Das Boycamp III – Teil 3

Das zweite Camp und dessen Betreuer kennen lernen, das ist Nicos nächste Station. Auch der erste „Dienst“, der Marsch in Richtung Verladebahnhof, steht an. Ein totes Tier lässt einen unangenehmen Verdacht aufkommen und plötzlich ist einer der Jungen aus dem Camp verschwunden.

Sie stiegen aus und Nico folgte Stein auf einem schmalen Pfad, der hinter dem Gebäude zu einem dichten Tannenwald führte. Insgesamt war das Gelände nicht annähernd so weitläufig wie das in Camp eins.
Rick ging den Weg voraus, der wusste schon wohin die beiden wollten. Dann hörte man Stimmen, manchmal ein Lachen, schließlich kamen sie auf eine kleine freie Fläche in einem Kiefernwald. Der Boden war hier völlig frei von Gestrüpp, nur Wurzeln hier und da und die Schritte wurden durch den dicken Teppich aus Kiefernnadeln gedämpft.

Da standen die Zweiergruppen, hantierten mit den Zeltbahnen, einige hatten schon ihr Zelt stehen und waren dabei, eine Regenrinne drum herum auszugraben. Nico hoffte fast, dass diese Rinnen nicht umsonst gemacht wurden. Deutlicher noch als im anderen Camp waren hier die Spuren der Trockenheit zu sehen. Es wurde wirklich Zeit, dass es einmal regnete.

»So, da drüben ist Irwin«, sagte Stein und sie gingen auf den großen, kräftigen Mann zu. »Er ist Deutsch-Russe und neben Ergotherapeut auch unser Dolmetscher. Wir haben uns dazu entschieden, weil es immer wieder Probleme mit der Verständigung gibt. Er spricht 6 Sprachen, aber frag mich jetzt nicht im Detail, was für welche. Er ist 35, ledig und los.«

Der Mann, der zwei der Jungen gerade ein paar Kniffe des Zeltbaus beibringen wollte, unterbrach seine Tätigkeit und kam ihnen entgegen. Wenn jemand eine Vorstellung vom Ausbilder in einer Armeeeinheit hat, der über Stock und Stein oder glatte Wände hochgeht, barfuss durch Feuer läuft oder unter der Erde kriecht, dann war er genau der Typ.
Gute zwei Meter groß, um die 90 Kilo, Igelschnitt, kantiges Gesicht, Hände, die an Schraubstöcke erinnerten. Wie er es bei dieser Hitze in seinem Tarnanzug aushielt, war Nico absolut schleierhaft.
Und trotzdem, es war nicht nur seine respekteinflößende Figur, die diesen Mann auffallen ließ. Er hatte einen gewissen Ausdruck von Ruhe, Besonnenheit. Sicher, er würde jedem hier mit einem einzigen Hieb seiner Pranke das Genick brechen wie ein Streichholz, aber mit Sicherheit auch würde er ganz genau wissen, wo er treffen musste.
Das war kein Elefant im Porzellanladen oder ein grobschlächtiger Haudegen, die man in solchen Fällen gern zum Vergleich heranzog. Trotzdem reichte er ihm mit einer gewissen Vorsicht die Hand. »Nico Hartmann.«

»Irwin Probst. Hab schon viel von dir gehört. Freut mich.«

Was er schon gehört hatte, wollte Nico lieber nicht wissen, aber er nahm an dass es nur die guten Dinge waren. Ihm fiel zudem auf, dass Probst völlig akzentfreies Deutsch sprach.

Der Mann wandte sich Stein zu. »Hallo Falk.« Schließlich überzog Probst’s Gesicht ein breites Lächeln. »Na, Rick? Auch mal wieder hier?« Der Husky schwänzelte, aber eher verhalten wie Nico zu erkennen glaubte.

»Und, ist alles okay?«, wollte Stein von Probst wissen.

»Melde: Keine besonderen Vorkommnisse.« Dabei setzte er ein süffisantes Grinsen auf.

»Schön. Ich wollte auch nur Nico kurz vorstellen.«

Der Riese wandte sich wieder Nico zu. »Na denn, erfolgreiche drei Wochen kann ich nur sagen. Viel Spaß übrigens auch.« Dann zwinkerte er. »Wird alles nich heißer gekocht als gegessen.«

»Danke, kann’s brauchen.«

Nicos Blick schweifte über den kleinen Platz. Leo Meier war weiter hinten mit einer Gruppe am arbeiten, ihn wollte er jetzt nicht dabei stören.

»So, komm, da hinten ist Gerd. Gerd Hagen. Ist erst seit diesem Jahr bei uns. Er ist 27, verheiratet, keine Kinder. Macht sich gut hier, wir sind zufrieden.«

Welch Gegensatz zu Irwin Probst. Der Betreuer war so groß wie Nico, aber erstaunlich schlank. Fast zu schlank für Nicos Begriffe. Kurze, braune Haare, die etwas wirr auf dem Kopf standen, einen Ohrring, ebenmäßiges Gesicht, das eigentlich eher einem aufstrebenden Angestellten stehen würde, dazu eine etwas blasse Hautfarbe.

Er gab Nico die Hand. »Willkommen. Na, schon ein bisschen eingelebt?«

»Wird noch dauern, ist ja erst eine Nacht um.«

Auch er wünschte Nico einen guten Aufenthalt, bevor er sich wieder seiner Aufgabe widmete.

Leo Meier winkte den beiden kurz zu, dann wandte auch er sich wieder den beiden Jungen und dem Zeltbau zu.

»Also, wie gesagt, die Jungs kannst du ja dann beim Grillfest kennen lernen. Jetzt sollten wir aber wieder zurück, du möchtest ja sicher beim Eingewöhnungsmarsch dabei sein.«

Ob er wirklich dabei sein wollte, da war sich Nico angesichts der rasant ansteigenden Temperatur nicht ganz sicher. Bevor sie in den Wagen stiegen, sah sich er noch einmal kurz um. Es war schwer zu sagen, ob es ihm hier besser gefallen könnte.

Stein fuhr den Wagen nach der Rückkehr aus Camp zwei direkt zur Sammelstelle vor dem Wald, damit waren sie schneller auf dem Pfad zum Zeltplatz.

