It’s raining – Teil 2

„Robert, wag es nicht, den Jungen zu berühren. Jahrelang hast du uns einfach vergessen, dich einen Dreck um uns geschert“, fuhr Mum diesen für mich mittlerweile Fremden an.

„Um nichts hast du dich gekümmert, uns ohne Geld zurück gelassen, wieder geheiratet und jetzt, wo dein Sohn geerbt hat, stehst du wieder auf der Matte. Deinen Bruder als Mörder zu bezeichnen, ihn links liegen zu lassen…, das ist wahrlich deine Stärke.“

Mein Erzeuger wurde blass.

„Geh dahin, wo du her gekommen bist und lass dich hier nie wieder blicken…“, erhob Mum noch einmal ihre Stimme.

„Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt…“, kam es nur verächtlich zurück, bevor der Angesprochene aus dem Zimmer stürmte und Sekunden später die Wohnungstür knallen ließ.

„Den wären wir erst mal los“, meinte Mum seufzend und ließ sich zu mir aufs Bett fallen.

„Hast du die Nummer von diesem Harrigton irgendwo in der Nähe?“, fragte ich.

„Ja, wieso?“

„Wirst du gleich hören.“

Schon einen Moment später kam Mum mit einem Zettel zurück und gab ihn mir.

„Was willst du denn mit der Nummer?“

„Gleich…“

Ich tippte die Nummer ein und wartete auf eine Verbindung.

„Kanzlei Harrigton, Sie sprechen mit Misses Machning, was kann ich für Sie tun?“

„Hallo Misses Machning, hier spricht Tassilo Melright, wäre es möglich, Mister Harrigton zu sprechen?“

„Einen Augenblick, ich verbinde.“

„Danke…“

Eine grässliche Musik fing an zu spielen, die aber gleich wieder unterbrochen wurde.

„Harrigton.“

„Hallo Mister Harrigton, hier spricht Tassilo.“

„Hallo Tassilo, wie geht es dir?“

„Im Augenblick liege ich im Bett mit einer Magengeschichte, ist aber schon besser.“

„Dann wünsch ich dir mal gute Besserung, aber darf ich fragen, warum du anrufst?“

„Mein… Erzeuger war eben hier und hat meiner Mum und mir gedroht, wegen meiner Erbschaft.“

„So etwas habe ich mir fast schon gedacht. Das tut mir sehr leid, Tassilo.“

„Meine Frage…, gibt es eine Möglichkeit, dass er uns nicht mehr aufsuchen darf?“

„Klar Tassilo, das kann ich sogar in die Wege leiten.“

„Das wäre nett. Muss meine Mutter vorbei kommen und irgendetwas unterschreiben?“

„Nein Tassilo, das geht auch so.“

„Danke, Mister Harrigton.“

„Nichts zu danken, Tassilo, das mach ich doch gerne für dich.“

Ich lächelte.

„Ich wünsche noch einen schönen Tag.“

„Dir auch, Tassilo und werde wieder gesund!“

„Ja, versprochen. Bye.“

„Bye.“

Ich drückte das Gespräch weg und legte das Telefon zur Seite.

„Du überrascht mich immer wieder“, sagte Mum.

Ich versuchte zu lächeln, aber die fiesen Zwerge in meinem Körper meinten, sie müssten eine erneute Attacke auf meinen Magen starten. Es krampfte und tat weh.

„Hast du Schmerzen?“, fragte Mum besorgt.

Ich nickte.

„Es tut mir so Leid, Tassilo. Aber der Hass gegen deinen Vater ist nicht gerade gut für dich.“

„Mum ich hasse ihn nicht…, wie kann ich etwas hassen, was ich nicht kenne. Für mich ist das ein Fremder. Es tat weh, als er uns alleine ließ und es tut jetzt weh, daran erinnert zu werden.“

Ich wollte noch mehr sagen, aber ich spürte die Übelkeit in mir aufsteigen. Ich kämpfte mich aus meiner Bettdecke.

„Was ist?“, fragte Mum.

„Mir ist so schlecht.“

Ich taumelte ins Bad und schaffte es gerade noch zur Toilettenschüssel, an der ich mir die Seele aus dem Leib kotzte.

„Mein Gott, Tassilo“, hörte ich sie rufen, „ich rufe Lewis an, so kann das doch nicht weiter gehen.“

Ich weiß, nicht wie lange ich vor mich hingedämmert hatte, doch plötzlich spürte ich, dass ich hoch gehoben wurde. Ich nahm meine Umgebung nur schemenhaft wahr und irgendwann wurde alles dunkel.

*-*-*

Billy

Ich hatte mir Putzmittel von Mum geholt und rieb die zwei Möbelstücke nochmals ab, denn auf dem Weg nach oben waren sie wieder dreckig geworden. Mittlerweile fand ich die Möbel sogar cool, sie passten gut ins Zimmer.

Als sie endlich am richtigen Platz standen und sämtlicher Schmutz entfernt war, schaute ich mich noch einmal in meinem Zimmer um. „Wenn ich jetzt noch ein paar Bilder aufhängen würde…“, ich musste grinsen.

Eigentlich war ich nur in den Keller gegangen, um mir Nägel zu besorgen. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und überlegte, wo ich mit den Sachen aus den restlichen Kartons hin sollte. Ein Regal fehlte eindeutig und auch etwas für meine CD Sammlung, die jetzt mehr oder weniger die Fensterbank blockierte.

Es half nichts, wenn ich das Zimmer einigermaßen wohnlich aussehen lassen wollte, musste ich weiter machen. So machte ich mich noch einmal auf den Weg nach unten. Auf halber Strecke traf ich Dad, der gerade aus der Küche kam.

„Billy, hast du kurz Zeit?“

„Ja, klar. Was steht an?“

„Kommst du kurz mit nach draußen? Ich wollte dir etwas zeigen.“

Ich folgte ihm also wie gewünscht nach draußen, wo er zu der großen Scheune lief und das Tor öffnete. Ich glaubte nicht, was ich da drin sah.

Vor mir stand eine waschechte Enduro.

„Deine Mutter und ich dachten, jetzt wo du so einen langen Weg in die Schule hast und es bis zur Schulbushaltestelle so weit ist, könntest du die gebrauchen.“

„Die ist wirklich für mich?“, fragte ich ungläubig.

Dad nickte.

„Sie ist zwar gebraucht, aber gut in Schuss“, erklärte Dad weiter.

„Egal, Hauptsache sie fährt.“

„Na ja, sicher sollte sie schon sein.“

„Klar, Dad, so habe ich das auch nicht gemeint.“

Ich lief sofort um das Bike herum und betrachtete es eingehend. Es war schwarz, so wie es mir gefiel, wobei der Tank von einer wunderschönen Zeichnung eines Wolfes geziert wurde.

„Bevor du aber damit fahren kannst, brauchst du noch etwas Richtiges zum Anziehen.“

„Das habt ihr auch schon besorgt?“

„Nein Billy, es soll dir ja auch passen. Wenn du Lust hast, fahren wir nach Springfield und besorgen dir eine Combi.“

„Hast du denn Zeit?“, fragte ich verwundert.

„Es ist Freitag, also Wochenende, und deine Mutter will sowieso in die Stadt.“

„Ich bin dabei“, lächelte ich.

„Dann mal los.“

*-*-*

Bisher kannte ich nur den Weg vom Flughafen zu uns nach Hause, denn groß aus dem Haus war ich nicht gekommen. Je näher wir nach Springfield kamen, umso mehr Häuser wurden es. Auf dem Highway war es ruhig und so waren wir schnell in der Innenstadt.

„Da ist deine Highschool“, sagte Dad plötzlich und zeigte auf eine Kirche.

„Das ist heftig groß…“, erwiderte ich nur.

