Der dämonische Pianist

Hallo Ihr Lieben. Ich weiß, ich habe lange nichts von mir hören lassen, aber die meisten wissen ja auch warum. Die AGA ist endlich überstanden und zur Feier gibt’s hier eine kleine neue Story von mir, bestehend aus zwei Teilen. Hoffentlich gefällt sie Euch, da es sonst nicht meine Art ist, reine Liebesgeschichten zu schreiben. Aber irgendwie ist es einfach so passiert. ^^ Für Feedback jeglicher Art bin ich wie immer offen. Und nun viel Spaß bei meiner Story. Liebe Grüße… Hyen

Ich stand hier nun schon seit einer halben Stunde am Eingang eines großen Saals und lauschte den Klängen des jungen Pianisten, der brav für eine ganze Rentnerhorde spielte. Irgendwie klang das sogar richtig gut. Trotzdem wollte ich langsam weiter. Maike hatte gesagt, dass sie Punkt 18 Uhr an der Kasse des Hauses Feierabend machen würde. Nun war es schon 18:30 Uhr! Weiber. Wäre sie nicht meine beste Freundin, hatte ich mich längst verzogen. Ich hasse es zu warten. Aber was soll´s. Sie wollte sich halt etwas neben ihrem Studium verdienen, was ich ganz gut fand. Nur auf Vater Staats Kosten war auch blöd zu leben.

Eigentlich hatte ich das auch vor. Also neben meinem Chemiestudium Geld zu verdienen, nur hatte ich bisher nichts Passendes gefunden. Ich hatte keine Lust mich einengen zu lassen, weswegen die meisten Jobs schon durch mein Raster rutschten. Ich wollte während meines Studiums einfach mein Leben genießen. Pausenlos schuften würde ich danach noch lange genug.

Gegen den Türrahmen gelehnt lauschte ich weiter den Klängen des Klaviers, die nun langsam abebbten. Es wurde heftig applaudiert, manche standen sogar auf. Der junge Pianist erhob sich, trat vor den Flügel und verbeugte sich leicht vor der Menge. Er war bestimmt nicht älter als sechzehn, hatte seine schwarzen Haare stark zurück gegelt und einen schicken Anzug an. Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen. Hoffentlich musste ich nie so steife Klamotten tragen. Lockere Shirts und Stoffhosen mit Seitentaschen an den Beinen passten besser zu mir.

Mein leicht spöttisches Lächeln erstarb allerdings sofort, als der junge Pianist mich direkt anblickte. Er starrte regelrecht zu mir hinüber und ich konnte nur mit größer werdenden Augen zurück schauen. Tausend kleine Blitze jagten durch meinen Körper hindurch und machten jede Bewegung unmöglich. Meine Nackenhärchen stellten sich wie elektrisiert auf und mein Herz begann lautstark gegen meine Rippen zu schlagen. Zwar konnte ich die Augenfarbe des Jungen nicht erkennen, aber dieser unheimliche Blick durch seine schmalen Schlitze ließ mich erschauern.

„Da bin ich!“, rief mir auf einmal jemand von der Seite zu und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich glaubte indes an einem Herzinfarkt zu sterben.

„Was ist denn mit dir los? Sonst bist du doch auch nicht so schreckhaft“, grinste mich Maike belustigt an.

Leicht zitternd wandte ich meinen Kopf wieder der Bühne zu, doch der Pianist hatte diese bereits verlassen.

„Thilo?“ Verwirrt drehte ich mich zu meiner Freundin, die mich besorgt zu mustern begann.

„Lass uns gehen“, meinte ich nur und steuerte den Ausgang des kleinen Opernhauses an. Maike fragte nicht weiter nach, da sie wusste, dass ich nicht gerne über das sprach, was in mir vorging.

„Was hattest du eigentlich heute genau vor?“, fragte ich sie, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Ich brauche ein Kleid für diese Benefizveranstaltung, auf die mich Markus am Wochenende mitnimmt.“

Ihr fragt euch sicher jetzt, warum Maike nicht einfach eine Freundin mitschleppt und mit ihr shoppen geht, schließlich ist das doch so ein Frauending. Die Wahrheit ist, dass Maike niemand anderes hatte. Ihr Medizinstudium nahm sie voll und ganz ein. Sie war einfach wie geschaffen für diesen Job, weswegen sie sich zweihundertprozentig rein hing. Dazu kam noch ihre Arbeit als Empfangsdame bei Konzerten im kleinen Opernhaus. Irgendwie war sie immer unterwegs.

