Wege – Teil 3 – Erste Schritte

Mic fühlte sich erschöpft. Nicht müde oder gar schläfrig, an schlafen war jetzt nicht zu denken, aber erschöpft.  Er schlurfte ins Bad. Beim Händewaschen sah er in den Spiegel. Er hatte sich schon besser gefallen.

Dunkle Ringe, die seine großen, grau-blauen Augen nun stumpf wirken ließen. Seine Haare, eigentlich ein dunkles Blond, schienen ein Eigenleben zu führen und standen wirr und dunkel in alle Richtungen ab.

Etwa so wirr und dunkel, wie er sich gerade auch fühlte. Die noch vom Sommer gebräunte Haut war von der ganzen Heulerei blass, über und über mit roten Flecken und Quaddeln übersät und ließ seine Nase, die er eigentlich immer gemocht hatte, aus seinem nun irgendwie eingefallen wirkenden Gesicht hervorstechen.

Nur sein Mund schien auszusehen wie immer. Knutschmund hatte Susanne immer gesagt, aber er wollte jetzt nicht an Susanne denken, zumal er nie gerne geküsst hatte. Zumindest sie nicht.

Er berührte seine Lippen und sofort erinnerte er sich an das Gefühl, Jörns Mund auf seinem zu spüren, die zarte Berührung seiner Zunge, ihre Zungen sich liebkosend und erforschend, erst sanft, fast fragend, dann, zueinander findend, ungestüm und leidenschaftlich.

Er ließ seine Hand sinken. So viel war geschehen heute. War es wirklich geschehen? Lange betrachtete er sich im Spiegel, und mit der Zeit erschien ihm sein Gesicht immer fremder. Er musste wegschauen.

Für heute war es genug. Am liebsten hätte er alles weggewaschen.
Wegwaschen. Genau, er würde jetzt baden. Seufzend ließ er Wasser in die Wanne. Er war gerade hineingestiegen und streckte sich aus, als es klingelte.

Er setzte sich auf, sofort schlug sein Herz schneller. Konnte das Jörn sein? War er doch zurückgekommen? Dann klopfte es an seiner Wohnungstür. Endlich sprang er auf, schlang sich nur ein Handtuch um und lief nass wie er war zur Tür, schaute durch den Spion.

Es war nicht Jörn, sondern Babs, aber dennoch freute er sich so, sie zu sehen, dass er einfach aufmachte und sie umarmte.

 

„Hey, ist ja gut. Du machst mich nass.“
Sie machte sich los und sah Mic von oben bis unten an.
„Oh sorry, ich war grad in der Wanne. Es ist sooo gut, dich zu sehen. Komm rein, ja?“
Mic fröstelte.
„Ist es ok, wenn ich wieder in die Wanne geh und du dich zu mir setzt? Ich bin eben erst rein.“

Babs schob ihn ins Bad, setzte sich dort auf den Hocker.
„Du siehst richtig scheiße aus, Mic.“
Mic tauchte unter und schäumte dann seine Haare ein.
„Danke, Babs, das hab ich auch schon festgestellt.“
„Und wenn du dich auch nur halbwegs so fühlst wie du grad aussiehst ist es schon schlimm. Dir geht’s gar nicht gut.“
Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Nein, nicht wirklich. Es ging mir schon besser. Aber du, bist du alleine? Was ist denn mit dem kleinen rothaarigen Mädchen?“
Babs grinste, als sie Mics Anspielung auf ihren Peanuts-Spleen erkannte.
„Erstens ist sie kein Mädchen, sondern eine Frau, zweitens heißt sie nicht Heather, sondern Sofia, drittens bin ich nicht Charlie Brown und viertens ist sie nicht unerreichbar für mich… hoff ich doch mal. Wir treffen uns morgen zum Essen, muss ja nicht immer alles so schnell gehen.“

Dann wurde sie ernst.
„Mic, warum ich überhaupt noch geklingelt hab… ich war eben auf dem Weg nach Hause, da kommt mir unterwegs so ein Typ entgegen, bleibt stehen, starrt mich an. Ich wollte den schon anpampen, da quatscht er mich an und fragt mich, ob ich eben der Bar war und deine Nachbarin wär. Dann sollt ich mal nach dir sehen, dir ging’s nicht so gut. Und so wie du aussiehst stimmt das ja wohl.“
„Ich bin so froh, dass du geklingelt hast, Du hast keine Ahnung wie sehr.“
Wieder tauchte Mic unter, um den Schaum loszuwerden. Als er wieder auftauchte, redete Babs weiter.
„Und dieser Typ, mit dem du rumgeknutscht hast, ist auch wieder in der Bar aufgetaucht. Was ist passiert, Mic?“
Mic nahm die Brause.
„Magst du mir echt jetzt noch zuhören?“
„So viel du willst. Ich bin nicht betrunken oder so, falls du das denken solltest. Dusch dich ab, ich mach inzwischen einen Kaffee.“

 

Mic war wirklich froh, dass Babs da war. Die Vorstellung, mit all dem Erlebten jetzt alleine zu sein, war mehr als unbehaglich. Er duschte sich ab, rubbelte sich trocken. Das Bad hatte gut getan, und die Aussicht auf einen Kaffee mit Babs und ein wenig reden können ließ ihn sich noch ein Stückchen besser fühlen.