»Camp zwei liegt ja ganz schön«, bemerkte Nico, »aber hier ist’s doch was anderes.«

»Klar, hier kennst du dich aus. Da hat man automatisch eine andere Beziehung dazu.«

»Irwin ist ja ein ganz schöner.. Koffer möchte ich mal sagen. Wie kam er denn zum Camp?«

»Er hat irgendwann in der Armee gedient, irgendwo in der Ödnis des Ostens. Seine Bewerbung war deshalb schon eine Besonderheit, weil er sich in seiner Freizeit die Fremdsprachen angeeignet hat. Dass wir so jemanden brauchen könnten war öfter Diskussion gewesen und damit kam er eigentlich wie gerufen. Aber neben den sechs Sprachen hat er’s auch sonst gut drauf. Es hat bis jetzt jedenfalls noch keine einzige Beschwerde über ihn gegeben.«

»Und Gerd Hagen.. eigentlich vermutet man hinter dessen Aussehen ja eher einen braven Angestellten.«

Stein lachte. »Im Grunde schon. Aber wehe, wenn er sozusagen losgelassen. Erstens hat er’s didaktisch drauf und im Gelände.. er ist einer von der Sorte, die sich von Beeren und Maden ernähren können. Er kam direkt von der Bundeswehr zu uns.«

Schon um diese frühe Uhrzeit füllte sich der Wald mit der Hitze des Tages, die Schritte er Männer knirschten unter den trockenen, dürren Ästchen und den Blättern, die von der Trockenheit gewelkt aus den Bäumen gefallen waren.

Das Camp stand bereits, die Jungen hatten sich um Rainer Bode versammelt und lauschten. Ohne zu stören stellten sich Stein und Nico dazu. Es ging um den Eingewöhnungsmarsch, der wie geplant wegen der Hitze nur gemächlich absolviert werden sollte. Gefüllte Wasserflaschen waren an diesem Vormittag das oberste Gebot, das bekam Nico noch mit. Er sah zu Falk neben ihm. »Dann geh ich also da mit?«

»Klar. Sollst du ja auch. Der Erste Hilfekasten ist schon da seh ich und du solltest auch an Wasser denken. Es gibt erst oben am Bach wieder die Möglichkeit und du weißt ja, wie weit das ist.«

Der Bach.. Jene Stelle, an der sie damals von den Hunden angefallen worden waren. Ein kleiner Stich fuhr ihm in die Brust, denn das war auch der Zeitpunkt, wo sich Stefan und er wieder versöhnt hatten und Raffael von Erkan zurechtgewiesen worden war.

Zehn Minuten später kam Nico mit den nötigen Utensilien zurück. Auch Rick wollte mitlaufen, trotz der Hitze, bei der Hunde im Allgemeinen lieber irgendwo im Schatten liegen und dösen.

»Fertig?«, fragte Rainer Bode die Gruppe und nach einem gemeinsamen Ja liefen sie los.

»Wird wohl nicht so ein hohes Tempo werden«, sagte Nico, der dann zusammen mit Bode am Ende der Gruppe lief.

»Nein, eher nicht. Es ist mehr so ne Einstimmung auf die Zeit hier. Länger als zwei Stunden werden wir nicht machen, es hat echt keinen Sinn. Zudem haben die ganz schön kontrovers diskutiert, von wegen Sinn und Zweck und so. Zum Glück ist’s fast immer das gleiche, da weiß man was zu sagen ist.«

»Dann kommen wir also höchstens bis zum Bahndamm?«

»Genau. Wenn du so willst, ist das unser Ziel. Kleine Rast am Bach und zurück.«

Obwohl Nico etliche Fragen im Kopf hatte, war ihm nicht unbedingt nach reden. Viel mehr hing er seinen Gedanken nach, an die Zeit hier oben, die ersten Stunden und Tage, damals. Denn gerade jetzt, wo seine Erinnerungen durch die vertraute Umgebung so deutlich wurden, vermisste er seinen Freund. Stefans Nähe, die Zärtlichkeiten.
Vieles gab es aufzuzählen, was nach der Trennung plötzlich fehlte und all die Zeit hatte Nico es geschafft, sich abzulenken. Durch sein Studium zum größten Teil, aber auch durch den festen Willen, all das hinter sich zu lassen.
Jetzt waren seine Gedanken frei, ließen Platz für Wünsche und Sehnsüchte. Sein Blick ging nach vorne, wo die Gruppe in einer Reihe wortlos durch den Wald marschierte. Marco lief vor ihm und Nico konnte gar nicht anders, als den Gang dieses Jungen genauer zu beobachten. Anmutig fast und so Graziös, genau wie Stefan.

»Was wirst du nach dem Studium machen?«, fragte Bode nach einiger Zeit.

»Weiß noch nicht. Aber ich glaube, in einem Camp würde ich schon arbeiten wollen.«

»Na ja, du weißt wie das hier zugeht. Vielleicht noch aus der Sicht eines Teilnehmers, aber nach den drei Wochen kann gut möglich sein, dass du eine andere Sichtweise bekommen hast. Das ist leider Gottes oft nicht ganz einfach.« Sie liefen mit so großem Abstand der Gruppe hinterher, dass man ihr Gespräch nicht verstehen konnte.

»Möglich, ja. Aber ich werde auf diesem Gebiet wohl kaum einen Job finden, der einfach ist.«

Bode nickte. »Da ist wohl was dran.«

»Weißt du was Serrolas angestellt hat? Ich habe die Akten noch nicht durchlesen können.« Nicos Frage musste auffallen, denn Rainer war nicht blöd, davon war Nico aus vielerlei Gründen überzeugt. »Fällt mir grade so ein, weil der heute Nacht herumgegeistert ist.«

»Hat wohl mit Haschisch gedealt und seinen Arbeitgeber.. ein bisschen traktiert.«

»Du kennst sie wohl alle sehr genau, aus den Akten mein ich.«

»Ja klar. Wir kriegen die Unterlagen schon einige Zeit vorher und müssen uns halt die Zeit nehmen, sie durchzulesen.«

»Hab dazu einfach noch keine Gelegenheit gehabt«, entschuldigte sich Nico.