Wir hatten uns nur zufällig kennen gelernt, weil unsere Fahrräder direkt vor der Uni kuscheln mussten. Sprich, sie ist mir mit voller Wucht in die Seite gefahren, und weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, wurde ich zu einem Cappu eingeladen, wo wir dann merkten, dass wir uns richtig gut verstanden. Wir lagen halt auf einer Wellenlänge. Lustiger weise war sie nicht mein Typ und ich nicht ihrer. Ich stand nicht unbedingt auf die megaschlanken Blondinen und sie nicht auf einen langhaarigen Kerl mit Ziegenbart. Und was passiert, wenn Männlein und Weiblein einander nicht anziehend finden? Stimmt! Sie werden die besten Freunde.

Wir beide liebten unser Studium, weswegen man uns recht oft an der Uni antraf. Entweder aßen wir zusammen in der Mensa zu Mittag oder wir hockten in der Bibliothek und arbeiteten an unseren Referaten. Markus hatte sie auf irgend so einer Veranstaltung „Rettet die was weiß ich“ kennen gelernt. Er studierte Jura, sah gut aus und hatte durch Papi auch genug Kohle. Eigentlich brauchte Maike gar nicht mehr zu schuften, aber sie lehnte es vehement ab, etwas von ihrem Freund anzunehmen. Markus war davon natürlich unheimlich beeindruckt.

So tänzelten die Beiden seit einem halben Jahr zusammen auf jede Benefizgala (man muss sich ja schon mal einen Namen machen) und waren verliebt wie eh und je. Neidisch? Ich? Vielleicht ein ganz klein wenig. Wer wollte sich denn auch nicht verlieben? Ich gönnte es den Beiden, schließlich war Maike meine beste Freundin und Markus war auch okay.

Gerade als wir das kleine Opernhaus verließen und die wenigen Treppen davor hinab stiegen, klingelte Maikes Handy.

„Wenn man vom Teufel spricht“, meinte sie lächelnd, nachdem sie kurz auf das Display geschaut hatte. „Hey mein Schatz“, schnurrte sie auch schon durch den kleinen Kommunikationshelfer und entfernte sich zwei, drei Schritte von mir.

Ich seufzte theatralisch mit einem Grinsen und schlenderte ein wenig am Gebäude auf und ab. Das ganze würde jetzt mindestens zehn Minuten dauern. Echt schlimm solche frisch Verliebten.

Wieder drifteten meine Gedanken ab. Auf eine Beziehung hätte ich auch mal wieder Lust. An die Letzte konnte ich mich kaum noch erinnern. Ich wollte mich wieder verlieben. So richtig mit rosaroter Brille und Schmetterlingen im Bauch. Aber irgendwie war ich in der letzten Zeit durcheinander. Die Typen aus dem Basketballclub fand ich auf einmal gar nicht so übel und die Cheerleader wurden mir zu arrogant. Irgendwie warf mich das komplett aus der Bahn.

Ich schlenderte gerade an der Ecke des Hauses vorbei und wollte mich eben wieder umdrehen, als ich ein leises Klirren und dann jemanden fluchen hörte. Ich bog um die Ecke in die kleine Seitengasse ein und sah eine Frau, wie sie ihr Feuerzeug aufhob und vergebens versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden.

„Das ist aber ungesund“, sprach ich sie an, als ich meine Chemieprofessorin erkannte. Erschrocken sah sie auf.

„Oh Thilo, sie hier.“ Nervös versuchte sie, den Glimmstängel wieder in die Packung zu schieben.

Meine Güte, ich hatte die Frau noch nie so hibbelig erlebt. Sonst war sie doch immer die Ruhe selbst! Ehrlich gesagt war sie die coolste Professorin, die ich kannte. Sie hatte Humor, sah gut aus (und das mit Ende dreißig!) und hatte echt was im Kopf, was sie super rüber zu bringen verstand. Aus den langweiligsten Themen machte sie ein Spektakel.

Galant nahm ich ihr das Feuerzeug aus der Hand und klickte es mit einem Versuch an. Frau Schmidt atmete hilflos aus und zündete sich die Zigarette an.

„Danke. Eigentlich hatte ich ja aufgehört, aber immer wenn ich aufgeregt bin, kann ich’s einfach nicht lassen.“

„So wie Fingernägel kauen?“

Sie kicherte.

„Ja, so in der Art. Aber sagen sie mal, was führt sie in diese Gegend? Sagen sie bloß, sie haben ihre Liebe zur klassischen Musik gefunden?“

„Beim Himmel nein“, lachte ich. „Maike arbeitet hier. Ich hol sie nur ab.“

„Meinen sie unsere schlaue Medizinstudentin? Respekt, dass sie nebenher noch arbeiten geht.“

Erwähnte ich schon, dass Maike absolut gut in ihrem Fach und deswegen an der ganzen Uni bekannt war?

