Das Boycamp III – Teil 16 [Ende]

Mit der Rettungsaktion, einem überraschenden Besuch sowie einem ominösen Leichenfund endet die 3. Fortsetzung vom Boycamp.

Einige der großen Baumstämme brannten noch, aber es entstand fast kein Rauch mehr dabei und dann endlich ein leises Brummen in der Luft.

»Die Hubschrauber kommen!«, rief Nico zu Bode hinunter, der sich bis zu seinem Autowrack vorgewagt hatte und nun grübelnd vor dem Schrotthaufen stand.

»Ich hab’s gehört, Nico. Komm da oben runter, die werden mächtig viel Asche aufwirbeln.«

Was die Soldaten genau vorhatten und wie sie vorgehen wollten, das würden sie schon wissen. Ohne Widerrede stieg Nico von der Kuppel herunter. Rick und Hasso hatten den Pumpenraum noch immer nicht verlassen, wohl auch, weil ihnen der Boden zu heiß gewesen war.

Das pochende Geräusch der Rotorblätter kam rasch näher, schließlich kreiste der erste Hubschrauber über dem Gelände.

»Was werden die jetzt tun?«

»Abwarten. Ich denke, egal wie, aber die müssen uns Leute runterschicken.«

»Es sind die selben Maschinen wie Gestern.«

»Ja, da passen um die vierzig Soldaten rein. Vielleicht..« Bode schwieg, als der erste Transporthubschrauber in den Schwebflug überging und sich langsam Richtung Kuppel sinken ließ.

»Komm, wir gehen rein, das wird gefährlich wenn da glühende Brocken aufgewirbelt werden.«

Rasch suchten die beiden den Pumpenraum auf, während draußen Asche und glühendes Holz durch die Gegend flog. Der Raum erzitterte unter den Vibrationen des großen Hubschraubers und lange Zeit blieb diese Szenerie erhalten.

»Was machen die bloß?«, fragte Nico und sah nach oben zur Decke.

»Abwarten. Die Jungs werden wissen, was zu tun ist.«

Mal wurde das Dröhnen des Helikopters leiser, dann wieder laut. Schließlich vervielfachte es sich, was auf noch andere Maschinen deuten ließ. Immer wieder zogen dichte Schwaden aus Asche draußen vorbei, wirbelte ab und zu durch die offene Tür des Pumpenraums herein und schien einem die Atemluft nehmen zu wollen.

Es war unmöglich, diesen sicheren Platz zu verlassen, auch wenn Nico ab und zu dachte, hinausgehen zu können um nachzusehen, was sich da abspielte.

Plötzlich tauchten zwei Gestalten unter der Tür auf.
»Tim!«, rief Nico und kam den beiden entgegen. Der Junge hatte ein von Asche geschwärztes Gesicht und befand sich in Begleitung eines Soldaten. Der sah nicht besser aus, zudem hielt er sich nicht lange auf.

»Hallo. Ist alles okay mit Ihnen?«, fragte er.

Bode nickte, immer noch leicht verwirrt von dem, was sich da gerade abspielte.

»Gut. Bleiben Sie hier, wir bringen die anderen nach.« Damit verschwand der junge Soldat wieder nach draußen.

»Tim.. bis du okay?«

Der junge Pfadfinder nickte. »Sie holen alle raus, mit einer Seilwinde.«

Nico atmete auf. Wie auch immer die das da draußen angestellt hatten, die größte Gefahr schien vorüber. »Sind die anderen.. auch heil?«

»Ja, aber..«, Tim begann zu schluchzen, ».. das war schrecklich da unten.«

Nico legte seinen Arm um den Jungen und drückte ihn an sich. »Ist ja gut, es ist alles vorbei.«
Marco war in Ordnung; das erste, was er nach diesen Worten dachte. Er und die anderen.

Nach und nach kamen jetzt die Pfadfinder in den Raum, jeder wurde einzeln von einem Soldaten hereingebracht. Viele Worte fielen nicht, die Jungen waren einfach nur fertig und setzten sich völlig erschöpft auf den Boden.

»Was passiert jetzt weiter? Haben die was gesagt?«, wollte Nico von einem der Älteren wissen.

»Wir sollen hier bleiben, erst mal. Mehr weiß ich auch nicht.«

Allmählich ebbte der Aschenflug draußen ab, obwohl die Hubschrauber noch zugange waren. Nico wagte deshalb, den Raum zu verlassen und ein Stück zurückzulaufen, von wo aus er die Kuppel überblicken konnte.

Der Anblick, der sich ihm bot, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Feine, aufgepeitschte Asche zwangen ihn zwar, seine Augen zu schützen, aber dennoch sah er, wie einer der Hubschrauber im Schwebeflug über der Kuppel stand und gerade wurde das Seil an einer Winde nach oben gezogen. Daran hingen zwei Personen, offenbar war eine von ihnen ein Soldat. Es war fast ein Wunder, wie ruhig der große Helikopter auf der Stelle schwebte, fast, als wäre er an den Himmel genagelt. Alles schien ohne Hektik abzulaufen, jeder Handgriff zu sitzen. Hätte Nico nicht um den Ernst der Sache gewusst, würde er es für eine Übung gehalten haben.

Jetzt flog der Hubschrauber einige Meter nach vorne und ließ die beiden Personen an dem Seil herab. Nur wenige Sekunden dauerte es, bis ein anderer Soldat am Boden den Geretteten in Empfang nahm und das ganze von vorn begann.
Nico erkannte in der Person Roman. Der Soldat mit ihm am Arm kam schnell näher. »Gehen Sie bitte zurück in Deckung«, bat er die beiden dann. Noch bevor Nico eine Frage stellen konnte, war der Soldat wieder auf dem Weg zurück.

Romans Gesicht war schmutzig, sonst schien er unversehrt zu sein. »Alle heil geblieben?«, fragte Nico.

»Ja, aber da war’s ganz schön kalt. Und die Luft so schlecht, Mann bin ich froh.«

Plötzlich erfüllte ein lautes Krachen die Luft. Einer der großen, bis auf den mächtigen Stamm abgebrannte Baum, neigte sich langsam und drohte auf die Kuppel zu stürzen. Entsetzt sahen die Geretteten, wie der Hubschrauber rasch an Höhe gewann und mit einem der Soldaten am Seil schwebte er rasch zur Seite.

»Rein da!«, schrie Bode und kaum waren sie im Pumpenraum, erschütterte der Aufschlag des Baums das Gebäude. Erneut rieselte Staub von der Decke und diesmal wurde der Schlag von einem hässlichen Geräusch begleitet. Ängstlich leuchtete Tim mit seiner schon schwachen Taschenlampe an die Decke; ein tiefer Riss zog sich von einer Ecke des Raums zur anderen. Bodes Gesicht wurde ernst, sehr ernst.