»Kein Problem. Du kannst ja auch mich oder Falk fragen, nur keine Bange.«

»Stopp mal da vorne, wir machen eine kleine Pause!«, rief Bode nach einer knappen halben Stunde. »Und denkt dran, es wird nicht geraucht.«

Das erzeugte wohl erneut Unmut, irgendetwas grummelten die Jungs. Sie setzten sich an die Böschung des Waldwegs und tranken aus ihren Feldflaschen.

»Macht das denn hier überhaupt einen Sinn? Ich meine, das haben wir uns ja damals auch gefragt.«

»Ablenken. Die müssen hier erst mal ankommen und man muss ihnen Zeit geben, sich kennen zu lernen. Das klappt nicht gut wenn sie nur abhängen. Und du weißt ja, dass die Gruppenstunden nicht einfach sind. Sie wissen dass das auf sie zukommt und die meisten von ihnen haben noch nie über ihre Probleme geredet. Also zumindest nicht in so einem Rahmen. Vor Gericht zum Beispiel wird kaum einer sein ganzes Leben offen darlegen. Wozu auch, wenn es in der Regel reicht zu wissen, dass sie eine schwere Jugend hatten.«

»Wird sich das nicht immer zu leicht gemacht? Ich meine, nicht alles lässt sich ja dadurch rechtfertigen.«

»Nico, das ist absolut richtig, aber so ist das nun mal. Marco Serrolas, als Beispiel jetzt, ist in Berlin aufgewachsen. Zwei Brüder, die immer bevorzugt wurden. Vater Trinker, die Mutter scheint mit der Wahl ihrer Männer nebenher nicht sonderlich Wählerisch zu sein.«

»Das steht alles in den Akten?«

»Ja, nicht wortwörtlich natürlich, aber die Bewährungshelfer schreiben es eben so, dass man daraus seine Schlüsse ziehen kann. Ist bei weitem nicht immer so. Bei dem Roman Vavlek zum Beispiel, da müssen wir viel aufarbeiten, von ihm wissen wir fast nichts.«

Trotz der Aussage, es würde hier nicht immer einfach sein, fand Nico diese Arbeit sehr interessant. Nur, das Wissen ist das eine, zum Erfolg zu kommen das andere. Er nahm eine gesonderte Wasserflasche aus seiner Umhängetasche und füllte etwas davon in eine kleine Schale. »Hier, Rick.«

Schwanzwedelnd schlabberte der Husky das Wasser auf. »Falk schein ziemlich traurig zu sein, dass er ihn hier lassen muss.«

»Oh ja. Die beiden sind immerhin ein Herz und eine Seele. Aber ich denke, Falk wird so schnell wie möglich eine Lösung finden. Solange muss der Hund halt hier klarkommen.«

Nico kraulte Ricks Fell und verstaute die Flasche und Schale in der Tasche.

»Okay Jungs, es geht weiter«, ordnete Bode an und murrend erhoben sich die Jungs. »Keine Müdigkeit vorschützen, wir sind in einer halben Stunde da.«

Sie durchquerten den Buchenwald, an dessen anderen Ende bereits der Bahndamm begann.
Bode wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Verdammt heiß heute wieder.«

»Ja, und keine Änderung in Sicht. Sieh dir bloß mal an, wie die Büsche hier vertrocknet sind.«

»Das auch. Aber man hört und sieht auch keine Tiere. Alles scheint irgendwie in Deckung zu sein.«

Schließlich verließen sie den Wald und betraten die Wiese. Sofort fiel Nicos Blick auf die Gruppe mit Trauerweiden. Stefan.. Einen Moment schien es, als wäre alles erst Gestern gewesen. Er griff Ricks Fell und kraulte ihn. »Ja, Rick, das war ganz schön heftig.«

»Wir gehen zu dem Bach da unten!«, rief Bode, »das Wasser ist absolut sauber, da könnt ihr eure die Flaschen füllen.«

Nico grinste. »Und die Füße reinstellen«, ergänzte er laut.

Bode lachte. »Ja, und das auch.«

Nico setzte sich an den Stamm jener Weide, auf der Erkan Zuflucht gesucht und ihn hinaufzuziehen wollte. Sein Blick ging einige Meter von dem Baum über die Wiese. War da nicht genau die Stelle, wo er sich auf Stefan stürzte? Ihr erster Kuss nach all der Zeit. Er schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben, das alles hier.«

»Ja, ich weiß, Nico.«

Die Rast dauerte nur kurze Zeit, denn über die Wiese kam ein leichter, aber heißer Wind. Jeden zog es deshalb zum Wald, in den Schatten der Bäume.
Nachdem die Gruppe ihre Flaschen gefüllt und mit nackten Füßen eine leichte Abkühlung genommen hatten, ging sie zurück auf den Weg und setzte ihren Marsch fort.

Schließlich kam der Bahndamm in Sichtweite. Die Gräser und Sträucher, die sich im Lauf der Jahre dort ihr Reich zurückerobert hatten, waren nun gelb und verdorrt, fast wie im Winter sah es nun aus.

»So Jungs, da sind wir.« Bode sah auf die Uhr. »In 15 Minuten geht es wieder zurück.«

Die Jungs überquerten den Bahndamm, da auf der anderen Seite die Bäume Schatten spendeten.

»Die sind ziemlich wortkarg«, bemerkte Nico, nachdem sich auch er und Bode im Schutz der Bäume ins trockene Gras gesetzt hatten.

»Oh Nico, wart ihr damals so ganz anders?«

»Hm, weiß ich gar nicht mehr.«

»Denk mal drüber nach.«

»Sag mal, ist Rick unruhig oder täusch ich mich?« Nico betrachtete den Rüden, der zwar wie gewohnt hechelte, sich aber dennoch irgendwie sonderbar benahm.

»Keine Ahnung. Dem wird diese Hitze zu schaffen machen, wie uns auch. Aber, geh mal rüber und frag die Jungs, ob alles okay mit ihnen ist«.

»Ähm.. Rainer, ich soll..?«

»Wärst du nicht dabei, müsste ich das tun. Denk dran, die sollen sich nicht nur untereinander kennen lernen, wir gehören dazu.«

»Meinst du? Also, ich weiß jetzt nicht.«

»Na los. Du weißt ja, warum du hier bist.«

Nico stand auf. Wohl war ihm nicht, wobei es keine Angst war die ihn zögern ließ. Schließlich gab er sich einen Ruck, irgendwann musste er ja einmal damit anfangen.
Er lief zu der Gruppe hin, die mehr oder weniger lustlos im Gras saß.

