Ohne Worte – Eine unheilvolle Begegnung

„Piep!“ „Pie…“ Weiter kommt der nervige Weckton nicht, denn ich bin schon wach. Die Sonne steht deutlich über dem Horizont und schickt ihre Strahlen durch das Fenster meiner Einraumwohnung in Rostock-Dierkow, kitzelt mir direkt ins Gesicht. Ich habe drei Tage frei und will mich nun endlich mal ernsthaft mit der Renovierung des Wohnzimmers befassen. Der Vorsatz steht schon lange, doch der Wille fehlte bisher, Tapezierarbeiten sind nicht so mein Spezialgebiet. Schnell die Morgentoilette erledigen und dann Frühstück. Eben die Hose runter, schon klingelt das Handy – hätte ich es nur gestern ausgeschalten. Na ja, vielleicht ist es ja wichtig. Das Teil liegt gleich hinter der Tür auf der Flurgarderobe, also einmal den Arm lang gemacht und schön wieder hingesetzt, dann kann es weiter gehen.

Wichtige handelnde Personen:
Rene Schmidt – Ausbilder
Jan Glüher – Azubi

„Rene Schmidt hier.“ „Guten Morgen, Herr Schmidt. Meier am Apparat. Bitte um Entschuldigung, dass ich schon so früh anrufe, auch weiß ich, Du hast Urlaub, aber Du musst unbedingt gleich zu mir in die Firma kommen. Es ist wirklich sehr, sehr wichtig.“ „OK, ich komme so schnell ich kann.“ „Ach ja – Frühstück gebe ich nachher aus. Hier liegen wieder mehr als genug Reste in der Teeküche von der gestrigen Besprechung…“ Ich glaube, dass mit der Renovierung kann ich heute wohl verschieben, was mir eigentlich gar nicht so unrecht ist. Herr Meier ist mein Abteilungsleiter in einem großen Ausbildungsbetrieb. Er war auch mein Ausbilder vor acht Jahren zum Kommunikationselektroniker. Ich bin froh, dass ich nicht so einen trockenen Job machen muss wie er, mich um die EDV-Technik zu kümmern ist mir doch viel lieber.

Fix im Bad fertig werden und nur in eine einfache Jeans und ein dunkles T-Shirt rein geschlüpft, dann kann es schon losgehen. Als ich nicht gleich den Autoschlüssel finde fällt mir ein – den Golf habe ich ja gestern noch zur Werkstatt gebracht zwecks Durchsichtstermin. Klasse! Nun muss ich Straßenbahn fahren, dabei noch umsteigen und einen Kilometer laufen. Ich entscheide mich lieber für Fahrrad fahren.

(Andere hätten sich jetzt vielleicht geärgert, ich aber nicht, denn ich gehe meistens ausgesprochen gern zur Arbeit. Wir sind ein ziemlich junges Team, haben viel Spaß, und, ja, der Meier, also mein Chef, ist da auch nicht unschuldig dran.)

Nun, Fahrrad raus aus dem Keller und los geht es, ich will ja meinen Chef nicht so lange warten lassen… Junge, Junge, wie kann das so früh schon so warm sein, ich glaube duschen hätte ich mir auch sparen können. Gut, dass es gleich etwa 1 km nur bergab geht. Als ich dann die Hauptstraße erreiche bin ich froh, jetzt Fahrrad zu fahren – denn da geht um diese Zeit wieder rein gar nichts. Mega Stau. Und jeder Fahrzeuglenker sitzt wieder für sich ganz alleine in der Blechkarosse… Mit einem leicht überlegenen Lächeln kann ich selbst die schnellsten Luxusschlitten überholen.

Nach einer viertel Stunde dann Vollbremsung auf dem Betriebsgelände. Meine langen blonden Haare sind auf der Fahrt doch etwas zerzaust und die Beinmuskeln machen sich schmerzhaft bemerkbar. Seit ich das neue Auto habe, bin ich sehr bequem geworden, muss ich mir gestehen, und… „Rene! Kommst Du gleich?“ Meier steht wartend auf dem Hof! OK, noch schnell das Fahrrad am Ständer angeschlossen, dann folge ich dem Chef ins Büro, beobachtet von den zahlreichen Azubis, die wohl draußen Pause machen.