„Hat aber auch viele Fächer im Angebot, du wirst sicher etwas Passendes finden“, meinte Mum.

„Da bin ich mir sicher.“

„Und sie bieten viel Sport an“, ergänzte Dad.

Ich grinste. Warum wollten sie mir die Schule noch schmackhaft machen, wo ich doch sowieso gezwungen war, dort hinzugehen. Dad schien sich schon gut hier auszukennen, denn wenige Minuten später hielten wir vor einem Bikershop.

Mum verabschiedete sich von uns, denn sie hatte ja noch einiges zu erledigen. Also betrat ich alleine mit Dad den Laden. Hier merkte ich, dass ich nicht mehr in England war, denn der Laden sah ganz anders aus, als ich es von meiner Heimat her gewohnt war.

Es gab eine Sitzecke mit einem Tresen, an der einige Männer saßen und Kaffee tranken. Weiter hinten erkannte ich, dass man sich hier auch Tattoos machen lassen konnte.

„Komm ja nicht auf verrückte Ideen“, hörte ich Dad neben mir sagen, der meinen Blick bemerkt hatte.

Ein langhaariger, älterer Mann kam auf uns zu.

„Kann ich helfen?“, brummelte er in seinen Vollbart.

„Mein Junior bräuchte eine Combi.“

„Was für ein Bike?“

„Enduro“, sagte ich stolz.

Tassilo

„Er kommt wieder zu sich…“

„Tassilo…, Junge, was machst du für Sachen?“, hörte ich Mum sagen.

Ich öffnete langsam die Augen. Noch etwas verschwommen nahm ich Lewis vor mir war,  Mum stand hinter ihm.

„Was… ist… los…?“, stammelte ich.

„Du warst kurz weggetreten“, sagte Lewis leise, „und ich habe dir eine Aufbauspritze verpasst.“

Ich fühlte mich elend und eklig dazu.

„Duschen…“

„Junger Mann, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, du wirst dich sicher nicht auf den Füßen halten können.“

„Es klebt alles…, ich fühl mich so…“

„Das verstehe ich, Tassilo… was machen wir da?“

Lewis überlegte, während Mum stumm hinter ihm stand.

„Jessica, könntest du ein Bad einlassen?“

„Ich weiß nicht…“

„Mach dir keine Sorgen, ein Entspannungsbad wird dem Kleinen gut tun.“

„Dem Kleinen…, ich bin nicht klein!!“, dachte ich grummelnd, aber protestieren konnte ich mir schenken. Lewis war bereits dabei, mich aufzurichten.

„Ich helfe dir jetzt erst einmal, dich von den klebrigen Klamotten zu erlösen, dann bring ich dich ins Bad.“

Ich nickte nur, denn ich spürte ein leichtes Schwindelgefühl und mein Magen schien sich auch noch nicht beruhigt zu haben. Lewis begann mich auszuziehen.

„Lewis, das Wasser habe ich eingelassen“, hörte ich Mum sagen.

„Das ist lieb, Jessica. Könntest du auch noch einen Tee für Tassilo machen, am Besten einen Kamillentee, der ist gut für seinen Magen.“

Irgendwie war ich froh, dass Mum verschwand. Dass mich Lewis nackt sah, machte mir nicht viel aus, aber bei Mum war das irgendwie anders.

„Treibst du eigentlich Sport…, deine Mum hat mir da gar nichts erzählt.“

„Wieso… fragst du?“

„Du bist sehr durchtrainiert…, eigentlich wunderlich, dass dein Körper so schlapp macht. Jessica hat erzählt, dass dein Vater da war.“

„Erzeuger…, er ist nicht mein Vater…“, sagte ich trotzig.

„Entschuldige Tassilo, ich wollte dir damit nicht zu nahe treten, aber denkst du nicht, du setzt dich damit unter Druck?“

Er zog gerade meine Hose aus.

„Wie meinst du das?“

„Du bestehst darauf, dass Richard Erzeuger genannt wird…, aber wünscht du dir nicht insgeheim einen Vater?“

Darauf konnte ich keine Antwort geben.

„Mach dir mal darüber Gedanken, Tassilo. Jetzt geht es aber erst mal in die Badewanne.“

Ich wollte aufstehen, aber Lewis war schneller. Er griff unter meine Knie und Arme und hob mich hob.

„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen…“, meinte ich und mir gelang dabei sogar ein Lächeln.

Er grinste und trug mich ins Bad.

„Willst du in deinen Shorts baden oder wie Gott dich schuf?“

Ich spürte plötzlich, dass mein Gesicht Farbe bekam.

„Nein, ohne Shorts.“

Lewis setzte mich ab und mit etwas Mühe bekam ich die Shorts ausgezogen. Danach hob er mich vorsichtig in das heiße Wasser.

„Ist es so recht?“, fragte Lewis.

Ich nickte.

„Okay, dann lass ich dich etwas alleine.“

„Danke.“

„Für was?“

„Dass du das hier für mich tust.“

„Du bist mein Patient.“

„Trägst du jeden Patienten ins Bad?“

Er grinste und ließ mich alleine. Ich ließ mich zurück gleiten, so dass mein kompletter Körper unter Wasser war. Ich spürte, wie die Wärme in meinen Körper kroch und sich ein wohltuendes Gefühl ausbreitete.

Ich musste weggeschlummert sein, denn plötzlich stand ein grinsender Lewis vor mir.

„Na, geht es dir schon besser?“, fragte er.

Ich hörte in mich. Der Magen war ruhig geworden, kein flaues Gefühl mehr spürbar. Die Übelkeit war verflogen, nur ob das Schwindelgefühl wieder kommen würde, wusste ich nicht. Ich richtete mich auf.

„Ja, viel besser.“

„Meinst du, du kannst dich alleine waschen?“

„Denke schon.“

„Wenn du Hilfe brauchst, rufst du bitte.“

„Danke Lewis.“

Und schon war ich wieder alleine. Ich griff nach dem Shampoo und massierte es in meine Haare. Nach einem kurzen Tauchgang war der erste Teil schon fertig. Nach weiteren zehn Minuten hatte ich auch den Rest des Körpers der Waschung unterzogen.

Langsam stand ich auf und wartete, ob nicht vielleicht ein Schwindelgefühl kommen würde, Doch dies blieb aus. So schnappte ich mir das Handtuch und begann mich abzutrocknen. Mir fiel ein, dass hier keine Unterwäsche von mir lag.

Ich streckte den Kopf in den Flur, hörte aber Lewis und Mums Stimme von unten. Leise schlich ich in mein Zimmer und kurz darauf hatte ich wieder etwas an. Mum musste noch einmal in meinem Zimmer gewesen sein, denn das Bett war frisch bezogen.

Ich entschloss mich, hinunter zu gehen, im Bett war ich lange genug gewesen. Lewis und Mum hörte ich schon auf der Treppe aus der Küche reden. Mum war besorgt wegen mir, was ich ihr nicht verübeln konnte, es gefiel mir ja selbst nicht, was alles passiert war.

„Hallo ihr zwei“, begrüßte ich sie lächelnd.

„Tassilo, ich hätte dir deinen Tee doch hoch gebracht.“

„Jessica, es ist vielleicht ganz gut, wenn er sein Zimmer verlässt“, meinte Lewis und lächelte mich an.

Ich schnappte mir die große Tasse Tee, zog das Teeei heraus und legte es an der Spüle ab.

„Willst du Zucker?“, fragte Mum.

Ich schüttelte den Kopf.

„Mach ruhig etwas hinein“, warf Lewis ein, „dein Körper kann jetzt jede Kraft brauchen.“

Brav wie geheißen nahm ich zwei Löffel Zucker aus der Dose, die mir Mum hinhielt. Beide schauten mich an.