Nico beugte sich nah zu ihm hin, um leise sprechen zu können. »Noch so ein Schlag hält das Gebäude nicht aus, oder?«

Bode zeigte zunächst keine Regung, er schien angestrengt nachzudenken. »Ich weiß nicht. Ein paar Bäume stehen da noch, aber es ist nicht gesagt, dass sie in die selbe Richtung fallen.«

Nicos Angst kam schnell zurück. Hier konnten sie zwar in der Not nach draußen flüchten, aber die Zisterne selbst könnte dann zur Falle werden. »Was jetzt?«

»Warten. Keine Panik.« Überzeugt klang Bodes Beruhigung nicht, aber mehr konnte man tatsächlich nicht machen. »Bleibt hier«, sagte er schließlich und verließ den Raum.

Aber Nico widersetzte sich Bodes Anordnung und folgte ihm. Schon schwebte der Hubschrauber wieder über dem Schacht der Zisterne, während etwas Abseits ein zweiter immer tiefer ging. »Der landet«, sagte Nico, dann ging sein Blick zu einem der großen Bäume, deren Stämme noch qualmten. Noch standen sie kerzengerade und sollten sie umstürzen, konnte man in dem Moment tatsächlich nicht abschätzen, in welche Richtung.

Dann landete der zweite Helikopter an der Ostseite der Kuppel, trotz des schrägen Hangs. Für einen Augenblick bewunderte Nico den Mut, mit dem die Besatzung an die Sache heranging. Kaum hatte die Maschine aufgesetzt, klappte die Ladeluke am Heck herunter und fünf oder sechs Soldaten rannten heraus. Das Ganze bekam jetzt doch einen hektischen Anstrich. Weiter unten über dem brennenden Wald war eine dritte Maschine auszumachen und an ihrem Seil hing der Löschbehälter. Wahrscheinlich hatten sie Wasser aus der Weser geholt.

»Kommen Sie bitte alle mit«, rief einer Soldaten, als sie bei Nico und Bode angekommen waren, »in die Maschine.«

Nico überlegte nicht lange und rannte, gefolgt von zwei Soldaten, zum Pumpenraum hinunter. Die Jungs, die jetzt aus dem Schacht gezogen wurden, führte man gleich zu dem gelandeten Hubschrauber. Nico wollte wie Bode zurückbleiben, bis auch der Letzte geborgen war, aber die Soldaten diskutierten nicht. Zudem ließen sie nicht den einen Baum aus den Augen, der bedrohlich nahe stand.

„Rick, Hasso, kommt!«, rief Nico den beiden Hunden zu. Obwohl sie sonst Gehorsam waren, zögerten sie. Der Gestank, der Krach, die Unruhe insgesamt verängstigten die beiden Tiere. Nico ging zu ihnen in die Ecke, die seit Stunden nicht verlassen hatten. »Rick, du musst raus hier. Komm, bitte.«

Der Husky hechelte vor Aufregung, Hasso nicht weniger. Seltsam, dachte Nico, solch fragende Blicke hatte er bei Rick noch nie gesehen. »Los, komm, wir haben keine Zeit.« Nico packte Ricks Fell am Hals und wäre froh gewesen, wenn der Hund ein Halsband getragen hätte. Aber das hatte Stein nie gewollt und bis zu diesem Zeitpunkt war es ja auch nie notwendig gewesen.
Endlich stand Rick auf und folgte Nico, wobei er sich an seine Beine drückte. Hasso wartete noch etwas, dann jedoch schloss er sich den beiden an.

Die Soldaten bildeten eine lose Reihe, um die Geretteten ins Heck der Maschine zu lotsen. Denn es konnte gefährlich werden, dem laufenden Heckrotor zu nahe zu kommen.
Je näher die Hunde dem Hubschrauber kamen, desto ängstlicher wurden sie. Plötzlich rannte Rick davon, dicht von Hasso gefolgt jagten sie über die Kuppel.

Nico schrie, aber die Hunde hörten nicht. Kurz darauf waren sie aus dem Blickfeld verschwunden.

In seiner Panik wandte sich Nico an einen der Soldaten, doch der schüttelte den Kopf. »Wir müssen schnellstens weg hier. Die finden sich alleine zurecht.«

Wahrscheinlich hatte der Soldat Recht und eine Suche war so oder so unsinnig. Auf Rick konnte man sich verlassen, der würde auch unter diesen Umständen wissen, was zu tun war.

Nico betrat schließlich den Rumpf des Hubschraubers und setzte sich wie die anderen auf die primitiven Sitze, die rechts und links angebracht waren. Es war laut, zu laut um wörtliche Anweisungen zu geben, weshalb die Soldaten das anschnallen selbst vornahmen. Einerseits fühlte sich Nico jetzt sicher, andererseits blieb diese Furcht.
Rasch zählte er durch. Simon war hier, Roko, Patrick, Roman. Die Namen der anderen aus Camp zwei brachte er nicht so schnell zusammen, aber ihre Gesichter waren ihm wohl bekannt. Bei den Pfadfindern war es schwierig, da musste Pröll ein Auge darauf haben. Aber sie schienen alle da zu sein.

Nun kam auch Angelmann in die Maschine, gefolgt von Pröll, Michael und Felix. Angestrengt starrte Nico zu der Ladeluke. Marco fehlte noch. Wieso ausgerechnet er? Gut, er war nicht sicher ob wirklich alle da waren, dennoch beschlich ihn ein dummes Gefühl. Er schnallte sich ab und ging zu Michael Korn, der im schräg gegenübersaß. »Wo ist Marco Serrolas?«, schrie er gegen den Lärm der Turbinen.

Korn zog die Schultern hoch. »Er war noch unten in der Zisterne, wollte unbedingt warten bis alle Jungs oben sind. Er wird aber sicher gleich kommen.«

»Wieso noch unten? Warum?« Nico verstand nicht, warum keiner der Betreuer der Letzte war.

»Er bestand darauf. Vielleicht hatte er zuviel Angst.«

»Angst?«

»Nico, ich weiß es nicht.«

»Was war da unten eigentlich los?«, wollte Nico dann wissen.

»Na ja, ich denke das Schlimmste war die Ungewissheit. Die Geräusche waren nicht zu definieren, außerdem klang alles dumpf und hohl. Dann die Dunkelheit.. wir waren nicht sicher wie lange das dauern konnte und mussten die Lampen schonen. Schließlich waren die Temperaturen da unten nicht grade hoch. Das Feuchte, Hunger.. und das Warten. Jede Minute wird da zur Ewigkeit.«

»Und die Jungen?«

»Haben sich trotz allem vorbildlich verhalten. Bloß fürchte ich – das wird niemand mehr vergessen.«

Am liebsten wäre Nico hinausgerannt, aber schon hatte ihm ein Soldat ein Zeichen zum hinsetzen gegeben. Und diese Geste war alles andere als freundlich, man nahm die Sache hier sehr ernst.

Nun kamen auch die Soldaten in die Maschine und hinter ihnen begann sich die Ladeluke des Helikopters zu schließen. Nico schrie, sie sollen noch warten, aber seine Bitte blieb ungehört. Kaum hatte sich die Luke geschlossen, begann sich der Hubschrauber zu schütteln und der Lärm wurde zum Getöse. Rasch stieg die Maschine senkrecht auf und drehte sich dabei um die eigene Achse.