Im Schlafzimmer holte er sich ein bequemes T-Shirt und eine Schlabberhose aus dem Schrank. Da fiel sein Blick auf die Spiegelwand, an der über dem Bett immer noch das blöde Kondom klebte. Babs kam ins Schlafzimmer.
„Der Kaffee ist….“
Sie verstummte, als ihr Blick dem von Mic folgte.
„…fertig. Der Kaffee ist fertig. Ach Scheiße, Mic, was ist bloß passiert?“
Mic zog sich Hose und Shirt an und kramte nach warmen Socken in einer Schublade.
„Komm, gehen wir raus hier“, murmelte er, als er sie gefunden hatte.

 

Sie setzten sich in die Küche, Babs hatte schon Tassen und Milch auf den Tisch gestellt. Trotz aller Verbundenheit entstand ein angespanntes Schweigen.
„Was ist los, Mic?“, durchbrach Babs die Stille.
Ja, was war eigentlich los?
„Ich weiß nicht. Mir kommt alles, was heute passiert ist, plötzlich so irreal vor. Ich weiß gar nicht, wie ich das erzählen soll.“
Babs grinste.
„Also… alles, was in der Bar passiert ist, war real. Ich hab Euch gesehen. Soll ich dir‘s erzählen, damit du es glauben kannst?“
Dann wurde sie plötzlich wieder ernst.
„Hey, wir müssen gar nicht reden, wenn du nicht magst. Ich kann auch einfach hier bei dir sitzen, und wenn du alleine sein willst ist das auch ok.“
„Nein, Babs, ich bin froh, dass du hier bist. Ich will grad alles, nur nicht allein sein mit dem ganzen Chaos.“
Und dann, nach einer Weile, begann Mic doch zu erzählen, anfangs stockend, dann kamen die Worte wie von alleine. Er erzählte, wie versteinert er die ganzen Jahre gewesen war, wie Babs dazu beigetragen hatte, das aufzuweichen, was er in der Bar und später bei ihm zu Hause gefühlt hatte, erzählte von Jörns Flucht und Richards Erklärung.

Und Babs hörte zu. Saß einfach da und hörte zu, und als Mic geendet hatte, nahm sie ihn einfach wortlos in den Arm, wiegte ihn wie ein kleines Kind sachte hin und her, und Mic wunderte sich darüber, wie gut das tat.

Irgendwann fragte sie leise: „Was ist nur mit dir passiert, dass du siebzehn Jahre gebraucht hast, dahin zu kommen?“
Fast klang es so, als würde sie gleich weinen. Was passiert war?
Mic wusste sehr genau, was passiert war, aber konnte er das erzählen? Niemand wusste davon, wirklich niemand mehr, außer ihm selbst.

Mic fühlte die alt bekannte Panik in sich aufsteigen.  Da war es wieder, dieses schmerzhafte Ziehen, dieser körperliche Schmerz, dem unaufhaltsam Bilder folgten, ihn aus der Realität warfen. Diesmal so schnell, dass er gar nicht reagieren konnte.

Dann löste sich alles um ihn auf. Er war wieder fünfzehn, sein jetziges Sein für den Moment wie ausgelöscht. Wehrlos. Ausgeliefert. Er wollte schreien, konnte aber nicht. Nie konnte er schreien.

Nur aushalten, was geschah, darauf warten, dass ihn gnädige Dunkelheit umgab. Taubheit.
Wie aus weiter Ferne hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er wurde geschüttelt. Kälte. Kaltes Wasser?

Er starrte Babs an, die mit einem leeren Glas in der Hand vor ihm stand, immer wieder seinen Namen rief.
„Babs? Was zum Teufel… was soll denn das?“
Nass und tropfend saß er in seiner Küche.