„Da haben sie Recht. Ich würde ja gerne ihrem Vorbild folgen, doch irgendwie habe ich bisher nichts Passendes für mich gefunden.“

Die Professorin fing an mich interessiert von der Seite her zu mustern.

„Aber das Geld könnten sie schon gebrauchen, was?“

„Wer nicht?“

„Vielleicht hätte ich da was für sie.“

Verwundert schaute ich sie an.

„Es ist so, dass mir bei der letzten Konferenz mein Kollege, Professor Regner, ständig in den Ohren lag, weil sie angeblich so ein kleines Mathegenie wären, aber er sie einfach nicht in seinen Kurs überreden konnte. Sie hatten ihn im letzten allgemeinen Test wohl ganz schön beeindruckt.“

Sie ließ ihre Worte ein paar Sekunden auf mich wirken bevor sie weiter sprach.

„Naja, mein Sohn schließt gerade die zehnte Klasse ab. Er hat ein paar Probleme mit Mathe. Nur stehen demnächst Prüfungen an und da er im Anschluss vielleicht noch die Fachhochschule besuchen möchte, benötigt er ein gutes Abschlusszeugnis. Sie sehen, es ist enorm wichtig, dass er nicht zurückfällt.“

„Also soll ich dem kleinen Rabauken Nachhilfe in Mathe geben?!“, schlussfolgerte ich ihre Erklärungen, worauf sie nickte.

„Mindestens drei Mal die Woche je drei Stunden. Natürlich bezahlt. Ich würde sagen, zehn Euro die Stunde?“

Hm, das klang wirklich gut. Mathe war mir in die Wiege gelegt, also brauchte ich mich für diesen Job noch nicht mal groß anstrengen.

„Zwanzig Euro und ich mach‘s.“

Frau Schmidt schaute mich erst groß an, weil ich mir doch echt erdreistete, die Entlohnung zu verdoppeln. Doch dann stahl sich ein kleines Grinsen auf ihre wohlgeformten Lippen.

„Zwölf Euro.“

„Achtzehn.“

„Fünfzehn.“

„Abgemacht!“ Beide schlugen wir auf unseren ‚Pakt‘ ein.

„Sie sind mir ja vielleicht ein hartnäckiger Verhandlungspartner“, lachte meine Professorin.

„Ich bin nur ein armer Student. Die professionellen Lehrer wären außerdem bestimmt doppelt so teuer“, scherzte ich, worauf sie nur abwinkte.

„Das auch. Aber mein kleiner Schatz kommt mit denen nicht klar. Vielleicht passt jemand jüngeres besser.“

Ich wollte schon fragen, wo genau seine Probleme lagen (mal davon abgesehen – wer weiß mit was für einem gestörten Kind ich es zu tun bekam), als ich meinen Namen rufen hörte. An der Ecke zur Gasse stand Maike und kam nun auf uns zu.

„Hier steckst du. Ich hab schon gedacht, du hättest mich sitzen lassen“, sagte sie vorwurfsvoll. „Oh, hallo Frau Professor Schmidt.“

„Hallo Maike. Okay Thilo. Hier ist meine Adresse. Ich würde sagen morgen 15 Uhr? Zwar muss ich dann gleich wieder weg zu einer Besprechung, aber mein Sohn ist ein kleiner Engel. Sie werden schon allein mit ihm klar kommen.“ Sie gab mir ihre Visitenkarte und verabschiedete sich von uns. Meine Professorin schnippte ihre Zigarette in den nächsten Gullydeckel und war dann in dem Seiteneingang des Hauses verschwunden, aus dem ich Maike abgeholt hatte.

Natürlich gab meine Freundin nicht eher Ruhe, bis ich ihr bis ins kleinste Detail erzählt hatte, was zwischen mir und Frau Schmidt vorgefallen war.

„Da erhofft sich wohl einer bessere Noten“, lachte sie als ich fertig war. Währenddessen spazierten wir Richtung Stadtzentrum, wo die Geschäfte bis 22 Uhr offen hatten.

Ich knuffte ihr nur in die Seite, womit das Thema vorerst beendet war, denn Maike hatte den ersten Klamottenladen entdeckt. Es sollten noch viiiiiiele mehr folgen. Frauen waren echt schlimm, wenn es ums shoppen ging. Zu diesem Marathonlauf hätte ich mich freiwillig nie überreden lassen, doch ein megagroßes Sandwich von Subway mit zwölf Stück von den leckeren Cookies mit Schokostückchen hatte als Bestechung gereicht.