Nico drehte sich auf seinem Sitz um und sah durch eines der wenigen Fenster nach draußen. Der andere Hubschrauber war gerade dabei, das Seil wieder aus dem Zisternenschacht zu ziehen, gleichzeitig konnte er sehen, wie sich der große Baum zu neigen begann – genau in die Richtung der Zisternenkuppel.
Nico presste die Lippen zusammen und verkrampfte seine Hände um das Rohrgestell seines Sitzes. In dem Augenblick, als zwei Personen an dem Seil aus dem Schacht herausgezogen wurden, krachte der Baum auf die Kuppel. Asche wirbelte auf, brennende Teile stoben auseinander und plötzlich gab der Boden unter dem Aufschlag nach. Es sah aus, als würde der Baumstamm in tiefem Schnee versinken, dann tat sich ein riesiges, schwarzes Loch auf. Staub, Asche, verbrannte Holzstücke flogen durcheinander, dann stürzte der brennende Baum durch die eingestürzte Decke in die Zisterne hinunter. Wie ein riesiger Pilz schoss eine Dampfwolke empor, die durch das Wasser erzeugt worden war und verhüllte jegliche Sicht. Die Wolke verschluckte den anderen Hubschrauber förmlich und Nico blieb dabei beinahe das Herz stehen.
Mehr konnte er nicht mehr sehen, sie stiegen weiter in den blassblauen Himmel, dann nahm die Maschine Fahrt auf und in schnellem Flug überquerte sie den Berg.

Nico wollte aufstehen, hingehen zu den Piloten und fragen, was mit der anderen Maschine passiert war, aber der Flug in diesem Hubschrauber war viel zu unruhig. Düstere Bilder entstanden in seinem Kopf: Er sah den Hubschrauber in die Zisterne hinunterstürzen.. Rasch riss er sich dann wieder zusammen. Es durfte einfach nichts passiert sein.

Auf dem Flug war das ganze Ausmaß der Katastrophe zu übersehen. Schwarze Baumstümpfe, die aus weißgrauer Asche emporragten. Der Steinbruch drüben schien tatsächlich verschont geblieben zu sein, dann kam die Stelle, wo offenbar das Wasser aus der Zisterne den Brand verhindert hatte und darunter schließlich das Camp. Es sah aus wie eine Oase in einer bizarren, weißgrauen Wüste. Weit sehen konnte man nicht, denn immer noch verschleierten Rauchschwaden den Himmel. Der Hubschrauber flog schließlich eine kurze Schleife, dann schwebte er langsam auf die Wiese vor dem Hauptgebäude ein.
Kaum hatte er aufgesetzt, öffnete sich die Ladeluke und die Soldaten winkten recht hektisch zum aussteigen. Wieder bildeten die Männer eine Reihe und führten die Insassen hinaus ins Freie. Nico versuchte die Soldaten zu fragen, was mit der anderen Maschine passiert war, aber er bekam keine Antwort.

Es waren nur wenige Minuten, dann standen sie alle draußen vor dem Gebäude und beobachteten den Abflug des Hubschraubers.
Nico sah ihm lange nach, dann wandte er sich den anderen zu, die in eine engen Gruppe beieinander standen. Sie unterhielten sich leise, fast gedämpft und die Erschöpfung war jedem einzelnen anzusehen.

Ein Handy wurde herumgereicht, mit dem sich die Jungs zu Hause melden konnten. Keiner hielt es länger als eine Minute in der Hand, dann reichte er es dem nächsten.

Nico ging auf den Förster zu. »Warum ist Marco so lange unten geblieben?«, wollte er von ihm fast vorwurfsvoll wissen.

»Kann ich dir sagen. Er hat geholfen, erst den Jungs und dann auch uns die Geschirre umzulegen. Jeder Handgriff saß und das ging so dermaßen schnell. Die Bitte, er solle endlich nach oben, hat er abgeschlagen. Wir konnten ihn ja nicht zwingen. Im Übrigen, er hat nicht nur die beste Kondition gezeigt.«

»Sondern?«

»Er war eine große Hilfe, dass da unten keine Panik ausbrechen konnte. Schon erstaunlich, der Junge.«

Nico spürte den Druck in seinen Augen. Was war mit dem Hubschrauber passiert, als die Zisterne einstürzte? Wo war Marco und wie ging es ihm? Fragen, auf die hier keiner eine Antwort geben konnte oder einfach nicht geben wollte.

Erst jetzt fiel Nico auf, dass noch jemand fehlte. Er wandte sich an Angelmann: »Wo sind Rick und Hasso?«

Der Förtser zog die Schultern hoch. »Um die mache ich mir ehrlich gesagt keine Sorgen. Die werden wohl bald hier aufkreuzen.«

»Los, alle reinkommen!«, rief Felix Gröbner in die Menge und winkte sie mit der Hand zu sich an die Tür. Außer Frage, wenn Gröbner so etwas von sich gab, konnte man zumindest mit Essen und Trinken rechnen.

Pröll appellierte an seine Gruppe. »Jungs, ihr habt es gehört. Und benehmt euch.«

Michael Korn nahm Nico im vorbeigehen am Arm. »Komm, wir können jetzt alle etwas vertragen.«

»Ich hab keinen Hunger.«

»Nico, bitte.«

Widerwillig folgte Nico dem Betreuer in den Speiseraum. Der war für alle nun viel zu klein, aber das störte niemanden. Wer keinen Stuhl mehr fand, setzte sich auf den Boden. Gröbner verteilte Mineralwasser Flaschenweise, dann begann er in den Regalen nach Essbarem zu suchen. Nico fand es erstaunlich, wie schnell dieser Mann in solchen Sachen war.

Bode setzte sich zu Nico auf die Fensterbank. »Ein warmes Essen wird wohl dauern. Kein Strom, kein Wasser.«
In diesem Moment ging sein Handy. Nico lauschte angespannt, er hoffte auf eine Rückmeldung was mit Marco passiert war. Aber offensichtlich unterhielt sich Rainer mit Irwin Probst.

»Sie kommen hoch, uns holen«, sagte Bode, nachdem er aufgelegt hatte.

»Ich werde hier nicht weggehen, bevor ich nicht weiß was mit Marco ist«, antwortete Nico entschlossen.

Bode sagte darauf nichts, er ließ stattdessen seinen Blick durch den Raum schweifen. »Tapfer waren sie ja, das muss man sagen.«

Nico hörte nur mit einem Ohr zu. Ständig sah er nach draußen, lauschte ob nicht der Hubschrauber zu hören war. Aber es blieb ruhig. Nebenbei ging sein Blick in den Himmel und eindeutig zogen jetzt Wolken von Westen her auf. Es würde regnen, bald schon, aber er kam zu spät. »Was passiert jetzt mit dem Camp?«, fragte er Bode.