 

„Mic? Hörst du mich?“
„Ja doch. Schrei doch nicht so. Ich bin nicht taub!“
Babs ließ sich auf den Stuhl gegenüber sinken, wirkte total erschüttert.
„Mic? Was war das gerade? Was war grad los mit dir?“
Mic zwinkerte, schüttelte den Kopf.
„Was… ich weiß es nicht. Eine Erinnerung.“
Erstaunt spürte er, wie er zitterte, dass sein Herz wie wild schlug. Ihm war übel.
„Mic, du warst völlig weggetreten. Du hast mir gerade  richtig Angst gemacht.“
Mic schaffte es gerade noch zur Toilette, musste sich übergeben. Endlich konnte er aufhören zu würgen, wusch sich. Wieder sah er sich im Spiegel. Das gerade war nicht zum ersten Mal passiert, nur fand er sich sonst mit mehr oder weniger großen Zeitverlusten irgendwo wieder.

Mal „fehlte“ ihm eine halbe Stunde, mal ein halber Tag. Das kam nicht allzu oft vor. Meistens, wenn er diese Panik aufkommen fühlte, lief er, lief einfach bis zur Erschöpfung. Danach war es dann besser, der Kopf wurde wieder klarer.

Trotzdem, das war nicht gut. Gar nicht gut. Er versuchte sich zu sammeln, ruhiger zu werden.
Eins war klar: So konnte es nicht weiter gehen. Schon in der Bar war diese Panik aufgestiegen, da hatte er sie noch irgendwie bremsen können.

Aber das jetzt war seiner Kontrolle mal wieder völlig entglitten.
Irgendetwas musste geschehen.

 

“Besser?“, fragte Babs, als er in die Küche zurück kam.
„Ja, ich denk schon.“
Schweigen.

„Tut mir Leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe, Babs. Ich hab das manchmal, manchmal kann ich es nicht kontrollieren, aber jetzt bin ich wieder ok.“
Babs schien nicht überzeugt, nickte aber.
„Wenn du darüber reden willst…“
„Nein!“, unterbrach Mic sie.

 

„Nein, Babs. Das kann ich nicht. Vielleicht irgendwann mal.“
„Du brauchst Hilfe, Mic.“
„Ja, wahrscheinlich brauche ich die. Aber nicht jetzt, ok?“
„Ich meinte nicht mich. Ich meinte professionelle Hilfe.“
„Vielleicht. Babs bitte, ich weiß, ich hab dich eben sehr erschreckt, aber können wir das jetzt einfach lassen? Wenigstens für heute? Bitte?“
„Ok. Aber denk nicht, dass ich das hier vergesse.“
Mic musste wider Willen lächeln.
„Nein, ich weiß. Sonst wärst du nicht meine Babs.“
„Deine… also ich muss schon sagen…“, spielte Babs die Entrüstete.
Mic rauchte, schlurfte an seinem inzwischen kalten Kaffee.
„Im Sommer wäre es schon hell“, sagte er mit einem Blick auf die Uhr.
„Ja, und du siehst ziemlich fertig aus. Meinst du, du kannst schlafen?“
„Ich muss. Morgen Nachmittag ist Theaterprobe. Ich kann die Kids doch nicht hängen lassen. In zwei Wochen ist Premiere.“
„Ach ja, deine Theatergruppe. Hätte ich fast vergessen. Na gut, dann lass uns schlafen gehen. Ich bin auch müde. Kommst du klar?“
„Darf ich dich um was bitten? Ich mag jetzt nicht hier…“
„Komm mit.“ unterbrach Babs ihn. „Kannst bei mir schlafen. Ist neben mir im Bett ok oder soll ich noch was ausklappen?“
„Neben dir wär wunderbar. Danke, Babs.“
Es war irgendwie beruhigend, Babs neben sich zu wissen. Und in sein eigenes Bett hätte er jetzt auf keinen Fall gewollt. Schnell überfiel ihn ein tiefer, erschöpfter Schlaf.

 

*-*-*

 

Es war schon längst Mittag, als Mic wach wurde. Babs schlief noch, mit dem Rücken zu ihm. Hatte sie nicht etwas von Verabredung zum Essen mit ihrem Rotschopf gesagt? Er rüttelte leicht an ihrer Schulter.
„Mmmmm…“, kam ein unwilliges Grummeln von ihr.
„Babs, wach auf. Wann bist du mit Heather verabredet?“

„Hä?“

„Du bist doch zum Essen verabredet mit dem kleinen rothaarigen Mädchen. Wann? Es ist schon fast eins!“
Babs fuhr hoch.
„Scheiße!“
Sie sprang auf, durchwühlte ihre Jacke und holte schließlich ihr Handy raus, drückte auf den Tasten rum.
„Hey, hier ist Babs. Wo bist du? Sorry, ich hab verschlafen, bin grad erst wach…“
Dann lachte sie.
„Na das wär ja eine tolle Verabredung geworden! … Bist du noch da? … Ja, ich auch. Grad aus dem Bett gesprungen. Also kein Stress. Sehen wir uns eben später, wenn du magst? … Flohmarkt klingt super. … Um drei? … An der alten Apotheke an der Ecke? Kennst du die? … Ok. Ich freu mich. Schon lustig, dass wir beide verpennt haben.“

