Das Boycamp III – Teil 15

Ohne Chancen auf einen Rückzug, muss sich die Gruppe darauf gefasst machen, mitten in der Flammenhölle auszuharren.

»Hey Felix. Wie sieht es aus? Schweinebraten mit Semmelknödel, Pilzsoße und dazu einen knackigen Salat?«, flachste Nico.

Gröbner grinste. »Es wird das erste sein, was ich uns koche wenn wir hier weg sind.«

Rainer Bode kniete sich neben sie. »Ich hab mit Leo Maier gesprochen. Sie beobachten das Feuer, das auf das Camp zukommt, vom Dorf aus. Die Feuerwehr tut alles um zu verhindern dass es sich weiter in den Berg ausbreitet, aber sie scheinen an ihrer Grenze zu sein. Ich habe ihm gesagt, sie müssen sich nicht um uns kümmern. Die brauchen da unten eh jeden Mann.«

»Keine guten Nachrichten. Rainer.. ich hab mir überlegt.. wenn wir das Wasser in der Zisterne ablassen müssen, was machen dann Morgen die Hubschrauber?«

»Gute Frage, das ist mir auch eingefallen. Aber sei’s wie es ist, darauf können wir jetzt keine Rücksicht nehmen.«

Nico verstand, was Bode damit sagen wollte. Vor Material standen Menschenleben, um jeden Preis. Wahrscheinlich war das Camp sowieso nicht mehr zu retten, welchen Sinn hätte es also gemacht ein Wagnis einzugehen?

»Glaubst du immer noch.. dass wir da wirklich rein müssen?«

»Nico, ich hab echt keine Ahnung. Wir werden es tun, wenn es soweit ist, vorher nicht.«

Kurz nach Mitternacht lagen die fertigen Flöße auf der Kuppel. Ein Sitztest hatte ergeben, dass jeweils neun Personen darauf Platz hatten, wenn auch nicht viel. Es stand inzwischen außer Zweifel, dass das Feuer näher gekommen war, wenn auch nicht so schnell wie sie befürchtet hatten.

Völlig erledigt saßen die Pfadfinder auf der Kuppel, einige hatten sich einfach ins Gras gelegt. Eine dumpfe, fast lähmende Stille lag über dem Gelände.

»Die Ruhe vor dem Sturm..«, sagte Bode leise, der sich zusammen mit den Betreuern und Nico auf ein Floß gesetzt hatte.

»Mal’ den Teufel nicht an die Wand«, brummte Gröbner und zog tief an seiner Zigarette. »Ich wär froh, wenn wir nicht.. da rein müssten.« Dabei nickte er mit dem Kopf zum Schachtdeckel.

»Ich glaub, keiner will das, aber ich denke, wir sollten die Dinger so allmählich zu Wasser lassen. Es wäre nicht gut, wenn wir nachher auf böse Überraschungen stoßen.«
Michael Korn hatte Recht. Ein Probeschwimmen war nicht die schlechteste Idee.

»Okay.« Pröll pfiff kurz durch die Finger. »Jungs, es geht los. Wir lassen die Stämme zu Wasser.«

Irgendwie fand Nico etwas Ironisches daran, aber letztlich war die Sache ernster als es sich anhörte.

Jedes Floß bestand aus zwölf Baumstämmen, die etwa zwanzig Zentimeter Durchmesser hatten und fast drei Meter lang waren. Damit gab es keine Probleme, sie durch das Deckenloch der Zisterne zu schieben.

»Lasst es einfach fallen!«, rief Bode, während die Jungen das Floß langsam über den Rand schoben. Angeleuchtet von den Taschenlampen der anderen verlor die hölzerne Rettungsinsel schließlich das Gleichgewicht und stürzte vornüber in den Schacht. Dumpf schlug sie auf die Wasseroberfläche, woraufhin die Jungen hineinleuchteten. Etwa zwei Meter tief war der Wasserstand unter der Luke, zum springen, wie von Bode vorhergesagt, zu hoch.

»So, beim zweiten Floß müssen wir vorsichtig sein, dass es nicht auf das andere fällt. Das gibt sonst Bruch.«

Was das bedeuten konnte, bedurfte keiner weiteren Erläuterung: Für ein weiteres Floß gab es kein Material mehr und eins allein konnte nicht alle tragen.

Aber Bode hatte bereits vorgesorgt. Er nahm Felix am Arm und ging mit ihm zurück in den Wald. Kurz darauf kamen sie mit zwei fast drei Meter langen Ästen zurück, die Bode in der Nähe des Holzstapels gefunden hatte.
»Zwei Mann halten mich fest«, sagte er dann, während er sich auf den Bauch legte und die Stange in den Schacht führte. »Leuchtet mal einer«, rief er und schon erhellte sich unter ihm der dunkle Raum. Wie ein großes Brett lag das Floß auf der Wasseroberfläche.

Nico und Gröbner hielten Bode an den Beinen fest, während er mit der Stange das Floß an den Rand der Zisterne schob. »Gut. Holt das andere«, rief er und seine Stimme hallte in dem Schacht blechern zurück. Die feuchtkalte Luft in der Zisterne zauberte feinen Nebel vor seinen Mund.

»Arschkalt da unten«, sagte Nico mehr vor sich hin, aber Bode hatte es gehört.

»Zwölf Grad, Sommers wie Winters«, sagte er daraufhin.

»Klasse. Nicht verbrennen, aber erfrieren..«

»Jammer nicht«, gab Gröbner von sich, »zwölf Grad da unten sind mir lieber als Tausend hier draußen.«

Felix hatte Recht, aber Nico beruhigte das nicht. Schließlich war nicht sicher, wie lange sie da unten ausharren mussten. Aber es half nichts, schlussendlich war es die bessere Lösung.

»Gut, jetzt das andere«, sagte Bode und schob sich zurück. »Leuchtet rein und passt auf, dass das Floß da unten nicht im Weg ist.«

»Zum Glück gibt’s da unten keine Strömung«, bemerkte Korn.

Klatschend schlug dann auch das zweite Floß unten auf, ohne das andere dabei zu treffen. Damit ließ sich Bode zu Beifall hinreißen. Jubel auch bei all den anderen, es schien tatsächlich die schwierigste Sache überhaupt gewesen zu sein.

»Und jetzt?«, fragte Nico.