„Und jetzt?“, fragte ich.

„Du müsstest mal raus hier“, sagte Lewis.

„Damit ihr zwei sturmfreie Bude habt“, meinte ich und grinste.

Mum wurde doch tatsächlich rot und Lewis grinste breit. Aber raus hier, das war ein guter Vorschlag, nur wohin? Mein Kopf ratterte und ich sah zu Mum.

„Was hältst du davon, wenn wir zum Leuchtturm fahren?“, fragte Mum gleichzeitig, als mir der Gedanke kam.

„Hast du denn Zeit?“, fragte ich zurück.

„Ich nehme mir die Zeit.“

„Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich euch hinfahren und begleiten.“

Mum schüttelte den Kopf.

„Wie kommst du darauf, dass wir etwas dagegen haben?“

„Geht das denn“, fragte ich, „ich meine, wegen deiner Frau, kannst du sie so lange alleine lassen?“

Beide sahen sich plötzlich betrübt an.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte ich verwundert.

„Nein Tassilo, das hast du nicht. Ich hielt es nur für besser, dass dir deine Mutter nichts darüber erzählt, so wie es dir ging.“

„Was erzählt?“

„Meine Frau… ist gestern Morgen gestorben…“

Entsetzt sah ich zwischen Mum und Lewis hin und her und Mum nickte mir zu.

„Entschuldige…“, stammelte ich, „… das tut mir leid.“

„Muss es nicht“, sagte Lewis mit einer sanften Stimme, wie ich sie noch nie gehört habe, „es geht ihr jetzt besser, wo sie jetzt ist.“

Ich sah eine kleine Träne über Lewis Wange kullern. Leise stellte ich meine Tasse ab und  nahm Lewis einfach in den Arm, weil mir danach war.

„Danke“, hörte ich Lewis brummen.

„Lewis hat seine Praxis ein paar Tage geschlossen, Tassilo. Die Beerdigung findet nächste Woche Dienstag statt und ich finde, Lewis täte es genauso gut, für das Wochenende hier mal weg zukommen.“

Ich spürte, wie Lewis tief durch atmete.

„Okay, dann fahren wir zu dritt“, meinte ich und schnappte mir meine Tasse.

„Wo willst du hin?“, fragte Mum.

„Meine Tasche packen“, antwortete ich und Lewis schenkte mir wieder sein Lächeln.

*-*-*

Lewis hatte den Vorort Londons auf dem Motorway Richtung Süden verlassen. Gemütlich mit Hundert ließen wir die Großstadt hinter uns. Eine Stunde später verließen wir den dichten Verkehr und durchfuhren Eastbourne.

Eastbourne war ein Seebad, an das ich mich aus Kindertagen gut erinnern konnte, als unsere kleine Familie noch glücklich gewesen war. Hier hatte mir mein Vater damals das Schwimmen beigebracht. Ich versuchte mich an früher zu erinnern, an Häuser, Plätze, aber ich kannte nichts mehr.

Lewis lenkte seinen Rover aus der Stadt heraus und fuhr die kleine Küstenstraße entlang. Leider konnte man durch den Regen nicht viel sehen. Es lag alles im Nebel. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir die Landstraße verließen und den Weg zum Leuchtturm befahren konnten, den wir auch schon mit Mr. Harrigton gefahren waren.

„Wusstet ihr, dass der Leuchtturm vor ein paar Jahren um siebzehn Meter ins Landesinnere versetzt wurde?“, fragte Lewis plötzlich.

„Woher weißt du das?“, entgegnete Mum.

„Internet“, meinte ich grinsend, „Tante Google macht es möglich.“

„Ihr mit eurem Internet, da haben sich ja wirklich zwei gefunden“, erwiderte Mum, während Lewis kurz den Kopf zu mir drehte und mich anlächelte.

Er ließ den Wagen langsam ausrollen, während der Leuchtturm in Sicht kam.

„Schön ist es hier“, meinte Lewis und stellte den Motor ab.

„Ja, wenn es nicht immer regnen würde“, sagte Mum.

„Es gibt kein schlechtes Wetter“, kam es von Lewis, „nur schlechte Kleidung.“

Ich öffnete die Tür und sofort nahm ich die frische Seeluft wahr, die mir ins Gesicht blies.

„Wie geht es dir?“, fragte Lewis, der neben mich trat.

„Viel besser“, antwortete ich, was auch stimmte.

Ich atmete tief durch und lief Richtung Klippen.

„Tassilo, geh bitte nicht so weit nach vorne“, rief Mum besorgt.

„Keine Angst“, rief ich zurück.

Etwa zwei Meter vor dem Abgrund blieb ich stehen. Hier konnte ich das Meer sehen, sah, wie die Brandung hart gegen die Kreidefelsen schlug. Die Gischt sprühte fein bis hier oben.

„Wollen wir hinein gehen?“, fragte Mum und stand schon mit dem Schlüssel an der Tür.

Ich machte kehrt und folgte den beiden ins Haus neben dem Leuchtturm.

„Wow“, hörte ich Lewis, der entzückt überall herum schaute.

„Das dachte ich auch, als ich es zum ersten Mal gesehen habe“, meinte ich.

Ich lief die Treppe hoch und schaute nach, ob ich ein geeignetes Zimmer für mich fand. Nach der zweiten Tür wurde ich fündig. Das Zimmer grenzte direkt zum Turm und durch das Fenster konnte ich zum Meer schauen.

„Ich glaube, da hat schon jemand sein Zimmer gefunden“, hörte ich Lewis sagen, der mit Mum in der Tür stand. Nickend stellte ich meine Tasche ab.

„Oh Gott“, entfuhr es plötzlich Mum.

„Was ist?“, fragte ich.

„Mr. Harrigton sagte zwar, dass hier alles vorhanden ist, was man so braucht…, aber an Lebensmittel habe ich nicht gedacht.“

Lewis schüttelte den Kopf und ich musste kichern.

„Dann sollten wir zurück nach Eastbourne fahren und die Lebensmittel hier auffüllen, oder was meint ihr?“, fragte Lewis.

Mum und ich nickten. So saßen wir fünf Minuten später erneut in Lewis Wagen und ließen uns nach Eastbourne kutschieren.

*-*-*

„Was wollt ihr mit so vielen Sachen?“, fragte ich, als wir den Supermarkt verließen.

„Tassilo, wir kommen ja noch öfter hier her und ich will nicht jedes Mal Grundnahrungsmittel kaufen müssen.“

Das leuchtete mir ein. Aus dem Blickwinkel heraus sah ich im Hintergrund eine Kirche.

„Meint ihr…, da gibt es auch einen Friedhof?“, fragte ich und zeigte zur Kirche.

„Sicher“, meinte Lewis und an seinem Gesichtsausdruck merkte ich, dass er wusste, welche Gedanken ich hegte.

„Jessica, was hältst du davon, wenn wir noch den kleinen Teeladen da drüben besuchen?“, fragte er deswegen.

„Ja, aber Tassilo…“

„Geht ruhig, ich finde mich schon zurecht.“

Ich nickte Lewis dankend zu, als er den Wagen verschloss und so trennten wir uns. Neben der Kirche konnte ich eine Mauer ausmachen und fand dort auch den Friedhof, den ich durch ein eisernes Tor betrat.

Der Friedhof war riesig und ich fragte mich seufzend, wie ich da das Grab von Onkel Gilbert finden sollte. Ich wusste ja noch nicht einmal, ob er hier überhaupt beerdigt worden war. Aber da es keine größere Stadt in der Nähe, noch nicht mal ein Dorf, gab, musste es eigentlich dieser Friedhof hier sein. Also lief ich durch die Reihen und las eine Inschrift nach der anderen.