Wieder lachte Babs.
„Ok, dann bis nachher.“
Sie stapfte zurück zum Bett, wo Mic immer noch lag, seitlich auf einen Ellenbogen gestützt, und jetzt grinste.
Und – klatsch – flog ihm ein Kissen ins Gesicht.
„Sofia, nicht Heather. Merk dir das!“
Mic zahlte es ihr mit gleicher Münze heim.
„Ohne mich würdest du noch immer schlafen, Charlie!“
Natürlich wehrte Babs sich. Sie bewarfen sich mit Kissen, liefen in der Wohnung hintereinander her, bis Mic irgendwann eine imaginäre weiße Fahne schwenkte.

 

„Kapitulation, Babs. Du hast gewonnen. Ich kann nicht mehr.“
Tatsächlich bekam Mic vor Lachen kaum noch Luft. Babs machte eine Strike-Geste.

„Ok, dafür machst du jetzt Frühstück!“, verfügte sie grinsend und hüpfte in Richtung Bad.

„Ok, mach ich, aber lass mich erst auf Klo, ja?“

 

Mic kannte sich in Babs Küche ganz gut aus, seit er sie mal betüddelt hatte, als sie mit Grippe flach liegen musste. Er grinste über das, was er bei ihr fand. Bio-Vollkornbrot. Natürlich. Bio-Käse, keine Wurst.

Babs aß kein Fleisch. Bio-Honig, Bio-Kaffee, Fair Trade natürlich, Bio-Milch, Bio-Butter.
Mic war gerade fertig, als Babs in die Küche kam und schnupperte.
„Hmmmm…. Kaffee….“
„Dir ist schon klar, dass das gestern Abend bestimmt kein Bio-Sekt war, oder?“, versuchte Mic sie aufzuziehen.
„Idiot!“ kam es zurück.
Und dann plötzlich ernst: „Wie geht’s dir jetzt? Konntest du schlafen?“

„Ja, ich hab geschlafen wie ein Stein. Ich hab glaub ich nicht mal was geträumt.“
Die Frage nach seinem Zustand ließ er unbeantwortet, konnte er doch selber nicht sagen, wie es ihm eigentlich ging und wollte in diesem Moment auch lieber gar nicht darüber nachdenken.

„Aber…“

„Babs? Ich mag jetzt nicht drüber reden, ok?“
Babs nickte.
„Na gut. Aber damit du dich nicht der Illusion hingibst, so davonzukommen… ich werd immer wieder fragen.“
Mic musste grinsen.
„Nichts anderes hatte ich erwartet.“

 

Nach dem Frühstück verabschiedete Mic sich in seine Wohnung. Er wollte noch ein paar Dinge für die Theatergruppe vorbereiten. Was die Gruppe sich da vorgenommen hatte, war kein so leichter Stoff und eng angelehnt an „Passage“ von Christoph Hein.

Es ging um im französischen Exil lebende deutsche Flüchtlinge, als am 24. Oktober 1940 die Kollaboration der Vichy-Regierung mit Hitler-Deutschland begann. Der an jenem Tag geschlossene Waffenstillstandsvertrag sah unter anderem die  Auslieferung deutscher Auswanderer an das Deutsche Reich vor, was unter den Flüchtlingen zu einer verständlichen Panik führte.

Wem die Flucht über die Pyrenäen nach Spanien nicht mehr gelingen würde, fände sich in Lagern im unbesetzten Südfrankreich wieder und würde auf Verlangen an die Gestapo ausgeliefert. Natürlich gab es Hilfe im Untergrund, doch die Gestapo spürte die deutschen „Staatsbürger“ auch in den besten Verstecken auf.

Und hier begann das Theaterstück, in einem dieser Verstecke, in denen Deutsche aus den unterschiedlichsten Gründen auf eine Fluchtmöglichkeit über die spanische Grenze warteten, in bedrückender Enge zusammengepfercht, Woche um Woche.

Unterschiedlichste Charaktere mussten es um ihres Lebens Willen miteinander aushalten, doch nicht alle waren sich gegenseitig gut gesonnen. Die Enge schürte die Aggressionen, die sich aber keiner der Anwesenden in dieser lebensbedrohlichen Situation leisten konnte.

Mit und mit spitzte sich die Lage immer weiter zu.

Das Stück hatte die Gruppe selbst gewählt. Mics Weiterbildung zum Theaterpädagogen war fast abgeschlossen, und die Gruppe lag ihm sehr am Herzen. Einige der Teilnehmer hatte das Theater wieder näher an die Schule gebracht, und mehr als das.