Nach der allseitigen Begrüßung der Kollegen unterwegs im Flur sitzen wir im kleinen Besprechungsraum vom Chef, vor mir einen großen Alufolienteller mit den leckersten belegten Brötchen und einen großen Pott Kaffee in der Hand. So gefällt mir das. Als ich aber nun direkt meinem Chef gegenüber sitze, fällt mir auf, dass der wohl ziemlich schlecht geschlafen haben muss und auch etwas unfrisch wirkt, vom Körpergeruch her. So kenne ich den ja gar nicht!

„Gut, Herr Schmidt. Dass ich jetzt nicht mehr so frisch bin, liegt daran, dass ich hier die Nacht verbracht habe“, oh, der beobachtet aber gut, „aber nach dieser Besprechung am Abend…“, Meiers Augen werden feucht… „Rene, ich komme gleich zum Punkt, aber vorher iss das Brötchen noch zu ende, damit Du Dich nicht nachher noch verschluckst. Und ich gehe noch kurz aufs WC.“

Nach 10 Minuten und vier Belegten mehr in meinem Bauch ist der Chef wieder da, und sichtlich erfrischt. „Kurz und knapp, halt Dich fest, Rene: Unsere Rostocker Niederlassung wird geschlossen. Die laufende Ausbildung wird nach Berlin verlagert. Auf diesem Gelände bleibt nichts, es soll verkauft werden. Das Personal kann nicht weiter beschäftigt werden. Du kannst Dir denken, wie ich mich jetzt fühle, Dir das zu sagen… Und, ja – Du bist der erste Mitarbeiter, der das erfährt.“

Rumms! Aus! Stillstand im Gehirn. Der Chef sieht mich mit traurigen Augen an. „Aber wir haben dies doch alles erst die letzten paar Jahre neu aufgebaut und Arbeit ist doch auch immer mehr als genug gewesen…“, denke ich etwas lauter.

„Da hast Du wohl Recht, und ich habe etliche Kämpfe im Vorstand gefochten und reichlich Nerven dabei gelassen, damit dass hier alles so schön geworden ist. Die im Konzern oben wollen aber mehr Effizienz, verstehst Du. Wir sind denen zu teuer. Punkt. Nun, das hättest Du auch alles auf der Mitarbeiterversammlung am Montag erfahren können, aber der eigentliche Grund, dass ich Dich angerufen habe, ist: Du wirst hier in Rostock noch gebraucht. Ein Ausbilder ist ausgefallen, aus gesundheitlichen Gründen. Du sollst dessen Truppe übernehmen und ich wüsste nicht, wen ich sonst auf die Schnelle mit dieser Aufgabe fachlich betrauen könnte. Zwei Klassen werden übrigens zukünftig in Rostock verbleiben und Du sollst da mit einsteigen. Du hast ja auch schon oft mit ausgeholfen draußen im Haus 2, und bei den Betriebspraktika warst Du auch immer der beste Ansprechpartner. Außerdem haben die Azubis mir über Dich nur Gutes berichtet. Also, folgende Möglichkeiten: Du wirst gehen müssen, oder Du nimmst das Angebot an und bleibst – in dem Fall beginnt schon morgen für Dich die neue Tätigkeit in der Außenstelle Haus 2 als Ausbilder. Die Azubis dort brauchen Dich! Mich wirst Du übrigens dort auch wieder treffen können, wenn hier alles abgewickelt ist… In etwa einer viertel Stunde will ich von Dir Deine Entscheidung wissen. Falls Du nein sagst, muss ich ja heute noch Ersatz finden… Ach, und wirklich zu Niemanden ein Wort über das, was Du von mir erfahren hast, OK?“

Auch ohne den Pott Kaffee aus zutrinken wäre mein Blutdruck bei den Neuigkeiten bestimmt in die Höhe gegangen, aber jetzt fühle ich mich schon etwas unwohl. Bereits kurz nachdem der Chef mich hier allein zwecks Entscheidungsfindung hat sitzen lassen, bin ich eigentlich bereit für den neuen Job. Ich brauche das Geld dringend, habe mich an das bisher sehr gute Gehalt gewöhnt, die Raten vom neuen Auto wollen auch bezahlt werden, und so rosig sieht es mit Jobs in der Region nicht aus… Fachlich dürfte ich keine Schwierigkeiten bekommen, mit Leuten komme ich in der Regel auch gut klar. Dann bin ich nur ein paar Jahre älter als die meisten Auszubildenden und kann mich daher noch gut in diese rein versetzen. Summa Summarum – ich kann eigentlich sogar noch froh sein, wie es für mich läuft.