Auf der gegenüberliegenden Seite angekommen, fand ich Gräber, in denen Leute lagen, die nicht viel älter geworden waren, als ich es gerade war. Es waren einige und ich las einfach ihre Namen.

„Das sind die Gräber… in denen die Selbstmörder beerdigt wurden“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum und sah in die Augen eines Jungen, den ich ungefähr in mein Alter schätzte.

„Entschuldige…, ich wollte dich nicht erschrecken. Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie gesehen.“

Wortlos nickte ich als Antwort.

„Ich bin jeden Tag hier…, besuche meinen Bruder“, sprach er weiter und zeigte auf das Grab, neben dem ich gerade stand.

Oh, das war hart, sein Bruder hatte sich auch umgebracht.

„Kennst du hier jemanden?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht“, war das Erste, was ich heraus brauchte.

„Wieso weißt du das nicht?“

Recht neugierig der Junge, dachte ich noch, aber irgendwie machte es mir nichts aus, etwas von mir zu erzählen.

„Mein Onkel ist vor kurzem gestorben und ich weiß nicht, ob er hier beerdigt wurde.“

„Wie hieß er denn?“

„Gilbert Melright.“

„Der alte Melright?“, fragte der Junge verblüfft, „…aber ich dachte, der hat keine Verwandten.“

„Du kennst ihn?“

„Ja…, klar kenne ich ihn…, er hat auch meinen Bruder gefunden…“

Seine Augen senkten sich und fixierten das Grab.

„Das mit deinem Bruder tut mir leid.“

Er nickte.

„Soll ich dir sein Grab zeigen?“, fragte er plötzlich.

„Das wäre nett…, deshalb bin ich ja auch hier.“

Der Junge, dessen Name ich immer noch nicht wusste, drehte sich um und lief los. Ich folgte ihm einfach, ohne weiter zu fragen. Ein paar Grabreihen weiter stoppte er plötzlich und zeigte auf ein Grab, auf dem sogar noch ein paar Blumen lagen, die jedoch schon verwelkt waren.

„Danke“, meinte ich.

Es stand nur Gilbert Melright und das Todesdatum auf dem Holzkreuz, sonst nichts.

„Warum hast du ihn nie besucht?“, hörte ich den Jungen fragen.

Doch bevor ich antworten konnte, hörte ich jemand meinen Namen rufen. Ich konnte Mum und Lewis entdecken, die auf mich zu liefen.

„Und fündig geworden?“, fragte Lewis.

„Ja, dieser Junge…“, begann ich und drehte mich um, doch er war weg.

„Welcher Junge?“, fragte Mum.

„Komisch, eben war er noch da. Ich habe da drüben Gräber gefunden, da liegen lauter Jungs und Mädchen in meinem Alter, die sich… umgebracht haben…, da war er und meinte dort liegt sein Bruder.“

„Schlimm so etwas“, meinte Mum und schaute auf Onkel Gilberts Grab.

„Ja, ich habe im Internet viel darüber gelesen, dass sich bei den Klippen einige umgebracht haben“, merkte Lewis an.

Zu dritt standen wir nun am Grab.

„Ob man jemand beauftragen kann, das Grab etwas zu pflegen?“, fragte Mum plötzlich und zupfte an den verwelkten Sträußen herum.

*-*-*

Billy

Um eine Lederkombi reicher saß ich strahlend im Wagen meines Vaters, als wir uns nach diversen Einkäufen meiner Mutter wieder auf dem Rückweg befanden. Meine Laune verschlechterte sich allerdings zusehends beim Anblick des Wetters.

Dieser Dauerregen setzte einem ganz schön zu. Die Schlieren liefen an den Fenstern entlang und es erinnerte mich stark an England. Also wegen dem Wetter  hätten wir bestimmt nicht umziehen müssen.

Mum erzählte etwas über die Nachbarn, die uns eingeladen hätten und sie aber noch so viel zu tun hätte. Sie wollte dann auch noch einen Kuchen backen, denn ohne ein Mitbringsel wollte man ja bei den neuen Nachbarn nicht erscheinen.

Dad nahm das alles ganz gelassen und fand es toll, dass man uns gleich eingeladen hatte, denn sonst eilte uns der Ruf der steifen Engländer schon immer voraus.

„Muss ich da unbedingt mit?“, fragte ich weniger begeistert.

„Es wurde die ganze Familie eingeladen“, meinte Mum und ich wusste, dass es ihr letztes Wort war und sie sich auf keine Diskussion einlassen würde.

So gab ich mich meinem Schicksal hin, einen langweiligen Abend bei den Nachbarn zu verbringen, mit nervendem Verhör, weil man mich ja sicher kennen lernen wollte. Zu Hause angekommen, verzog ich mich auch gleich in mein Zimmer.

Zwei volle Kartons standen da immer noch rum, also hing ich meine neu erworbenen Kleidungsstücke in den Schrank und machte mich an die Arbeit, auch noch diese Kisten auszupacken.

*-*-*

„Billy, du hättest wenigstens ein anständiges Hemd anziehen können“, sagte Mum, die seit einer halben Stunden zwischen Schlafzimmer und Bad hin und her rannte.

„Lass doch den Jungen, er ist gut angezogen“, verteidigte mich Dad.

„Wenn du meinst… hat jemand meine Ohrringe gesehen?“

„Die liegen unten auf dem Küchentisch“, sagte ich und lief hinunter.

Ich war jetzt schon genervt. Mums Kuchen war natürlich nicht gelungen und auf die Schnelle ist ihr nur ein Salat eingefallen. So wartete ich also mit einer Schüssel bewaffnet auf der Veranda, bis meine Eltern sich endlich heraus begaben.

„Schließt du bitte ab?“, meinte Mum und stöckelte zum Auto.

Dad nickte, verschloss die Haustür, zog die Fliegengittertür zu und folgte ihr zum Wagen. Als er ihn jedoch starten wollte, sprang partout der Motor nicht an.

„Nein, nicht auch das noch“, begann Mum zu jammern.

Erneut drehte Dad den Zündschlüssel und nach einem kurzen Rumpeln gab der Motor dann doch noch die gewohnten Töne von sich.

„Ich lass’ am Montag gleich danach sehen“, meinte Dad gelassen und rollte den kleinen Weg vor zur Straße.

„Nachbarn“ war eigentlich gut. In England hieß „Nachbarn“, du verlässt das Haus und gehst beim Nachbarsgebäude wieder hinein. Hier allerdings hieß es, in den Wagen zu steigen, fünf Meilen zu fahren und dann bist du erst beim Nachbarn.

Diese Strecke war jedoch auch schnell zurück gelegt und so fuhr Dad schon wenig später den Wagen vor das Haus, in dem man uns anscheinend schon sehnlichst erwartete. Ein Mann in Dads Alter und eine Frau in Mums Alter, wie passend, standen da aufgereiht.

Eine herzliche Begrüßung folgte, von der ich nicht ausgelassen wurde und es fielen Komplimente, wie „was für ein stattlicher junger Mann“ oder „wohlerzogen“, die ich gar nicht abhaben konnte.

Man betrat gemeinsam das Haus und ich stellte fest, dass es sich in der Bauart nicht viel anders verhielt, als bei uns. Nur die Möblierung war natürlich eine andere.

„Die Mühe hätten Sie sich doch nicht machen brauchen, Grace.“

Man war schon zu den Vornamen übergegangen.

„Das war nicht viel Arbeit…, aber schön haben sie es hier, Lacey.“

Mum war nicht mal rot geworden bei dem Satz, also… ich meinte jetzt nicht bezüglich des Geschmacks über die Einrichtung, sondern über die Arbeit, die sie sich gemacht hatte. Die Küche hatte ausgesehen wie ein Schlachtfeld.

„Ein Bier?“, fragte dieser Sam meinen Dad.