»Warten wir ab. Unsre Rettungsboote können nicht verschwinden..«

Angelmann blickte besorgt in den Himmel. »Das Feuer kommt näher, aber nur langsam. Vielleicht schaffen wir es ja bis Morgen früh.«

»Wär schon recht«, mischte sich Korn ein, »ich persönlich muss da nicht runter.«

»Wird wohl keiner«, stellte Bode fest und ließ sich ins Gras auf der Kuppel fallen. »Aber ich denke, wir sollten uns jetzt ausruhen.. solange das noch geht.«

Nico setzte sich zu ihm. »Die Jungs können ja schlafen, wenn sie wollen. Zwei Mann Wache dürften ja reichen.«

Bode nickte. »Hast recht, aber wer passt auf?«

»Ich«, meldete sich Marco und sah dabei zu Nico.

»Wir beide machen das«, ergänzte Nico daraufhin.

»Okay, wie ihr wollt. Ich verzieh mich mal in meinen Wagen«, sagte Angelmann, »samt Hasso.«
Die beiden gingen anschließend hinunter, offenbar verließ sich der Förster voll und ganz auf die Wachsamkeit der beiden.

Auch Pröll gab jetzt scheinbar Anweisungen an seine Jungs, die sich daraufhin auf der Kuppel verteilten und hinlegten. Sie waren ganz sicher zu müde, um der Angst den nötigen Platz einzuräumen.

Nico setzte sich ebenfalls und stützte sein Kinn auf die Knie. Er kraulte Ricks Fell, der sich neben ihn gelegt hatte. »Marco, hast du.. keine Angst?«, fragte er und betrachtete gedankenverloren den flackernden Horizont.

»Klar, und wie. Aber wir sind doch ne starke Gruppe.. wir kriegen das schon hin.«

»Marco, wenn ich nur wüsste was mit dem Camp passiert. Es ist so verdammt schade.«

»Ja, vor allem die Hütten jetzt. Man kann’s kaum glauben. Aber trotz allem, ich hab einen mordsmäßigen Hunger.«

»Ich auch. Aber es hilft ja nichts.« Nico spürte erneut die Nähe des Jungen und trotz allem vermittelte ihm diese Nähe so etwas wie Sicherheit. »Wir bleiben zusammen, hier oben mein ich, oder?«

»Klar.« Marco rückte nah an Nico heran und niemand bekam es mit, als er seinen Arm um seine Schulter legte.

Nico ließ sich gehen, unter diesen Umständen wurde es ihm sogar Gleichgültig ob das jemand beobachten würde. Das Camp war vernichtet, sein Praktikum war damit zu Ende und somit musste es auch keine Heimlichkeiten mehr geben. Jeder würde glücklich sein, wenn er dieser Hölle heil entkommen war und dann zählten solche Kleinigkeiten sicher nicht mehr. Er legte seinen Kopf an Marcos Hals. »Ich bin froh, wenn das alles hier vorbei ist.«

Marco streichelte seinen Hals. »Und ich erst. Nur.. was machen wir dann? Ich meine, danach?«

Nico kuschelte sich noch enger an den Körper heran. »Weiß nicht. Ich glaube, wir sollten das alles erst einmal abwarten. Danach können wir immer noch entscheiden.«

Ganz sicher gab es keine Zukunft für sie beide, an dieser Haltung hatte sich bei Nico nichts geändert. Dennoch wollte er sich an dieser Stelle nicht völlig darauf versteifen. Er spürte Marcos Einstellung dazu, schon weil er keine Antwort bekam.

»Unheimlich..«, sagte Marco stattdessen nur leise und starrte in den Himmel zwischen den Bäumen.

Nico sagte nichts, er schloss die Augen und wünschte sich, er würde jetzt aufwachen, mit Marco neben ihm im Arm und sie lagen in einem Bett, irgendwo. Oder das Licht ging an und der Film im Kino wäre zu Ende. Er lächelte, was Marco sofort bemerkte.
»Was ist jetzt so lustig?«

»Dass das ein Traum ist und wir gleich aufwachen. Daran hab ich grade gedacht.«

»Ja, in der Tat, das wäre wirklich schön. Aber so..« Marco nahm Nicos Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte seinen Kopf zu sich hin. Wie kitschig war das, als Marcos Pupillen den roten Widerschein des Himmels reflektierten? Nico bekam trotz der Wärme eine Gänsehaut. So deutlich durfte man das nicht sehen; erschrocken drehte er seinen Kopf und sah über den Wald. »Ich glaube, es ist bald soweit..«, stammelte er.

Marco schien gewartet zu haben, bis ihn Nico wieder ansah. »Nico, sag mir eins..«

»Was?

»Magst du mich?«

Diese Frage musste kommen, über kurz oder lang und Marco hatte ein recht auf Antwort. Sie waren sich sehr nahe gekommen in dieser Zeit und Nico musste zugeben, dass ihm Marco nicht Gleichgültig war. Erkan, ja, da war es ähnlich, aber diese Art der Zuneigung hatte er nie für ihn empfunden. Vielleicht weil Stefan immer in der Nähe war, vielleicht weil Erkan im Grunde nie mehr wollte als seinen Spaß. Der Fall jetzt lag anders, völlig anders. Nico hatte einfach nicht die Zeit gehabt, sich intensive Gedanken um seine Gefühle zu machen. Jetzt war es soweit und er wollte ehrlich bleiben. »Ich.. hab dich sehr gern, Marco.«

»Aber?«

Nico rupfte einen Grashalm aus und drehte ihn in seinen Fingern. »Ich empfinde etwas für dich, bestimmt. Aber ich weiß nicht wie es mit uns weitergehen sollte. Echt nicht.«

Marco legte sich um und stützte seinen Oberkörper auf die Ellenbogen. »Ja, ich glaub das hatten wir schon mal.«

»Es ist auch so..«, versuchte Nico die Situation im Griff zu behalten, »wir kennen uns kaum, eigentlich gar nicht.«

»Ach, und die Nacht, da oben?«

»Klar, ja, in dieser Weise schon. Aber wie du weißt gehört mehr dazu. Was, wenn wir in ein paar Wochen oder Monaten feststellen, dass wir überhaupt nicht zueinander passen?«

»Du meinst.. wir müssten erst mal auf Probe zusammen sein?«

Aus diesen Worten hörte Nico den Leichtsinn der Jugend heraus. Vielleicht wäre er darauf eingegangen, wenn es da nicht die Erfahrung mit Stefan gegeben hätte. Durch ihn und ihre Freundschaft wusste er, wie kompliziert das sein konnte. Sicher war das nicht die Regel und sicher würde es keine Freundschaft geben, die nach dem genau gleichen Muster verlief. Es war nicht einmal auszuschließen, dass es diesmal gut gehen könnte. »Marco, ich glaube, das ist keine so gute Idee.«

Marco winkte ab. »Schon gut, ich hab verstanden.«

Nico fuhr ihm durch die Haare. »Hey, nichts in den falschen Hals bekommen. Ich habe damit nicht gesagt, dass man es nicht versuchen könnte. Nur.. die Idee ist ziemlich.. gewagt eigentlich.«

Es war nicht sicher, ob Marco verstanden hatte, was er damit sagen wollte.