Kids, die vorher eher „Sorgenkinder“ gewesen waren, teils sogar gewalttätig, engagierten sich hier fast mehr als die anderen, für die das Theater ein nettes Hobby war. Genau das war der Grund, aus dem Mic nichts über „seine“ Gruppe kommen ließ, warum er so viel von seiner Freizeit in diese Gruppe steckte.

Hier konnte er etwas bewegen. Viel mehr, als er es im Unterricht je gekonnt hätte. Er liebte seinen Job. Er war Lehrer mit Leib und Seele, wie man so schön sagt. Für nichts auf der Welt hätte er etwas anderes machen wollen, auch wenn der Job manchmal ganz schön anstrengend war.
Es gab Kids an der Schule, mit denen er es wirklich schwer hatte, und oftmals fühlte er sich auch hilflos an den Stellen, wo er eben nichts bewirken konnte. Er war wohl als Lehrer relativ beliebt, wenn er „spickmich“  glauben durfte.

Diese Plattform für Schüler, die dort ihre Lehrer „benoteten“, wurde von vielen Kollegen als „die Pest“ betrachtet. Er selbst schätzte die Plattform, war es doch eine der wenigen Möglichkeiten, ein ehrliches Feedback zu erhalten, auch wenn ihm nicht alles, was er da zu lesen bekam, gefiel.

Doch genau darum ging es ja: Die Chance, das eigene Vorgehen zu hinterfragen und sich weiterentwickeln zu können. Leider stießen seine Versuche, im Kollegium eine Lanze für diese Plattform zu brechen, auf viele taube Ohren, doch zum Glück gab es auch ein paar, die seine Meinung teilten.

Er wusste, dass viele Menschen ihn als Lehrer um seine Arbeitszeiten beneideten, nicht zuletzt wegen der vielen Ferien – ohne zu wissen, dass diese Ferien nicht immer wirklich Ferien waren.

Es gab Fortbildungen, Klausuren vorzubereiten, zu bewerten, es gab Projekte – und natürlich die Schülerband und die Theater-AG. Um die Band und die AG kümmerte er sich freiwillig, das war nicht Teil seiner bezahlten Arbeit.

Natürlich gab es auch Kollegen, die sich ihrer Routine hingaben, die hatten gewiss mehr Freizeit, aber was hätte Mic mit dieser Freizeit auch anfangen sollen? Die Schule, sein Job, das war zu seinem Lebensinhalt geworden in den letzten Jahren. Das war es, wofür er lebte, was ihn immer gerettet hatte, wenn sich dumpfe Depressionen anmelden wollten.
Das, das Tanzen und vielleicht gelegentlich auch mal ein Joint, gestand er sich ein.

Er atmete tief ein, als er den Theaterraum der Schule betrat. Er liebte den Geruch hier. Die Übungsbühne blieb hier aufgebaut, der Boden bestand bei diesem Stück aus alten, ausgedienten Holzpaletten, die die Kids teilweise durch Holzlatten verstärkt hatten zwecks besserer Begehbarkeit.

Das sollte auch bei der Aufführung den Boden darstellen, leicht zu transportieren und sehr wirkungsvoll, wie Mic fand. An dem Bühnenbild war er wenig beteiligt gewesen, das hatten die Kids mit einem der Kunstlehrer der Schule bewerkstelligt. Auch mit den Requisiten und Kostümen hatte er wenig am Hut gehabt.

Er kannte noch immer nicht alle Kostüme, und einige waren wohl auch noch nicht fertig. Die Schauspiel-Gruppe bestand aus einer ziemlich bunten Mischung von Jungs und Mädels zwischen sechzehn und achtzehn.

Erst hatte Mic ernsthafte Bedenken gehabt, wie sie in diesem jungen Alter das, was „Passage“ beinhaltete, rüberbringen wollten. War das nicht eine Nummer zu groß für sie? Es gab ja reichlich Stoff, der seiner Meinung nach besser geeignet gewesen wäre, aber sie hatten sich nun mal auf die Passage eingeschossen.

Auch bei der Art der Umsetzung war es zu Konflikten gekommen, die im Grunde jetzt, zwei Wochen vor der Premiere, immer noch nicht ganz ausgeräumt waren. Wie immer begannen sie mit ein paar Aufwärmübungen, bevor sie sich den eigentlichen Proben zuwandten.

Mic ließ die Teilnehmer durch den Raum laufen. Alle sollten versuchen, möglichst gleichmäßig und wie eine Einheit zu laufen. Einer von ihnen, den er als Einzigen vorher eingeweiht hatte, durfte etwas ändern: seine Art zu gehen, die Körperhaltung, das Tempo, kleine Dinge eben, die nicht sofort auffielen.

