Murmeltier – Tag 5

Ich wurde durch ein Geräusch wach, öffnete meine Augen und sah etwas blitzen. Wird sicher eine Spiegelung gewesen sein. Aber dieses Blenden lies mich erst einige Male blinzeln, bevor ich wieder etwas sah.

Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wurde ich doch gerade über den Haufen gefahren, schon saß ich wieder in diesem verdammten Auto und alles war, wie es die letzten Tage war! Wieder redete Jo auf mich ein, aber ich wollte nichts hören!

Könnte mich bitte mal jemand erschießen, dachte ich nur. Es muss doch einen Weg geben, diesem Elend zu entkommen! Jo stieg aus dem Auto, aber ich blieb sitzen. Mir war alles egal, aber ich kannte doch auch schon alles, musste es nicht mehr sehen.

Jo schien meine Schweigsamkeit anders zu deuten. Er dachte, dass ich einen Schock hatte. Ich gab auf seine zahlreichen Fragen keine Antwort, noch nicht einmal eine Regung machte ich. Jo fuhr zur Wache und öffnete meine Tür, um mich aus dem Auto zu ziehen. Ich ließ mich willig führen.

Jo war sichtlich erleichtert, dass ich wieder anfing, meine Umwelt wahrzunehmen. In der Wache setzte er mich wieder auf einen Stuhl und ging zu Hanns, der zu uns schaute. Ich selbst schaute mich nach einer Weile ein wenig im Raum um.

Nicht weit von mir redeten Jo und Hanns, der ihm gerade auf die Schulter klopfte und ein zufriedenes Gesicht machte. Ganz hinten in einer Ecke sah ich Kai sitzen, der zu mir schaute.

Wenn der wüsste, was zwischen uns abgelaufen war!

Am liebsten wäre ich aufgestanden und zu ihm gegangen. Aber hätte das etwas genutzt? Er konnte sich an den vorgestrigen, meinen vorgestrigen Tag nicht erinnern. Also, was soll`s? Nur seine Reaktion vorgestern ging mir nicht aus dem Kopf.

Ich war für ihn nur das Versuchskaninchen. Er wollte es sicher nur mal ausprobieren, wie es mit einem Mann ist. Schade nur, dass er nicht wusste, dass es nichts für ihn war. Er stand auf Frauen, dessen war ich mir sicher.

Aber sagen konnte ich es ihm nicht, schließlich war ich ein Fremder für ihn.

„Wie sieht es aus, Ben?“, fragte mich Jo, der eine Hand auf meine Schulter gelegt hatte, „können wir weiter zur Pension?“

Ich nickte nur und erhob mich. Ich trottete zum Auto, dessen Tür mir Jo aufhielt. Jo startete den Wagen und lenkte ihn sicher zum Parkplatz der Pension. Ich stieg aus und setzte mich auf einen Sessel in der Lobby.

Jo ging zur Rezeption und meldete uns an. Ab und zu sah ich einen besorgten Blick, der in meine Richtung ging. Die Zeit wäre ran, das Karl erscheinen musste. Kaum hatte ich diesen Gedanken fertig, schon ging die Tür auf und er erschien.

Sein Blick blieb an mir hängen und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Also eigentlich sah er ganz niedlich aus. Seine halblangen, blonden Haare passten zu ihm. Sein feingliedriges Gesicht, es war einfach nur schön ihn zu sehen.

Er lauschte den Worten seiner Mutter, die ab und zu in meine Richtung nickte und seine Augen weiteten sich vor Schreck. Ich konnte nicht hören, was sie sagte, aber es schien ihm Angst zu machen, wirkliche Angst.

Auch Jo wurde wieder blass. Es wurde ihm sicher noch mal bewusst, dass wir dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen waren. Rosi drehte sich dann zum Schlüssel Bort und nahm zwei Schlüssel ab, die sie Karl reichte. Er kam langsam auf mich zu.

„Komm mit, ich bringe dich auf dein Zimmer“, sagte er mit seiner warmen Stimme, die einen zittrigen Unterton hatte.

Machte er sich wirklich Sorgen um mich. Ich war doch nur ein Fremder für ihn. Ich stand auf und folgte ihm in mein Zimmer. Wieder die dreizehn! Na was soll´s, einige Sachen würden sich nie ändern. Sollte ich es mal versuchen, mir ein anderes Zimmer geben zu lassen?

Ich stand vor der Tür, die Karl öffnete.

„Danke, den Rest schaff ich allein“, sagte ich und griff mir meinen Koffer, den er zuvor in der Mitte des Zimmers abgestellt hatte.