Marco setzte sich auf. »Hörst du das?«

Nico lauschte in die Nacht und hörte es ebenfalls. Dumpfe, grollende Geräusche, die nicht einzuordnen waren. »Was ist das?«

In diesem Moment tauchte Rainer Bode aus der Dunkelheit auf. »Ich glaube, es wird jetzt Zeit.«

Nico stand auf. »Was ist da los?«

»Bäume. Es sind die alten, großen Bäume. Harz und Wasser in ihren Stämmen dehnen sich durch die Hitze aus und dann.. explodieren sie förmlich.«

»Das heißt wohl auch, es ist nicht mehr so weit weg?«

»Ich fürchte, das heißt es. Besser, wir bereiten uns jetzt vor, man kann nicht wissen. Weckt die Jungs, ich hole Hubert.«

Wenig später standen alle um die Schachtöffnung der Zisterne versammelt. Fast andächtig sahen sie hinunter in das dunkle Loch, als würde dort unten etwas Unheimliches auf sie lauern.
Bode knüpfte das einzige Seil, das für diesen Zweck übrig geblieben war, um das Gestänge des Schachtdeckels. Fachmännisch sah das aus, als hätte er nie etwas anderes gemacht.
»So Jungs, zwei Meter sind nicht viel, also keine Bange. Herr Gröbner und Herr Korn gehen als erste und sie werden euch unten in Empfang nehmen. Ganz wichtig: Keine Panik! Die ersten Neun sammeln sich gleich auf dem anderen Floß. Ihr haltet das Gleichgewicht am ehesten, wenn ihr euch gleichmäßig verteilt und bitte auf allen Vieren. Ich möchte keinen da unten stehen sehen, das geht nicht gut. Verstanden?«

Grummelndes Ja und Kopfnicken kamen als Antwort, woraufhin sich Michael Korn als erster im Schein der Taschenlampen an dem Seil hinunterließ.
Am straffen Seil suchte er Halt, nachdem er auf dem Floß stand, während sich als nächster Felix Gröbner nach unten abseilte.

»Okay, jetzt einer nach dem anderen, und bleibt bitte ruhig. Es ist Zeit genug«, schallte Korns Stimme nach oben.

»Also los, ihr habt es gehört. Die Jüngsten zuerst«, bestimmte Bode anschließend und so war es Tim, der an der Reihe war.

»Halt dich nur am Seil fest, alles andere geht von allein. Ihr habt doch so was schon mal gemacht?«, beruhigte Nico den aufgeregten Jungen. Der nickte und mit zitternden Händen packte er das Seil.

Nico nahm Tim unter den Schultern und hob ihn über die Öffnung. Der Junge war leicht und nicht groß, bei ihm war das kein großes Problem. Kaum hingen seine Beine hinunter, kam von unten das Okay.

»Ich hab ihn. Lass dich einfach am Seil runter«, rief Gröbner nach oben und damit verschwand der Junge in der Schachtöffnung.

»Knie dich hin«, sagte Korn zu ihm, »und jetzt krabble auf das andere Floß.«

Im Lichtkegel der Taschenlampen kroch Tim auf das zweite Floß, das Korn und Gröbner an das erste dicht herangezogen hatten.

»In die Mitte«, bestimmte Korn anschließend. »Gut. Der nächste.«

Zügig seilten sich die Jungs nun nach und nach hinunter und verteilten sich wie geplant auf den Flößen.

Zum Schluss ließen sich Angelmann und Pröll hinunter.

Bode, Nico und Marco sowie die beiden Hunde waren die letzten.

»Okay. Geht runter, ich lasse jetzt Wasser ab.«

»Wie weit?«, wollte Nico von Bode wissen.

»Ich denke, bis auf fünf Meter etwa. Dann haben wir genug Luft da unten.«

»Was ist übrigens mit dem Deckel? Bleibt der auf? Und Hasso? Rick?«

»Der muss zu sein«, antwortete Bode, »das Feuer kann uns da unten zwar nichts anhaben, aber zum einen wird wahrscheinlich sonst zu viel Luft heraus gezogen und zum anderen darf man den Rauch nicht vergessen. Ich weiß, das ist spekulativ, aber riskieren können wir es nicht.«

»Und.. wie willst du den Deckel zumachen? Von innen geht sicher nicht.«

Schon eine Weile hatte Nico den Eindruck, dass sich Rainer Bode nicht so verhielt wie sonst. Etwas war da, es war nur nicht zu greifen. »Rainer, du.. willst doch nicht draußen bleiben?«

»Die einzige Möglichkeit, den Deckel zu schließen, ist durch die Winde. Und die kann man eben nur von außen bedienen. Einer muss den Deckel zumachen.«

»Rainer, das.. kannst du nicht machen.« Panik wäre der richtige Ausdruck für das dumme Gefühl, das sich in Nico breit machte.

»Was heißt kann? Ich muss.«

Mit Rainer darüber zu diskutieren würde nichts bringen, dessen war sich Nico schnell bewusst.

»Außerdem muss jemand den Deckel wieder aufmachen wenn das hier vorbei ist. Wie solltet ihr sonst da rauskommen? Und Wasser muss auch wieder nachgefüllt werden.«

»Ich bleibe auch draußen.«

»Nico, das ist quatsch. Das kann einer alleine ganz gut und zudem, ich werde das ganz einfach nicht zulassen. Rick und Hasso bleiben bei mir, das hab ich mit den anderen so besprochen.«

»Dann wirst du mich mit Gewalt da runter bringen müssen. Marco, geh runter, wir machen das schon.« Nicos Absicht stand fest. Es fiel ihm nicht leicht, schon wieder von Marco getrennt zu sein, aber so war er wenigstens in Sicherheit.