„Danke gerne.“.

„Seit wann trinkt Dad gerne Bier??“, fragte ich mich noch, denn das war mir absolut neu. Neue Länder – neue Sitten, dachte er wohl. Ich bekam eine Coke hingestellt, ohne gefragt worden zu sein, ob ich die überhaupt wollte. Natürlich bedankte ich mich dennoch brav dafür, als mir auffiel, dass es am Tisch noch zwei Gedecke mehr gab.

Mein Blick war wohl bemerkt worden, denn Lacey lächelte mich gleich an.

„Unsere Kinder sind auch gleich da. Holly hatte noch Generalprobe bei den Cherleaders und Matthew holt sie mit seinem Wagen ab“, erklärte sie.

Also war dieser Matthew mindestens in meinem Alter, wenn er schon Auto fahren durfte.

„Und in welcher Berufssparte arbeiten Sie?“, fragte Sam meinen Dad, um wohl die Unterhaltung aufrecht zu halten.

Dad erklärte recht ausführlich seine Job in der Computerfirma, aber es schien, als verstünden unsere Gastgeber keinen Ton, denn sie nickten immer nur eifrig. Ich dagegen lief im Wohnzimmer etwas herum und betrachtete die Bilder, die dort an der Wand hingen.

Doch bevor ich jedes einzelne richtig anschauen konnte, hörte ich vor dem Haus einen Wagen. Musik spielte laut, den Bass spürte ich auch hier im Haus noch. Sie verstummte, zwei Autotüren knallten und wenig später wurde die Haustür aufgerissen.

„Mum, Dad, wir sind wieder da“, hörte ich eine Jungenstimme.

Die Gastgeberin lächelte verlegen und verzog sich hinaus in den Flur. Von draußen vernahm ich ein kurzes Gespräch und dann ein Poltern. Mum sah mich an und ich musste grinsen, denn dieses Poltern war mir schon bekannt, denn ich rannte genauso die Treppe hinauf.

Lacey kam, gefolgt von einem blonden Jungen, zu uns zurück.

„Mein Sohn Matthew… unsere Nachbarn.“

Höflich gab man sich die Hand und ich wurde nur kurz eines Blickes gewürdigt. Meine Gedanken reichten von eingebildeter Schnösel bis hin zu einem süßen geilen Arsch. Die Verwirrung war also komplett.

Wenig später kam auch noch der letzte Teil der Familie ins Zimmer gestürmt. Frisch geduscht und in neuen Klamotten wurde sie als Tochter des Hauses vorgestellt. Man bat zu Tisch und wir setzten uns.

Wie ich in den letzten fünf Minuten schon befürchtet hatte, setzte sich Holly neben mich und begann natürlich gleich mit der Bombardierung von Fragen.

„Weißt du schon, auf welche Schule du gehst?“, war ihre erste Frage.

Während ihre Mutter das Essen herum reichte, versuchte ich höflich zu antworten.

„Auf die Springfield High School.“

„Da sehen wir uns ja. Matthew ist auch dort.“

Ich nickte und nippte an meiner Coke, die vor mir stand.

„Und welchen Sport hast du in England gemacht?“

„Ähm keinen…“

„Du hast bei uns eine große Auswahl, da gibt es…“

„Holly, nun lass Billy doch erst Mal essen“, wurde sie glücklicherweise von Lacey unterbrochen, worüber ich ihr äußerst dankbar war.

Dad zwinkerte mir grinsend zu.

*-*-*

Das Essen war vorüber und ich hatte mich kurz nach draußen verzogen. Zu meiner Freude hatte es endlich aufgehört zu regen.

„Wurde auch Zeit“, hörte ich Matthews Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und er stand direkt hinter mir, mit dem Blick nach oben. Dann senkte er seinen Kopf und sah mich an.

„Entschuldige, meine kleine Schwester kann ganz schön nervig sein, aber sonst ist sie ganz okay. Hast du auch Geschwister?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Bin Einzelkind“, meinte ich.

„Auch eine?“, fragte Matthew und hielt mir eine Schachtel Zigaretten hin.

„Nein, danke, ich rauche nicht.“

„Ich eigentlich auch nicht, nur ganz selten, meist abends.“

„Sagen deine Eltern nichts dagegen?“

„Die kümmern sich nur um ihre Sachen…“

„Ach so.“

Die Unterhaltung schien ins Stocken zu geraten, doch dann redete Matthew plötzlich weiter.

„Wann kommst du zu uns in die Schule?“

„In zwei Wochen.“

„Wie kommst du dahin?“

„Habe ein Motorrad…“

„Cool…, dass da drüben ist meiner“, meinte er und zeigte auf einen roten Pickup, „bisschen alt, aber Hauptsache er bringt mich überall hin. Also wenn es so regnet wie jetzt…, dann kannst du gerne mal mitfahren… also… in die Schule.“

„Danke, werde ich mir merken.“

„Hast du Lust, morgen Mittag hier etwas in der Gegend herum zu kurven? Es ist Sonntag, also nicht viel los.“

Ich überlegte kurz, denn es wäre ja nicht schlecht. Im Haus saß ich sowieso schon die ganze Zeit rum.

„Ja…, wäre nicht schlecht.“

„Gut, abgemacht! Aber lass uns wieder hinein gehen, sonst kommt meine nervige Schwester noch heraus.“

Ich musste grinsen.

Tassilo

Ich hatte mich in mein Zimmer verzogen, mir einen Stuhl genommen und mich vor das Fenster gesetzt. Meine Gedanken gingen auf Wanderschaft. Sie passierten all die Dinge, die in den letzten Wochen geschehen waren.

Meine Bewunderung galt Lewis, der trotz des Todes seiner Frau mit uns gekommen war. Aber vielleicht war es auch besser so für ihn, auch wenn ich nicht ganz nachvollziehen konnte, wie es sein musste, einen geliebten Menschen durch den Tod zu verlieren.

Gut, ich hatte Onkel Gilbert verloren, aber er war fern gewesen… weit weg, ich hatte ihn nicht mal gekannt. Mit dem Verlust meines Vaters konnte ich es nicht gleich setzen, das war ein anderer Schmerz…, der Schmerz daran erinnert zu werden, wie es früher einmal gewesen war.

Und Billy? Billy war eine Sache für sich. Diesen Weg hatte ich selber gewählt, weil ich genau wusste, ich würde mehr unter der Trennung leiden, unter der Ungewissheit, ob man sich je wieder sehen würde. Das hätte ich nicht gekonnt.

Der Freundschaft ein Ende zu setzen war für mich der einzige Weg, damit klar zukommen, auch wenn Billy das nicht recht verstehen konnte. Ich wusste nicht, ob er sich deswegen noch nicht gemeldet hatte oder ob er einfach noch kein Internet hatte. Da konnte ich nur abwarten.

Mum… Mum war glücklich mit Lewis, das merkte ich ihr deutlich an. Sie hatte sich verändert, war ruhiger und ausgeglichener geworden. Auch wenn sie mit ihrer mütterlichen Fürsorge manchmal übertrieb, war unser Verhältnis zueinander besser geworden denn je.

Ich griff nach meiner Jacke und lief die Treppe hinunter.

„Willst du irgendwo hin?“, fragte Mum, die mich im Flur entdeckte, während ich die Schuhe anzog.

„Etwas spazieren gehen“, meinte ich, doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, wurde sie von Lewis ausgebremst.

Ich verließ das Haus, zog den Kragen hoch und wickelte mir den Schal um den Hals. Nachdem ich nach beiden Seiten geschaut hatte, entschied ich mich, in Richtung Westen zu gehen, denn diese Seite kannte ich noch nicht.