»Keine Ahnung. Ich denke, das werden am Ende andere entscheiden.«

»Alles hin.. Die Sachen aus dem Büro, meine.. Ich darf gar nicht dran denken.«

Bode nickte betreten. »Ja, ein ziemlicher Verlust. Aber Material lässt sich ersetzen.« In diesem Moment merkte er, dass das nicht die richtige Antwort war. »Marco ist nichts passiert, wirst sehen.«

Inzwischen verbreitete sich ein Geruch nach Dosenwurst in dem Raum. Die Jungen stürzten sich regelrecht auf die Speisen, die Gröbner unter ihnen verteilte. Nico spürte eher ein Würgegefühl, ihm wurde langsam schlecht. »Ich muss an die frische Luft«, sagte er, auch wenn das in Anbetracht der Umstände nicht besonders plausibel klang. Draußen waberten noch immer Rauchschwaden vorbei, aber sie waren nicht so dicht als dass sie einen am Atmen hinderten.

Schnell verließ Nico den Raum und trat vor die Tür. Ihm war einfach nur zum Heulen zumute. Bis zu diesen Momenten hatte er nicht gewusst, wie sehr er doch an Marco hing. Er setzte sich auf die Bank vor dem Eingang und sank förmlich in sich zusammen. Doch schon wenige Minuten später erhellte sich sein Gesicht. Aus dem Wald drüben bei den Hütten stürmten die beiden Hunde auf ihn zu. »Rick, Hasso.. «, rief er eher leise.

Schnell waren die beiden bei ihm, völlig von Asche in ihrem Fell überzogen. Ihre Zungen hingen weit heraus und dennoch wedelten sie freudig mit dem Schwanz, als sie bei Nico ankamen. Er ging in die Knie und kraulte das Fell der beiden.

»Ich sagte doch, die kommen alleine zurecht«, hörte er den Förtser sagen. Der stand nun unter der Tür und beobachtete das Empfangszeremoniell.

Dann waren Motorgeräusche zu hören. Im ersten Augenblick suchten Nicos Augen den Himmel ab, aber es waren Autos, die diese Geräusche verursachten.

Wenig später kam ein ganzer Konvoi vor das Gebäude gefahren und schon war Leben auf dem Gelände. Die Jungen kamen nun auch heraus, offenbar erwarteten sie ihre Eltern oder Betreuer.
Unter den Fahrzeugen erkannte Nico eines auf den ersten Blick: Falk Steins Wagen.. Der fuhr auch direkt vor den Eingang und mit ihm im Auto saßen Antonia Berger und der Professor. Allesamt mit sehr besorgten Gesichtern stiegen sie aus.

»Meine Güte, was ein Glück.. « Frau Berger drehte sich langsam in Kreis und betrachtete sich das Gelände. Auch der Professor schien eher sprachlos und nur Falk Stein kam direkt auf Nico zu.

Kein Wort, nur Blicke. Nico spürte, wie seine Knie wacklig wurden, in diesem Moment schien ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen zu wollen. Ohne Zögern legte Nico seine Arme um Falk Steins Schultern und begann hemmungslos zu schluchzen.

Stein brauchte dafür keine Erklärung, er spürte dass Nico am Ende seine Kräfte war und legte seine Arme um Nicos Hüfte.

Betroffen beobachteten die anderen das Geschehen, niemand sagte ein Wort.

»Es ist.. so schrecklich gewesen.. «, schluchzte Nico und ließ seinen Tränen freien Lauf. Es war ihm egal was die anderen dachten.

Stein sagte weiterhin nichts, nickte nur zaghaft.

Immer mehr Fahrzeuge kamen jetzt aus dem Dorf herauf, die Jungen eilten ihnen entgegen wenn sie ihre Abholer erkannten. Auch Thomas und dessen Vater waren unter den Ankömmlingen. Nico schenkte ihnen kaum Beachtung, zumal ihm jetzt nicht nach reden war.

Am Ende des letzten Konvois tauchte auch der Polizeiwagen auf und hinter ihm die wohl unvermeidliche Presse. Aber an ihnen störte sich anscheinend niemand, zudem gab es zumindest von hier keine Sensation zu berichten.

»Weiß man etwas über den einen Hubschrauber.. er fehlt immer noch«, fragte Nico dann unter Tränen.

Stein schon ihn ein Stück von sich. »Welcher Hubschrauber?«

Nico hatte geahnt, dass Stein nichts davon wusste und schilderte ihm kurz, was er zuletzt gesehen hatte.

Stein griff danach zu seinem Handy. »Das haben wir gleich.«

Nicos Augen verengten sich. Da kam noch ein Auto den Weg herauf und steuerte auf das Gebäude zu. Nur wenige Augenblicke waren nötig, um den Insassen zu erkennen.
Langsam ging ihm Nico entgegen. Es gab in diesem Moment keinen Grund, über die Vergangenheit nachzudenken oder nach Worten zu suchen. Marco war ihm ans Herz gewachsen, vielleicht noch etwas mehr als das. Aber nie hatte Nico Vergleiche gezogen oder abgewogen, wie die Zukunft aussehen könnte.
In diesen Minuten erkannte er auch, warum. Es gab nur einen Menschen, der ihm wirklich wichtig war, auch wenn er sich das nie so eingestehen wollte, besonders in letzter Zeit nicht.
Vieles, was er in den vergangenen Monaten angepackt hatte, diente auch der Ablenkung. Dem kläglichen Versuch, alles hinter sich zu lassen.

Der Wagen hielt direkt vor ihm an, aber der Fahrer stieg zunächst nicht aus. Nico ging langsam auf ihn zu und stellte sich neben die Tür. Viele Fragen hatte er sich zurechtgelegt und Antworten erwartet, doch jetzt war das alles Nebensache. Kein besserer Moment als dieser, um Stefan wieder in die Augen sehen zu können. Keine Fragen, wieso er sich nicht gemeldet hatte, keine wo er gewesen war, keine, wie es ihm ging. Alles was zählte – er war hier. Nico streckte die Hand aus und fuhr Stefan über das Gesicht. Ein Lichtblick und eine Wohltat zugleich. Wenn jemand in der Lage war, seine Verzweiflung zu verstehen und vielleicht sogar zu teilen, dann sein Freund.
Nico wusste dass man sie beobachtete, aber das zählte nicht. Nicht mehr. Es war nicht so, dass er leichtfertig seine Zukunft hier aufs Spiel setzte, denn ohne Zweifel war diese Geste bereits sehr eindeutig. Rechenschaft ablegen? Wofür? Für seine Gefühle, die er sich nicht ausgesucht hatte? Seine Liebe zu Stefan verleugnen? Zudem eine wichtige Person in seinem Umfeld, Falk Stein, davon wusste. Vielleicht gab es noch einen anderen Weg und wenn nicht, dann war das Camp ein Stück seines Lebens, ein kleiner, aber wichtiger Meilenstein. Und die sind keine Strecke, nur ein Punkt.

Stefan nahm Nicos Hand von seinem Gesicht und drückte sie fest. »Hallo«, sagte er zaghaft. Dann stieg er aus, worauf sich die Situation wiederholte. Nur war Nicos Umarmung jetzt anderer Art. Er drückte Stefan so fest an sich wie er konnte, es war eher ein festhalten. Wieder fielen keine Worte, sie wären auch unnötig gewesen.