»Hallo. Ist alles klar mit euch?« Er versuchte, seine Unsicherheit zu verbergen und wünschte, falls ihm das nicht ganz gelingen würde, dass sie es nicht bemerkten.

Alle Blicke waren nun auf ihn gerichtet.

»Wieso latschen wir bei dieser Hitze hier draußen rum?«, wollte Roko Svenic wissen, wobei seine Frage durch Kopfnicken der anderen unterstrichen wurde. Nico war sich in dem Augenblick nicht im Klaren, was sie wissen sollten und was nicht.
Etwas verwirrt sah er zu Rainer Bode hin, der sich jedoch mit Rick beschäftigte, dann kniete er sich in ihre Mitte der Gruppe. Die Gesichter der Jungen glänzten vor Schweiß, die meisten hatten Schwitzflecken auf ihrer Brust. Dabei durften sie sich schon ziemlich leicht bekleidet hier bewegen; sie trugen Shorts und ärmellose Tops, zwei hatten die schlechtere Wahl mit ihren T-Shirts getroffen.
»Nun, ihr seid gestern hier angekommen und es liegen noch einige Tage vor euch. Es ist einfach wichtig, dass ihr euch relativ schnell kennen lernt.«

»Und dazu müssen wir hier durch die Pampa eiern? Das könnten wir doch genauso gut auch im Camp.«

»Dort seid ihr lange genug. Und gebt mal zu: Wer hat das letzte Mal etwas für seine Fitness getan?«

Die Jungen sahen sich an, aber Antwort kam keine, dabei hatte Nico eher den Anschein, dass einige von ihnen regelmäßig etwas für ihren Körper taten. »Okay, dann.. bis später.«

»Ähm..«

Nico drehte sich um, denn diese Äußerung galt offensichtlich ihm. »Ja?«

Peter Engel stand plötzlich auf. »Gibt’s hier irgendwo ne Müllkippe?«

Nico rollte die Augen. »Eine was?«

»Müllkippe. Hier stinkt es doch gewaltig, riecht das denn keiner?«

Die Jungen sahen Peter an, einige sogen die Luft durch die Nase.
Als wäre auch Rick gefragt worden, kam er plötzlich auf die Gruppe zu. Nico stellte nun ebenfalls einen feinen, süßlichen Geruch fest. Rasch fiel sein Blick auf den Husky. »Rick, das dürfte deiner Nase ja keinesfalls entgangen sein.«

»Stinkt ja echt bestialisch«, bemerkte nun auch Patrick, da jetzt ein leichter Windhauch den Gestank intensiver herantrug.

»Rick, was ist das?«

Der Hund verstand Nico, bahnte sich einen Weg durch die Gruppe und lief den Bahndamm entlang.

»Bleibt mal hier, ich geh nachsehen«, rief Nico der Gruppe zu und folgte Rick durch die hüfthohen, trockenen Gräser.
Zeitweise sah er nur an der Bewegung der Rispen, wo Rick entlang lief. Nach etwa fünfzig Metern blieben die Gräser ruhig, Rick bewegte sich anscheinend nicht mehr weiter. Stattdessen bellte er einige Male auf.
Der Gestank war bereits fast unerträglich geworden. Nico verlangsamte sein Tempo und versuchte, durch die Gräser vor sich etwas zu erkennen. Aber erst als er bereits bei Rick angekommen war, erkannte er die Ursache des nun bestialischen Gestanks, bei dem Nico beinahe schlecht geworden wäre.
Wolken von Fliegen umschwirrten den Kadaver, der Anblick war grausig. Rick saß einige Meter von dem toten Reh entfernt, das wohl schon längere Zeit hier gelegen hatte.
Nico schmeckte nun schon fast der beißende Gestank und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. »Komm, Rick, das ist nichts für uns.«
Wesentlich schneller kehrte Nico zur Gruppe zurück und erst dort wagte er es, wieder tief durchzuatmen. »Puh, das war heftig. Da ist ein totes Reh, daher dieser Gestank.«
Ohne bei der Gruppe anzuhalten lief er zu Bode, der sich inzwischen bequem ins Gras gelegt hatte. »Du, Rainer, da hinten liegt ein Reh. Schon länger, wie mir scheint. Das müssen wir doch melden oder?«

Bode richtete sich auf. »Ein Reh? Aha, deswegen war Rick so unruhig.. Hm, ja, klar, da müssen wir Bescheid sagen.«

»Also besser du gehst da nicht hin«, Nico schnüffelte an seinem Hemd, »der Gestank setzt sich an einen wie Fliegenleim. Abgesehen davon, dass es von denen Milliarden dort gibt.«

Bode nahm sein Handy. »Wir haben engen Kontakt mit der Försterei. Hubert Angelmann, den kannst dir merken, der ist hier zuständig. Denk dran dass ich dir seine Nummer gebe. Für alle Fälle.«
Damit wählte Bode die Nummer und gab dem Förster die Lage des toten Tieres bekannt. Allerdings schien es bei dem Gespräch mit ihm um noch etwas anderes zu gehen, denn Rainer Bode machte ein zunehmend ernstes Gesicht. »Aha.. ah so, gut. Ja, melde dich wieder. Bis dann.«

Nico kniete sich neben Bode. »Was hat er gesagt?«

»Dass das eigentlich recht ungewöhnlich wäre. Allerdings, er hat schon länger den Verdacht, dass jemand in den Wäldern hier wildert. Er kommt so schnell er kann.«

»Ein Wilderer?« Nico setzte ein bereites Grinsen auf. »Komm, die gibt’s doch bloß in Groschenromanen.«
Bode lächelte. »Der Meinung kann man sein, sicher, aber genauso gut könnte man ja auch Geld sparen fürs Wildbret. Jetzt, wo alles so teuer ist.«

»Rainer, also ehrlich.«

»Spaß beiseite, Nico. Man braucht dafür nur ein Nachtsichtgerät, ein ebensolches Zielfernrohr, dazu ein Schalldämpfer. Das ist erst neulich passiert, im Bayrischen. Ganz so futuristisch ist das also nicht. Aber komm, ist nicht unser Problem. Hubert weiß ja wo er das Tier findet, wir können zurück. Es wird sowieso Zeit.« Bode rief die Jungs zum Rückmarsch auf, wartete mit Nico und Rick, bis sie an ihnen vorbei waren und liefen ihnen dann hinterher.