Die Gruppe sollte genau diese Änderungen übernehmen, sobald sie diese spürte, ohne zu wissen, woher sie kam. Mic staunte, wie gut diese Übung funktionierte, er machte sie zum ersten Mal mit den Kids.

Anfangs hatten fast alle Probleme mit den Aufwärmübungen gehabt, das wusste er. Sie kamen ihnen albern vor, kindisch, und einige hatte es Überwindung gekostet, sich darauf einzulassen. Inzwischen waren sie ganz selbstverständlich Bestandteil jeder Probe.

Wie immer machten sie dann mit den Szenen weiter, die sie am Ende der letzten Probe besprochen hatten. Danach gab es immer eine kleine Feedbackrunde, die manchmal nur wenige Minuten dauerte, sich aber manchmal auch zu einer engagierten Diskussion auswuchs.

Und natürlich blieb es auch ausgerechnet heute nicht bei einer kurzen Runde.

 

„Wir haben uns gestern in der Pause getroffen und geredet“, eröffnete Paul die Diskussion.
„Ja, und wir müssen mit dir reden“, schloss Sarah sich an.
Oha. Das klang ernst. Mic seufzte.
„Ok, ich bin ganz Ohr. Was ist los?“
„Es geht um meine Rolle…“, setzte Paul an.
Mic seufzte wieder, diesmal deutlich vernehmlich.
„Oh nein, nicht schon wieder. Ich dachte, das hätten wir geklärt?“
„Nein“, ergriff Sarah wieder das Wort, „für dich ist es geklärt. Für uns war es das nicht, aber wir haben einen Beschluss gefasst.“
Zustimmendes Nicken vom Rest der Runde.
„Und der wäre?“
Mic fühlte Unwillen in sich aufsteigen. Was hatten sie bloß mit dieser Rolle? Es war völlig überflüssig, diesen neuen Aspekt da reinzubringen, brachte das Stück keinen Millimeter weiter.

„Ich werde die Rolle so spielen, wie ich es immer wollte. Es ist unsere Aufführung, Mic, nicht deine.“
„Das ist es, was wir zusammen beschlossen haben“, fügte Sarah hinzu.
Sarah war so etwas wie die Sprecherin der Gruppe. Oha, es war wirklich ernst. Revolte sozusagen.

„Leb damit oder lass es. Du brauchst gar nicht erst versuchen, uns umzustimmen.“
Herausfordernd sah Sarah Mic an.
„Warum ist Euch das eigentlich so wichtig?“
Mic verstand es einfach nicht.
„Warum muss deine Rolle unbedingt schwul sein? Die Personen sitzen dort in dieser Kammer und verstecken sich, weil sie Juden sind oder Kommunisten. Das reicht doch völlig.“
Paul sprang auf.
„Du kapierst es nicht, oder? Uns geht es darum, einen Bezug zu heute herzustellen. Juden werden nur noch von einer kleinen Minderheit diskriminiert, Kommunisten… naja, gut, das ist vielleicht immer noch Thema, aber auch Schwule wurden im dritten Reich verfolgt.  Politisch verfolgt werden wir in Deutschland zwar nicht mehr, aber diskriminiert werden wir nach wie vor.“
Paul schien sich richtig in Rage geredet zu haben, und natürlich kam Sarah ihm zu Hilfe.

„Ach Mic, das weißt du doch auch alles. Wir haben das schon so oft durchgekaut. Du bist doch sonst nicht so verbrettert! Was stört dich daran so? Wir haben doch auch andere Rollen in Passage modifiziert. Warum nicht diese?“
Ja, warum eigentlich nicht? Und dann durchflutete ihn eine Erkenntnis.
„Ok, macht es so, wie ihr meint. Ihr habt gewonnen. Aber ihr habt nur noch zwei Wochen, vergesst das nicht. Können wir dann für heute Schluss machen?“
Allgemeines Gemurmel. Mic schnappte Fetzen wie „…ein Wunder…“ Und „…das der das doch noch schnallt…“ auf. Sarah grinste ihn jetzt an.
„Na endlich, geht doch. Wir machen noch weiter, Mic, ich werf dir den Schlüssel dann ein, wie immer.“
Das hatte Sarah schon öfter gemacht, wenn Mic noch einen anderen Termin gehabt hatte und früher weg musste. Jetzt grad war er mit allem einverstanden, musste mit sich und seinen Gedanken allein sein.

Langsam begann es schon wieder dunkel zu werden. Mic fuhr an einen kleinen Tümpel, einer seiner Lieblingsorte. Er blieb einfach im Auto sitzen, mit offenem Fenster, und rauchte.