Der Junge blickte völlig verwirrt. »Nico.. «

»Marco, uns wird schon nichts passieren. Bitte geh jetzt, es wird Zeit.«

Nur widerwillig seilte sich Marco schließlich ebenfalls in die Zisterne ab.

Nico stellte sich erst gar nicht auf eine Konfrontation mit Bode ein. »Rainer, da unten braucht uns niemand, das ist mir klar. Und ich weiß, dass du eine Strategie hast, wie wir hier.. durchkommen.«

Bode versuchte kein weiteres Mal, Nico von seinem Entschluss, draußen zu bleiben, abzubringen. »Wir vier haben im Pumpenraum gute Chancen. Die Tür ist ziemlich dicht und die Mauern sind dick genug. Vielleicht wird es ein bisschen warm, aber ich sehe keine echten Probleme.«

»Gut, dann mal los.«

Bode entriegelte die Seilwinde und begann, an der Handkurbel zu drehen.

Nico beugte sich über den Schachtrand. »So Leute, wir machen die Luke dicht und dann lassen wir Wasser ab. Und… alles Gute.«

»Euch auch«, rief Korn nach oben.

Unheimlich sah das im Licht der Taschenlampen da unten aus. Dicht zusammengekauert hockten die Jungs um die Betreuer herum und kurz erkannte Nico auch Marcos Gesicht, das ihn sorgenvoll ansah. Er hatte Tim und einen anderen Jungen in seinen Armen und schien sie fest an sich zu drücken. Nico spürte förmlich die Angst, die dort unten alles dominierte, aber es gab keine andere Lösung.

Da sich der Deckel jetzt langsam schloss, musste Nico zurückweichen. Er spürte einen Druck auf seiner Kehle, denn trotz allem blieb der Ausgang dieser Aktion völlig ungewiss. Doch so sehr er sich auch Gedanken machte, er konnte keine Lücke finden die das alles hier in Frage stellte. Denn eines war absolut sicher: Da unten konnte das Feuer keinen Schaden anrichten.

»Okay Nico, das war’s«, rief ihm Bode zu, nachdem der schwere Deckel die Luke geschlossen hatte.
Zum Zweck der Verriegelung gab es ein eisernes Handrad auf dem Schachtdeckel, aber Bode fand eine solche Maßnahme überflüssig. Der Deckel aus Gusseisen war schwer genug, um nicht von alleine aufgehen zu können.

Heiße Windböen fegten nun durch den Wald, das Prasseln des Feuers war weit und noch sehr leise auszumachen.

»Lass uns reingehen«, rief er Nico kurz darauf zu. Rick und Hasso setzten sich still in eine Ecke.

»Die wissen, worum es hier geht..«

»Klar, Nico, das wissen die schon lange. Hast du nicht gesehen, dass sie sich völlig ruhig verhalten haben?«

»Ja, ist mir aufgefallen.«

»Gut, die Tür lassen wir auf, bis es nicht mehr geht. Ich lass jetzt das Wasser ab.« Bode öffnete einen Schachtdeckel in der rechten Ecke des Raums, der grade groß genug war, um einen Menschen im Durchmesser hineinzulassen. »Da geht’s zwei Meter runter, dort sitzt das Handrad.«

»Aber.. ist das nicht zu hoch.. ich mein, gemessen am Wasserstand da drin?«

»Schon, aber der Schieber wird über ein Gestänge ganz weit unten betätigt.«

Bode stieg hinunter, dann ertönte das typische Geräusch, das entsteht, wenn man eine alte, fast verrostete Armatur betätigt. Das Quietschen des Gewindes wurde ab und zu von Bodes Flüchen begleitet.

Neugierig blickte Nico in das Loch hinunter. Muffiger Geruch schlug ihm entgegen. »Klappt’s nicht?«

»Doch, aber man hätte da mal einen Tropfen Öl dran verschwenden können. Bloß, wer denkt denn an so was? Beobachte bitte mal den Wasserstand.«

Nico ging zu der altertümlichen Skala an der Wand gegenüber. Mit einem Fingernagel kratzte er direkt an dem Pfeil der Anzeige etwas Farbe ab. Der Pfeil schwankte leicht auf und ab, schließlich konnte man sehen, wie er Millimeterweise nach unten ging. »Der Wasserstand fällt!«

»Gut«, tönte es aus dem Schacht und kurz darauf kam Bode wieder zum Vorschein.

Nico schüttelte den Kopf. Wäre es nicht so ernst gewesen, hätte er laut gelacht. »Außer Öl wäre auch mal ne Reinigung fällig.« Der Betreuer war über und über mit Spinnenweben bedeckt, seine Hände sahen aus, als hätte er Kohlen geschippt.
»Mach dich auch noch lustig über mich.«

»Tu ich ja gar nicht. Wo läuft das Wasser übrigens hin?«

In der Mitte des Bergs ist der Auslauf. Vielleicht hilft das ja sogar, den Brand ein bisschen in Schach zu halten. Zumindest.. schön wär’s.«

»Wäre ja nicht schlecht.. aber es wird wohl kaum reichen.«

»Nein, das wird es wahrscheinlich nicht.«

Nico zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich neben die Skala und deutete an den Pfeil. »Hier, schon fast einen Meter gefallen.«

»Das ist sehr gut.«

»Kommt überhaupt Zusatzluft in die Zisterne? Ich mein, der Deckel ist doch ziemlich dicht.«

»Seitlich knapp unter der Decke gibt’s eine Entlüftung direkt ins Freie. Ist nicht groß, aber sie reicht. Und so wirklich dicht ist der alte Kram auch nirgends.«

»An was die hier alles gedacht haben.«

Bode setzte sich auf den Pumpensockel. »Oh, man darf die Baukunst unsrer Vorfahren nicht unterschätzen. Vor allem ist das Ganze schön massiv. Selbst wenn Bäume auf die Kuppel fallen, die hält dem Stand.«

»Und.. wenn dann wirklich was drauf fällt, wie kriegen wir den Deckel dann auf?« Nico dachte an die schweren, dicken Bäume ringsum.

