Benjamins Vater
Mit vier schweren Einkauftüten stolpert Benjamin ins Fahrradgeschäft, wo er, wie schon so oft, neue Fahrradreifen kaufen will.
„Ach, hallo“, begrüßt ihn der Verkäufer, „du willst doch bestimmt wieder neue Reifen haben, oder?“
„Ja, die gleiche Stärke wie immer“, antwortet Benjamin und hofft noch, dass das Geld reicht, doch der Verkäufer hat ganz andere Sorgen.
„Da muss ich dich enttäuschen. Wir kriegen die erst wieder rein. Ich kann dir andere anbieten?“
„Ich weiß nicht recht?“ fragt sich Benjamin eher selber.
„Doch. Die sind super. Sind viel fester als die anderen“, versucht der Verkäufer seine Ware an den Mann zu bringen.
Benjamin denkt sich, dass die noch so dick sein können, denn gegen ein Messer sind die bestimmt nicht immun, trotzdem sagt er: „Okay. Dann nehme ich die.“
„Die sind aber etwas teurer“, kommt es noch von dem Verkäufer, wobei er die Reifen schon in der Hand hat.
Aber Benjamin hat Glück, denn das Geld reicht gerade so. Obwohl er noch nicht weiß wie er das seinem Vater erklären soll. Benjamin macht sich also mit zwei Tüten links, zwei Tüten rechts und je links und rechts einen Reifen um den Arm auf den Nachhauseweg.
Zum Glück hat es zu regnen aufgehört, denn für den Schirm wäre nun wirklich kein Platz mehr gewesen. Als er gerade von der Hauptstraße in die Nebenstraße, die zu seinem Haus führt, einbiegt, kommen ihm doch tatsächlich Jens und Maximilian entgegen.
Maximilian geht auch in seine Klasse und ist eigentlich immer relativ neutral zu Benjamin gewesen.
„Ach, wen haben wir denn da?“, fragt Jens mit einem fiesen Unterton.
Benjamin bleibt vor Schreck stehen und schaut erst zu Maximilian und dann nach unten auf seine Schuhe.
„Komm, wir wollten doch zu dir“, versucht Maximilian Jens zu beruhigen.
Doch dieser hat scheinbar Spaß am Ärgern und tritt frech gegen eine Tüte, die Benjamin einen so kräftigen Schubs gibt, dass er Schwierigkeiten hat sein Gleichgewicht zu halten.
„Nun lass ihn doch“, kommt es nun noch von Maximilian, während er Jens am Arm packt und versucht ihn wegzuziehen.
„Lass mich“, reißt dieser sich los, „bist du etwa auf seiner Seite?“
„Ich bin auf gar keiner Seite“, verteidigt sich Maximilian und hofft dass Jens nun endlich zur Vernunft kommt.
Unterdessen hat Benjamin die Gunst der Stunde genutzt und ist weiter gegangen, so schnell wie es voll bepackt nun mal geht.
Maximilian ist das natürlich aufgefallen und so versucht er Jens noch etwas abzulenken: „Du hast es aber auch immer auf Schwächere abgesehen. Nimm dir doch mal einen, der sich auch ein bisschen verteidigen kann. Sonst weiß man doch von vornherein wie es ausgeht.“
„Das ist ja der Sinn dabei. Oder meinst du etwa, ich will mir meine schöne Nase verbiegen lassen von so einem“, kommt es nun von Jens, wobei Einbildung ja auch Bildung sein soll und er auf Benjamin zeigen will.
Doch dieser hat bereits sein Ziel erreicht und ist dank Maximilian mit einem kaputten Joghurtbecher und ein paar zerquetschten Weintrauben davon gekommen.
„Ich bin wieder da“, ruft Benjamin, während er versucht, Richtung Küche zu kommen.
„Wird ja auch mal Zeit. Du musst noch Hausaufgaben machen“, brummt sein Vater aus der Waschküche, wo er wohl gerade die Wäsche aufhängt.
„Mach ich sofort. Ich räume nur schnell die Sachen in die Schränke“, antwortet Benjamin seinem Vater und hofft, dass es sich damit geklärt hat.
Also geht er in die Küche und räumt die Sachen weg. Den kaputten Jogurt tut er direkt in eine Schüssel, denn da der soweit noch gut ist, kann man ihn heute ja noch essen.
„Und? Hast du Reifen bekommen?“ will sein Vater wissen, der auf einmal in der Tür steht.
Benjamin zuckt zusammen und versucht zu erklären: „Ich musste andere nehmen, meine Stärke hatten sie nicht mehr.“
„Was haben die gekostet?“ will sein Vater sofort wissen, da er den Braten gerochen hat.