Am Nachmittag sitze ich an meinem Schreibtisch und mache mich mit dem derzeitigen Wissenstand meiner zukünftigen Azubis vertraut. Besonders interessiert mich, was ich demnächst unter die Leute bringen soll und wie ich selbst damit klar komme. Mit dem frisch geschecktem Auto habe ich schon meine Sachen aus dem für mich bereits alten Büro abgeholt, auch eine Menge Papier zwecks Vorbereitung auf die Ausbildung besorgt. Ich denke, das passt insgesamt, denn da ist nichts, was mir nicht bekannt vorkommt oder besondere Schwierigkeiten machen dürfte. Ich merke, ich freue mich schon ein wenig auf den nächsten Morgen und die neue Aufgabe.

* * *

Puh, der Schlaf die letzte Nacht war nicht so erholsam, bin ich doch viel zu aufgeregt, um ruhig im Bett liegen zu können. Und ich spüre einen Drang zur Toilette, die Nervosität ist nun auch deutlich im Verdauungsbereich angekommen. Der persönliche Morgenputz wird heute besonders sorgfältig erledigt – ich will doch einen guten Eindruck machen an meinem ersten Tag. Die Haare sind zwar ein wenig zu lang, wenn ich den vielen gut gemeinten Ratschlägen meiner „lieben“ Mitmenschen glauben darf, aber mir gefällt es so und ich bin sogar nicht wenig stolz auf diese Haarpracht. Sind ja alle nur neidisch. Außerdem fallen meine Segelohren damit nicht so auf. Ich denke ja, dass ich als ein wenig dünn erscheine und meine langen Stelzen, normal Beine genannt, verstärken ein ziemlich schlaksiges Bild.

Gut, Dinge mit viel körperlicher Kraft sind nichts für mich, und Auseinandersetzungen führe ich aus Selbstschutzgründen besser mehr verbal. Ich würde mir aber doch einen etwas muskulöseren Körper wünschen, denn so sehe ich immer noch aus wie ein Teenager und nicht wie eine Respektsperson, die ich nun bald doch sein muss. Ich glaube, wenn ich mitten zwischen meinen Azubis stehe, wird niemand glauben können, dass ich der Ausbilder sein könnte… Dann noch mein ovales, glattes Gesicht – total Babyface! Wenn ich nicht so einen, wie ich finde, schönen Schwanz hätte, wäre mein Selbstbewusstsein als junger Mann dauerhaft gestört…

Schluss mit den Selbstbetrachtungen und auf in den täglichen Lebenskampf – ich schwinge mich in meinen Golf und ab geht es. Sind per Luftlinie zwar weniger als einen Kilometer bis zur Arbeit im neuen Industriegebiet, aber so praktisch auf der Straße schon einige mehr, so steige ich lieber ins Auto. Nach fünf Minuten ist der Anfahrtsweg geschafft, das neue Gebäude bereits in Sichtweite und ich hoffe sehr, noch einen freien Parkplatz zu erwischen.

Gut, die Tasche geschnappt, noch einmal tief Luft geholt und dann geradewegs ins neue Arbeitsleben. Mein freundliches „Guten Morgen“ auf dem Gang wird nur durch ein Nicken erwidert. „Aha, der Neue… Gehen Sie schon mal in den Besprechungsraum, dort die offene Tür links.“ Wieder mein „Guten Morgen“ – wieder keine Reaktion – sind das hier alles Morgenmuffel? Alle schauen wie gebannt in ihre Kaffeetasse. Kaffeesatz lesen oder was… Ich merke schon die Unterschiede zu meinem alten Arbeitsplatz. „Wissen Sie schon das Neueste…“ Aha, daher weht der Wind. Nach 15 Minuten Anhören von Klagen über alle Schlechtigkeiten des Lebens und besonders über unsere so miese Konzernzentrale kommt endlich jemand in den Raum, der mich aus diesem Trübsinn erlöst. Seines Zeichens mein neuer Chef hier, oder besser Noch-Chef, wie ich erfahre, denn die Rente wartet bereits, und seinen Platz wird der mir sehr bekannte und liebe Ex-Chef einnehmen. Na ja, und dass hier nicht so die allgemeine Heiterkeit herrscht, ist wohl auch dadurch bedingt, dass die meisten Kollegen nur Zeitverträge haben und ständig hoffen müssen, dass diese auch verlängert werden. Zurzeit eben eine schwierige Lage, wenn allgemein gespart werden soll.

