Chaos auf ganzer Linie
„Hallo Tim, was ist denn?“, hörte ich Tims Mum ins Telefon sagen.
„Hallo… hier ist nicht Tim… hier ist Dennis.“
„Himmel Dennis, ist etwas passiert?“
„Ich kann das nicht so am Telefon sagen, mein Dad meinte nur, sie möchten bitte doch sofort heim kommen.“
„Mio dio… was ist passiert, ist Tim verletzt?“
„Nein, er hat keine körperlichen Verletzungen, aber ich kann ihnen das jetzt nicht am Telefon erklären.“
„Gut Dennis, mein Mann und ich sind schon auf dem Weg.“
Und schon war das Gespräch unterbrochen. Na toll und was sollte ich ihnen jetzt erzählen…?
„Dad, was mach ich jetzt nur?“, fragte ich meinen Vater, der Tim immer noch untersuchte.
„Die Wahrheit sagen!“
„Das kann ich nicht…“
„Warum denn?“
„Ich weiß ja nicht mal, ob Tim sich bei seinen Eltern geoutet hat.“
„Darauf kannst du jetzt keine Rücksicht nehmen. Der Junge steht unter Schock, sie müssen wissen, was gelaufen ist, Dennis.“
„Ich kann das nicht…“
„Doch, du kannst das, Dennis! Ich weiß das und zudem bin ich bei dir!“
Dad’s Ton wurde strenger, ich wagte nicht, ihm zu widersprechen. Er gab Tim eine Spritze – ich konnte gar nicht hinsehen und deckte ihn wieder zu.
„So und nun gehen wir runter und warten auf die Frabinis.“
Tims Vater war Vollblutitaliener, was machte ich, wenn er jetzt ausflippte? … Italiener waren für ihr Temperament bekannt. Oh man, wo war ich da nur hineingeraten. Ich hörte Autoreifen quietschen und wenig später wurde die Haustür aufgeschlossen.
Mein Dad und ich erhoben uns von den Treppenstufen und ich begann, innerlich zu zittern. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Frabinis stürzen herein und uns direkt in die Arme.
„Wo ist Tim, was ist mit ihm geschehen“, fragte Tims Mutter aufgeregt.
Mein Vater hob die Hand.
„Ihrem Sohn geht es dementsprechend gut, er steht etwas unter Schock. Er hat eine Beruhigungsspritze bekommen und schläft jetzt.“
„Was ist denn passiert?“, fragte sein Vater.
„Könnten wir uns setzen, mein Sohn möchte ihnen das in Ruhe erzählen.“
Tims Mutter führte uns ins Wohnzimmer, nachdem sie ihre Sachen abgelegt hatte. Ich setzte mich dicht zu Dad, sein Arm auf meinem Rücken ließ mich aber nicht ruhiger werden. Meine Hände waren eiskalt und feucht. Auf meiner Stirn stand der Schweiß.
„Mir… mir fällt das jetzt nicht leicht zu erzählen…“, begann ich.
„Ich weiß auch nicht, was ihnen Tim über mich alles erzählt hat… Tim und ich kennen uns jetzt schon zwei Jahre und wie sie wissen, waren wir ja gemeinsam im Schwimmverein.“
Tims Mutter unterbrach mich.
„Bevor du jetzt noch mehr Tode stirbst…, hat es damit zu tun… was Tim für dich empfindet?“
„Sie wissen…?
„Ja, wir wissen das schon ein halbes Jahr“, sagte Tims Vater, „er wurde immer ruhiger und verschlossener und wir machten uns Sorgen… wir haben ihn einfach darauf angesprochen… da hat er uns alles erzählt.“
„Mir gestern…“, sagte ich.
„Und warum… was ist dann geschehen?“, kam es von Tims Mum.
„Ich muss da etwas mehr erzählen…“, sagte ich.
So erzählte ich den beiden, was ich diese Woche alles im Zoo erlebt hatte und ganz ehrlich auch, dass ich mich in Michael verliebt hatte. Sie hörten mir gespannt zu und unterbrachen mich nicht. Auch als ich ihnen erzählte, was sich heute im Schwimmbad zugetragen hatte.
„Das tut mir leid, Dennis… so kenne ich Tim überhaupt nicht“, sagte Frau Frabini.
„Das war eine Überreaktion“, erklärte mein Dad.
„Ihr habt wirklich einen Bären zu Hause?“, fragte plötzlich Herr Frabini.