Erst nach langen Minuten flüsterte Stefan: »Ich hab’s im Radio gehört und im Fernsehen war es auch.«

»Warum hast du nicht angerufen?«

Stefan machte eine Pause. »Ich.. hatte wahrscheinlich zu viel Angst.. dass du nicht rangehst oder so.«

»Warum? Weil mir etwas passiert sein könnte?«

»So ähnlich ja.«

Er hatte Angst um ihn gehabt. Furcht vor einer schlimmen Nachricht. Da waren keine weiteren Fragen nötig und Nico entschied an dieser Stelle, dass alles andere kaum eine Rolle spielte. Er nahm Stefans Gesicht in seine Hände und rückte ihm sanft einen Kuss auf die Lippen. Im allgemeinen Trubel hatte Nicos Liebesbeweis praktisch niemand mitbekommen.

Währendessen fuhren einige Fahrzeuge in Richtung der Hütten. Die Eltern oder wer auch immer die Jungen abholten, waren auf dem Weg um die Sachen aus dem Camp zu holen.

Es löst sich auf, dachte Nico dabei. Nur noch kurze Zeit, dann wäre das Camp leer. Ausgestorben. Der Gedanke daran tat weh, sehr, aber dieser Umstand war nicht aufzuhalten. Er spürte aber ebenfalls den Drang, hier wegzukommen und wandte sich an Falk Stein, der etwas weiter mit den anderen Betreuern zusammenstand.

»Hast du etwas in Erfahrung bringen können?«

Stein schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab niemanden erreicht der mir hätte Auskunft geben können.«

»Das gibt’s doch nicht, der Hubschrauber muss doch irgendwo sein?«

»Sicher, aber ich weiß auch nicht.. « Dann streckte Stein seine Hand aus. »Hallo Stefan, schön dich wieder zu sehen.«

Stefan gelang ein leichtes Lächeln, er gab Stein die Hand. »Ganz meinerseits.« Dann begrüßte er auch die anderen Betreuer, wobei man auf eine nähere Vorstellung verzichtete. Die gab Nico in ganz kurzer Form: »Das ist Stefan, mein Freund.«
Zwar beobachtete er die Blicke der Männer, aber offenbar war hier keiner, der sich darum nähere Gedanken zu machen schien.
Anders jedoch Antonia Berger und Professor Roth. Sie musterten Stefan genauer und Nico hatte das Gefühl, dass sie mehr wussten als all die anderen. Hatte sie den Kuss doch mitbekommen oder Falk etwas damit zu tun?

Aus irgendeinem Grund bekam Nico eine leichte Gänsehaut. War es sonderlich Abwegig, dass Stein von ihm und Stefan erzählt hatte? Wussten sie am Ende sogar, dass er schwul war? Und wenn sie es vorher wussten, wieso gab es nie Einwände für den Einsatz im Camp?

Thomas und dessen Vater kamen nun zu der Gruppe dazu, begrüßten jeden und durften sich viel Lob anhören. Nur Antonia Berger schien daran nicht sonderlich interessiert, sie nahm Nico beiseite. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

Nico folgte ihr außer Hörweite der anderen, wobei ihn gemischte Gefühle begleiteten. Was konnte die Freu von ihm wollen? Er sah kurz zu Stefan, aber der nickte nur.

»Wie geht es Ihnen?«, wollte Frau Berger wissen.

»Wie solls einen gehen – wenn ich ehrlich sein soll, beschissen wäre noch geprahlt.«

Sie lächelte. »Kann ich verstehen.«

Nico wollte schnell auf den Punkt kommen. »Wollten Sie etwas bestimmtes von mir?«

»Nun ja, nicht so direkt. So wie die Dinge liegen ist das hier«, sie machte eine ausschweifende Armbewegung, »offensichtlich vorbei und.. «

Nico unterbrach sie. »..Nichts ist vorbei. Ein Hubschrauber mit einem der Jungen wird vermisst und ich werde hier nicht weggehen, bis ich weiß was da passiert ist.«

Sie nickte, als wüsste sie davon. »Darüber würde ich mir keine allzu großen Gedanken machen, sicherlich nur ein Kommunikationsproblem.«

Nico dachte nicht richtig zu hören. Allerdings musste er der Frau zugute halten, dass sie nicht wusste warum er so beharrlich darauf bestand. Nur schien ihm fraglich, warum sie ihn überhaupt sprechen wollte. Sicher nicht, um das von ihm zu hören.
Über ihre Schultern sah er, dass Angelmann – dicht von Hasso gefolgt – und Irvin Probst zu einem der Fahrzeuge gingen und das Gelände verließen.

»Herr Hartmann, warum ich Sie sprechen wollte.. Das Praktikum ist ja nur unterbrochen, nicht unbedingt zu Ende. Ich meine, in diesem Jahr wird es hier sicher nicht mehr weitergehen, aber schließlich endet damit auch nicht automatisch das Projekt.«

Nico verstand nicht ganz, was er da hörte. »Und was.. heißt das?«

»Nun, ich muss nicht erwähnen dass wir ausgesprochene Nachwuchsprobleme haben. Niemand möchte sich das alles hier antun, die Leute sitzen bald lieber an einem Schreibtisch und haben pünktlich Feierabend.«

Jetzt hatte Nico verstanden. Aber genau in diesem Augenblick spürte er den richtigen Zeitpunkt gekommen. Bevor man hinter seinem Rücken bereits über seine Zukunft im Camp entschied, musste er klare Fronten haben.

»Frau Berger, da ist sicher etwas, was Sie wissen sollten.«

Wieder schien die Frau nicht überrascht. »Und das wäre?«

Nervös nestelte Nico die zerknautschte Zigarettenschachtel aus der Seitentasche seiner total verschmutzen Hose. »Sehen Sie Stefan da drüben?«

Sie drehte sich nicht um. »Ja?«

»Er ist mein Freund, nicht ein Freund, wenn Sie verstehen.. «

Die Berger lächelte weiterhin. »Ja, das ist wohl offensichtlich.«

Nico staunte, auch wenn es nun sicher war, dass sie den Kuss doch bemerkt hatte. Aber er schalt sich einen Narren. Hatte er nicht selbst festgestellt, dass man dieser Frau kein X für ein U vormachen konnte? Dennoch stellte er sich zunächst Ahnungslos. »So?«

»Hören Sie, Nico.. ich darf doch Nico sagen?«

War das eine Art Vertrauensbeweis? Nico fühlte ich irgendwie geehrt. »Klar.«

»Zum einen, ihr Privatleben geht niemanden etwas an. Zum anderen gibt es neuerdings das Gleichbehandlungsgesetz und demnach.. «

Nico hatte davon gehört und er kannte grob den Inhalt. Immerhin war das ein wichtiges Thema im Studium. »Ich kenne es, zu Teilen wenigstens.«

»Gut, damit ersparen Sie mir die Erklärung.«

Sollte jetzt die Sache mit Marco auf den Tisch? Die ganze Wahrheit? Nico zog mit zittrigen Fingern an seiner Zigarette. Hatte er sich nicht längst ein solches Gespräch gewünscht? Alle Karten auf den Tisch? Mehr als ihm nahe zu legen, sich einen anderen Job zu suchen konnte man nicht. Er hatte gegen Regeln verstoßen, solche Entgleisungen schützte das Gesetz nicht. Marco war alt genug, das schon, aber auch für Nico galten die Jungen aus dem Camp als Schutzbefohlene. Und da konnte ein anderes Gesetz sehr unangenehme Folgen haben.