Nachdem ich soweit eingewiesen und informiert bin, werde ich aufs Schlachtfeld begleitet. Das bedeutet für mich Anwesenheit im EDV-Raum und dort ganz vorne an der Tür, weglaufen jederzeit möglich. Als wir den Raum betreten, verstummen die Gespräche und ich merke, dass ich mit hoher Auflösung abgescannt werde. Nach einem Moment schauen mich viele freundliche Gesichter an – puh, erste Prüfung wohl gut bestanden. Meine Gruppe besteht aus siebzehn Azubis. Davon zwei Mädchen und einer noch abwesend, weil beim Arzt. Ich stelle mich erstmal vor, wer ich bin, und was ich bisher gemacht habe, dann das gleiche Spiel von meinen Azubis aufgeführt, allerdings ohne ‚bisher gemacht‘. Ich spüre: Ja, das könnte passen und hier werde ich gut klar kommen und nichts deutet auf irgendwelche zwischenmenschlichen Probleme hin. So gehe ich schnell über zur normalen Ausbildungstätigkeit. Alles soweit klar und viel versprechend, bis so um zehn die Tür nach dem Anklopfen geöffnet wird und ein blonder Wuschelkopf durch die Tür in den Raum schwebte.

Dann halte ich plötzlich die Luft an, als freundliche, offene und braune Augen mich mustern und eine mich im tiefsten Innern meiner Seele anrührende Stimme verkündet, „Schönen Guten Morgen. Mein Name ist Jan Glüher. Ich war noch beim Arzt.“ Ein so etwa 1,80 großer Schönling mit ärmellosen T-Shirt, unten abgeschnittenen Jeans und einer Figur, wie ich sie bisher noch nie so gesehen habe, lächelt mich an und bringt mich total aus dem inneren Gleichgewicht. Er geht zu seinem Arbeitsplatz, und ich schwebe in anderen Dimensionen, als ich ihn auch von hinten betrachten kann. Das ist nicht nur ein einfacher Mensch – nein, das ist die Verkörperung männlicher und jugendlicher Schönheit schlechthin! Ich bin sofort verwirrt, weiß nicht mehr, was ich hier soll, was um mich passiert. Kurz und gut, ich habe als Ausbilder voll und ganz die Kontrolle verloren! Mir ist schon seit Jahren klar, dass ich auf gewisse männliche Reize schon ziemlich schwul reagiere, aber in diesem besonderen Fall, denke ich, bekommen wohl alle Männer und Frauen Schwierigkeiten, egal welcher sexuellen Richtung sie sich zugehörig fühlen. Die Ausstrahlung dieses jungen Mannes haut mich einfach um.

Es ist so, als wenn das allgemein Gute in menschlicher Form auftritt, ohne eine Spur von Argwohn und List im Antlitz und bereit, allen immer nur gütig und wohlwollend entgegen zu treten. Mir wird schlagartig klar, wo ich solch eine Gestalt schon mal gesehen habe: In Stein gehauenen als David in Florenz, von Michelangelo erschaffen. Mein Staunen wird erst unterbrochen, als ich wohl nach vermehrtem Ansprechen langsam wieder in die Realität zurück finde.