»Nico, ich möchte nichts beschönigen, aber falls das soweit kommt, bleibt da draußen weiter nichts als Schutt und Asche. So sieht das aus.«

»Und die Seile? Die Winde? Entschuldige, wenn ich.. «

»Ist okay, Nico. Das sind Dinge, die wir nicht vorhersehen können. Sicher ist aber doch, dass nach dem Feuer schnellstmöglich Hilfe kommt.«

»Tolle Aussichten. Hoffentlich vergisst man uns hier nicht.«

»Das glaube ich nun eher nicht. Nur schade um meinen Wagen.. darf gar nicht dran denken..«

Nico setzte sich zu ihm. »Meiner ist ja auch hin.. Aber solang es nur Material ist.«

Bode zündete sich eine Zigarette an. »Ja, das ist wahr. Aber sag mal, ich meine, es geht mich ja nichts an, aber dieser eine Junge.. Marco?«

»Was ist mit ihm?« Nico ahnte, dass Bode etwas bemerkt hatte und an dieser Stelle etwas zu leugnen war Unsinn.

»Ich kann mich ja täuschen, aber..«

»Du täuschst dich nicht.«

Bode nickte nur kurz, ging aber nicht weiter darauf ein. Nico war klar, dass sich der Betreuer ein Bild von der Sache machte und so wie er ihn kannte, das richtige. So auch, dass all das keine Rolle spielte, zumindest in der nächsten Zeit nicht. »Ja, Rainer, da ist etwas zwischen uns. Ich kann nicht mal sagen, dass es nur ein Abenteuer oder etwas Sporadisches ist. Es ist passiert und.. ich konnte und kann nichts dagegen machen. «

»Nico, das musst du jetzt hier nichts sagen, ich meine.. « tief inhalierte Bode den Rauch seiner Zigarette.

Nico hatte den Eindruck, dass er den Betreuer damit überforderte, aber der Zeitpunkt war genau richtig. Zum einen lenkte es von dem ab, was in den nächsten Stunden passieren würde und zum anderen – Nico musste mit jemandem darüber reden. Es ging nicht darum, sein Gewissen zu erleichtern, es ging ihm in der Hauptsache um Bodes Stellungnahme. Und da ganz besonders, wie Nicos Zukunft aussehen sollte. Stein hatte vage Andeutungen gemacht, aber nichts was hieb- und stichfest gewesen wäre. Jetzt war Rainer Bode am Zug, er hatte das Sagen und von ihm konnte Nico eine ehrliche Antwort erwarten. Ob es je eine Zukunft mit Marco geben würde, darauf konnte Nico noch keine Antwort geben, im Grunde hatte das mit dem, was passiert war, auch nichts zu tun.
»Doch, Rainer, ich will darüber reden. Falk hat das schon einmal mit mir diskutiert, aber es gibt für solche Dinge scheinbar kein Paradebeispiel. Ich möchte, dass du mir sagst, wie es sich verhält. Es ist… wichtig für mich, das zu wissen. «

Der Betreuer schnaufte laut ein und aus. Dabei sah er zu Boden und schien angestrengt nachzudenken.
Nico ließ ihn, obwohl er gespannt auf eine Antwort wartete. Er ging zu Bode hin und setzte sich neben ihn.
»Rainer, es ist verdammt nicht leicht für mich. Vielleicht habe ich mich in all dem völlig verrannt. Gedacht, es würde nichts passieren, solange es um den Job geht. Aber ich glaube allmählich, ich kann damit einfach nicht vernünftig umgehen.«

»Ich weiß nicht, Nico. Möglicherweise hinkt der Vergleich, aber nimm einfach mal an, das alles hier wären keine Jungs, sondern Mädchen. Du bist attraktiv, das darf ich behaupten und ist sicher nicht nur meine Meinung.«

Nico schluckte. Es war immerhin eine Tatsache, dass er sich ohne Probleme im Spiegel ansehen konnte, was er allerdings manchmal mit Eitelkeit in Verbindung brachte. »Und was willst du damit sagen? «

»Ganz einfach. Geh weiterhin davon aus, dass du ein Hetero wärst und die Mädels zum Teil recht hübsch. Glaubst du nicht, dass dann genau das Gleiche passieren könnte? Und – wenn man sich die Statistiken anschaut – dann sind Übergriffe gar nicht so selten auf diesem Gebiet. «

»Ich versteh aber immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat. «

Bode zündete sich erneut eine Zigarette an. »Ich meine, du bist noch jung. Sehr jung. Du bist unerfahren hier, vor allem im Umgang mit den Jungs. Es fällt dir schwer, sich gegen sie abzugrenzen, weil du – ums mal so zu sagen – vor noch nicht allzu langer Zeit in ihrer Situation warst. Ich weiß es nicht, aber ich kann mir dein Verhalten nicht anders erklären. «

»Mein Verhalten.. Das klingt für mich schon ein bisschen vorwurfsvoll. «

»Ist es aber nicht. Falk weiß das alles längst, da leg ich meine Hand für ins Feuer. «

Nico zog die Mundwinkel hoch. »Lieber nicht.. «

Bode lachte. »Nein, im Ernst. Er hätte dich niemals zugelassen, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre. Und ich bin es auch. Mach das hier zu Ende, schreib einen Bericht und denk über alles ein paar Tage nach. «

»Und was.. würdest du an meiner Stelle machen? Ich mein, so weit wie du dich da hineinversetzen kannst? «

»Ich? Auf den hören, der das zu mir gesagt hat. «

»Rainer, du sprichst in Rätseln. «

»Ich würde drüber nachdenken, aber auf keinen Fall vorher aufgeben. Hast du noch nicht gemerkt, wie das Camp nach dir gegriffen hat? Dass es dir manchmal so vorkommt, als wärst du schon ewig hier und könntest überhaupt nichts anderes machen? Wie oft hast du in den letzten Tagen an zu Hause gedacht? Dich dorthin zurückgesehnt oder gar gewünscht, die Tage hier seien hoffentlich schnell zu Ende? Damit meine ich nicht das, was gerade passiert. Da ist jeder froh, wenn er raus kommt. Aber ich meine das Camp an sich. «

Nico musste dem beipflichten, an diesem Gefühl gab es nichts zu zweifeln. Es war wie ein Sog, dem man sich wahrscheinlich nur mit Gewalt entziehen konnte. Vielleicht würde er wirklich nichts finden, was ihm mehr Erfüllung einbrachte, als das Camp.
»Aber, es sind nun mal keine Mädchen hier.. «

»Hast du.. entschuldige diese Frage: Einem der Jungen deinen Willen aufgezwungen? «

Nico wurde rot. Nicht aus Verlegenheit, sondern weil ihm diese Frage mehr als peinlich war. »Gewalt? Nein, um Himmels Willen, ich.. «