„Das Zittern ist mir vertraut. In mir ist alles in Unruhe. Ich könnte immerfort umher rennen. Wie ein eingesperrtes Tier. Wie ein eingesperrtes Tier an den Gitterstäben…”
Die ganze Zeit musste er an diese Szene aus „Passage“ denken. Und er war geschockt über sich selbst. War er die ganze Zeit blind und taub durchs Leben gelaufen? Paul hatte „wir“ gesagt.

Er zählte sich selbst zu dieser „diskriminierten Gruppe der Schwulen“, wie er es nannte. Und er hatte auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, ging Mic nun auf. Tief erschüttert über seine eigene Ignoranz ließ er viele ähnliche Szenen an sich vorbeiziehen.

Die Ignoranz sich selbst gegenüber war eine Sache, aber die seiner Umwelt gegenüber war ihm erst während der Diskussion mit der Theatergruppe aufgegangen. Zumindest hatte er da begonnen zu verstehen. Was hatte er wohl alles noch ausgeblendet?

So langsam begann er zu erahnen, das ein Akzeptieren des eigenen Schwulseins mehr in seinem Leben verändern würde als das, was er hinter verschlossenen Türen tat. Das war wohl nur ein kleiner Teil des Ganzen.

Lange saß er so da an „seinem“ Tümpel, hing seinen Gedanken nach, rauchte. Dieser Ort hatte ihn immer beruhigt. Besonders liebte er die alte Trauerweide, die sich wie schützend über den Tümpel beugte und deren Zweige das Wasser berührten.

Wie oft hatte er darunter gesessen und einfach nur Musik gehört.
Musik. Wieder sowas. Wie vehement er sich dagegen gewehrt hatte, ein Referat über Tschaikowskys Leben zu bewerten.

Das habe nichts mit der Musik zu tun, hatte er verkündet. Was für ein Schwachsinn. Natürlich hatte sein Leben mit seiner Musik zu tun, mit seiner Homosexualität in einer Zeit, in der sie sowas wie ein Verbrechen darstellte.

Auch der Vorschlag, sich wenigstens den Film „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“ anzusehen, hatte er mit einer ähnlichen Begründung verworfen.
Mehr und mehr solcher Gegebenheiten fielen ihm ein.

Als sein Deutsch-LK Thomas Manns „Zauberberg“ lesen wollte oder „Tod in Venedig“ war es auch so gewesen. Beides hatte er als „nicht geeignet“ abgeschmettert und fand, sie sollten ihm dankbar dafür sein. Wer las schon freiwillig Thomas Mann?

Den Film „Maurice“ hatten sie sehen wollen, nachdem die Literatur-AG Englisch den Roman von Foster gelesen hatte. Auch dazu war es nicht gekommen. Was Mic aber am meisten zusetzte war die Tatsache, dass diese Abwehr zu jedem schwulen Thema so automatisch dagewesen war.

Ihm war gar nicht bewusst gewesen, was er da getan hatte, wie er alles, was irgendwie mit Schwulsein zu tun haben könnte, aus seiner Welt ausgeschlossen hatte. Selbst das Tanzen hatte er deswegen aufgegeben, eines der wenigen Dinge, die ihn wirklich Lebensfreude hatte spüren lassen.

 

*-*-*

 

Als es endgültig dunkel war, fuhr er nachdenklich nach Hause. Der Anrufbeantworter blinkte, wobei ihm einfiel, dass er seine Mutter nicht zurückgerufen hatte. Naja, sie würde es überleben. Mic drückte auf die Wiedergabetaste.
„Hi Mic, hier ist Richard. Ich wollt nur hören, wies dir geht. Kannst dich ja mal melden, wenn du willst. Ciao-iiiii.“
Mic schaute auf die Uhr. Gleich acht warum also nicht? Mic speicherte Richards Nummer,  aber bevor er ihn anrief, bestellte er sich Pizza mit doppel Schinken, eine Flasche Cola und einen großen Eisbecher. So einen mit Sahne und Keks-Stückchen drin.

Musste heute einfach sein. Dann rief er Richard zurück.
„Hallo?“, kam es vom anderen Ende.
Mic hasste es, wenn sich jemand nicht mit Namen meldete.
„Hey, hier ist Mic. Du hattest mir auf den AB gesprochen.“
„Ja! Cool dass du anrufst, ich wollt dir was erzählen. Aber sag erst mal, wies dir geht.“
„Ganz ok denk ich. Ich hab mich gar nicht bei dir bedankt gestern.“
„Doch, hast Du, mehrmals sogar.“
„Aber nicht dafür, dass du Babs zu mir geschickt hast.“
Ein Lachen.
„Ja, die kam mir entgegen und ich schwör dir, ich war echt nicht sicher, ob das die war, mit der du da getanzt hattest. Für nen Moment dacht ich die geht gleich auf mich los.“
Mic erinnerte sich an das, was Babs gesagt hatte.
„Ja, wäre sie auch fast.“

 

Dann stutze er.