„Die waren etwas teurer, aber ich kann ja auch zweimal auf mein Taschengeld verzichten“, bietet Benjamin ihm an, um einen Streit aus dem Weg zu gehen.
„Das will ich aber auch meinen“, brüllt sein Vater.
„Her mit dem Bon.“
Dabei greift er nach dem Zettel, den Benjamin in der Hand hält.
„Nun aber ab mit dir“, sagt er noch, wobei er mit seiner Hand kräftig ausholt und Benjamin kann nur mit Mühe und Not ausweichen und stürmt nach oben in sein Zimmer.
Als oben die Tür ins Schloss fällt, muss Benjamin erst einmal nach Atem ringen und rutscht mit dem Rücken an der Tür lehnend runter auf den Fußboden. Er vergräbt sein Gesicht in seinen verschränkten Armen und lässt seinen Gefühlen für einen Moment freien Lauf.
Seine Tränen laufen wie von selbst die aufgeheizten Wangen entlang und hinterlassen in seinen Augen ein unangenehmes Brennen. Er will doch nur geliebt werden, ist das denn zu viel verlangt? Die Nase zieht er hoch und reibt mit den Ärmeln seines Pullovers über seine Augen, um die Tränen wegzuwischen.
„Männer weinen nicht!“ würde sein Vater jetzt sagen.
Weshalb Benjamin auch aufsteht und im Bad einen Waschlappen mit kaltem Wasser tränkt, den er dann mit in sein Zimmer nimmt. Auf dem Bett liegend, findet der Lappen seinen Platz auf Benjamins Gesicht und entlockt ihm ein Seufzen.
Herrlich kühl fühlt sich das an und beruhigt die heißen Wangen, die nach dem Weinen und dem schnellen Laufen ganz gerötet sind.
Leider entspannt es Benjamin auch so sehr, dass er doch tatsächlich einschläft und er wird erst wieder wach, als er die Stimme seines Vaters vernimmt: „Essen ist fertig!“
Benjamin schreckt hoch, während ihm ein Blick auf die Uhr sagt, dass es schon fast sieben Uhr ist. Schnell geht er die Treppe runter und setzt sich zu seinem Vater an den Tisch. Beim Essen wird nicht gesprochen, leider ist dies schon lange eine feste Regel im Haus, die Benjamin einhält.
Zum einen, weil er mal froh ist nicht mit seinem Vater sprechen zu müssen und zum anderen, weil er sowieso nicht wüsste, was er ihm erzählen sollte. Nach dem Essen muss Benjamin den Tisch abräumen und abwaschen.
Er muss viel mithelfen im Haus, wobei er so schon kaum Freizeit hat, bei den ganzen Hausaufgaben. Als er endlich fertig ist, schlägt die Uhr schon Acht und schnellen Schrittes macht er sich auf den Weg nach oben. Die Hausaufgaben warten noch und das sind nicht wenige.
Um zehn ist Benjamin immer noch nicht fertig und als es an der Tür klopft schiebt er schnell seinen Zeichenblock über die Hefte und macht die Schreibtischlampe aus. Wenn sein Vater sehen würde, dass er seine Aufgaben noch nicht fertig hat, gäbe es nur wieder Stress.
„Ja“, sagt Benjamin, wobei sein Vater wohl gute Laune haben muss, denn sonst kommt er immer so ins Zimmer.
Die Tür geht auf und sein Vater kommt herein: „Ich gehe morgen direkt von der Arbeit aus zu Sabrina“, sagt er mit ruhiger Stimme zu Benjamin.
Sabrina ist seine Freundin, mit der er seit kurzem zusammen ist, nicht die erste Frau nach dem Tod von Benjamins Mutter und bestimmt auch nicht die letzte.
„Ist gut“, antwortet Benjamin und schaut mit seinen dunkelbraunen Augen seinen Vater erwartungsvoll an.
„Zu Essen ist ja da und mach ja keine Dummheiten“, kommt es noch ernst von ihm, bevor er die Tür wieder zu zieht.
Was hatte Benjamin auch erwartet, schließlich ist sein Taschengeld für neue Reifen drauf gegangen. Sein Blick wandert zu seiner Spardose, die auf dem Regal über dem Schreibtisch steht. Ein Schütteln verrät das nur eine Münze drin zu sein scheint und als er das Schloss öffnet, kullert tatsächlich nur ein Euro raus.
Während Benjamin sich seine dunklen Locken rauft, wird ihm langsam bewusst, dass das Wochenende wohl ziemlich lang werden wird.