»Frau Berger.. ich glaube darum geht es nicht.«

»Um was denn?«

»Ich kann mich nicht beherrschen.. so sieht das aus.«

»Und wie soll ich das verstehen?«

Noch bevor Nico weiterreden konnte, kam das Fahrzeug mit Angelmann und Probst wieder zurück, mit einem auffällig hohen Tempo. Sofort ließ sich Nico davon ablenken. »Ich.. entschuldigen Sie einen Moment«, sagte er knapp und ließ die Frau einfach stehen.

Bis er bei den Männern angekommen war, standen bereits alle anderen Betreuer bei ihnen und Nico hörte nur noch ein paar Wortfetzen. Sie genügten jedoch, um ihn sofort nervös werden zu lassen. Stefan stand etwas abseits, wohl um nicht aufdringlich zu wirken.

»Weißt du um was es da geht?«, fragte ihn Nico trotzdem.

Stefan zog die Schultern hoch. »Irgendwen haben sie wohl gefunden.«

Nico hasste solche knappen Antworten. »Wen gefunden?«

»Da musst du sie schon fragen. Mehr hab ich auch nicht mitgekriegt.«

Nico schob Irwin Probst und Gerd Hagen beiseite, dann stand er inmitten der Gruppe. »Was ist passiert?«, fragte er aufgeregt.

»In Richtung Dorf haben wir angehalten. Ich wollte mir einen der noch stehenden Bäume genauer ansehen, dann hat Hasso Laut gegeben. Er hat einen Körper gefunden.«

Nico spürte wie sein Hals austrocknete. Von Marco konnte jedoch kaum die Rede sein, wie hätte er dorthin kommen sollen? »Und wer ist es?«

Angelmann setzte fort. »Wir sind nicht näher ran, da muss Horst zuerst hin.«

»Warum das denn?« Trotz der Sicherheit, dass es nicht Marco sein konnte, nervte ihn die Ruhe, die hier offensichtlich trotzdem herrschte.

»Der muss Protokoll machen, das ist immerhin ein Fall für den Staatsanwalt.«

Nico schluckte. Hatte er das nicht Wort für Wort schon einmal gehört?

Dann fuhr der Polizeiwagen vor und Horst Walther streckte seinen Kopf fast aus dem Fenster. »Wollen wir?«

Angelmann nickte und unter allen anderen Umständen wäre Nico mitgefahren. Aber da stand Stefan. Waren es nicht gerade diese Dinge, weshalb er dem Camp so negativ gegenüberstand? Dieser Mischung aus Abenteuer und dem oft selbstlosen Einsatz? Stefan konnte nicht wissen, was in den letzten Stunden oder Tagen hier passiert war und irgendwann würde es Nico ihm erzählen. Aber noch war das alles hier nicht vorbei. Auch wenn das Praktikum eigentlich nicht mehr stattfand, richtig zu Ende sein würde es erst, wenn alle diesen Platz verließen. Gut, im Grunde war es ja auch egal, wen man da gefunden hatte, Hauptsache, den Jungen war nichts passiert. Dennoch kämpfte Nico mit seiner Neugier.
Aber die Frage, was nun passieren würde, erhielt eine überraschende Antwort.

Stein stellte sich neben Nico und Stefan. »Ich muss mir das auch ansehen. Wollt ihr mitkommen?«

Für Nico war das keine Frage, dennoch sah er Stefan genau an. Von seinem Blick würde er die Entscheidung abhängig machen. Überraschend nickte Stefan. »Von mir aus.«

Nico atmete auf. Bestimmt wäre er hier geblieben, hätte sich Stefan anders entschieden, dazu war er ihm nun doch zu wichtig.

Plötzlich stand Rainer Bode bei ihnen und Nico spürte sofort, dass das kein Zufall war. Bodes Gesichtsaudruck jedoch hatte zumindest den Anschein, dass keine weitere Katastrophenmeldung zu erwarten war. Er sah Nico direkt in die Augen.
»Ein Anruf.. von der Bundeswehr.«

Nico wusste sofort, um was es dabei ging. »Marco?«

Bode nickte. »Ja.«

»Was.. ist mit ihm?«

»Ich habe mit dem Einsatzleiter der Hubschrauberstaffel reden können. Marco und einer der Soldaten sind ins Militärhospital geflogen worden.«

Nico unterbrach Bode jetzt nicht, statt dessen suchte er Stefans Hand. Er würde ihm alles beichten, alles. Was dabei herauskam, das stand im Moment noch in den Sternen, aber schon allein die Tatsache, dass Stefan gekommen war, ließ hoffen. Auf jene Zukunft, die sie ihrem Leben schon immer eingeräumt hatten.
Marco war ein Abenteuer, die Nacht mit ihm die logische Konsequenz ihrer Lust aufeinander. In diesem Moment dachte Nico darüber nach, diesen Gelüsten in Zukunft ein für alle mal nicht mehr nachzugeben. Das musste möglich sein, auch wenn es ihm noch so schwer fiel. Vielleicht würde das alles gar kein Thema mehr werden, wenn er und Stefan nun endgültig zusammenblieben.

»Wie.. geht es ihm?«

»Er hat den heißen Dampf abbekommen.. «

Nico schluckte. Heißer Dampf. Er mochte sich das im Augenblick nicht lebhaft vorstellen, auch wenn ihm jetzt die Fotos der Verbrennungen von Menschen in die Erinnerung kamen. Er hatte sie vor langer Zeit im Rahmen eines Erste Hilfe Kurses einmal gesehen und würde sie nie wieder vergessen.
»Schlimm?«

»Er schwebt nicht in Lebensgefahr, aber.. es ist wohl nicht ganz einfach.«

Diese Worte genügten ihm. Marcos Gesicht wanderte vor seinem geistigen Auge. Was war jetzt aus ihm geworden? Entstellt ein Leben lang? Das Schicksal des Jungen ging ihm nun doch sehr nahe und wieder einmal drängte sich die Frage auf, warum es ausgerechnet ihn getroffen hatte. Nur, weil er helfen wollte?

Falk Stein ließ ihm nicht die Zeit, näher darüber nachzudenken. »Was ist, kommt ihr nun mit?« Stein wurde ungeduldig.

Ohne weiter zu zögern folgten ihm Nico und Stefan zum Wagen. Kaum hatten sie Platz genommen, stürmte Rick dazu und sprang auf den Rücksitz, genau zwischen die beiden Jungen.

»Hey, beinahe hätten wir dich vergessen.«

Stefan kraulte das Fell des Rüden. »Hallo Rick, na? Lange nicht gesehen.«

Rick freute sich sichtlich und auch hier war wieder sicher: Er hatte auch Stefan nie vergessen.