Es war sonst kein Mensch unterwegs, was auch verständlich war bei dem Wetter. Es regnete leicht und der Wind, der von der See herauf wehte, tat sein Übriges. Eigentlich konnte man hier weit schauen, wenn der feine Nebel, den die Gischt verursachte, nicht gewesen wäre.

Außer ein paar Felsstücke gab es hier nur Grasflächen und einige Büsche. Am Rand vor den Klippen sah ich etwas stecken. Vorsichtig näherte ich mich dem Abgrund und konnte ein kleines Kreuz entdecken.

Ich beugte mich vor und sah den Namen Oliver eingeritzt. War hier ein Oliver in den Tod gesprungen? Es stimmte mich traurig, dass es Menschen gab, die nur noch diesen Ausweg kannten.

Sie vertrauten sich niemandem an, nahmen keine Hilfe in Anspruch. Ich lief noch etwas weiter, bevor ich mich entschloss, wieder kehrt zu machen. Der Wind war stärker geworden und es regnete mir ins Gesicht.

*-*-*

„Da bist du ja wieder“, sagte Mum, „… bist aber ganz schön nass geworden.“

Ich nickte und entledigte mich meiner nassen Jacke und meiner Schuhe.

„Du kommst gerade richtig, Lewis hat einen Tee aufgesetzt. Willst du auch einen?“

„Ja, danke.“

Ich folgte ihr in den Wohnbereich, den ich schon vom ersten Besuch her kannte. Lewis saß auf der Couch und blätterte in einem Ordner.

„Hallo Tassilo, ich habe hier etwas Interessantes gefunden, setz dich doch zu mir. Dein Onkel hat hier alles gesammelt, was an den Klippen passiert ist.“

„Das ist tragisch“, meinte Mum, die das Teegeschirr herein brachte.

„Trotzdem ist es Geschichte und ist interessant“, erwiderte Lewis.

„Wenn du meinst…, mich macht so etwas traurig, wenn Menschen so ihr Leben weggeworfen haben.“

„Du weißt doch aber nicht warum?“, mischte ich mich in die Unterhaltung ein.

„Tassilo, es ist egal, warum sie sich umgebracht haben, es gibt immer einen Ausweg…“, sagte sie.

„…, den sie nicht gesehen haben…“, fügte ich hinzu.

„…, oder sehen wollten“, ergänzte Lewis.

Ich seufzte und lehnte mich an Lewis an. Onkel Gilbert hatte anscheinend sämtliche Zeitungsausschnitte aus dieser Zeit gesammelt. Warum? Das konnte niemand sagen. Ich überflog die Texte, sah die Bilder mit an und wartete, bis Lewis umblätterte.

Oliver…, da stand Oliver.

„Beim Spazierengehen habe ich ein kleines Kreuz gefunden, da stand Oliver drauf“, sagte ich leise.

„Hm… komisch, dass ich darüber nichts gehört habe“, meinte Lewis plötzlich verwundert.

„Was meinst du?“

„Dass dies nicht in der Öffentlichkeit breit getreten wurde.“

„Warum denn, so wichtig wird ein Selbstmörder für die nationale Presse nicht sein.“

„Finde schon, wenn es sich um einen Lord handelt. Der Adel wird immer in der Presse erwähnt, egal wo etwas in England passiert.“

„Ein Lord?“

„Ja, Lord Oliver Cavendish, Sohn von Andrew Cavendish, der elfte Duke of Burlington, Besitzer aller Ländereien, die hier zur Grafschaft gehören.”

„Gibt es ein Bild?“

„Ja, warte mal, auf der nächsten Seite“, sagte Lewis und blätterte um.

Gezeigt wurden zwei Jungen.

„Das…, das ist doch der Junge vom Friedhof…, der der mir Onkel Gilberts Grab gezeigt hat.“

Unter dem Bild stand Lord Oliver Cavendish und sein jüngerer Bruder Lord Daniel Cavendish.

„Jetzt weißt du wenigstens, mit wem du gesprochen hast.“

„Einem Lord… Er erzählte, dass er jeden Tag seinen Bruder besucht.“

„Ist sicher schwer für ihn, seinen Bruder verloren zu haben.“

„Denke ich auch, er hatte sehr traurige Augen.“

„Und das, wo sein Bruder schon vier Jahre tot ist?“, sagte Lewis verwundert.

„Mum, hast du in Eastbourne irgendwo einen Blumenladen gesehen?“

„Ja, am Ortsanfang, warum fragst du?“

„Du hast gemeint, ob man nicht jemanden fragen könnte, der sich um das Grab kümmern kann.“

„Bei dem Blumenladen? Meinst du, das wird nicht zu teuer?“

„Mr. Harrigton meinte, es wäre auch ein kleines Vermögen da. Ob man da nicht etwas für das Grab von nehmen könnte?“

„Sicher, da musst du Mr. Harrigton fragen, wie das geregelt ist.“

„Mache ich gleich am Montag, wenn wir wieder zu Hause sind.“

„Mein Energiebündel…, heute Morgen noch sterbenskrank im Bett und jetzt schon wieder Pläne schmieden“, sagte Mum und setzte sich zu uns.

Sie fuhr mir mit der Hand durch meinen Lockenkopf.

„Willst du den Jungen wieder treffen?“, fragte Lewis.

„Ich weiß nicht…, ein Lord, ob der mich überhaupt näher kennen lernen will?“

„Wieso, er hat dich doch auch auf dem Friedhof angesprochen.“

„Stimmt, aber das heißt ja noch lange nicht, dass er mich näher kennen lernen will.“

„Tassilo, ich bin zwar praktischer Arzt für Allgemeinmedizin, aber ich verstehe auch etwas von der Psyche der Menschen. Das Verhalten des Jungen zeigt mir, dass er Kontakt wünscht, wenn auch auf eine sonderbare Art.“

„Glaubst du wirklich?“

„Ich bin mir fast sicher.“

„Okay. Dann könntest du mich vielleicht morgen um die gleiche Zeit wie heute auf den Friedhof fahren?“

Billy

Ich hörte es unten vor dem Haus hupen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, dass Matthew gekommen war, also griff ich nach meiner Jacke und rannte die Treppe hinunter.

„Bin dann weg, Mum“, rief ich.

Sie rief mir noch etwas hinterher, aber ich verstand es nicht mehr, da ich schon draußen war.

„Hi Billy“, rief mir Matthew zu, der mittlerweile ausgestiegen war.

Jetzt bei Tageslicht wirkte sein Pickup noch viel größer.

„Hallo Matthew.“

„Und bereit um die Gegend zu erkunden?“

„Ja klar!“

„Dann steig ein und ab die Post.“

Etwas unbeholfen stieg ich ein und schnallte mich an. Matthew startete den Motor und trat etwas auf Gas. Satt heulte der Motor auf.

„Krass nicht?“

Ich nickte.

„Und los geht es.“

Er wendete den Wagen und schon verließen wir das Grundstück über die kleine Zufahrt.

„Einen besonderen Wunsch, was du gerne sehen möchtest?“

„Ähm… ich kenne mich hier nicht aus, also kann ich mir nichts wünschen.“

„Kein Problem, dann zeig ich dir als erstes die Nachbarn.“

*-*-*

„Da wohnen die Mc Elister’s. Deren Sohn ist eine Stufe über mir, eher etwas langweilig, ein Strebertyp.“

Und schon ging es wieder weiter mit der Rundfahrt. So lief es jetzt schon über eine Stunde. Ich wusste jetzt ungefähr, wer so in unserer Nachbarschaft wohnte, auch wenn ich mir nicht alle Namen merken konnte.

Bei den nächsten Häusern angekommen bog Matthew in die Einfahrt ein.

„Wer wohnt da?“, fragte ich verwundert, da er bisher nur immer an den Häusern vorbei gefahren war.

„Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Cooler Typ, den musst du unbedingt kennen lernen.“

„Aha.“

So wie er die Zufahrt entlang bretterte, konnte man froh sein, dass alles nass war, denn sonst hätte es ordentlich gestaubt. Er bremste ab und kam vor dem Haus zum Stehen.

„Komm, ich stell dir meinen Onkel vor“, sagte Matthew und steig aus.

Ich schnallte mich ab und folgte ihm nach draußen.

„Er bewohnt das alleine hier und hat Dad seine Felder überlassen.“

„Was arbeitet er dann sonst, wenn nicht Farmer wie die anderen.“

„Er ist Künstler, aber das wirst du gleich selber sehen.“

Er lief die wenigen Stufen der Veranda hinauf und klopfte an die Haustür.

„Onkel George?“

Es kam keine Antwort.

„Dann ist er sicher hinter dem Haus in der Scheune“, meinte Matthew und lief an mir wieder vorbei.

Ich folgte ihm um das Haus herum.

„Onkel George?“, rief nun Matthew abermals.

„Ja? Bin hier …“, konnte ich eine Stimme aus der Scheune vernehmen.

Aus dem Kamin der Scheune kam dunkler Rauch heraus. Matthew zog das große Tor auf und ich bekam Einblick in das Innere.

„Oh, hallo Matthew.“

„Hallo Onkel George. Habe jemanden mitgebracht. Billy gehört zu den Leuten, die in das Haus der Hendersons eingezogen sind.“

Ein junger Mann kam auf mich zu, der unmöglich der Bruder von Matthews Mutter sein konnte, außer sie lagen mindestens fünfzehn Jahre auseinander. Er hatte einen Blaumann an und sein Gesicht wurde von einem Basecape fast verdeckt.

„Hallo Billy“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen.

„Hallo Mr. …“, begann ich und ich wusste nicht einmal den Namen.

„Maint, aber nenn mich ruhig George, wie es alle hier tun.“

„Danke…, ähm George.“

*-*-*

Die Zeit schien hier schneller zu laufen. George zeigte mir alles, woran er arbeitete. Seien es die kleinen Skulpturen, die er aus Ton anfertigte, oder die Bilder, die er malte. Die Scheune war ein riesiges Sammelsurium an verschiedenen Kunstsachen.

Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte man meinen können, hier wäre irgendeine Ausstellung. Draußen war es bereits dunkel geworden, als Georges Handy klingelte.

„Hallo Schwesterherz… ja, die sind bei mir… das…, das ist meine Schuld, ich habe Billy alles gezeigt… ja mache ich… ja sag seinen Eltern sie sollen sich keine Sorgen machen… ja… ja… Bye!“

Da hatte wohl wer angerufen und sich um mich Sorgen gemacht.

„Deine Mutter sucht euch“, meinte George zu Matthew.

Matthew schaute auf seine Uhr.

„Himmel, ist es schon so spät. Da habe ich glatt das Abendessen verpasst“, meinte Matthew erschrocken.

„Das ist doch kein Problem, wir gehen hinüber ins Haus und schieben schnell eine Pizza rein für uns drei, was haltet ihr davon?“, fragte George.

Auch ich hatte erschrocken festgestellt, dass es bereits fast acht Uhr war.

„Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich mich so langsam zu Hause wieder blicken lassen“, antwortete ich.

„Keine Sorge, meine Schwester ruft deine Eltern an, die wissen dann, dass du etwas später kommst.“

„Ähm… wirklich? …danke.“

„Ich muss nur schnell alles abschalten, dann können wir ins Haus.“

Etwas später betraten wir dann das Wohnhaus von Matthews Onkel. Auch hier schien es mir, als hätte wohl jeder das gleiche Haus. Der Grundriss ähnelte dem unserem, nur in diesem Falle alles spiegelverkehrt.

Also betrat ich die Küche, wo bei uns im Haus das Wohnzimmer war. George lief an den Eisschrank und holte drei Packungen aus dem Eisfach.

„Speziale?“, fragte er und Matthew und ich nickten.

Nachdem er die Pizza in den Ofen geschoben hatte, bat er uns ins Wohnzimmer.

„Ich gehe noch schnell duschen. Matthew, wenn ihr Durst habt, du weißt wo alles steht“, meinte George und verschwand.

„Und, was hältst du von meinem Onkel?“, war das erste, was ich von Matthew zu hören bekam.

„Ähm…“

„Genau, das sagt jeder, der ihn kennen lernt“, grinste er und stand auf, „möchtest du etwas zu trinken?“

Ich nickte. Matthew verschwand kurz und kam wenig später mit zwei Flaschen Coke wieder, von denen er mir eine zuwarf.

„Danke.“

„Ich bin gerne hier. Keiner, der den ganzen Tag an mir herum nörgelt oder nervt.“

„So schlimm wird es auch nicht sein,“ gab ich von mir, ohne darüber nach zu denken.

„Bei dir zu Hause scheint wohl jeden Tag die Sonne“, meinte Matthew dazu verstimmt.

„Das habe ich nicht behauptet, aber zurzeit ist alles in Ordnung…, liegt vielleicht auch daran, dass sie mir diesen Umzug aufgehalst haben, ohne mich vorher zu fragen und ich…“

Ich brach ab, das ging ihn jetzt nichts an, so gut kannte ich ihn auch nicht. Meine Lebensgeschichte wollte ich nicht erzählen.

„Was?“

„Ach… nicht so wichtig.“

Von Tassilo sollte niemand erfahren. Ich wusste nicht, wie man hier zu Schwulen stand, deswegen sollte das eine Weile mein Geheimnis bleiben. Ich hoffte nur, dass meine Eltern sich nirgends einen Schnitzer erlaubten und davon erzählten.

Matthew sagte nichts weiter darauf. Plötzlich kam George zurück, nur mit einem Badetuch um die Hüften und tropfnass. Ich musste schlucken, der Mann sah übelst gut aus. Mein Blick wanderte erschrocken zu Matthew, in der Angst, ob er vielleicht bemerkte, dass ich seinen Onkel so fixiert hatte, stellte dann aber fest, dass er sogar dasselbe tat.

„Ich zieh mir noch schnell was über, dann können wir essen“, unterbrach George meine Gedankengänge.

Und schon war er wieder verschwunden. Matthew schien wohl ebenso im Gedanken gewesen zu sein wie ich, er schaute auch leicht desorientiert. Ich wehrte mich dagegen, weitere Überlegungen dazu anzustellen und mir womöglich noch Dinge einzubilden.

Ich stand also auf und lief in die Küche, Matthew folgte mir wenig später.

„Hast du eigentlich eine Freundin?“, fragte er plötzlich.

Die Fragen der Fragen. Wunderte mich nur, dass die nicht schon früher gekommen war.

„Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Niemand? … Das wundert mich ein wenig.“

Worauf wollte er jetzt hinaus?

„Warum?“

„Bei deinem Aussehen, so wie du dich benimmst… du hast doch sicher alle Chancen gehabt…“

Ich hatte auf diese Unterhaltung, besser gesagt auf dieses Thema, keinen Bock.

„Ich glaube die Pizza ist fertig, sollten wir nicht schon das Geschirr richten?“, lenkte ich ab.

Matthew lief zu einem alten Bauernschrank, öffnete die obere Glastür und zog drei Teller heraus.

„Gabel und Messer findest du in der Schublade bei der Spüle“, meinte er.

Wie beschrieben fand ich das Besteck am dortigen Platz, holte je drei Teile heraus und brachte sie zu dem großen Tisch in der Mitte der Küche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass George hier alleine lebte, alles war mindestens für eine Großfamilie ausgerichtet.

Matthew hatte die Teller abgestellt und ich legte das Besteck dazu. Er griff sich einen dieser Ofenhandschuhe und begann, eine Pizza nach der anderen heraus zuholen. Als er damit fertig war, kam auch George zurück.