„Wenn, also, falls ich noch was für dich tun kann“, er sah mir direkt in die Augen.

Wieder jagte mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken.

„Nein, danke“, mehr konnte ich nicht sagen.

Schnell drehte ich mich um und ging mit dem Koffer zu meinem Bett und ließ ihn darauf fallen. Karl stand noch immer im Zimmer, unschlüssig, was er machen sollte. Schließlich drehte er sich um und ging, leise wurde die Tür ins Schloss gezogen.

Endlich konnte ich aufatmen. Ich war allein und so fühlte ich mich auch. Einerseits fand ich es gut, andererseits wollte ich doch auch einen Freund haben, mit dem ich reden konnte, mit dem ich meine Gedanken tauschen konnte.

Einen, dem ich meine Gefühle offenbaren konnte. Aber ich war allein, gefangen in meiner Zeit und wusste nicht, wie ich diesen Teufelskreis durchbrechen konnte. Ich ließ mich aufs Bett fallen und meinen Tränen freien Lauf.

Das war mir schon Jahre nicht mehr passiert. Zum ersten Mal sehnte ich mich nach Nähe, wollte gehalten werden. Aber wer sollte mich halten? Ich ließ doch keinen an mich ran. Schottete mich von anderen Menschen ab, sah nur meine Arbeit.

Ein traumloser Schlaf überkam mich, aus dem ich nach einer ganzen Ewigkeit gerissen wurde. Jo klopfte an meiner Tür. Verschlafen öffnete ich.

„Das ist gut, dass du geschlafen hast, geht es dir nun wieder ein bisschen besser?“

Ich nickte und machte mit einer Hand eine einladende Bewegung. Jo kam in das Zimmer und setzte sich in den Sessel.

„Wollen wir zu Abend essen?“

Mein Blick ging reflexartig zur Uhr und ich musste feststellen, dass ich doch ganz schön lange geschlafen hatte.

„Ja, können wir machen. Muss mich nur noch etwas frisch machen und andere Sachen anziehen.“

„Gut“, sagte Jo, „dann treffen wir uns unten im Gastraum“.

Er stand auf und machte sich auf den Weg nach unten. Ich suchte frische Sachen aus dem Koffer und duschte erst einmal ausgiebig. Schnell noch trockengerubbelt und in die frischen Sachen rein.

Ein Blick in den Spiegel sagte mir, dass ich fertig war. Was würde mich heute noch erwarten? Bei diesem Gedanken hätte ich mich am liebsten gleich wieder ins Bett gelegt. Aber Jo wartete und ein Gespür von Hunger kam bei mir auf.

Also dauerte es nicht lange und ich saß neben Jo am Tisch. Hinter der Bar stand wie immer Katrin und schaute zu uns. Sie setzte sich in Bewegung und kam zu uns.

„Darf ich den Herren etwas zu trinken bringen und die Speisekarte reichen?“

Wie immer fixierte sie mich mit einem Blick, der mir schon mal die Röte ins Gesicht getrieben hatte. Aber nun war ich zu abgebrüht, hatte schon zu viel mit ihr erlebt.

„Ja, bitte für jeden ein Bier und die Karten hätten wir auch gern“, sagte Jo und schaute mich an.

Ich hüllte mich immer noch in Schweigen und nickte nur zur Bestätigung. Katrin verließ den Tisch und Jo schmunzelte mich an.

„Ist doch süß die Kleine“, meinte er zu mir.

„Ja, ist sie. Aber ich kann nichts mit ihr anfangen.“

Jos Lächeln verschwand und machte einen fragenden Gesichtsausdruck Platz.

„Wie, du kannst nichts mit ihr anfangen?“

„Ach Jo, das ist eine lange Geschichte und ich bin sicher, dass sie dich nicht interessiert.“

Jo drehte sich nun voll zu mir.

„Ich hab Zeit, wir können über alles reden, wenn du willst“, und er schaute mich mit einem Blick an, der mir Vertrauen gab.

Innerlich focht ich einen Kampf. Sollte ich Jo alles sagen. Dass sich der Tag immer wiederholt, und was ich schon alles erlebt hatte? Dass ich vielleicht auf Männer stand? Nein, das konnte ich nicht, er würde mich gleich in die Psychiatrie einweisen lassen!

„Jo, entschuldige, aber ich möchte nicht darüber reden“, in dem Moment ging die Tür hinter der Bar auf und Karl betrat den Raum.

Mein Blick fesselte ihn, so wie seiner mich. Jo drehte seinen Kopf zur Bar und konnte Karl ebenfalls sehen. Als er mich wieder ansah, und mein Lächeln bemerkte fiel bei ihm der Groschen.