Blöder – oder aus ihrer Sicht schlauer – weise gab es die Belohnung erst ganz am Schluss. Da war ich schon froh, dass wir nach einer halben Stunde das passende Kleid gefunden hatten, mussten dazu natürlich noch die passenden Schuhe her, der passende Haarschmuck, Kette, Armband, Ring, Tasche, Strapse, Unterwäsche. Gut, letzteres fand ich schon wieder lustig – und nein, das hat sie nicht anprobiert und mir vorgeführt. 😉

Selbst am nächsten Morgen taten mir noch meine Füße weh und ich fühlte mich schlapp. Okay, ein wenig lag es auch an meinem nächtlichen Traum, weswegen ich mich nicht ganz auf der Höhe befand. Die kalten Augen und der starre Blick des jungen Pianisten hatten mich bis in den Morgen verfolgt.

Den Tag hatte ich mehr schlecht als Recht mit meinem Studium über die Runden gebracht. Nun war es kurz vor 15 Uhr. Ich stand vor der Wohnung meiner Chemieprofessorin und betätigte die Klingel.

„Oh, sie sind pünktlich. Fein, fein. Kommen sie erstmal rein“, begrüße mich Frau Schmidt und ich betrat den großen Flur der Eigentumswohnung.

Obwohl groß bei weitem untertrieben war. Der war riesig! Gleich neben der Tür machte er einen kleinen Knick und verlief nach hinten weiter, wo ich das Ende nicht sehen konnte. Nach vorne ging es bestimmt noch gute zehn Meter weiter und endete an einer Tür. Die Decke war über und über mit Stuck bedeckt und zu den Seiten gingen meist große Flügeltüren ab.

„Geradeaus liegt das Zimmer von meinem Sohn. Er weiß schon Bescheid“, holte mich meine Professorin aus meinem Erstaunen, während sie sich hektisch ein paar Ohrringe ansteckte und in ihre Pumps schlüpfte. „Ihr Geld liegt dort auf der Kommode. Sie können mir ja morgen sagen, ob sie Lust haben weiter zu unterrichten oder nicht. So, ich muss los. Bin schon spät dran. Na dann. Viel Spaß“, verabschiedete sie sich und verschwand aus der Tür.

„Den werd ich haben“, meinte ich leise zu mir selbst.

Meine Güte, ich fühlte mich total allein gelassen auf diesem ‚Flur‘. Ich atmete tief durch und ging dann auf das Zimmer meines neuen Schülers zu. ‚Okay, drei mal sechs ist achtzehn, a² + b² = c² und der Kotangens eines Winkels ist gleich dem Längenverhältnis von Ankathete zur Gegenkathete. Jupp. Ich hab‘s noch drauf.‘ Gestärkt von diesen Gedanken klopfte ich an die Tür des Jungen. Als sich nach einem zweiten Klopfen drinnen immer noch nichts rührte, machte ich die Tür langsam auf und trat ein Stück ein.

Das Zimmer war ziemlich dunkel eingerichtet. Gothicposter hingen an den Wänden, schwarze Möbel, Kerzen. Dann drehte ich mich nach rechts. Dort saß jemand an einem Rechner mit dem Rücken zu mir gewandt, dessen Monitor der einzige Lichtspender hier drinnen war. Er hatte über beide Ohren große Kopfhörer und wippte mit seinem Oberkörper zu einem Takt. Jetzt wusste ich erstmal, warum er mich nicht gehört hatte.

Ich wollte gerade auf ihn zugehen, um mich bemerkbar zu machen, als er mit seinem Stuhl zurück rollte, sich etwas zur Seite drehte und nach dem Regal griff, welches rechts von mir an der Wand stand. Er war mindestens genauso erschrocken wie ich, denn ich stolperte zwei Schritte nach hinten und er sprang von seinem Stuhl auf. Dabei riss er das Kabel der Kopfhörer aus seiner Anlage und laute Musik von Beseech dröhnte mit einem Mal durch den Raum.

Mit klopfendem Herzen und angehaltenen Atmen blickte ich in türkisfarbene, kalte Augen. ‚Moment mal. War das nicht der Pianist von gestern?‘ Die gleiche unheimliche Aura umgab ihn, ließ mich frösteln. Seine schwarzen Haare hatte er zu kleinen Stacheln nach oben gegelt, aus seinen vollen Lippen ragte rechts ein Piercing. Er trug ein kurzärmeliges, schwarzes Hemd, welches ihm bis kurz über die Hüfte reichte und vorne nicht zugeknöpft war. Ich hatte also einen freien Blick auf seinen flachen Oberkörper, sein Brustpiercing, seinen Bauch, wo ich ein leichtes Spiel der Muskeln erkennen konnte. Eine lockere schwarze Hose umschloss seine schmalen Hüften und Beine und er war barfuß. Wieder schossen kleine Blitze durch meinen Körper und ließen meine Haut wie unter Strom kribbeln.