Bode winkte ab. »Dann vergiss es einfach. Niemand will wirklich wissen, was hinter den Kulissen passiert. Ich nicht, Falk nicht, Roth und die Berger auch nicht. Außerdem: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Mund halten, das ist das einzig Wahre. Im Übrigen habe ich mich nie mit dir darüber unterhalten, okay? «

Nico biss sich auf die Lippen. Viel weiter hatte ihn das Gespräch nicht gebracht, höchstens die Erkenntnis, dass er keine Todsünden begangen hatte. Nachdenken, wenn all das hier vorüber war.. Aber ob das etwas brachte? Er würde am Camp hängen, egal wie es ausgehen würde.
»Du willst also auch nicht wissen, wie eng ich und Marco.. «

»Nein, Nico. Ich lebe im Moment von meiner Frau getrennt wie du weißt, aber niemand käme auf die Idee mich zu fragen, ob ich sie noch liebe. Am Ende musst du sowieso selbst entscheiden, wohin deine Reise gehen soll, keiner kann dir da Vorschriften machen. Eine Empfehlung vielleicht, ja, aber mehr auch nicht. «

»Und du hast jetzt keine Empfehlung für mich? «

»Die habe ich dir schon gegeben. «

Nico spürte, dass er am Ende ihrer Unterhaltung zu dieser Sache angekommen war. Möglich, dass er mit Rainer noch stundenlang darüber hätte reden können, aber mehr wäre dabei sicher nicht herausgekommen.
Dass er mit dem Jungen geschlafen hatte, das war eine Sache zwischen ihnen beiden, niemand sonst brauchte davon zu wissen. Wobei Nico sicher war, Bode wusste ganz genau wann und wie es dazu gekommen war.
»Noch sieben Meter sind drin«, stellte er fest und beendete das Gespräch damit tatsächlich.

»Gut, dann dreh ich mal wieder zu.«

»Kann ich doch auch machen..«

»Oh, ich streite mich nicht drum. Geh nur runter zu den Spinnen und Asseln und was weiß der Teufel was da noch alles in dem Schacht herumkraucht.«

Nico grinste. »Sie werden mich schon nicht fressen.«

Daraufhin stieg er in den Schacht hinunter. Licht gab es dort unten nicht und so tastete er sich an das Handrad heran und begann es zu drehen. In der Enge war das anstrengender als er dachte und rasch spürte er den Schweiß aus den Poren schießen.
Bei der letzten Umdrehung nahm Nico noch einmal alle Kraft zusammen, dann war der Schieber geschlossen.

Nun lachte Bode, als Nico aus dem Schacht emporstieg. »Eins zu eins.«

Nico winkte nur ab. »Wie es denen da unten jetzt geht? Es ist zum verzweifeln. Da schwimmen sie..«

»Denen geht es gut. Zumindest nicht sehr schlecht. Dieser Ort ist der sicherste weit und breit, glaub mir. Es kann nichts passieren.«

Sie traten vor die Tür und nun wehte Rauch aus dem Wald, an den Baumkronen zerrte ein stürmischer Wind.

Besorgt sah Bode in die Baumkronen. »So, ich denke wir sollten jetzt zumachen. Der Rauch muss nicht da reinziehen.«

Nicos Angst kam wieder. Eine Weile hatte sie keinen Platz in ihm gehabt, aber jetzt kam sie mit voller Wucht zurück. Es war kein schöner Gedanke, eingesperrt zu sein, fast wie lebendig begraben.
Er verließ sich auf Rainer Bode, für den das Wort Angst scheinbar gar keine Bedeutung hatte. Erfahrungen mögen das eine gewesen sein, das Wesen, das ihm eigen war, das andere. Nico wollte doch soviel davon lernen, so werden wie er oder Stein. Aber immer mehr Zweifel kamen in ihm auf. Angst war gut, ein Lebensretter in vielen Situationen, aber sie war falsch, wenn sie zu unüberlegten Handlungen antrieb. Und diese Befürchtung hatte Nico. Irgendwann einmal aus Angst Dinge zu tun, die die Jungs in Gefahr bringen konnten. Bode hatte diesen Plan mit Sicherheit schon festgemacht, noch bevor sie überhaupt hier oben waren. Voraussicht haben und weise zu sein vor allem, das waren eben wichtige Eigenschaften. Sicher war man nicht immer vor spontanen Situationen gefeit, aber Nico fürchtete, ihm würde es genau an dieser Weitsicht fehlen. Er dachte an Marco. Standen am Ende gar nicht das Camp an erster Stelle, sondern die Jungs? War es nicht so, dass er unter Umständen überhaupt nur wegen ihnen hier war, und nicht des Jobs wegen?
Er wurde aus den Gedanken gerissen, als eine Erschütterung durch den Raum ging.

»Es geht los«, sagte Bode leise und hielt ein Ohr an die Tür.

»Ein Baum?«

»Möglich.«

Immer wieder erzitterte jetzt der Raum, manchmal erschreckend heftig.
Die beiden Hunde lagen in der Ecke und blickten ängstlich zur Tür. Rick pfiff mit jedem Atemzug leise durch die Nase.

»Die haben Angst.«

»Klar Nico, was meinst du wie es ihnen geht? Die hören jeden Ast da draußen brechen und riechen den Rauch hundertmal schlimmer als wir. Bei Rick kann ich mir allerdings vorstellen, dass er mehr Angst um uns als um sich selber hat.«

Das Poltern draußen wurde lauter, unbestimmte Geräusche füllten den Raum. Nico zog sich hinter die Pumpe zurück und blickte zur Tür.

»Keine Bange, die geht nicht auf«, versuchte Bode, ihn zu beruhigen.