* * *

Und so bin ich jetzt täglich besonderen Prüfungen ausgesetzt. Mit 16 Azubis kann ich unbeschwert, zielgerichtet und korrekt arbeiten. Und, ja, da habe ich sehr gute Erfolge zu verzeichnen in den Arbeitsergebnissen. Nur mit einem will es nicht so klappen wie es in der Ausbildung eigentlich soll: Jan Glüher. Der Umgang miteinander ist ein ständiges erotisches Geplänkel, Körpersignale gehen hin und her. Aber das Erregendste und Anstrengendste dabei sind die ständigen Berührungen. Keine Ahnung, ob diese bewusst oder unbewusst durch uns zustande kommen – ich habe darüber jedenfalls keine Kontrolle – nur werde ich jedes Mal unter so einer starken inneren Hochspannung gesetzt, dass ich es kaum aushalten kann. Seine unmittelbare Nähe sollte ich vermeiden, aber oft merke ich, dass ich diese bei Erläuterungen am Arbeitsplatz auch suche. Irgendwann werde ich so unter Strom stehen, dass ich über ihn herfallen muss.

Mit Ach und Krach habe ich meine ersten Arbeitstage geschafft. Die Nächte dazwischen sind für mich aufregende erotische Höhepunkte mit Jan und mir im Traumland. Dabei ist meine Meinung zu schwulen Kontakten eher sehr negativ. Von meiner Erziehung im Elternhaus her bin ich ziemlich christlich eingestellt und ich bin auch aktiv in der Jugendarbeit meiner Kirche tätig. So weiß ich genau, was die Bibel zu homosexuellen Kontakten sagt, und ich stehe dazu mit meinem Glauben und innerer Überzeugung. Bisher habe ich mir nur Urlaubsbekanntschaften möglichst weit weg erlaubt, dafür aber dann sehr zahlreich. Dort, im anderen Erdteil etwa, lebe ich mich voll aus auf diesem für mich speziellen Gebiet. Und ist ja dann nur der pure Sex für Geld – äh, Schwanz für Geld – ganz ohne Liebe und diese ganzen mich so störenden Verwicklungen. Außerdem denke ich, dass ein offenes Coming Out mich nur in meiner beruflichen Entwicklung hemmen würde. Ich will, wenn es denn irgendwie geht, auch mal richtig Kariere machen. Was würden sonst wohl auch meine Eltern sagen, die Verwandten und erst meine zahlreichen Freunde in der Kirchengruppe – undenkbar für mich, solch ein Bekenntnis!

Und dann kommt das gegenseitige Übereinanderherfallen auch schon ziemlich schnell: Bei einem kräftigen, lang anhaltenden Regenguss fragt mich Jan an einem Freitagnachmittag zu Feierabend, ob er nicht mitkommen dürfe. Und wer schlägt das bei solch einem Mistwetter schon aus… Automatisch reiß ich die Tür auf, und ohne da groß nachzudenken, was kommen könnte… Bereits nach einigen hundert Metern ist es mit uns geschehen. Als ich schalten muss, berühre ich ihn automatisch, dann er mich und unsere sich treffenden Lippen ergeben bald den Rest. Ständiges Hupkonzert an jeder Ampel, weil ich die Farben nicht richtig registrieren kann, und mir die dann auch so ziemlich egal sind.

Bei mir zuhause angekommen, kann ich auch seinen Körper ohne störende Bekleidungsstücke sehen, vor allem fühlen. Unsere Sinne sind total auf Sex reduziert. Nun – jeden Tag aufs Neue bis zum Äußersten am Arbeitsplatz gereizt zu werden, verlangt irgendwann mal nach einem Reizabbau im Gefühlsstau, sonst stehen arge gesundheitliche Probleme an. Selbsthilfe durch Selbstbefriedigung – in dem Stadium unmöglich. Beide reden wir viel von Liebe. Er bestimmt sehr ehrlich in seiner Art, aber ich nur so, weil man das in diesem Moment vor Geilheit ohne Überlegung so macht und es gerade dran ist laut meiner Sex-Dramaturgie.

Der totale Supergau und das große Erwachen kommt bei mir, nachdem Jan weg ist und ich mein Zimmer wieder aufgeräumt habe. Was habe ich nur getan! Dass ich das alles werde beichten müssen, ist mir schon klar, und es wird mir wertvolle Punkte in der Hierarchie kosten… Das darf nie wieder passieren! Mir fällt ein, Jan einfach einen alles erklärenden Brief zu schreiben.