»Ich geb dir mal eben Angelmanns Nummer«, sagte Bode und Nico tippte sie in sein Handy.

»Also ich weiß nicht, ich glaub ich komm denen nicht viel näher als jetzt«, sagte Nico, nachdem sie den Bahndamm verlassen hatten.

»Quatsch. Spätestens bei den Gesprächen wird das anders.«

»Da bin ich ja höchstens mit dabei.«

»Stimmt wohl nicht so ganz. Soviel ich weiß, wirst du auch selbst solche Gespräche führen.«

Nico blieb schlagartig stehen. »Ich soll.. alleine mit denen?«

»So hab ich’s verstanden.«

Davon hatte Falk nichts gesagt. Wahrscheinlich wollte er dich nicht frühzeitig verunsichern, dachte Nico. »Na, das kann ja heiter werden.«
Nachdenklich trottete er hinter Bode her, der nun die Abkürzung zum Camp nahm. »Sag mal, ist dir der eine Junge da vorne auch schon aufgefallen?«

»Welcher?«, fragte Bode.

»Wie heißt er gleich noch.. der zweite in der Reihe?«

»Du meinst den Herres? Antoine?«

»Ja, genau den. Kann mich freilich täuschen, aber er hat auch vorhin schon so einen bedrückten Eindruck auf mich gemacht.«

»Ich hab nicht drauf geachtet, aber möglich ist das. Wer weiß schon, was der eine oder andere hinter- und noch vor sich hat. Manchmal nimmt mich echt Wunder, dass die sich hier überhaupt mit etwas abgeben.«

»Irgendetwas scheint den Jungen sehr stark zu beschäftigen. Er sieht beim laufen nur auf den Boden, kümmert sich nicht um Rechts oder Links. Auch die Sache mit dem Reh hat ihn augenscheinlich überhaupt nicht berührt und zudem wirkt sein Gang schwerfällig.«

»Es ist nicht verkehrt, so genau auf alles zu achten, Nico«, beruhigte ihn Bode, »mehr noch als durch das, was sie sagen, kannst du dadurch einiges über ihr Wesen herausfinden. Über Kurz oder Lang bestätigt sich das, in sehr vielen Fällen.«

»Kann man sie dann fragen, ob sie darüber reden möchten?«

»Ja, man kann. Aber das erfordert ne ganze Menge Fingerspitzengefühl, denn allzu leicht mauern sie. Deckel drauf und wenn das passiert, dann kriegt man den ganz selten wieder auf. Du musst den richtigen Augenblick dazu abpassen und das.. kommt erst nach einer gewissen Zeit.«

»Dann glaubst du, die drei Wochen werden dafür nicht ausreichen?«

»Das glaub ich, ja. Ich mach das Geschäft ja nun schon lange und hab trotzdem manchmal noch so meine Probleme. Das geht jedem Betreuer so.«

Trotz dieser Aussage beobachtete Nico den Jungen weiter. Zu dumm, dass viele Dinge hier Zeitabhängig waren; Erfahrungswerte bestimmten wohl auch über den Erfolg der Therapie und solche Werte konnte er eben nicht vorweisen. Noch nicht.

Der Rückweg dauerte dann auch trotz der Abkürzung etwas länger, da die Hitze inzwischen selbst unter dem geschützten Blätterdach des Waldes fast unerträglich geworden war. Rainer Bode schleuste die Jungen dann auch direkt zum Gebäude, damit sie sich duschen konnten.

»Übrigens, sie haben allgemeine Duscherlaubnis, immer wenn sich Zeit dafür findet. In ihrer Freizeit sowieso und auch in den Pausen«, erklärte Bode die Maßnahme. »Das musste man in den letzten beiden Einheiten keinem zweimal sagen. Im Übrigen wäre es fast eine Zumutung bei diesem Wetter und schließlich sind wir ja keine Monster.«

Nico war ebenfalls nach einem Schwall kalten Wassers über seinem Körper, aber dazu musste er warten bis die Duschen geräumt waren. Einerseits war da natürlich wieder dieser Abstand, den er als Betreuer einhalten musste, andererseits war es besser so, denn Marco nackt vor sich zu haben könnte die seltsamsten Folgen haben.
So setzte er sich mit Bode auf eine Bank, die man wegen der Hitze auf der Rückseite des Gebäudes aufgestellt hatte.

„Gezimmert von der 2. Einheit 2006“ stand auf einem silbernen Schild, das auf der Rückenlehne der Bank angeschraubt war. »Aha. 2. Einheit also.«

Bode lachte. »Ja, so werden die halt genannt. Die erste Einheit beginnt Anfang April, die letzte Anfang September.«

»Also waren das die, welche im Mai hier waren, richtig?«

»So ist es. Wir haben ja immer eine Woche frei dazwischen, wobei frei nicht das richtige Wort ist. Der Laden muss wieder auf Vordermann gebracht werden, Material für die Ergo, Umbauten, Reparaturen und natürlich Aktenstudie für die neue Einheit. Also ist immer was los hier.«

»Und von Oktober bis März? Was macht ihr da so lange?«

»Das war ein Problem, zumal ja nicht jeder gern im Winter Urlaub macht. Von Oktober bis März kann man hier als Betreuer Urlaub machen, mit Familie. In der Regel sind es Therapeuten aus anderen Camps, zumal das hier ja auch als Schneesicheres Gebiet gilt. Natürlich nicht alle zusammen, aber das klappt ganz gut mit der Einteilung. Ansonsten beschäftigen wir uns in diesen Monaten mit der Jahresbilanz und mit Weiterbildung.«

»Aber soviel Neues gibt’s doch eigentlich kaum, oder?«

»Nein, das ist schon klar. Aber dazu gehören auch die Aufarbeitungen der Erfolge oder Fehlschläge. Und wenn du jetzt 12 mal 6 nimmst, dann sind das 72 Jungs, deren Akten so quasi neu gemischt werden müssen. Zudem müssen die Dienstpläne ausgearbeitet werden und das Equipment zu planen dauert auch seine Zeit. Eine Arbeit, die man im Sommer nebenher gar nicht machen kann.«