»Wie lange, schätzt du, wird das dauern?«

Bode zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung, aber ich vermute, nicht sehr lange. Das Holz verpufft ja praktisch, es brennt wie Zunder. Wenn wir Glück haben ist in zwei, drei Stunden alles vorbei. Zumindest hier.«

Nico setzte sich auf den Boden und zog die Knie an seine Brust. »Hätte ich mir vor einer Woche auch nicht träumen lassen.«

»Keiner hat das.«

»Rainer, ich zieh es doch an. Das Unglück, das Pech. Und das hier ist jetzt die Krönung, schlimmer kann’s kaum kommen. Jemand will scheinbar nicht, was ich gerne getan hätte.«

Bode setzte sich neben ihn, während die Geräusche draußen lauter und wilder wurden. »Ich sehe es andersrum. Nicht das Unglück ist da, weil du hier bist, sondern du bist dort, wo es stattfindet.«

»Schön formuliert.. aber das beruhigt mich nicht. Ich möchte meine Akten in zehn Jahren jedenfalls nicht durchlesen müssen..«

Da wurden sie durch einen gewaltigen Schlag durchgeschüttelt. Staub rieselte von der Decke, die Beleuchtung flackerte. Nico zuckte zusammen und die Hunde sprangen entsetzt auf.
»Was zum Henker.. war das jetzt?«

Bode lauschte angestrengt. »Ich schätze, eine der großen Buchen ist auf uns gefallen.«

»Mein Gott.«

»Ruhig, Nico. Das ist hier ist fast wie ein Bunker. Ich glaube, als solcher hat der auch zwei Weltkriege durch gestanden.«

Tröstlich war das zum einen, zum anderen änderte es nichts an Nicos Angst. »Noch so ein Schlag.. «

Bode schien nicht zuzuhören. Seine Augen gingen die Wände des Pumpenraums ab. »Bis jetzt ist nichts passiert.«

»Bis jetzt.« Nico versuchte, nicht hysterisch zu werden. Er hatte sie im Kopf, die Bäume da draußen. Es war nicht nur eine mächtige Buche, die da stand und jeden Moment konnten die anderen auf sie stürzen. Und ob das Gebäude einer so geballten Wucht wirklich standhalten konnte, das bezweifelte er.

Scharfe, dumpf klingende Geräusche waren von draußen zu hören. Einmal wie Explosionen, dann wie das Pfeifen von Feuerwerkskörpern. Die Hölle.. sie mussten nicht zu ihr, sie kam zu ihnen, schoss es Nico durch den Kopf.

»Die Kuppel.«

»Nico, glaub mir, wenn die etwas abbekommen würde, das kriegen wir hier mit.«

Die Jungen da unten, im Dunkeln.. wie mochte es sich dort in dem großen, hohlen Raum anhören? Waren sie gerade in Panik geraten? Denkbar war es. Dann noch diese Enge.

Erneut gab es dumpfe Schläge und Nico verschlug es beinahe die Sprache. »Rainer…« Mit zitternder Hand zeigte er zur Tür. »Rauch.«

Bodes Gesicht wurde ernst, dennoch schien es konzentriert in seinem Kopf zu arbeiten. »Das macht erst mal noch nichts.«

»Du hast aber gesagt, die Tür wäre dicht.«

»Na ja, ich bin davon ausgegangen. Aber behalte bitte die Ruhe.«

Nico fand das sehr viel leichter gesagt als getan. Tatsächlich war es nur feiner Rauch, keine dicken Schwaden und es hatte auch nicht den Eindruck, wirklich gefährlich zu sein. Aber beruhigend war es keinesfalls. Er zog sich in die Ecke zu den beiden Hunden zurück, die beide dort saßen und ängstlich um sich blickten.

Erneut gab es einen heftigen Schlag, der sich aber so ganz anders anhörte und einen Augenblick später schmetterte etwas mit metallischem Geräusch an die Tür.

Bode beantwortete Nicos fragenden Blick. »Wohl eines der Autos.«

Chaos, da draußen musste das pure Chaos herrschen. Erst jetzt bemerkte Nico, wie heiß es inzwischen in dem Raum geworden war. Er holte tief Luft, aber davon schien es wenigstens noch genug zu geben. »Von hier kommt man nicht.. in die Zisterne, oder?«

»Nein, absolut nicht und das würde auch keinen Sinn machen. Wenn sie irgendwann voll Wasser stehen würde, dürfte es hier rein laufen. Darum gibt es keinen Zugang von hier«

Diese Logik hätte sich Nico denken können, aber er musste an die Jungen denken. Sicher würde keiner vor Angst sterben, aber sicher war auch, dass sie welche hatten. So wie er. »Rainer.. werden die uns hier rausholen?«

»Ganz bestimmt. Wir müssen nur noch ein bisschen aushalten. Nicht mehr lange, denk ich.«

Nico setzte sich, lehnte seinen Kopf an die Wand und schloss die Augen. Es war schon schlimm, nichts tun zu können, aber schlimmer war das Warten. Er sah auf seine Uhr, seit zwei Stunden waren sie jetzt hier gefangen. Sagte Rainer nicht, zwei oder drei Stunden? Er wagte nicht mehr zu fragen. Horchen war das einzige Mittel, das sie besaßen und wenn das Inferno da draußen vorbei sein würde, dann musste man das hören. Keine Geräusche mehr.. Nico beobachtete die Hunde. Ihre Ohren gingen unentwegt, registrierten jedes noch so leise Knistern und Knacken. Vielleicht konnte man an ihnen erkennen, wann es vorbei war. »Rainer, wenn es hier auch brennt, dann ist das Camp verloren, oder?«

»Möglich. Ich denke, wir sollten das abwarten. Das Feuer ist ja womöglich rechts durch den Wald hier hoch gekommen.«

»Hoffentlich. «

Die Luft wurde zunehmend stickig, der feine Rauch, der sich seinen Weg durch die Türritzen gesucht hatte, stand wie feiner Nebel im Raum.

»In die Zisterne wird doch bestimmt auch Rauch eindringen«, sinnierte Nico weiter.

»Kann sein, ja. Aber die Jungs haben Wasser um sich herum, da kann man sich behelfen.«

Wie das gehen sollte, hinterfragte Nico nicht. Rainer Bode schien sich ganz auf seine Kollegen zu verlassen und die würden sicher keine Möglichkeit auslassen.

»Schon seltsam, mit welchen Dingen man da konfrontiert werden kann.«

Bode lächelte. »Da höre ich schon wieder raus, dass du der Sache nicht gewachsen scheinst. Aber das ist Unsinn, solche Dinge lernt man übrigens auf keiner Uni. Niemand von uns hat so was weder in Betracht gezogen noch je erlebt. Vielleicht ist es das, was diesen Job ausmacht. Aber genau sagen kann ich es dir auch nicht.«

Nicos Gedanken waren in erster Linie bei Marco, der nur wenige Meter neben ihnen mit auf einem der Floße saß. Wahrscheinlich würden sie frieren ohne Ende, da drin würde sich die Hitze wahrscheinlich nicht bemerkbar machen.
Er horchte auf. »Rainer, es wird ruhig da draußen.« Dann sah er auf seine Uhr: Über drei Stunden hatte das Feuer gewütet.