Mein Dad legte los und schwärmte von Krümel vor, bis ich ihn unterbrach.
„Dad, Tim ist jetzt wichtiger. Was soll ich denn jetzt machen?“
„Erst einmal gar nichts. Tim wird bis morgen durchschlafen und seine Eltern sind zu Hause. Du fährst jetzt mit mir nach Hause.“
Das waren klare Worte meines Vaters und ich nickte. Die Frabinis bedankten sich für die Hilfe bei meinen Vater. Ich ging noch einmal hoch zu Tim, um meine Sache zu holen. Er schlief tief und fest und hörte mich nicht.
Ich beugte mich hinunter, deckte ihn besser zu und küsste ihn auf die Stirn. Was hatte ich ihm da nur angetan? Ich wischte mir die einzelne Träne aus dem Auge und ging wieder zu meinem Dad.
Wir verabschiedeten uns und wir fuhren nach Hause. Ich sagte die ganze Zeit keinen Ton, wollte jetzt auch nicht sprechen. Michael… hatte ich ihn jetzt verloren? … ich wollte nur noch zu ihm… aber wie, ich wusste ja nicht mal, wo er wohnte.
Mein Dad parkte den Wagen an der Auffahrt und ich ging wortlos ins Haus. Auf die Fragen meiner Mum reagierte ich nicht, ich ging direkt in mein Zimmer. Sie ließen mich in Ruhe, keiner kam zu mir ins Zimmer.
Ich wollte zu Michael, der Drang wurde immer größer. Mir fiel Sabine ein und ich holte mein Handy aus meinem Rucksack. Die nassen Sachen lagen immer noch darin. Also zog ich sie heraus und hängte sie über meinen Stuhl.
Ich nahm wieder mein Handy und suchte Sabines Nummer.
„Hallo.“
„Hallo Sabine, hier ist Dennis.“
„Ist was mit Krümel?“
„Nein Sabine, dem geht es gut!“
Eigentlich war das gelogen, ich hatte Krümel seit dem Mittag nicht gesehen, wie konnte ich wissen, wie es ihm geht.
„Es ist wegen Michael, … kannst du mir sagen wo er wohnt?“
„Ist was passiert?“
„Kann ich dir das am Montag im Zoo erzählen?“
„Ja klar, auch wenn ich jetzt schrecklich neugierig bin, aber ich gebe dir natürlich die Adresse.“
Irgendwie bekam ich Mitleid mit Sabine und so entschloss ich mich, jetzt doch noch die Kurzfassung preiszugeben, einschließlich dem, dass Tim sich bei mir outete.
„Ach du grüne Neune… du musst aber auch Michael verstehen, die Situation war ja eindeutig… für jemand, der nicht weiß, was lief.“
„Ich weiß, deswegen will ich ja zu ihm und mit ihn reden. Ich will das aus der Welt schaffen.“
„Du liebst ihn wirklich“, sagte Sabine und ich konnte mir gut ihr Lächeln dabei vorstellen.
„Schnellmerker! Wie gesagt, ich erzähl dir weiteres am Montag.“
„Das will ich für dich hoffen!“
Sie gab mir schnell die Adresse, die ich mir notierte und wie verabschiedeten uns. Ich ließ mich wieder auf mein Bett fallen, den Zettel in der Hand wie ein Heiligtum gehütet. Ich steckte das Handy in meine Jacke, nahm den Geldbeutel und die Schlüssel und lief nach unten.
„Wo willst du denn noch hin?“, fragte Mum.
„Mum, ich muss zu Michael…“
„Ich würde sagen, du setzt dich jetzt erst mal hin und fütterst Krümel. Du bist mir viel zu aufgedreht, als dass ich dich so aus dem Haus lasse!“
Hatte ich schon mal gesagt, welchen Respekt ich vor meinen Eltern hatte, besonders wenn sie etwas in diesen Tonlagen sagten. Ich setzte mich wie geheißen also auf den Küchenstuhl, sie drückte mir Krümel in den Arm, der sich zu freuen schien, mich zu sehen.
Sie reichte mir noch die Flasche und ließ mich dann alleine in der Küche.
„Oh Krümel, was habe ich da nur angestellt… was muss das alles so kompliziert sein.“
Krümel hatte seine Tatzen um die Flasche gewunden, saugte kräftig daran und schaute mich mit seinen großen braunen Bärenaugen an, was mich natürlich wieder an Michael erinnerte. Ich lächelte kurz, weil die Erinnerung an das Küssen unter Wasser zurückkam.