Nach Stunden habe ich mich soweit unter Kontrolle, dass ich einen für mich sinnreichen Text verfassen kann:

Hallo Jan,

es tut mir leid, was zwischen uns passiert ist. Vielleicht lag es von meiner Seite daran, dass ich mal dringend wieder Sex brauchte zwecks Druckabbau. Ja, und der Sex mit Dir war einfach umwerfend. Aber das mit der Liebe – das lass man bitte schön, denn das, was Du Liebe nennst, ist für mich eine Perversion. Liebe zwischen dem männlichen Geschlecht ist eine Sünde, und Du hast mich dazu verleitet! Schon als ich Dich das erste Mal sah, hast Du Dich bei mir als schlimmer Stachel in mein reines Fleisch gebohrt, hast meine Sinne verwirrt, mein Urteilsvermögen geschwächt. Und, ja, nun hast Du mich sogar ins Bett bekommen.

Doch nun ist Schluss! Dein Leben ist nicht mein Leben, Deine Luft ist nicht meine Luft. Du bist für mich nur ein Nichts, weniger als das absolute Vakuum. Geh mir aus den Augen, such Dir eine andere Welt. Schau mich nie mehr an, spreche mich nie mehr an, sonst wirst Du es bereuen! Vielleicht findest Du jemanden, der zu dir passt. Ich bin derjenige nicht und werde es nie sein. Du kotzt mich nur noch an.

Rene

Ja, der Inhalt passt. Zufrieden und mit einem kleinen fiesen Grinsen stecke ich den Brief in einen Umschlag. Noch schnell „Für Jan“ drauf gepinselt, werde ich den Brief nachher persönlich in seinen Briefkasten werfen. Ist ja nur zwei Straßen weiter zu ihm hin. Der wird sich wundern und ich habe endlich vor dem Kerl meine Ruhe, bin ich mir ziemlich zuversichtlich.

* * *

Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch, um die Ausbildungsunterlagen auf den neuesten Stand zu bringen, da klingelt das Telefon. Die angezeigte Nummer ist intern. „Berufsausbildungszentrum Haus 2, Schmidt.“ „Schönen Guten Morgen, Herr Schmidt. Hier ist die Personalabteilung in Berlin, Krüger mein Name. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass der Ausbildungsvertrag von Ihrem Auszubildenden Jan Glüher gekündigt worden ist. Er ist mehrfach ohne Begründung nicht zur Ausbildung erschienen, und da blieb uns leider keine andere Wahl. Bitte schicken Sie uns seine Ausbildungsunterlagen her. Gut, das war es dann auch schon. Wiederhören. Und hinüber ist meine Konzentration. Nur schnell die Ausbildungsmappen in den Rollschrank verschwinden lassen, ich bin jetzt sowieso nicht mehr in der Lage, was Handschriftliches, und dazu noch leserlich, dort einzutragen. Na klar, ich fühle mich schuldig dafür, als Ausbilder für diese eine Person komplett versagt zu haben, aber zugleich auch unendlich erleichtert, nun keine Gefühlskonflikte mehr befürchten zu müssen. Nicht mehr denken müssen, was könnte heute wieder alles mit mir passieren, und habe ich meine verbotenen Gefühle auch immer unter Kontrolle… Jeden Tag immer aufs Neue in diese gottverdammte Versuchung gestürzt zu werden – es ist jetzt vorbei. Warum hat er mich auch so mit seinen körperlichen Reizen und dieser Art von Sünde, was er Liebe nennt, in Versuchung geführt… Das konnte ja nicht gut gehen. Und nun hat er die Quittung bekommen. Selbst Schuld.

Froh gestimmt und ein Lied auf den Lippen, bin ich erstmal unterwegs in Richtung Pausenraum, werde mir noch einen Kaffee gönnen.