Stein folgte den Fahrspuren, einen richtigen Weg gab es nicht mehr. Immer wieder musste er verkohlten Baumstämmen ausweichen, aber schon bald kam Walthers Polizeiwagen in Sichtweite. Allerdings war das nicht das einzige Fahrzeug dort, offenbar war auch die Staatsanwaltschaft schon eingetroffen, zudem näherte sich von der anderen Seite ein weiteres Polizeiauto.

Stein hielt in gebührendem Abstand an, zu schnell konnte es Ärger mit den Beamten geben.

Gemeinsam gingen sie zu Fuß an die Stelle, wo der Förtser und Probst das Geschehen beobachteten.

»Und, weiß man schon etwas?«, wollte Stein von Angelmann wissen.

»Nein, wir.. «

In diesem Moment winkte Horst Walther den Förtser zu sich an die Fundstelle.

»Sekunde, ich komme gleich wieder.«

Damit stapfte der Förtser über den verbrannten Waldboden und kniete sich neben dem dunklen Fleck nieder. Er gestikulierte, nahm etwas in die Hand, nickte.

»Möchte bloß mal wissen, wer da so blöd war«, grummelte Stein. »Man kann doch nicht von so einem Feuer überrascht werden.«

Kurze Zeit später kam Angelmann zu den dreien zurück. Er klopfte sich die Asche von den Knien. »Ja also, sicher sind wir nicht, aber es sieht wohl so aus als hätte es da unseren Wilderer erwischt. Neben der Leiche liegt ein Gewehr.. also zumindest das, was davon übrig geblieben ist. Aber ich denke, nach einer Obduktion weiß man mehr.«

»Und was soll die bringen, wenn man diesen Menschen nicht mal kennt?«

»Schon, Falk, aber ich habe Horst den Hinweis gegeben, dass der Mann am Kopf eine Verletzung haben muss.«

Nico rieb sich das Kinn. »Dein Schlag im Wald.. «

»Genau. Aber wie gesagt, das muss die Gerichtsmedizin klären. Herausfinden, warum es den hier erwischt hat, wird man wohl kaum. Allerdings.. « Angelmanns Blick wurde ernst, »man hat neben ihm auch einen total verbeulten Kanister gefunden.«

»Kanister?« Man brauchte nun nicht eins und eins zusammen zu zählen, keiner der Anwesenden.

»Dann hat er.. die Feuer gelegt?« Nico sah fragend in die Runde.

»Sicher ist es nicht, vielleicht hatte er auch nur Wasser dabei. Aber das wird sich aufklären. Jedoch, nach allem was passiert ist – ich persönlich denke, dass er es war.«

»Ein Racheakt?«

»Nico, das werden wir nie herausfinden. Aber wie auch immer, wir sollten von Glück reden, dass es keinen von uns erwischt hat.«

»Und sein Hund? Er hatte doch einen Jagdhund dabei?«, fiel es Nico ein.

»Wenn er nicht von den Flammen eingeschlossen worden ist, dann wird er wohl eher geflüchtet sein. Jedenfalls gibt es von ihm dort keine Spur.«

Rick saß dabei zwischen den Männern und wäre der Hund des Wilderes in der Nähe gewesen, würde er es bemerken.

»Okay, dann lasst uns gehen, ich denke wir können hier eh nichts mehr tun«, schlug Stein vor und wenig später befanden sie sich wieder auf der Rückfahrt.

Nico spürte nun eine bleierne Müdigkeit aufkommen. Schlafen, ein paar Stunden wenigstens. Aber daran war kaum zu denken und so lehnte er seinen Kopf an Stefans Schulter. Selbst zum reden war er zu müde, auch wenn es noch so viel zu sagen gab.

Die ersten Fahrzeuge kamen ihnen entgegen, die Jungen waren auf der Heimfahrt.

»Was passiert jetzt mit ihnen?«, fragte Nico.

Stein seufzte. »Schwierig. Sie können nichts dafür, das gilt nicht als Abbruch der Therapie. Ich denke, die werden sie woanders fortsetzen.«

»Und das Camp? Wie wird es da weitergehen?«

Stein zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Bis hier wieder Wald wächst, vergehen Jahrzehnte. Wir werden uns einen anderen Ort suchen müssen.«

Nico erinnerte sich an Frau Bergers Worte. … das Projekt geht weiter..

Sie, der Professor und die Betreuer waren dann auch noch die einzigen, die vor dem Gebäude standen. Die Presse war ebenso abgerückt wie auch die Abholer.

Langsam stieg Nico aus dem Wagen. In der Ferne waren die Hubschrauber zu hören, sonst war es still. Der Wald, in dem sich das Camp befand, wirkte trotz seines Grüns grau und gedrückt. Kein Vogel war zu hören, keine Grillen zirpten. Der Tod war hier so nahe, dass alle Lebewesen die Flucht ergriffen hatten. Unterstrichen wurde das düstere Bild durch den jetzt bedeckten Himmel.

Angelmann räusperte sich. »Übrigens, es war keine Tollwut hier. Die Kadaver waren ohne Befund.«

»Oh je, daran hab ich gar nicht mehr gedacht.«

Stefan mache große Augen. »Tollwut?«

Nico lächelte. »Ja, du kannst dir nicht vorstellen, was hier alles los war, in den paar Tagen.«

»Okay, ich denke wir sollten für heute Schluss machen. Frau Berger, wir müssen langsam los. Wir müssen einen Plan machen, über die Zukunft hier.«

Die Berger nickte, wandte sich dann aber wieder Nico zu. »Unser Gespräch.. wir sollten es bei Gelegenheit in aller Ruhe fortsetzen. Einverstanden?« Sie reichte ihm die Hand.

»Ja, warum nicht«, antwortete Nico und zog Stefan dicht neben sich. Wie dieses Gespräch aussehen würde, darüber wollte er jetzt nicht spekulieren.

Nun trat der Professor zu ihnen, auch er reichte Nico die Hand. »Es bleibt alles beim alten, auch wenn es im Moment unklar ist wie genau es weitergeht. Ein Praktikum sollte vernünftig zu Ende gebracht werden, jedenfalls ist das meine Meinung.«

»Ich denke wohl genauso«, lächelte Nico und wusste in diesem Augenblick, dass nichts zu Ende war. Steins wohlwollender Blick dürfte seine Annahme bestätigen und damit war das hier kein Abschied für immer.

»Nico, ich hab.. also.. « Stein stammelte. An so etwas konnte sich Nico nicht erinnern und irgendwie könnte das kein gutes Zeichen bedeuten.

»Ja?«, fragte er deshalb ziemlich neugierig.

»In Anbetracht der Umstände.. werde ich Rick mitnehmen. Ich hoffe… «

Nico verzog das Gesicht. Es gab schließlich gar keine andere Lösung und die war um Welten besser als jede andere Entscheidung.
Er winkte ab. »Schon klar. Wir werden uns je wieder sehen, gell Rick?« Nico ging in die Knie und wuschelte Ricks Kopf. Der Rüde schwänzelte, aber nicht so wie immer. Er wusste ganz genau, dass es um ihn ging und wahrscheinlich auch, was seine Gebieter gerade beschlossen hatten. »Du wirst mir fehlen. Aber gut.. pass auf dein Herrchen auf, das wird noch gebraucht.«
Sicher war sich Nico nicht, aber trotzdem hätte er wetten können, dass Falk gerührt war.