Ich konnte es förmlich hören, wie die einzelnen Münzen in seinem Kopf aufeinander prasselten.

„Ben, du strahlst ja so, auf einmal“, sprach er und sein Kopf ging wieder Richtung Bar.

„Geh ich recht in der Annahme, dass du vielleicht etwas mit Karl anfangen kannst?“

Ja, ja, ja, hätte ich am liebsten laut gerufen, aber kein Wort kam über meine Lippen.

„Ben, wir haben noch nie viel miteinander zu tun gehabt, aber mein Angebot steht! Wenn du etwas auf dem Herzen hast, kannst du jederzeit zu mir kommen. Und wenn du auf Männer stehst… also ich hab damit kein Problem.“

Ja, das wusste ich. In den letzten Tagen hatte ich Jo schätzen gelernt. Auch die ein oder andere Bemerkung, die er fallen ließ machten es mir klar, dass er nichts dagegen hätte. Aber sollte ich ihn mich offenbaren?

War ich soweit? Schließlich war mein Privatleben, so es eins gibt außer Arbeit, meine Sache!

„Jo, da gibt es nichts, was ich dir sagen könnte“, ich igelte mich wieder ein.

Katrin kam an den Tisch und stellte die Biere ab und reichte uns die Speisekarten. Nur um nicht aufzufallen öffnete ich sie, wusste ich doch schon, was ich bestellen würde.

„Hast du schon gewählt?“, riss mich Jo aus den Gedanken und mein Blick ging wieder von Karl zur Karte.

„Ja, hab ich.“

Jo winkte mit der Hand und Katrin kam wieder zu uns. Wir bestellten unser Essen und ich sah ihr hinterher. Hinter dem Tresen tuschelte sie mit ihrem Bruder, der mich immer noch ansah und lächelte.

Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Was war ich nun? War ich wirklich schwul? Mit Katrin hat es keinen Spaß gemacht, jedenfalls nicht richtig. Mit Karl auch nicht, aber das war mir angenehmer.

Und wieso jagte mir jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn ich Karl nur ansah? Es konnte gar nicht anders sein. Ich stand auf Jungen! Und ich wollte diesen Karl haben. Schon allein, um mir meiner Gefühle sicher zu sein!

Wie aber um alles auf der Welt sollte ich es anstellen? Ihm einfach ansprechen ging nicht. Dazu hatte ich zu viel Schiss. Ich erinnerte mich an den ersten Tag. Da hat es doch eine gute Möglichkeit gegeben, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Aber da war ich noch nicht soweit, schon gar nicht konnte ich es mir selbst eingestehen, dass er mich nervös machte. Auch heute hatte ich schon mal die Möglichkeit gehabt, mit ihm zu sprechen.

Aber eine Kleinigkeit ging mir immer wieder durch den Kopf: War er denn auch schwul? Die Blicke, die er mir zuwarf, ließen eigentlich keinen Zweifel daran. Aber war es wirklich so, oder verrannte ich mich da in eine fixe Idee?

Und selbst wenn er schwul wäre, würde er mich überhaupt nehmen? Plötzlich schaute ich auf und direkt in die blauen Augen von Karl. Er stand mit dem Essen am Tisch und lächelte mich an. Mir verschlug es die Sprache.

Dieser Blick ließ alle Zweifel in mir schwinden. Ich war mir sicher, dass er schwul war und er mich wollte! Und wie sollte ich nun weiter machen? Ich nahm nur noch wahr, wie sich Jo für das Essen bedankte und mich mit einem unverschämten Grinsen ansah.

„Also, wenn da nichts zwischen euch ist“, stellte er amüsiert fest.

Ich schwieg und begann mich meinem Essen zu widmen. Die ganze Zeit über sagten wir keinen Ton. Ab und zu hob ich den Kopf und sah zum Tresen, wo mich auch immer gleich die Augen von Karl erfassten.

Er lächelte die ganze Zeit und mir war es noch nicht einmal unangenehm.

„So, ich muss mal schnell auf die Toilette. Wenn der hübsche Kellner kommt, kannst du noch ein Bier für mich bestellen“, sagte Jo, nicht ohne ein Grinsen auf dem Gesicht und verschwand.

Darauf musste Karl wohl gewartet haben. Jo war noch nicht ganz durch die Tür, da kam er auch schon zum Tisch.

„Hat es geschmeckt?“

Wie süß er mich anlächelte. Diesmal wurde ich doch rot und ihm erging es nicht anders.

„Ja, sehr gut“, sagte ich, aber ich wollte noch etwas von ihm wissen.