Bode stand auf und ging zur Tür und legte eine Handfläche auf. »Warm ist sie, aber nicht heiß. Okay, bleib wo du bist, ich öffne sie einen Spalt.«

Nico stand nun ebenfalls auf und lehnte sich an die Wand.

Langsam drückte Bode die Türklinke herunter, dann zog er sie ein Stück auf. Sofort drangen Ascheteilchen und Rauch durch die Spalte, aber es war kein undurchdringlicher Qualm. Bode öffnete die Tür, bis er seinen Kopf hinausstrecken konnte, dann machte er sie ganz auf. »Es ist vorbei«, sagte er.

Langsam bewegte sich Nico zu ihm hin, während die Hunde noch auf ihren Plätzen blieben. Rasch füllte sich jetzt der Raum mit beißendem Rauch und stickiger Hitze, woraufhin Bode ein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. Nico zog sein Handy aus der Tasche und atmete auf. »Wir haben Empfang«, rief er, um sogleich Leo Meiers Nummer aufzurufen.

»Nico, ist alles okay bei euch?«, fragte Meier aufgeregt.

»Ja, also zumindest Rainer, ich und die Hunde sind in Ordnung. Die anderen sind alle in der Zisterne.«

»Wir haben gute Nachrichten. Der Feuerwehr ist es gelungen, das Feuer vom Camp abzuhalten. Unter anderem hat der Sturzbach aus der Zisterne Wunder bewirkt. Die Männer konnten aber nicht verhindern, dass der Wald dahinter in Brand geriet. Und die Hütte hat es auch erwischt.«

»Rainer, das Camp steht noch!«, rief Nico erfreut.

Bode hustete. »Das ist ja mal ne gute Nachricht.«

»Nur die Simmelshütte hat es wohl erwischt.«

Bode winkte ab. »Die lässt sich auch wieder aufbauen.«

»Nico, die Hubschrauber sind bereits wieder unterwegs, was ist mit der Zisterne?«, fragte Meier nach.

»Da können die jetzt kein Wasser aufnehmen, Leo. Der Wasserspiegel ist zu niedrig und die Jungs sind noch drin.«

»Gut, ich sage denen Bescheid. Seht zu, dass ihr die Jungs rauskriegt. Schafft ihr das alleine?«

»Weiß nicht.. ich ruf zurück.«

Nico beendete das Gespräch und trat, ebenfalls mit einem Taschentuch als Mundschutz, vor das Gebäude. »Am Steinbruch scheint es auch nicht so schlimm gewesen zu sein. Zumindest funktioniert die Antenne noch.«

Der Anblick, der sich ihm dann bot, übertraf seine wildesten Vorstellungen und verschlug ihm die Sprache. Der Boden war über und über mit schwarzgrauer Asche bedeckt, von den Bäumen stand zum Teil nur noch das untere Drittel und wie Mahnmale ragten die schwarzen Stümpfe qualmend in den aschfahlen Himmel.

Von Angelmanns Wagen stand nur noch ein undefinierbares Eisenbündel, von der Explosion zerrissen, erinnerte das eher an einen Kriegschauplatz. Und so verglich Nico die Szene mit dem Ergebnis eines Krieges. Natur gegen Mensch..

Sofort sah er hoch auf die Kuppel. Ein Gewirr aus verkohlten Ästen und Baumstämmen lag überall verteilt. »Mein Gott, Rainer..« Nico zeigte zu der Stelle, wo sich unter den Ästen und Stämmen der Deckel der Zisterne befinden musste. »Das.. kriegen wir zwei nie weg.«

Bode trat wieder zurück in den Pumpenraum und schüttelte seine Füße. »Verdammt heiß.. Ich denke, wir sollten jetzt zuerst mal den Wasserspiegel wieder anheben.« Mit diesen Worten trat er vor den Schaltkasten der Pumpe. Doch bevor er sie einschalten wollte, sah er sich um. In der Aufregung und durch die offene Tür hatten beide nicht bemerkt, dass das Licht ausgegangen war. Resigniert ließ Bode seinen Arm sinken. »Das hat uns noch gefehlt.«

Nico stellte sich zu ihm. Eine Antwort brauchte er nicht zu verlangen, er sah auch so was Bode gemeint hatte. Die Lampen waren erloschen. »Kein.. Strom?«

»Kein Strom. Ein Wunder, dass er überhaupt so lange da war.«

»Was machen wir jetzt?« Erneut kam Panik in Nico auf.

»Wir müssten versuchen, den Deckel freizukriegen, aber es ist noch zu heiß, die Stämme werden noch lange glühen.«

»Rainer, die Jungs.. wir.. müssen da rein.«

Zum ersten Mal spürte Nico, dass Bode ratlos schien. Der zog sein Handy aus der Tasche und versuchte, Angelmann zu erreichen. Aber es meldete sich nur dessen Mailbox. »Die Zisterne ist dicht, da kommt kein Funksignal weder rein, noch raus.«
Erneut drückte Bode eine Handytaste. »Leo? Wir brauchen Hilfe, auf dem schnellsten Weg. Das Dach der Zisterne liegt voller Baumstämme und Äste. Zu allem Unglück ist der Strom weg und wir können deswegen den Wasserstand nicht anheben.« Dann nickte Bode nur noch und legte auf. »Leo gibt den Militärs Bescheid. Vielleicht haben die eine Idee.«

»Und wir?«

»Können nur warten.« Dabei ging Bode wieder aus dem Raum hinaus und sah sich um. »So ein Schlachtfeld.«

Leichter Wind wehte vom Tal herauf und blies den Rauch des hinter ihnen brennenden Waldes von ihnen weg. Vorsichtig erklomm Nico die Kuppel, wobei er darauf achtete, auf keine glimmende Stelle zu treten. Trotzdem spürte er die Hitze durch die Schuhsohlen.
Alles was er sah, bestätigte nur die Ahnung: Mit bloßen Händen konnte man hier oben nichts ausrichten. Von dort oben hatte Nico einen besseren Überblick und vage konnte er die Wipfel der heilen Bäume weiter unten ausmachen. Dort lag das Camp, zum großen Glück im Unglück war da nichts passiert. Das Prasseln des Feuers war in ein monotones Geräusch umgeschlagen, ab und zu hörte man das Krachen und Poltern eines umstürzenden Baumes.

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