»Du wirst weitermachen, nicht wahr?«

Stefans Frage musste kommen, es war eine Frage der Zeit. Nico hatte sich auf sein Bett fallenlassen und ihn zu sich gezogen. Vielleicht konnten sie ja schlafen, den Rest des Tages und die ganze Nacht.
Nachdem alle das Camp verlassen hatten, waren nur er und Nico zurückgeblieben und Steins Angebot, im Dorf zu übernachten, hatten beide abgelehnt.
Die Arbeiten dürften rasch aufgenommen werden, wahrscheinlich schon am nächsten Tag. Stein hatte beim Abschied verlauten lassen, dass die Hütten abgebaut und an anderer, noch unbekannter Stelle wieder aufgebaut würden.

»Ich weiß nicht, Stefan. Irgendwann geht das schief, das hab ich im Gefühl.«

»Was geht schief?« Stefan kraulte Nicos Haare und küsste seine Stirn.

»Ich versuche die ganze Zeit über herauszufinden, warum hier immer der Teufel los war. Jedes Mal wenn ich da bin. Eines Tages.. ach, ich weiß auch nicht. Außerdem.. ich würde höchstens weitermachen, wenn du das auch willst.«

Stefan seufzte. »Ich? Wieso sollte ich dir vorschreiben, was du zu tun hast? Es ist dein Leben, deine Entscheidung.«

Nico küsste seinen Freund auf die Wange. »Nein, nicht mehr. Nicht alleine. Ich.. wir gehören zusammen, oder? Stefan, ich möchte dass du Teil meines Lebens bist. Wenn du nein zum Camp sagst, werde ich es akzeptieren. Aber abgesehen davon, wo warst du eigentlich die ganze Zeit?«

Stefan räusperte sich. »Das ist eine lange Geschichte. Ich glaube aber, jetzt ist kein Zeitpunkt es dir zu erzählen.«

Nico gab nach. Nichts würde ihnen mehr davonlaufen, sie hatten alle Zeit der Welt. »Also ich weiß einfach nicht, ob ich im Camp bleiben soll.«

Stefan setzte sich auf. »Hey, nun mal langsam. Ich habe das Gefühl, man zählt auf dich, egal wie. Und du.. bist doch hier zu Hause.«

»Vielleicht. Aber in Zukunft will ich nicht von dir getrennt sein. Entweder wir beide ziehen das durch oder keiner.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Weiß nicht. Aber komm, lass uns jetzt nicht davon reden.. ich, ähm.. «

Mit einem Mal war keine Rede mehr von Müdigkeit. Nicos Finger begannen jenen Körper abzutasten, den er so lange vermissen musste.

Die Sicherheit, völlig alleine zu sein, ließ sie allmählich Hemmungsloser werden. In Stefans Gegenwart gelang es Nico, das Erlebte hinter sich zu lassen, nur die Erinnerung an die Nacht mit Marco mischte zeitweilig mit. Und das war gut so, denn mit jeder Minute wusste Nico, dass er nur ausgehungert war. Es dürfte kein feiner Zug gewesen sein, den Jungen nur ausgenutzt zu haben, aber schließlich gehören dazu immer zwei.
Auch wenn der Gedanke daran noch vage war, er würde Marco besuchen, wo und wie auch immer. Vielleicht um seine Schuldgefühle zu beruhigen, ganz sicher aber, weil er ein Freund geworden war.

Langsam, in Zeitlupe fast, streiften sie nach und nach ihre Kleidung ab. Nico fürchtete allerdings, dass er zumindest jetzt nur nach Rauch roch, aber Stefan schien das nicht zu stören.

Waren sie es sonst gewohnt, sich mit aufreizenden Worten anzustacheln, schwiegen sie dieses Mal. Kein Wort war nötig und keiner der beiden vermisste es.

War es kitschig, eine Warnung, ein Zeichen der besonderen Art, als zeitgleich mit ihrem Orgasmus’ ein Blitz den Raum erhellte und von einem gewaltigen Donnerschlag begleitet wurde?

Es dauerte eine Weile, bis Nico in die Wirklichkeit zurückkehrte. Er setzte sich auf und sah aus dem Fenster in den Innenhof. Nicht lange war es her, dass die Jungen da draußen Frühsport getrieben hatten.. Nun fielen erste große, schwere Regentropfen vom Himmel, mit ihnen kam frische Luft und ein unbeschreiblicher Geruch nach Wald. Hätte es Nico nicht besser gewusst, würde sich gar nichts hier verändert haben.

Stefan ruhte sich noch immer mit geschlossenen Augen aus und Nico stand auf, verließ das Zimmer, durchquerte den Gang und trat nackt hinaus vor die Tür. Er streckte beide Arme in den Himmel und genoss die kühlen Regentropfen auf seinem heißen Körper.

Stefan stand plötzlich hinter ihm und umarmte seinen Körper. »Schön, nicht?«

»Ja, aber so spät.. «

Plötzlich zuckte Stefan zusammen. »Was um Himmels Willen.. «

Nico fuhr herum und erkannte im Licht des blitzerhellten Himmel einen Hund. Er stand nur wenige Meter vor ihnen und schien sie genau zu beobachten.

Nach dem zweiten Blick legte sich der Schreck. »Ich glaub, den kenn ich.« Langsam ging Nico in die Knie und streckte einen Arm nach dem Hund aus. Zweifellos war es der Jagdhund des Wilderes und augenscheinlich wirkte das Tier verwirrt. »Na, wie ist’s?«, sagte Nico in leisem Ton und näherte sich dem Hund Zentimeterweise.

»Nico, wenn der beißt.. «

»Keine Angst, so sieht er nicht grade aus. Jagdhunde sind nicht aggressiv, ich kenn jedenfalls keine die es wären. Mir fällt nur der Name nicht ein.. «

»Du kennst ihn also wirklich? Wo ist er her?«

Nico grinste. »Oh, auch das ist eine lange Geschichte, Stefan.«

Langsam kam der Hund nun auch auf die beiden zu.

Nico stand auf. »Er weiß, dass wir ihm nichts tun. Gell, Hund?«

Überzeugt klang Stefans Bemerkung dazu nicht. »Na, hoffentlich.«

Nico lotste den Hund in den Eingang. »Um dich werden wir uns gleich kümmern«, sagte er und ging wieder zu Stefan vor die Tür. Er nahm ihn erneut in seine Arme.

Ab und zu erhellte ein Blitz die Szene und beleuchtete die beiden nackten jungen Männer.

»Nico, wir bleiben zusammen, egal was kommen mag.«

»Du meinst, ich soll.. weitermachen?«

»Klar mein ich das. Vielleicht sehe ich das ja nun auch alles etwas anders.«

Nico schloss die Augen. Einige Entscheidungen über seine Zukunft würden jetzt andere treffen, aber seine eigene stand bereits fest: Eine Trennung von Stefan kam nie und nimmer in Frage.

Er drehte sich um, nahm Stefan in seine Arme und drückte sich an den nassen, weichen Körper.

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