Das hörte sich zwar nicht nach eitlem Sonnenschein an, aber Nico witterte daneben trotzdem eine gewisse Freizeit. Und es gab noch einen Nebeneffekt, den man nicht außer Acht lassen durfte: Langweilig würde es ihm bei diesem Job ganz sicher nicht.
Er streckte die Beine aus und nestelte eine Zigarette aus seiner Tasche. »Weißt du, ich glaube, ich würde mich an diesen Job gewöhnen können, trotz allem. Sag nämlich jetzt nicht, der wäre nichts für mich.«

Bode lachte. »Nein, ich werd mich hüten. Aber im Vertrauen: Falk hält große Stücke auf dich, das hat er auch genau so gesagt. Und er meinte damit nicht die drei Wochen hier. Er sagte zu mir, der Nico, der hat das Zeug. Er weiß wie man sich verhalten muss, zeigt Interesse, denkt mit und hat eine große Portion Menschenkenntnis.«

Nico räusperte sich und zudem fürchtete er, rot zu werden. »Das hat er gesagt?«

»Kannst ihn fragen. Professor Roth hat ja keine Sekunde gezögert, als das mit dem Praktikum bekannt wurde. Glaub mir, die wollen dich hier haben. Und ich.. übrigens auch.«

Das war Nico fast zuviel. Gepaart mit seinem Optimismus, den er eh schon hatte, wurde eigentlich nur eines für ihn klar: Er wollte hierher und er konnte es auch, es lag allein an ihm. Er nahm sich vor, noch vorsichtiger zu sein was die Jungen betraf und er würde alle Akten lesen, noch in der kommenden Nacht. Er durfte alles, nur eines nicht: Die Betreuer hier enttäuschen.
Er beugte sich hinunter und kraulte im Fell von Rick, der unter der Bank lag. »Ich glaub, er gewöhnt sich an mich«, sagte er dann nachdenklich.

»Du glaubst? Hihi, schau mal hin, er hat dich längst angenommen.«

»Rainer, mal im Ernst: Glaubst du, da ist was dran an der Sache.. mit dem Wilderer?«

»Was soll ich sagen. Es gibt ja noch keine direkten Beweise, aber wenn Angelmann rauskriegt dass das Reh erschossen wurde, dann gibt’s wohl keine Zweifel mehr.«

»Manchmal hab ich das Gefühl, ich bringe allein durch meine Anwesenheit Unruhe ins Camp«, sinnierte Nico.

»Oh, da kann ich dich beruhigen. Glaub ja nicht, dass in den anderen Einheiten Friede, Freude, Eierkuchen war. Sicher, ganz so wild wie die Sache mit Manuel oder dem kleinen Tobias war es nicht, aber Langweilig.. nee, bestimmt nicht.«

»Puh, dann bin ich ja beruhigt.« Manuel. Da war er wieder, der Name. Nico seufzte leise. »Sein Kreuz ist ja kaputt. Zerstört von irgendwelchen Rabauken. Ich versteh das einfach nicht.«

Rainer Bode lehnte sich nach vorne. »Es wird immer welche geben, die nichts über das Schicksal dieses Jungen wissen und das Kreuz scheint mir nicht die richtige Lösung. Auf Dauer mein ich. Wir sollten einen Gedenkstein dort aufstellen.«

Nicos Gesicht heiterte sich sofort auf. »Das meinst du ehrlich?«

»Nico, darüber würde ich niemals einen Spaß machen. Aber ich glaube, du kannst jetzt duschen gehen«, beendete Bode ihr Gespräch, »sonst verpasst du das Mittagessen.«

»Oh, das will ich freilich nicht. Es wird auch Zeit für ne Dusche; Ich glaub, ich stinke immer noch nach dem armen Vieh. Bis nachher.«

Ein merkwürdiges Gefühl überkam Nico, als er den Duschraum betrat. Er war völlig neu renoviert, von der Decke bis zu den Holzbänken. Hatte es hier zuvor schon nicht ausgesehen wie in einer vergammelten Jugendherberge, so konnte man mit solchen Räumen fast schon angeben.
Kaum hatte er sich nackt ausgezogen, kam Bode in den Duschraum. Auch er entledigte sich ohne Scheu seiner Klamotten und stellte sich neben Nicos Dusche. War das etwas Provokant? Nico wagte einen kurzen Seitenblick und bestätigte sich nur, dass Rainer eine gute Figur abgab. Zu mehr Gedanken ließ er sich nicht hinreißen, vielmehr genoss er das kühle Nass.

Mit umbundenem Handtuch verließ Nico nach ausgiebigem Duschen den Raum, während Bode scheinbar gar nicht genug Wasser abbekommen konnte.
Es war doch um einiges bequemer, nur wenige Meter zu seinem Quartier zu haben. Er war grade in seinem Zimmer, als Stein den Gang entlang kam.

»Hallo Nico. Alles gut gelaufen?«

»Hallo Falk. Ja, bis auf ein totes Reh am Bahndamm. Das war ziemlich eklig.«

»Oh, was ist denn da passiert?«

Stein blieb unter der Tür stehen und hörte Nico zu. »Also, der Förster vermutet, also es ist wirklich nur ne Vermutung, dass es sich um das Opfer eines Wilderes handeln könnte.« Währenddessen ließ Nico sein Handtuch fallen und kramte eine frische Short aus seinem Schrank. Es störte ihn nicht, dass Stein ihn nackt sah.

»Angelmann hat das ja schon ein paar Mal geäußert«, sagte Stein und lehnte sich in den Türrahmen, dabei beobachtete er Nico beim anziehen. »Er hat schon einen Hasen und ein Wildschwein gefunden, aber beide waren so verwest, dass man keine Rückschlüsse ziehen konnte. Na ja, hoffen wir dass das Zufall ist.«

Nico schlüpfte in die Shorts und streifte ein T-Shirt über. »Sag mal, Rainer hat erwähnt, dass ich.. auch mal eine Sitzung durchführen soll.«

»Ah, hat er geplaudert. Ja, ich denke das solltest du tun. Schaden kann es nicht und zudem, es ist ja wesentlicher Bestandteil der Therapie, also nicht unwichtig für dich.«

»Das stimmt allerdings. Aber wann soll ich da einsteigen?«

»Mal sehen, morgen früh beginnt ja die Vorstellungsrunde, ich denke da solltest du auf jeden Fall dabei sein. Dann kann man auch schon so ungefähr sehen, wie weit wir da kommen. Aber komm, es gibt Essen.«

Die Jungs saßen bereits an ihrem Tisch und aßen, dabei beachteten sie die eintretenden Betreuer nicht. Bode und Korn kamen kurz darauf ebenfalls in den Raum.