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort:

Vorsichtig nimmt der Mann vom Bestattungsunternehmen den Kopf von der Innenkante der Gleisanlage. Schon wieder hat es einer an dieser Stelle getan, kurz hinter der Kurve. Keine Chance für einen Lokführer, da noch was zu verhindern… Ja, und schon mehrfach hatte er hier einen Auftrag. Diese Arbeit ist wichtig, muss einfach getan werden, und er hat sich mit der Zeit dran gewöhnt. Nur nichts an sich heran kommen lassen…Eigentlich ist er ein sehr lustiger Mensch, immer mit einem coolen Spruch auf den Lippen und der Partylöwe schlechthin. Wenn er mal nach seinem Beruf gefragt wird, sagt er immer ehrlich, „Bin Bestattungsunternehmer“, was dann als ziemlich schlechter Scherz abgetan wird. Als er nun das Gesicht von dem Toten sieht, ist er doch sehr überrascht. Der scheint erst so um die Zwanzig zu sein, auf jeden Fall noch sehr jung. Viel zu jung für solch eine Tat! Eigentlich kann er sich nicht vorstellen, welche Verzweiflung einen Menschen zu solch einem Schritt befähigen kann; außerdem sieht der hier noch so verdammt hübsch aus. Irgendwie hat der was von einer fast antiken Schönheit, so wie er es mal im Vatikanmuseum gesehen hat, wie er sich nun erinnert. Damals dachte er – was man doch alles nur so mit Stein ausdrücken kann, eigentlich viel besser als ein Photo, eben halt 3D. Doch was ihn regelrecht umhaut, ist diese Verzweiflung, diese übergroße Trauer, die von dem erstarrten, aber trotzdem noch sehr lebendig wirkenden Antlitz ausstrahlt, ja, die sich fast körperlich greifen lässt. Mit leicht unsicheren und schwankenden Schritten legt er den Kopf wieder zum Körper in die mitgebrachte Blechkiste, und wünscht sich auf der Stelle, doch zaubern zu können, um diesen schönen Menschen wieder zum Leben zu erwecken. Dem Toten die Augen zu schließen, wie es sonst in seinem Job üblich ist, dazu hat er diesmal nicht die Kraft.

* * *

Wie immer bei solch einem Anlass hat man auch die Polizei hinzugezogen, könnte ja ein Verbrechen sein… Nur, danach sieht es hier nicht aus. In der rechten Jeanstasche des Opfers hat der Kommissar einen Abschiedsbrief gefunden, leicht durchnässt von unkontrolliert abfließendem Urin. Zweimal hat er ihn schon gelesen. Nach dem ersten Mal hat er das Auto von innen abgesperrt. Keiner soll den harten Hund weinen sehen, denn so ein Ruf will in vielen Dienstjahren erstmal erworben werden – das ist härteste Arbeit bei der Kripo. Doch nun gesellen sich zu den Urinflecken auf dem vorher sorgfältig zusammen gefalteten Papier auch Spuren von Tränen. Der junge Mann hätte vom Alter her auch sein Sohn sein können. Den hat er sich immer so sehr gewünscht, hat aber nicht sollen sein, nun hat er drei Töchter. Sehr ehrlich und ausführlich werden ihm auf zwei eng beschriebenen A4-Seiten die inneren Nöte des Jungen klar. Auch wenn er nie selbst erfahren konnte oder musste, was Schwulsein eigentlich heißt und welche Probleme damit verbunden sein können – hier deutet alles auf eine sehr unglückliche Liebe hin. Und das versteht er sehr gut. Ein Leben ohne Liebe wäre für ihn, als wenn er als seelischer Krüppel dahin vegetieren müsste. Gibt die ihm doch erst die Kraft, den oftmals harten Alltag zu meistern. Ohne Liebe würde er bald kaputt gehen, bei all den Leichen in seinem Job. Was für ein Idiot, der Liebe nicht erwidert, weil irgendwelche verrückten Konventionen es angeblich verbieten! Diesen Blödmann, Rene… wird er im Brief genannt, den will er sich bald mal kräftig vorknöpfen. Der ist nämlich hauptsächlich Schuld an diesem sinnlosen Tod eines noch sehr jungen Menschen, dessen Leben eigentlich erst richtig anfängt, und an seiner allerersten großen Liebe gleich kaputt geht. Rein rechtlich kann dieser Rene wohl nicht belangt werden – eher schon, hätte er ein intensives Verhältnis mit dem Toten gehabt… Total verrückt, diese Welt! Einmal kräftig geschnäuzt, und die Tränen weggewischt. Die Seiten vom Abschiedsbrief legt er vorerst auf die Rückbank zum Trocknen ab.