 

„Du hast mich mit ihr tanzen sehen?“
„Ehm… ja.“
Schweigen.

„Hey, das ist ein kleiner Laden, wir sind hier nicht in der Großstadt. Da fällt es auf, wenn jemand Neues da ist, besonders, wenn er so tanzt wie du.“
Mic hatte nicht das Bedürfnis, das Thema zu vertiefen und lenkte ab.
„Ok… was wolltest du mir denn erzählen?“
Mic war neugierig. Eigentlich konnte das ja nur mit Jörn zu tun haben, denn ansonsten kannten er und Richard sich ja gar nicht.
„Nicht viel eigentlich. Ich hab Jörn heut alles erzählt, und mein Kopf ist noch dran, obwohl Jörn ziemlich angepisst war erst…“
„Heute erst?“, unterbrach Mic ihn.
„Ja klar erst heute. Gestern war der viel zu schräg drauf dafür.“
„Habt ihr jetzt etwa Streit deswegen?“
„Ne ne, das ist schon wieder gegessen. Jedenfalls hat er jetzt deine Telefonnummer und ich hab ihm auch erzählt, was du mir erzählt hast.“
„Und?“

„Was und?“
„Und wie hat er reagiert?“
„Gar nicht. Er hat den Zettel von dir eingesteckt und nichts weiter dazu gesagt. Und selbst wenn… da müsstest du ihn schon selbst fragen. Weiter häng ich mich da jetzt nämlich nicht mehr rein.“
Das war deutlich.
„Versteh ich ja. Aber kannst du mir noch sagen… Jörn ist wohl oft da in dem Laden, oder?“
„Ja, das ist kein Geheimnis. Wenn er nicht grad in Frankfurt ist, dann ist er oft da.“
„Frankfurt? Aber ich wollte dich ja nicht weiter ausquetschen…“
„Schon ok. Frankfurt bietet einfach mehr schwules Nachtleben als du es hier findest, verstehst du?“

„Dann tingelt Jörn also so von Bar zu Bar?“
Die Vorstellung behagte Mic nicht so besonders.
„Auch das fragst du ihn besser selbst. Ich hab keine Ahnung, ob er sich bei dir melden wird, aber wenn nicht, dann weißt du ja, wo du ihn finden kannst.“
„Auch heute?“
Mic konnte sich diese letzte Frage einfach nicht verkneifen, hörte Richard daraufhin lachen.
„Du lässt wohl gar nicht locker, wie? Ja, auch heute. Zufrieden?“
„Zufrieden. Keine weiteren Fragen, euer Ehren.“
„Na dann… viel Glück.“
„Danke. Auch dafür, dass du angerufen hast.“
„Klar doch. Man sieht sich, denk ich. Bye.“
„Ja, bye.“

 

Soso, Jörn schien also viel unterwegs zu sein. Schwules Nachtleben hatte Richard gesagt. Eigentlich verständlich. Immerhin konnte er sich da ziemlich sicher sein, nicht an Heteros zu geraten. Vielleicht war das der Grund?

Er ging zu seinem PC und suchte im Internet nach den Begriffen „Frankfurt“ und „schwul“. Unglaublich, was es da alles gab. Saunen, Kinos, Partys, schwule Sportclubs, schwule Motorradclubs, schwule Gottesdienste, Clubs, Bars, Cafés, Restaurants, Strickkurse, selbst für schwule Tupper-Partys wurde hier geworben…

Das Klingeln unterbrach seine Recherche. Mic hatte aber auch genug gesehen. Er hatte so ganz und gar nicht den Eindruck, dass das seine Welt war. Mic streckte sich auf dem Sofa aus. Die Pizza war gut gewesen. Und jetzt?

Zwanzig  nach Neun sagte die Uhr. Der Gedanke an den Motorradclub ließ ihn nicht los. Jörn fuhr ja wohl Motorrad. Ob er da Mitglied war? Mic ging nochmal an den PC, schaute in seine Mailbox.

Ein paar berufliche Sachen, der Newsletter von Centro, seiner früheren Tanzschule, den er nicht fertigbrachte abzubestellen… aber nichts von Jörn. Natürlich nicht.
Mic öffnete die Site des Motorradclubs.

Ein paar Mitglieder stellten sich da vor, Jörn war nicht dabei. Plötzlich kam Mic sich ziemlich albern vor bei dem, was er gerade tat. Wozu das alles? Er stand auf und zog seine Jacke über. Er hatte einen Entschluss gefasst.

„Denken Sie nach. Zwei, drei Züge voraussehen, alle möglichen Reaktionen des Gegners einplanen, das ist alles. In unserer Situation ist es lebensnotwendig, das zu lernen…”

 

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