Aber sofort war auch wieder die Szene mit Tim da, mein Lächeln verschwand wieder.
„Ich glaube, ich muss noch genauso viel lernen wie du, Kleiner.“
Krümel gab natürlich keine Antwort, er nuckelte weiter und schaute mich auch weiterhin an. Ich kraulte ihn zwischen den Ohren, was er immer gerne hatte. Ob das Michael auch gefiel? Wieder waren meine Gedanken bei Michael.
Es hatte keinen Sinn, ich musste mich zur Ruhe zwingen. Ich wollte nicht, dass Krümel von meiner Unruhe angesteckt wurde, das war nicht gut für ihn. So kraulte ich ihn weiter und sagte kein Wort mehr, in Gedanken war ich aber immer wieder bei Michael.
Natürlich wollte Krümel nach dem Trinken noch spielen und irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich sollte mich ja eigentlich um Krümel kümmern und nicht alles meinen Eltern überlassen.
So nahm ich den kleinen Ball, der auf dem Tisch lag, setzte Krümel auf dem Boden ab und ließ den Ball auf ihn zurollen. Er quietschte vergnügt und stürzte sich auf den Ball. Ich ließ mich ebenso auf den Boden nieder.
„Na… besser?“, fragte Dad, der unbemerkt in die Küche gekommen war.
„Nicht wirklich, aber mein Kopf bummert nicht mehr so.“
„Und was hast du jetzt vor?“
„Ich fahr zu Michael. Ich muss das klären, mit ihm reden.“
„Gute Idee, soll ich dich fahren?“
„Nein Dad, danke für das Angebot. Aber ich fahre mit der Straßenbahn, da habe ich noch etwas Zeit, wieder runter zukommen.“
„Oder dich noch mehr hineinzusteigern.“
Ich schaute Dad an.
„Vergiss eins nicht, du hast meine Nummer, du kannst mich jederzeit erreichen, okay?“
„Danke!“
Er wuschelte mir kurz über den Kopf und ließ mich lächelnd wieder alleine.
„So Kleiner, wie sieht es mit schlafen aus?“
Krümel brummte wie ein trotziges Kind, als hätte er das überhört, was ich eben sagte.
„Keine Chance, genug gespielt, jetzt kommst du in den Käfig.“
Ich hob ihn hoch und er strampelte kräftig.
„Noch bin ich stärker als du!“, meinte ich und trug ihn ins Wohnzimmer, wo meine Eltern saßen.
Ich legte Krümel auf seine Decke in der Kiste, gab ihn seinen zerbissenen kleinen Teddy und richtete mich wieder auf.
„Gute Nacht, du Racker!“, sagte ich.
„Fragt sich, wer der größere Racker von euch beiden ist“, meinte Dad und grinste mich frech an.
Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und wollte gehen.
„Ui, welch seltene Handlung meines Sohnes“, kam es so sarkastisch von Dad, dass sogar meine Mum grinste.
„Tschüss dann ihr Zwei!“
„Tschüss Dennis und viel Glück“, meinte Dad und Mum nickte.
*-*-*
>Herdeck< stand auf dem Türschild, hier wohnte Michael. Anscheinend zusammen mit seinen Eltern, das Haus war viel zu groß für eine Person alleine. Ich nahm mein ganzen Mut zusammen und klingelte. Es tat sich aber nichts. Sein Auto stand doch vor dem Haus, er musste da sein. Also klingelte ich erneut. Es tat sich immer noch nichts. So begann ich, um das Haus herum zulaufen, kam aber nicht weit. Eine dicke Holztür versperrte mir den Weg in den Garten. Ich schaute mich um, aber es war niemand zusehen. Also hielt ich mich oben an den Latten der Tür fest und zog mich nach oben. Auch hier war niemand zu sehen. Es war ein schöner Garten, herrlich angelegt. Ich hob mein erstes Bein über das Holz und blieb irgendwie hängen. Ich konnte mich nirgendwo weiter festhalten, so viel ich mit einem Schrei in das Innere des Grundstücks. Ein stechender Schmerz im Rücken ließ mich aufheulen, was aber von einem seltsamen Geräusch unterbrochen wurde. Es war das Knurren eines Hundes. Langsam hob ich den Kopf und sah nur wenige Zentimeter vor mir die fletschenden Zähne eines Rottweilers.