„Bist du langsam fertig?“, fragte er mich gelangweilt und sah mich gefühllos an. Nur schwer schaffte ich es, meinen Mund zuzuklappen und schaute ihn verwirrt an.

„Ob du noch lange brauchst, mich anzustarren? Kannst auch gerne nen Foto haben. So für zu Hause“, redete er weiter, drehte sich ein Stück um und schaltete die Musik ab.

Ein wenig versetzt kapierte ich, was er da gerade genau gesagt hatte und was es bedeutete. Meine Wangen brannten heiß auf und ich wäre am liebsten im Boden versunken vor Scham. Scheiße – das letzte Mal als ich verlegen rot angelaufen war, war vor fünf Jahren, als ein Mädchen direkt anbot, mir einen zu blasen. Nun stand ich da mit meinen zwanzig Jahren und fühlte mich wieder wie ein Teenager in der Pubertät.

Der Junge warf sich in seinen großen Ledersessel und klickte an seinem PC rum. Mit wackligen Beinen setzte ich mich daneben auf einen kleineren, ledernen Hocker mit Rollen.

„Sorry, ich hatte nur gerade ein Déjà-vu. Gestern hab ich im kleinen Opernhaus einen Pianisten gesehen, der dir übel ähnlich sah“, versuchte ich mich zu erklären.

Mein neuer Schüler schaute mich mit einer hochgezogenen Braue an, sah kurz zur Seite und dann wieder zu mir. Verwundert folgte ich seinem Blick und erspähte schräg gegenüber der Tür an der Wand stehend ein großes Keyboard. Wieso war es hier drin auch alles so dunkel? Das war das zweite Mal an diesem Tag, dass meine Wangen aufbrannten und jedes Mal spürte ich, dass sie heißer wurden.

„Dann warst du das wirklich?“, schlussfolgerte ich unnütz, worauf mein Gegenüber nur erhaben nickte. „Jetzt weiß ich auch, warum deine Mom dort war. Du kannst übrigens richtig gut spielen. Ich war ehrlich beeindruckt.“

„Dort hat sie dich also aufgegabelt“, erwiderte er, schnaubte abfällig und schüttelte seinen hübschen Kopf. „Dieses lügnerische Geheuchel kannst du übrigens lassen.“

Ich zog meine Stirn kraus.

„Wie meinst du das jetzt?“

„So, wie ich es gesagt habe. Du standest die ganze Zeit gelangweilt am Eingang rum und hast zum Schluss noch nicht einmal die Muße gehabt, zu applaudieren. Weißt du, das macht man normalerweise am Ende eines Konzertes, wenn es einem gefallen hat. Du hast dich jedoch keinen Zentimeter bewegt. Konntest mich nur blöde angaffen. Genau wie vorhin.“

Moment Mal, was bildete sich dieser kleine Scheißer eigentlich ein? Der hatte doch überhaupt keine Ahnung, wie ich meiner Begeisterung Ausdruck verleihe. Der kannte mich gar nicht! Bei dem ganzen Gequatsche hatte der mich noch nicht mal angeschaut, nur weiterhin mit der Maus des PCs rumgeklickt. Ich war echt sauer.

„Vielleicht war ich ja so überwältigt, dass ich zu keiner Bewegung fähig war“, blaffte ich ihn an. Er drehte seinen Kopf zu mir und legte seine Stirn in Falten.

„Das glaube ich dir aber nicht.“

„Das ist mir scheiß egal“, sagte ich ruhiger, worauf der Junge mich seltsam anschaute. Anscheinend wusste er jetzt nicht wirklich, wie er das auffassen sollte. Mir ging‘s sonst wo vorbei, was er von mir dachte. Ich war hier, um ihm Mathe beizubringen und nicht mich mit ihm anzufreunden.

„Mach langsam den Rechner aus und gib mir deine Mathebücher. Ich muss mir noch einen Überblick verschaffen, was gerade behandelt wird“, lenkte ich auf das eigentliche Thema um.

Mein Schüler zog eine Schnute, griff nach dem dicken Buch, welches neben ihm lag und warf (ja warf!) es mir in den Schoß. Hätte ich es nicht rechtzeitig aufgefangen, hätte es böse geendet. Ich biss mir auf die Zunge und verkniff mir jeglichen Kommentar.

„Sagst du mir noch auf welcher Seite ihr gerade seid?“, fragte ich so neutral wie nur möglich.

„Man, woher soll ich das denn wissen?!“, maulte er genervt, machte aber nicht mal anstalten, im Buch nachzusehen. Sein Verhalten ging mir tierisch auf die Nerven.

