl nach einem neuen Studienort umsehen, so wie es derzeit aussieht. Keine Ahnung, wie lange ich noch hier wohnen werde“, meint Nico ganz im Gedanken.
„Also ich finde dich sehr sympathisch und würde mich sehr freuen, wenn du einziehen würdest. Soviel schnuckelige Typen, wie wir dann sind, das ist ja wie bei Tausend und eine Nacht und ruft nach einer geilen Begrüßungsparty!
Herzlich Willkommen im Club, sag ich nur.
Und bezüglich meiner Zukunft gilt vom Prinzip das Gleiche wie bei Nico. Ich finde aber, dass es besser ist, erst mal nichts zu überstürzen und zu schauen, wie sich die Lage entwickelt.
Und was machst du jetzt ohne deine Uni, Manuel?“
„Ich arbeite schon seit dem 1. dieses Monats bei der Musikschule als Tontechniker, habe ich am Abend so nebenbei erfahren. Fest angestellt in einer Vollzeitstelle.“
„Hoch soll er leben, hoch soll er leben, drei mal hoch! Hoch soll er leben, hoch soll er leben, drei mal hoch! Hoch soll er leben, hoch soll er leben, drei mal hoch!“, singen meine beiden Mitbewohner im Chor.
„Verdammt, ihr Wichser! Könnt ihr nicht wenigstens bis zum Aufstehen noch etwas ruhig sein, ihr weckt noch meine Kinder auf!“, ruft jemand sehr ärgerlich vom Wohnblock direkt gegenüber.
„Wir bitten vielmals um Entschuldigung, aber der Herr hier hat eine gut bezahlte Vollzeitstelle bekommen und uns das eben gerade mitgeteilt.“
„Was? … Wartet. Ich komme runter und bringe was zum Anstoßen mit.“
Geht das nun schon wieder los…
*-*-*
Nico und Chris sind bereits weg zum Jobben und auch der Mieter von Gegenüber ist stark schwankend in Richtung seiner Wohnung abgezogen.
Ich habe diesmal aufgepasst und immer nur am Glas genippt; ich muss ja nicht gleich am ersten Tag unangenehm auffallen…
Am Morgen steht erstmal mein Umzug an. So, Manu, das Fahrrad gesattelt und los geht’s, das wird ein ganz besonderer Tag!
Unterwegs kommt mir immer wieder der Spruch von diesem Mieter in den Sinn: ‚Wer am meisten liebt, ist der Unterlege und muss leiden. Siehe dich vor, Manuel.‘ Was soll das bedeuten… Komischer Typ.
*-*-*
„Einen wunderschönen guten Morgen!
Moment, ihren Zimmerschlüssel bekommen Sie sofort, aber da ist noch ein Zettel für sie in ihrem Fach. Gestern Abend hat ein junger Mann mehrfach nach ihnen gefragt, aber sie waren wohl unterwegs.
Bitteschön, der Herr.“
Mit zittrigen Händen falte ich das A4-Blatt auseinander:
Lieber Manu,
ich hatte so sehr gehofft, Dich anzutreffen. Ich brauche dringend Deine Hilfe!
Du findest mich im Park Parque Ituriza in der Nähe der weißen Engelsfigur an dessen Westseite, Doña Casilda genannt. Dort werde ich Dir alles erklären.
Komme bitte alleine und erzähle keinem was!
Bitte bringe mein Geld und auch die Ausweispapiere mit. Und eine große Pizza wäre auch schön.
Ich vermisse dich so sehr!
In Liebe, Dein Fabio