„Ist irgendwas?“, fragte er und schaute uns beide an.

„Nein“, sagte Matthew und ich schüttelte den Kopf.

„Ihr seid so ruhig, also in eurem Alter war ich ein richtiges Lästermaul und deine Mutter konnte mich fast nicht bremsen.“

„Über wen soll ich den lästern, Billy kennt hier noch keinen“, entgegnete Matthew.

Ich griff nach meinem Besteck und begann zu essen, ohne dazu einen Kommentar abzugeben. Irgendwie fühlte ich mich gerade fehl am Platz, die Stimmung in der Küche war seltsam.

„Hast du ein künstlerisches Hobby, Billy?“, fragte ein kauender George plötzlich.

Ich schüttelte den Kopf, weil ich den Mund noch voll hatte.

„Ein guter Freund von mir malt Bilder, das war bisher die einzige Berührung mit Kunst“, antwortete ich dann und nahm einen Schluck Coke.

„Kann man die irgendwo betrachten? Im Internet oder so?“, fragte George interessiert weiter.

„Nein…, aber ich habe zwei in meinem Zimmer stehen, die ich…, die ich zum Abschied geschenkt bekommen habe.“

Das stimmte so nicht. Eins hatte mir Tassilo zum sechzehnten Geburtstag geschenkt. Es zeigte mich an einem See. Normalerweise hielt ich davon nichts, wenn Bilder von mir gemacht wurden, aber Tassilo hatte es verstanden, die Stimmung am See einzufangen.

Das andere hatte ich wirklich zum Abschied bekommen. Es war ein Bild von meiner Heimatstadt, gemalt mit einem Sonnenuntergang.

„Wenn du mal Zeit hast, würde ich die gerne mal sehen.“

„Kein Problem.“

Matthew sagte die ganze Zeit nichts und sah eher säuerlich aus, dass er nicht in die Unterhaltung mit einbezogen wurde.

„Und du gehst dann auf die gleiche Schule wie Matthew?“, hielt George die Unterhaltung am Laufen.

„Ja und wie ich Matthew verstanden habe, wollen sich seine Eltern dafür einsetzen, dass wir die gleiche Klasse besuchen.“

„Mein Schwesterchen, immer und immer für eine Überraschung gut.“

Ich wusste nicht, was er damit meinte, aber ich wollte auch nicht nachfragen.

„Matthew, was macht euer Theaterprojekt, wie weit seid ihr?“

Davon hatte er mir während der ganzen Autofahrt nichts erzählt. Mir schien, als wäre ihm das Thema peinlich, denn seine Gesichtsfarbe wechselte schlagartig auf rot.

„Äh…, ja gut“, antwortete er leise und schob sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund.

Recht kurze Antwort, dachte ich. Das stieß in mir auf Interesse.

„Und was führt ihr da auf?“, fragte nun ich.

Matthew kam gar nicht zu Wort, George übernahm begeistert die Erklärung. Wobei ich mir auch nicht sicher war, ob Matthew mir das so erklären wollte.

„Ein gewagtes Stück finde ich, aber genial. Kennst du den Film – My Beautiful Laundrette –, sie spielen die Bühnenversion und Mathi spielt die Rolle des Johnny.“

Mathi…, mein wunderbarer Waschsalon… ein paar Informationen zu viel auf einmal. Natürlich kannte ich die Geschichte über einen Engländer und einem Pakistani, die gemeinsam einen Waschsalon aufbauten, natürlich mit Schwierigkeiten und was noch sensationeller war, die beiden verliebten sich ineinander.

„Ja kenne ich“, antwortete ich und sah zu Matthew.

Tassilo

Die Nacht war ruhig und ich hatte auch schon lange nicht mehr so gut geschlafen. Morgens war ich mit Mum sehr lange spazieren gegangen, wir unterhielten uns sehr intensiv. Nun saß ich auf der Bank in der Nähe von Onkel Gilberts Grab und hielt nach Daniel Ausschau.

Es begann wieder zu regnen und ich beschloss, etwas herum zu laufen. Warum kam er nicht, er hatte doch gesagt, er wäre jeden Mittag hier. Ich lief eine halbe Stunde durch die Wege zwischen den Gräbern, aber kein Daniel war zu sehen.

Enttäuscht lief ich zu dem kleinen Cafe, dem verabredeten Treffpunkt mit Lewis. Ich schob die schwere Tür auf und fand ihn gleich neben dem Eingang einen Tee trinken.

„Schon wieder zurück?“, begrüßte er mich verwundert.

„Er ist nicht gekommen“, antwortete ich.

Eine Bedienung kam an unseren Tisch.

„Kann ich Ihnen auch etwas bringen?“, fragte die junge Frau.

Lewis nickte mir zu.

„Einen Earl Grey bitte“, bestellte ich.

Die Bedienung nickte und verschwand wieder.

„Und was willst du jetzt tun?“, fragte Lewis.

„Ich weiß es nicht. Ich hätte schwören können, er erzählte mir, dass er jeden Tag seinen Bruder besucht.“

„Vielleicht ist ihm etwas dazwischen gekommen.“

„Wie soll ich das herausbekommen? Ich meine, wir fahren morgen zurück, ich kann doch nicht jedes Wochenende hierher kommen und auf dem Friedhof warten, bis Daniel irgendwann auftaucht.“

„Warum nicht?“

Lewis grinste mich an. Bevor ich weiter reden konnte, servierte mir die Bedienung meinen Tee. Ein Kännchen Milch stellte sie daneben. Seit so viele Ausländer unser Land bereisten, wurde unser Tee immer öfter ohne Milch serviert.

Wir waren wohl die einzigen, die ihn so tranken. Meine Gedanken wanderten wieder zu Daniel. Gedankenverloren rührte ich in der Teetasse.

„Willst du deinen Tee aufschäumen?“, fragte Lewis plötzlich.

„Hm?“, schaute ich auf.

„So wie du in deinem Tee rührst…“

„Äh nein. Sorry.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Vielleicht war es auch eine blöde Idee, dir diesen Ordner zu zeigen.“

„Warum blöde Idee?“

„Junger Mann, vielleicht erinnerst du dich daran, wie es dir gestern Morgen noch ging?“, meinte Lewis und zog seine Stirn in Falten, „Du machst dir schon wieder zu viele Gedanken und ich weiß nicht, ob das gut ist. Und das sage ich dir jetzt nicht nur als Arzt!“

„Schon gut, mir ist weder schlecht, noch übel, noch wird mir schwindlig.“

„Ich meinte ja nur. Du musst langsam machen, ich möchte nicht, dass du irgendwelche Schäden davon trägst, weil ich dich auf eine verrückte Idee gebracht habe.“

„Schäden?“

„Nervenzucken, Weinattacken oder diverses. Deine Nerven sind sehr komplex…“

„Keine Sorge Lewis, ich weiß, ich bin bei dir in den besten Händen und ich weiß auch, worauf du anspielst.“

Er sah mich verwundert an.

„Billy gehen zu lassen fiel mir nicht leicht, sicherlich nicht. Aber es war meine Entscheidung, es ist besser so. Ich weiß auch, dass ich noch eine ganze Weile daran knabbern werde, aber irgendwie finde ich meinen Weg schon. Und dass jetzt ein neues Gesicht in mein Leben getreten ist, ist vielleicht eine kleine Hilfe in diese Richtung.“

„Wie alt bist du?“, fragte Lewis.

„Was hat das jetzt damit zu tun?“

„Du hast gerade geredet wie ein alter weiser Mann.“

Ich musste grinsen und schaute nach draußen. Vor dem Fenster im Regen stand jemand und schaute herein. Daniel.

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