„Könntest du vielleicht gnädiger weise mal nachschauen?!“

„Könnte ich. Vielleicht. Wenn ich denn gnädig wäre.“

Bei mir brannten die Sicherungen durch. Auf so einen Scheiß hatte ich echt keine Lust. Ich knallte das Buch auf den Tisch, riss seinen Stuhl zu mir herum, stemmte beide Hände auf die Armlehnen und sah ihm tief in die Augen.

„Diese Kinderkacke kannst du bei jemand anderem abziehen, aber ich habe darauf absolut keinen Bock. Du wirst jetzt deinen beschissenen PC ausmachen, dir nen karierten Block und einen Stift nehmen und mit mir lernen. Kapiert!“, zischte ich wütend.

Der Kleine schaute mich aus großen Augen erschrocken an. Sein Atem ging etwas schneller und jeder Hauch, der meine Wange streifte, verursachte ein wohliges Kribbeln in meiner Magengegend.

„Von mir aus“, sagte er nun kleinlaut und wich meinem Blick aus. Ich verharrte vielleicht noch drei, vier Sekunden in dieser Position, bis ich mich schwer zurück auf meinen Hocker fallen ließ.

Ohne weitere Widerworte schaltete er das Deckenlicht ein, machte den PC aus und zeigte mir, was er üben musste. So saßen wir gut eineinhalb Stunden da und büffelten zusammen Mathe. Eigentlich fand ich den Stoff recht einfach, aber mir lag dieser Mist ja auch. Mein Schüler hörte mir aufmerksam zu und versuchte wirklich alles zu begreifen. Leider dachte er immer aus einer komplett anderen Richtung wie ich, weswegen wir anfangs oft aneinander vorbei redeten. Er war auch nicht dumm was dieses Fach betraf. Er brauchte halt nur eine Erklärung länger. Nachdem wir gut die Hälfte der Zeit weg hatten, streckte ich mich wohlig, dass man ein paar Knochen knacken hörte.

„Was hältst du von einer kleinen Pause?“, bot ich ihm an.

„Sehr viel. Ich geh mir mal was zu trinken holen. Magst du auch was?“

Wow. Er konnte also auch nett sein.

„Gerne. Ist egal was, Hauptsache kein Wasser oder so nen gesundes Multivitaminzeugs.“

Seine Mundwinkel zucken etwas, dann stand er auf und ging zur Tür.

„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“ Mir fiel erst jetzt auf, dass ich noch nicht mal seinen Namen kannte. Er wandte sich wieder zu mir um und schaute mich seltsam an.

„Lys“, antwortete er leise.

„Lys?“ Ich war mir echt nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.

„Eigentlich Lysander, aber Lys reicht.“

„Okay. Ich bin Thilo.“

Jetzt lächelte er wirklich und nickte mir leicht zu. Dann verschwand er aus dem Zimmer. Ich atmete erstmal tief durch. Der Kleine hatte mich ganz schön aus dem Konzept gebracht. Vor allem gerade eben. Ich meine, wenn er eine Schnute zog oder seine Augen zusammen kniff, wenn er sich konzentrierte, dass sah schon unheimlich niedlich aus. Aber als er eben lächelte… Wow. Mein Herz hatte drei Purzelbäume auf einmal geschlagen.

Mo… Moment mal. Was dachte ich da eigentlich? Dieser ‚Lausebengel‘ mit seiner viel zu großen Klappe gefiel mir doch nicht wirklich. War das jetzt der endgültige Beweis, dass ich echt… schwul war? Wieso passiert auch immer mir so ein Scheiß?!

„Hey! Dein Glas!“

Ich war so dermaßen in Gedanken, dass ich nicht bemerkt hatte, wie Lys zurück ins Zimmer gekommen war und mir mindestens schon eine halbe Minute ein Glas Fanta unter die Nase hielt. Genialer weise war ich dermaßen erschrocken, dass ich aufsprang, auf einer Rolle des Hockers ausrutschte und mit wild fuchtelnden Armen nach hinten auf meinen Hintern fiel. Dabei stieß ich mir so übel meinen Kopf an das dahinter stehende Regal, dass ich für ein paar Sekunden Sterne sah.

Als ich wieder einigermaßen klar sehen konnte, erkannte ich einen genervt drein schauenden Lysander. Bei meinem Rumgehample hatte ich ihm wohl fast ein Glas aus der Hand geschlagen, dessen Inhalt sich breitflächig über seinen Oberkörper verteilt hatte. Kopfschüttelnd stellte er beide Gläser ab, zog dann komplett sein Hemd aus, trocknete sich damit ab und tupfte die wenige Fanta vom Teppich.