Und ich musste allen Mut zusammennehmen, um mein Vorhaben umzusetzen. Er hatte mittlerweile das Geschirr in den Händen als ich ihm tief in die Augen blickte. Er starrte mich auch an, bewegte sich keinen Millimeter.

„Karl, bist du schwul?“

Bumms! So trocken wie ich die Frage gestellt hatte, schlug sie ein! Zuerst wich alle Farbe aus seinem Gesicht, dann begann er zu zittern, schließlich drehte er sich um und lief zum Tresen. Dort stellte er das Geschirr hart auf, dass man das klirren durch den ganzen Gastraum hören konnte und verschwand wie ein Blitz durch die Tür zur Küche.

Katrin schaute mich fragend an, aber ich drehte mich einfach weg. Hatte ich ihn etwa getroffen? Was war das denn für eine Reaktion? Er hätte doch nur ja oder nein sagen müssen! Oder ist mir in den Jahren das Feingefühl abhandengekommen?

Ich hakte die Sache ab. Schade, ich hätte es mir gut mit Karl vorstellen können. Der Abend schien nicht so zu laufen, wie ich es mir noch vor einigen Stunden ausgerechnet hatte. Jo kam wieder und setzte sich auf seinen Platz.

„Hast du noch ein Bier bestellt“, er schaute mich fragend an.

„Nein, hatte noch keine Gelegenheit dazu“, erwiderte ich.

„Aber der Kellner war doch da und hat abgeräumt. Oder hattet ihr keine Zeit dazu?“

Ich hätte Jo eine reinhauen können. Ich wollte grade aufstehen, als die Tür aufflog und eine wütende Katrin auf mich zukam. Reflexartig zog ich den Kopf ein und schaute in ihr wütendes Gesicht.

„Kannst du Arsch mir mal sagen, was du mit meinem Bruder gemacht hast?“

Ihre Stimme war schrill, der ganze Gastraum drehte sich nach uns um.

„Ich hab nur etwas gefragt, aber keine Antwort bekommen“, ich hörte mich arrogant an.

„Du bist so ein Stück Scheiße“, sagte sie und drehte sich um und verschwand wieder.

„Was war das denn“, Jo schaute mich ernst an.

Ich zuckte nur mit den Achseln, tat noch überheblicher und stand auf.

„Ich glaub, das Bier kannst du vergessen“, mehr konnte und wollte ich nicht sagen.

Ich verließ den Gastraum und begab mich auf mein Zimmer. Wie konnte ihn diese Frage nur so durcheinanderbringen? Sicher, man hätte feinfühliger an die Sache rangehen können. Nicht gleich so mit der Tür ins Haus fallen.

Aber was hatte ich in den letzten Jahren auch schon groß privat mit jemand gesprochen. Ich zog mich aus und ging unter die Dusche, wollte nochmal alle Schuld von mir waschen. Um mir selbst Erleichterung zu verschaffen, war ich nicht in der Stimmung.

Mit dem Handtuch um die Hüfte gebunden wollte ich ins Zimmer zurück. Da hörte ich ein leises Klopfen. Das wird doch nicht etwa Katrin sein? Schon mal hat sie mich in dieser Situation an die Tür gerufen.

Ich ging und öffnete einen Spalt breit. Jo stand mit ernstem Gesicht davor.

„Kann ich reinkommen?“

„Sicher, setz dich, ich zieh mir schnell noch was über“, und ging zum Koffer, der noch immer unausgepackt auf meinem Bett lag. Mit ein paar Sachen ging ich wieder ins Bad, um mich anzuziehen.

„Kann ich dir etwas anbieten, die Minibar ist gut gefüllt“, fragte ich ihn im Vorbeigehen.

An der Bar angekommen schaute ich ihn fragend an. Ich hob eine Flasche Bier hoch und er nickte. Er sah müde aus. Was wollte er mit mir besprechen? Tiefe Sorgenfalten konnte man auf seiner Stirn sehen.

„Ben“, begann er leise, „ich hab mich mit Katrin wegen eben unterhalten.“

Ich gab ihm das Bier in die Hand und setzte mich.

„Jo, ich weiß, dass ich mich nicht richtig verhalten habe, aber es war nur eine Frage, die ich beantwortet wissen wollte. Ich kann nichts dafür, dass er so reagiert hat.“

„Du konntest es nicht wissen, aber Karl musste so reagieren. Er wurde vor zwei Jahren hier in der Pension von einem Gast bedrängt, fast wäre er vergewaltigt worden.“

Bumm! Das hatte gesessen! Plötzlich fühlte ich mich wie ein Idiot! Aber andererseits, was hatte es mit meiner Frage und die Reaktion darauf zu tun?