Als er aussteigt, ist er wieder das allen bekannte Revier-Ekel. Nur seine Frau am Abend, die wird merken, dass da was an ihn kratzt, und ihr wird er wie immer alles erzählen, was ihn tagsüber innerlich bewegte. Dafür, dass sie immer für ihn da ist und er ihr sein Herz ausschütten kann, egal wie schwer die Ladung auch ist, allein dafür liebt er sie sehr.

Etwas später, wieder zurück im Ausbildungsbetrieb:

Nach dem Kaffee geht es mir richtig gut. Dann mit Elan und Schwung ab an die Arbeit, will heute heißen EDV-Raum. Schon aus der Ferne kann ich die Stimmen meiner Leute hören. Scheinen auch ebenso wie ich gut gelaunt zu sein, der Lautstärke und dem vielen Lachen nach zu urteilen, denke ich schlussfolgernd. „Guten Morgen, Leute!“, rufe ich laut, um bemerkt zu werden. Das Echo ist schwächer. „Dann wollen wir mal wieder… Rechner bleiben noch aus, denn die Aufgabe lässt sich besser ohne Lüftergeräusche durchsprechen. Wir wollen heute nochmals die…“ Deutliches Klopfen unterbricht mich. „Ja. Bitte…“ Ein blonder Wuschelkopf schiebt sich rein und wunderschöne braune Augen lächeln mich freundlich an. Genauso frisch und anziehend, wie noch vor ein paar Wochen, als ich ihn kennen lernte, und gar nicht so, wie der betrübte Jan der letzten Tage. Aber da ist noch was ganz Anderes, Starkes, sehr Bedrohliches in diesen schönen braunen Augen zu sehen, nur für einen der Anwesenden im Raum bestimmt und sichtbar. Ängstlich rufe ich, „Jan! Jan?? Du hier?“, und kraftlos und kaum zu verstehen hinterher, „Du bist doch jetzt gekündigt. Daher verbiete ich Dir…“, mehr kann ich nicht aus mir raus bringen, denn irgendwas drückt mir heftig die Kehle ab und mir wird eiskalt. „Schönen Guten Morgen. Ich bin David. Ich wollte mal fragen, ob mein Zwillingsruder eventuell hier ist. Er ist schon einige Tage nicht mehr zuhause gewesen…“

* * *

Das Ende des letzten Satzes kann Rene Schmidt nicht mehr zu Ende hören. Er ist einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt und sein Hörvermögen ist stark beeinträchtigt durch ein seltsames Rauschen und Klingeln in seinen Ohren. In der linken Seite verspürt er einen heftigen Stich, der sofort sehr schmerzhaft auf den ganzen Körper ausstrahlt. Dann kann er auch nichts mehr sehen, und sein Körper sackt langsam zusammen. Bevor ihm vollends die Lebenskräfte verlassen, denkt er noch, „Oh, mein Gott…“ Nur kann ihm der jetzt auch nicht mehr helfen. Oder will es auch nicht. Denn vielleicht kann sein Gott auch einfach nicht mehr mit ansehen, was dieser Teil seiner Schöpfung im wahren Leben so fabriziert, und hat die Menschheit von ihm zwecks Schadensbegrenzung erlöst und ihn zu sich gerufen? Oder es gibt es noch andere Mächte, die nach Gerechtigkeit schreien… Wer von uns Menschen weiß das schon ganz genau.

Am Nachmittag tobt gegensätzlich zu allen wettertechnischen Vorzeichen ein sehr heftiges und reinigendes Gewitter über Rostock.

Eine spätere Obduktion wird ergeben, dass Herr Rene Schmidt zum Todeszeitpunkt absolut gesund war. Eine genaue Todesursache wird nicht zu ermitteln sein. Und, ja, noch mehr Wundervolles wäre zu berichten: So soll ein Klassenkamerad von Jan Glüher diesem ein Jahr darauf zusammen mit dessen Bruder im Urlaub in New York begegnet sein. Nach wütenden Protesten, er möge doch die Toten endlich ruhen lassen, behält er das Erlebte später lieber für sich. Aber was wahr ist, ist nun mal wahr, denn das Grab ist leer… Aus. Und hoffentlich machen andere es im Leben besser!

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