Der Koch tischte die Spaghetti Bolognese auf und Nico stürzte sich förmlich darauf, Hunger war hier immer irgendwie angesagt.

»Ist die frische Luft«, grinste Stein, dem Nicos Appetit aufgefallen war.

Sie redeten dann nichts weiter und Nico hörte nur an die Stühle rücken, dass die Jungs den Raum verlassen wollten. »Da war auch wieder fast Totenstille«, bemerkte er dann.

Stein wischte sich den Mund ab. »Kommt noch, Nico kommt noch.«

Nico holte das kleine Buch, das ihm Stein geschenkt hatte, aus der Seitentasche seiner Hose. »Mal sehen was heut noch anliegt.«

»Der Plan für heute wurde geändert«, kam ihm Stein zuvor. »Wir passen die Pläne ja nach Bedarf an, wie du sicher noch weißt. In Anbetracht der Hitze sollen die Jungs heute Nachmittag einen Lebenslauf verfassen. Zumindest die Dinge aufzeichnen, die sie hierher gebracht haben. Das Ganze wird dann nach und nach in die Gesprächrunden eingebracht.«

»Aha. Und wo machen die das?«

»Das können sie sich aussuchen.«

Nach dem Essen verließen die Betreuer das Gebäude. Rainer Bode wollte die Pause mit einem Nickerchen im Bereitschaftszimmer füllen, während sich Nico und Stein auf die Rückseite des Gebäudes begaben, um der Sonne aus dem Weg zu gehen.
Auf der Bank dort saßen bereits drei Jungen aus der Gruppe, zwei standen davor und unterhielten sich. Endlich, dachte Nico, sie kommen sich näher. »Da fehlt einer«, stellte er nach dem zweiten Blick fest.

»Dann frag sie, was mit ihm ist«, sagte Stein zu ihm, »du bist im weiteren Sinn ja auch für sie verantwortlich.«

Nico versuchte die Namen zusammen zu bringen. Roman Vavlek, Peter Engel, Marco Serrolas, Roko Svenic, Patrick Held. Ein gewisser Stolz machte sich in ihm breit, denn lange hatte er nicht überlegen müssen. Dann ging er zu der Gruppe hin. »Wo ist Antoine?«

Die Jungen sahen sich an. »Keine Ahnung, zum essen war er ja noch da«, antwortete Roko als einziger.

Sofort beschlich Nico ein seltsames Gefühl. Es handelte sich um jenen Jungen, dessen Verhalten ihm aufgefallen war. Ratlos sah er zu Stein hinüber. »Und jetzt?«, wollte er von ihm wissen.

»Sicher ist er nur austreten. So was kann schon mal länger dauern.«

Nico lehnte sich an die Hauswand und zündete sich eine Zigarette an. Dabei beobachtete er ständig die Gruppe. Einen Tag noch, vielleicht zwei, dann hätten sie den nötigen Kontakt untereinander.

»So, jetzt ist ne viertel Stunde um«, bemerkte er nach einer Weile. »Was jetzt? Ich mein, so lang kann man ja eigentlich nicht brauchen.«

»Erst mal im Gebäude suchen, vor allem kurz in die Toilette reinsehen«, antwortete Stein. Dann wandte er sich an die Jungen. »Helft bitte alle mit, Antoine zu suchen. Und verteilt euch.«

Sie nickten, einige drückten ihre Zigaretten im dafür vorgesehenen Kübel aus und dann zerstreuten sie sich.

»Wir gehen mal rüber, vielleicht ist er ja im Camp«, schlug Stein vor und gemeinsam mit Rick im Gefolge machten sich die beiden auf den Weg.

»Wo kann der denn stecken und vor allem, warum?«

»Na ja, es gibt immer wieder Fälle, da muss man sich echt wundern auf welche Ideen sie kommen.«

»Rick, sieh mal ob du ihn findest«, rief Stein dem Husky zu und der eilte dann auch prompt voraus zum Pfad Richtung Camp.

»Er versteht jedes Wort, nicht wahr?«

Stein lachte. »Das sicher nicht, Hunde interpretieren das aus dem Tonfall.«

Als sie am Camp ankamen, saß Rick bereits an dem Baumstamm und hechelte.

»Hier ist er nicht«, stellte Stein mit sorgenvollem Gesicht fest. »Komm, vielleicht haben ihn die anderen ja schon gefunden.«

Als sie zurückkamen, hatten sich die Jungen bereits wieder hinter dem Gebäude versammelt.

»Hier ist er nirgends«, bemerkte Peter Engel, »wir haben alles abgesucht.«

Nico spürte Steins Unruhe und er nahm ihn beiseite. »Antoine ist mir aufgefallen, ich hab das Rainer auch schon gesagt.« Kurz erzählte er von dem, was ihm an dem Jungen merkwürdig vorgekommen war.

Stein grübelte und rieb sich das Kinn. »Ich seh noch mal in den Akten nach, vielleicht habe ich etwas übersehen.«

Zusammen gingen sie in Nicos Zimmer, wo sich die Akten auf dem Schreibtisch befanden. Rasch hatte Stein die Unterlagen gefunden und blätterte darin. »Hm, keine besonderen Eintragungen. Zurückhaltend, schüchtern. Scheint ein typischer Mitläufer zu sein.« Sichtlich verärgert klappte er die Akte zu. »Okay, wir beide werden jetzt mit Rick jeden Zentimeter hier untersuchen, er muss schließlich irgendwo sein.«

»Und wenn er hier nicht ist, ich meine, die Jungs haben ja schon überall gesucht?«

»Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Wenn er nicht in der Nähe ist, kann er nur in den Wald sein. Und dort wird Rick ihn finden.«

Gemeinsam begannen sie, das gesamte Gebäude zu durchsuchen. Nico staunte nicht schlecht, welche Winkel er hier noch gar nicht kannte. Sämtliche Räume, auch die Werkstatt, die Toiletten, den Duschraum, Nicos Zimmer, sogar Steins Büro und die Küche ließen sie nicht aus.