„Katrin hat mir erzähl, dass sich einer der Pensionsgäste an ihm fast vergangen hätte und er seit dem in sich gekehrt ist. Er macht nur seine Arbeit und nicht mehr. Aber heute, als er dich das erste Mal sah, haben alle, die ihn kennen, eine Veränderung gespürt. Nicht nur gespürt, man hat ihm gar nicht mehr wiedererkannt.“

Ich musste schlucken, worauf lief das hinaus?

„Das erste Mal, seit diesem Tag hat er sich wieder für einen Menschen interessiert, war fröhlich und scheinbar aus seinem Schneckenhaus gekrochen. Und dann kommst du und fragst, ob er schwul sei. Da ist wieder alles in ihm hochgekommen.“

Was sollte ich nun sagen? Mir hat es die Sprache verschlagen. Ich dachte zurück, konnte es mir gar nicht vorstellen, aber ich sah ihn die ganzen Tage immer nur fröhlich. Sollte das der gleiche Karl sein, von dem Jo hier redete?

„Ben, alle die mit ihm heute zusammen waren sind sich sicher, dass du ihm wieder einen Sinn fürs Leben gegeben hast.“

Und das ich, der doch keine Ahnung von zwischenmenschlichen Beziehungen hat! Aber ganz abstreiten konnte ich auch nicht, dass es mir ähnlich ging. Seit ich Karl das erste Mal sah, stand auch meine Welt auf den Kopf.

Nicht nur, dass ich in dieser Zeitschleife gefangen war, auch ich begann mich für andere Menschen zu interessieren. Ich begann, mich nach Nähe und Geborgenheit zu sehnen.

„Ben, hast du nur mit ihm ein Spiel gespielt, oder hab ich heute richtig gesehen, dass du ihn vielleicht auch magst?“

Jo musterte mich von oben bis unten.

„Jo, ich bin mir nicht sicher. Aber um ehrlich zu sein, ich finde Karl interessant. Wenn du mich fragst, ob ich schwul bin, dann kann ich dir die Frage nicht beantworten. Ich hab sie mir selbst noch nie gestellt“, versuchte ich abzulenken.

Sicher hatte ich mir die Frage schon so oft gestellt, seitdem ich Karl das erste Mal gesehen hatte. Ich war mir sogar fast sicher, dass ich es bin, aber ich wollte vor Jo keinen Seelenstripties hinlegen.

„Ben, lass es mich vorsichtig ausdrücken: Du bist schwul“, und meine Gesichtsfarbe nahm eine ungesunde rote Farbe an.

So direkt hatte es mir noch nie jemand gesagt, aber gleichzeitig alles damit ausgedrückt, was in mir vorging!

„Bevor du weiter grübelst Ben, Karl ist auch schwul. Er hatte sich mit zwanzig bei seiner Familie geoutet, aber noch nie einen Freund gehabt. Und dann zwei Jahre später passierte es dann. Irgendwie ist der Pensionsgast dahintergekommen und hat ihn in der Nacht abgepasst. Den Rest kennst du. Daraufhin hat er sein Studium geschmissen und hat keinen Schritt mehr aus der Pension gemacht.“

Meine Gedanken überschlugen sich. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich ihn nicht nur interessant finde, sondern mich vielleicht auch in ihm verliebt hatte. Was sollte ich machen? Ich fühlte mich mit einem Schlag leer.

„Wenn dir wirklich etwas an ihm liegt, solltest du morgen mit ihm reden. Ich kann auch dabei sein, wenn es dir recht ist.“

Das war ja mal ein guter Vorschlag von Jo. Aber ich wusste, dass der morgige Tag wieder mit einem Blenden in den Augen beginnen würde, ich ihn aber anders angehen würde. Ich begleitete Jo noch zur Tür und schloss hinter ihm ab.

Wie sollte ich es anfangen, wie konnte ich es anstellen, dass zwischen uns etwas zustande kam, was wir beide brauchten, was wir beide uns wünschten? Die Zeichen waren klar, Karl hatte sich in mich verliebt.

Und umso mehr ich nachdachte wurde mir klar, dass ich ihn auch liebte! Nicht nur sexuell begehrte, nein, richtig liebte. Aber auch nicht aus Mitleid! Ich wollte ihn für mich gewinnen, ihn nie wieder loslassen!

So verbrachte ich noch einige Zeit damit, einen Schlachtplan für morgen auszuarbeiten. Irgendwann fielen mir die Augen zu und ich sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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