„Du bist total tollpatschig, weißt du das?“, tadelte der Junge mich ruhig und schmiss sein Hemd in eine Wäschebox.

„Tschuldige“, sagte diesmal ich recht kleinlaut und betastete vorsichtig meinen Hinterkopf.

„Was solls“, winkte er ab. „Sei bloß froh, dass die CDs hier nicht aus dem Regal geflogen sind.“

Lys stellte sich ziemlich dicht vor mir auf Zehenspitzen und schob die CDs wieder ganz zurück in das Regal, die durch die Erschütterung nach vorne gerutscht waren. Dass ich bei dieser Aktion sein bestes Stück genau vor meiner Nase hatte, störte ihn anscheinend weniger.

„Ja, da habe ich wohl echt Glück gehabt. So eine spitze CD-Hülle kann richtig weh tun“, stotterte ich stattdessen.

„So meinte ich das nicht. Diese CDs hier sind mir heilig. Ein Kratzer und du wärst tot.“ In diesem ruhigen Ton, wie er das sagte, merkte ich erst drei Sekunden später, wie bissig er das wirklich meinte.

„Oh, wie liebenswürdig. Mach dir mal nicht so viele Gedanken um meine Gesundheit“, zickte ich schwach. Das ganze hatte echt wehgetan!

„Mach ich nicht, keine Sorge.“

„Stimmt, so viel Mitgefühl hätte ich dir auch nicht zugetraut“, grummelnd rappelte ich mich auf und ließ mich auf den Hocker fallen. „Du bis echt ein kleiner Giftpilz, weißt du das?“

Lys saß wieder in seinem Bürostuhl und grinste mich bei meinen letzten Worten breit an.

„Das merkst du jetzt erst?“

Nun musste auch ich lächeln. Beide hängten wir uns wieder zusammen über die Matheaufgaben und genossen die übrig gebliebene Fanta aus dem gleichen Glas. Das einzige, was mich ein wenig nervös machte, war der freie Oberkörper meines Schülers, der regelrecht danach schrie, von mir berührt zu werden.

Mal davon abgesehen, dass ich mich ein paar mal dabei ertappte, sein Brustpiercing anzustarren, wobei – wenn ich es denn bemerkte – meine Wangen heiß aufglühten und ich Schwierigkeiten hatte, wieder in den Stoff rein zu finden, den wir gerade büffelten. Ich betete nur, dass Lys nichts bemerkte.

Zum Schluss hatten wir die drei Stunden doch noch ganz gut rumgekriegt und relativ viel geschafft. Ich stand wieder vor der Haustür und zog mir meine Schuhe an, wobei Lysander mir an den Türrahmen gelehnt zuschaute.

„Du bist echt ein komischer Typ“, fing er an.

„Das sagst gerade du“, gab ich zurück.

„Mich hat noch nie jemand angeschnauzt und ist so einfach davon gekommen“, redete er weiter.

„Oh, dann kann ich mir wohl jetzt was drauf einbilden?“, fragte ich grinsend und band mir den zweiten Schuh zu. Dann stand ich auf und packte den Umschlag mit meinem verdienten Geld weg, den mir mein Schüler reichte.

„Eher auf deinen Hintern. Wäre der nicht so klein und knackig, hätte ich dir ein paar rein gehauen. Also dann, wir sehen uns morgen“, sprachs und machte vor meiner Nase die Tür zu.

Ich stand noch gut zwei Minuten vor der geschlossenen Wohnungstür und starrte diese mit offenem Mund an. ‚Nein. Den letzten Satz hab ich mir nur eingebildet. Genau. Das wird’s sein. Ganz sicher.‘ Mit wackligen Beinen stieg ich die Treppen runter und ging nach Hause. Im Studentenwohnheim angekommen hängte ich mich noch ein wenig über mein Studium, räumte mein Zimmer auf, wusch meine dreckigen Klamotten im Waschsalon und versuchte mindestens zehn Mal Maike zu erreichen. Scheiße, war ich durcheinander und das alles wegen so einem… Kind!

Ich versuchte alles um mich irgendwie abzulenken, doch am Ende schweiften meine Gedanken wieder zu Lys, seinem süßen Mund, seinen zarten Oberkörper mit diesem sexy Brustpiercing… Shit!!! Was dachte ich da eigentlich?! Erneut versuchte ich Maike anzurufen, doch wieder ging sie nicht an ihr Handy. Man, ich musste dringend mit jemandem darüber reden. Klar, ich hatte noch ein paar andere Freunde, aber mit denen konnte ich unmöglich über SOWAS sprechen. Wenn ich schon mein Gefühlschaos preisgeben sollte, dann nur gegenüber meiner besten Freundin.