»Also bei mir war keiner«, bestätigte Felix Gröbner in der Küche, »großartig verstecken kann man sich hier ja nicht.«

»Okay, wir müssen Rick zu Hilfe nehmen«, beschloss Stein.

»Hat er schon mal jemanden finden müssen?«, wollte Nico wissen.

»Einmal, ja. Bei einem Grillfest war plötzlich einer verschwunden. Der hatte sich privat mit Schnaps versorgt und nachher sturzbetrunken im Wald gelegen.«

»Oh, ist dann wohl heimgefahren?«

»Du kennst ja die Regeln. Aber um noch mal auf Antoine zurück zu kommen, erzähl mir mal ganz genau, was dir an ihm aufgefallen ist.« Dann wandte er sich den Jungen zu. »Wer teilt mit Antoine das Zelt?«

Peter trat einen Schritt vor. »Bei mir.«

»Gut. Dann komm bitte mit.«

Während Nico versuchte, sich auch die kleinste Kleinigkeit in Erinnerung zu rufen um sie Stein zu schildern, liefen sie mit Peter und Rick hinaus ins Camp.

»Hm, daraus lässt sich nicht viel ableiten, Nico. Aber trotzdem, danke dass du so aufgepasst hast«, sagte Stein, nachdem ihm Nico alles erzählt hatte was ihn an Antoine aufgefallen war.

Peter trat zu ihrem Zelt. »Das ist es, er schläft auf der linken Seite.«

Stein ging in die Knie und krabbelte in das Zelt. Vorsichtig suchte er nach einem Kleidungsstück und wurde schnell fündig. Anscheinend hatte Antoine sein Hemd gewechselt, das hier war noch feucht von Schweiß. Stein nahm es an sich und kroch aus dem Zelt. »Hier, Rick.«

Der Husky schnüffelte kurz an dem Hemd, dann senkte er seine Schnauze zu Boden und lief los.

»Kommt, hinterher«, rief Stein.

»Ich auch?«

Stein war bereits so mit Ricks Verfolgung beschäftigt, dass er Peters Frage nicht mehr hören konnte.
Nico stand schon wieder vor einer Entscheidung. »Ja, komm, je mehr suchen, desto besser.«

Rick verließ das Camp zu dem kleinen Bach und von dem einstmals fließenden Gewässer war nur ein kleines Rinnsal übriggeblieben. Rick lief ein Stück an dem Bach entlang, dann tapste er in der etwa 30 Zentimeter breiten Wasserrinne entlang.

»Ich wusste gar nicht, dass Rick auch ein Bluthund ist«, meinte Nico leicht ironisch.

Stein lachte. »Das ist er nicht wirklich. Aber im Lauf der Zeit hat er sich Sachen angeeignet, das staune selbst ich. Antoine muss hier im Wasser entlanggelaufen sein«, sagte er nach einer Weile und deutete auf Fußspuren, die durch den schwachen Wasserlauf noch nicht verschwemmt worden waren. »Und Barfuss ist er auch. Das ist seltsam und zeugt eigentlich davon, dass er flüchtet.«

»Aber wozu? Ich meine, Rick ist es doch egal ob Schuhe oder nicht und man darf doch annehmen, dass der Junge das auch weiß. Zudem, ohne Schuhe durch den Wald, das macht echt keinen Sinn.« Nico wandte sich Peter zu. »Kannst du dir denken, warum er weggelaufen ist?«

Peter schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Mit dem konnte man ja eigentlich eh kein Wort reden. Der ist unheimlich verschlossen.«

Ricks Tempo verringerte sich nach einigen hundert Metern. Immer öfter blieb er stehen und witterte in der Luft.

»Was erwartet ihn, wenn er hier abbricht?«, wollte Nico von Stein wissen.

»Er wandert in den Knast, für drei Jahre.«

»Ob er sich das überlegt hat?«

Stein zog die Schultern hoch. »Wir werden niemals genau herausfinden, aus welchen Beweggründen manche solche Sachen machen, obwohl sie die Konsequenzen genau kennen.«

Nun blieb Rick endgültig stehen. Hier war der Bach noch etwas breiter und es floss auch mehr Wasser.

Stein rieb sich das Kinn. »Wir können nur weiter dem Bachlauf folgen, irgendwann muss der Junge ja aus dem Wasser.«

Je weiter die dem Gewässer folgten, desto höher kamen sie den Berg hinauf und mussten dann auch gegen immer dichtere Gräser und Binsen ankämpfen. Hier und da gab es nun auch flache Wasserstellen, in denen die Larven der Stechmücken ideale Brutplätze vorfanden. So kam zu dem hinderlichen Gestrüpp auch eine zunehmende Mückenplage. Immer wieder mussten die Suchenden die Plagegeister auf der Haut erschlagen.

»Das wird jetzt aber mal so richtig ungemütlich«, beschwerte sich Peter nach einer Weile, während er wild um sich schlug.

Stein nickte. »Ist wohl wahr.«

Rick fand die Spur des Jungen nicht wieder und es war schwer zu sagen, wie viel Vorsprung er hatte. Aber jetzt aufzugeben schien wenig sinnvoll, es würde einfach zuviel Zeit kosten.

Nico blieb stehen, um einen Moment zu verschnaufen. »Kann er sich hier irgendwo verstecken?«

Stein schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht. Da weiter links geht es Richtung Bahnhof, das wäre die einzig denkbare Möglichkeit. Aber der Junge kennt sich hier nicht aus, woher sollte er das wissen?«

»Eine Karte vielleicht?«

»Also ich denke nicht, dass jemand hier eine Karte aus der Gegend hat. Es sei denn, er hätte von langer Hand geplant, stiften zu gehen. Aber der Junge geht ja auf keinem Weg und um den Bahnhof querfeldein zu finden, müsste er zu einer Karte wenigstens einen Kompass benutzen.«

»Dann sollten wir vielleicht zum Bahnhof hoch?«, schlug Nico dann vor.

»Wird aber schwierig«, gab Stein zu bedenken, »es gibt von hier aus keinen direkten Weg dorthin.«

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