Kastanienbraun – Teil 1

Der Herbst färbt die Blätter rötlich-gelb und läutet die Kastanienzeit ein. Es wird frischer draußen, man muss sich wärmer anziehen und an manchen Tagen sogar schon heizen. Etwas was für jeden von uns selbstverständlich erscheint.

Doch was ist mit denen, die auf der Straße leben?

Wenn die kalte Jahreszeit beginnt, fängt für sie jeden Tag aufs neue der Kampf ums Überlebens an.

Mit einem Gähnen beginnt mein Morgen und mein ausgestoßener Atem bildet einen sichtbaren Nebel. Wir hatten zwar noch keine Minusgrade heute Nacht, dennoch ist es kalt – um nicht zu sagen arschkalt!

Ein wenig Schutz bot mir ein letztes Mal ein Abrisshaus, nächste Nacht werde ich mir einen anderen Schlafplatz suchen müssen.

Kaum bin ich auf den Beinen meldet sich mein Magen, den ich wie schon so oft ignorieren muss. Der allmorgendliche Gang zu den öffentlichen Toiletten ist ruhig. Längst haben die Stricher ihr Geschäft beendet und sich schlafen gelegt.

Die Tür quietscht und gebärt mir Einlass zu einem Ort, an dem sich keiner gerne länger als nötig aufhalten möchte – ich auch nicht.

Schnell erledige ich meine Notdurft und begebe mich ans Waschbecken, um mich wenigstens ein bisschen herzurichten. Mein Spiegelbild zeigt einen noch nicht mal volljährigen jungen Mann, der ausgezerrt und unrasiert noch kümmerlicher wirkt, als ohnehin schon.

Dessen braune Augen schon lange jeglichen Glanz verloren haben und dessen dunkle Haare schon eine halbe Ewigkeit keinen Friseurbesuch mehr erlebt hatten.

Wie es soweit kam, wollt ihr sicherlich wissen.

Der neue Freund meiner Mutter ist schuld an allem! Er mochte mich von Anfang an nicht und eines Abends eskalierte es. Meine Mutter hatte nur noch Augen für ihn und so packte ich heimlich meine Sachen und verschwand. Zuerst konnte ich mich mit meinem Ersparten über Wasser halten, doch nach und nach musste ich lernen zu betteln.

Mittlerweile klappt es ganz gut und ich weiß welche Plätze sich lohnen.

Das Problem was ich habe, dass es nun immer kälter wird und ich mir langsam was einfallen lassen muss.

Das Wasser aus dem Hahn lässt mich zittern und zeigt mir einmal mehr, dass es vielleicht doch keine gute Idee war von Zuhause abzuhauen. Kräftig schüttle ich meinen Kopf und beschließe, dass ich das alles hier schon irgendwie schaffen werde.

Kaum bin ich aus der Tür getreten, fährt ein Wagen langsam an mir vorbei und lässt die Scheibe hinunter.

„Na Kleiner, wie viel?“, ertönt eine tiefe Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken laufen lässt.

Ich erhöhe mein Tempo und laufe schneller als vorher, wobei ich mein Gesicht stur geradeaus richte. Meinen Körper würde ich niemals verkaufen!

Doch das Auto fährt auch schneller und hält mit mir Schritt.

„Och komm schon Süßer. Steig doch einfach ein“, kommt es von der schrecklichen Stimme.

Nun renne ich schon fast und biege bei nächster Gelegenheit in eine Seitengasse ab. Regelrecht panisch nehme ich kaum noch was wahr und renne auch prompt mit jemand zusammen.

„Hey! Kannst du nicht aufpassen?“, quietscht eine junge Stimme.

„Äh… Sorry… Tut mir Leid… „, stammle ich.

„Ach kriege dich wieder ein“, lächelt mich der Junge an, „Ist ja nichts passiert.“

Auf einmal fällt mir der Wagen wieder ein und ich drehe mich hastig um.

„Verfolgt der dich?“, will mein Gegenüber von mir wissen, doch anstatt zu antworten, nicke ich nur.

„Lass das mal meine Sorge sein“, sagt der Junge noch zu mir, bevor er direkt auf dem Wagen zugeht.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich den jungen Mann kenne, mit dem ich gerade zusammen gestoßen bin. Er ist gut einen Kopf größer als ich, etwas kräftiger gebaut, aber scheint mindestens zwei Jahre jünger zu sein, als ich.

Ich sehe ihn manchmal, wie er mit den anderen vor den Toiletten steht und sich anbietet – und das obwohl er doch noch fast ein Kind ist.

Nur wenige Minuten später kommt er wieder auf mich zu und der Wagen fährt weg.

„Was hast du zu ihm gesagt?“, will ich wissen.

„Ach, nur das er nächste Mal einen Rabatt bekommt, wenn er jetzt abdampft“, grinst der Junge.

„Wie heißt du eigentlich?“, will mein Gegenüber auch gleich darauf wissen, „Ich bin Marcel!“

„Dennis“, bekomme ich nur über meine Lippen, da mich Marcels Selbstsicherheit verblüfft.

„Angenehm“, zwinkert dieser und reicht mir die Hand.

Seine Himmelblauen Augen durchbohren mich förmlich und bewirken in mir irgendetwas.

„Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du neu hier?“, fährt Marcel fort.

„Nein… das nicht… aber… äh… „, stottere ich.

„Ach verstehe schon“, beantwortet mein Gegenüber sich selbst die Frage, „Du verkaufst dich nicht.“

„Stimmt! Ich könnte das nicht“, füge ich hinzu.

„Warum? Weil du nicht drauf stehst? Oder weil dir die Typen zu wieder sind?“, bohrt Marcel weiter herum.

„Sehe ich so aus, als wäre ich schwul“, schreie ich ihn an.

Doch anstatt zu antworten, fängt Marcel an zu lachen und kriegt sich kaum wieder ein. Ich werde schon wütend und will verschwinden, als er mich am Arm packt und ganz ernst anschaut.

„Hör mal“, sagt er zu mir, „nur weil ich zufällig auf Männer stehe, heißt es nicht, dass mir das Spaß macht. Auch wenn ich mir oft einen süßen Typen vorstelle, damit es einfacher ist. Ich will nur überleben. Das ist alles.“

Ich versuche den Kloß der in meinem Hals steckt hinunter zuschlucken, doch vergeblich. Aber das Schlimmste ist, dass ich auch noch mit Tränen zu kämpfen habe.

„Hey“, sorgt sich Marcel und legt den Arm um mich, „das war wohl gerade etwas viel für dich, was?“

Ich steh völlig neben der Spur und lasse mich es zu das er mich mit sich führt.

Es geht Richtung U-Bahn-Station, wo viele von den Stricher-Jungs tagsüber herumlungern. Aber wir bleiben nicht in der Halle, sondern gehen Richtung Heizungsraum.

Das Türschloss tut schon lange seinen Dienst nicht mehr, so das ein leichtes Rein- und Rauskommen möglich ist. Marcel leuchtet mit seinem Feuerzeug den Weg zu einer alten Matratze, die, so komisch es klingen mag, für mich wie ein Himmelbett aussieht.

„Pflanz dich!“, befielt Marcel und diesem Befehl komme ich allzu gerne nach.

Die letzte Nacht habe ich im sitzen an einer Steinmauer geschlafen, da ist das hier purer Luxus. Ich spüre noch, wie Marcel mir dabei hilft die Jacke auszuziehen und höre ihn noch irgendetwas sagen, was ich nicht wirklich mehr verstehe, da ich schon ins Land der Träume drifte.

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