Genervt holte ich meine Wäsche aus dem Trockner, packte sie einigermaßen ordentlich in meine große Reisetasche und trabte zurück ins Wohnheim. Am nächsten Morgen verpasste ich prompt die erste Lesung. Mitten im Halbschlaf musste ich wohl meinen Wecker ausgeschaltet haben, weswegen ich total verpennt hatte. Das kam halt davon, wenn man des Nachts von türkisfarbenen Augen verfolgt wurde und ein gepiercter Körper sich wollüstig an den eigenen presste. Von den anderen Lesungen bekam ich kaum was mit. Zwar versuchte ich krampfhaft wach zu bleiben, trotzdem nickte ich immer wieder ein – zum Ärgernis meiner Professoren.

Punkt 15 Uhr stand ich vor der Tür meines (Alp-???) Traumes und betätigte die Klingel. Nur passierte gut zwei Minuten gar nichts. Erst beim zweiten Mal Leuten und längerem Drücken, hörte ich drinnen jemand rumstolpern und gedämpft „Ja man, bin ja schon da“ nörgeln. Als dann die Wohnungstür aufschwang, verschlug es mir für Sekunden die Sprache.

Im Rahmen stand ein total verschlafen ausschauender Lysander mit verwuschelten Haaren, Schlafabdrücke auf der Haut und nur in Boxershorts! Gott sah das widerlich niedlich aus und – was mich am meisten erschreckte – verdammt sexy.

„Scheiße bist du pünktlich“, meinte er, drehte sich um und ging auf sein Zimmer zu. Ich versuchte in der Zeit mein armes kleines Herz zu beruhigen, welches wie blöde gegen meine Brust trommelte.

„Du solltest nicht so viel fluchen“, quasselte ich, während ich mir meine Schuhe auszog, um meiner Gedanken wieder Herr zu werden.

„Ja ich weiß, sonst geht meine Bildung in Arsch“, kam lahm von ihm zurück.

Als ich in sein Zimmer eintrat, knöpfte er sich gerade seine Hose zu und setzte sich müde auf sein Bett.

„Mensch, hier drin kann man ja kaum was sehen“, stellte ich fest und suchte nach dem Schalter für die Außenjalousien.

„Helligkeit vertrag ich momentan noch nicht“, gähnte Lys und ließ sich mit dem Rücken auf seine weiche Matratze fallen.

„Ehrlich gesagt ist mir das egal“, erwiderte ich und betätigte mit einem kleinen, bösen Grinsen den Schalter.

Brummend setzte sich die Anlage in Bewegung und ließ Stück für Stück die Sonne in den Raum. Lys meckerte etwas genervt und presste sich ein Kissen aufs Gesicht.

„Komm schon, nur drei Stunden, dann kannst du wieder weiter pennen“, sagte ich und stupste mit meinem Fuß an seinen.

Mein Schüler allerdings zeigte mir nur seinen Mittelfinger. Man, macht der jetzt jedes Mal so ein Theater? Ich stützte mein Knie auf den Rand des Bettes und lehnte mich soweit vor, dass ich ihm sein Kissen aus den Händen klauen konnte. Lys stöhnte wegen der plötzlichen Helligkeit auf und funkelte mich dann wütend an.

Ich wollte gerade Luft holen, um ihm irgendwas Blödes an den Kopf zu werfen, da beugte er sich blitzschnell vor, griff nach meinem Arm und zog mich mit einem Ruck auf das Bett. Noch ehe ich reagieren konnte, saß er auf mir drauf und presste meinen Rücken auf die Matratze, meine Arme an den Handgelenken festhaltend. Sein Gesicht kam dem meinen soweit nahe, dass ich fast glaubte, seine Nasenspitze zu berühren.

„Niemand schreibt mir vor, was ich zu tun oder lassen habe!“, zischte mein Schüler giftig, doch ich ließ mich davon nicht beeindrucken.

„Außer mir!“, erwiderte ich deshalb.

Seine türkisfarbenen Augen bohrten sich tief in mein Innerstes und verursachten ein wohliges Kribbeln, nicht nur in meiner Magengegend. Gott, wie lange wollte er denn noch auf meiner Hüfte sitzen bleiben? Das letzte was ich wollte war, dass er bemerkte, wie sehr mich diese Situation antörnte. Dann kamen mit einem Mal seine Lippen den meinen immer näher. Ich war davon und von meinem Verlangen, genau dies zu wollen, so dermaßen erschrocken, dass ich Lysander grob von mir weg direkt auf den Teppichboden stieß.

„Was soll der Scheiß?“, schrie ich ihn an und sprang auf. Er sah nur unschuldig zu mir hoch.

„Ich wollte dich küssen“, sagte er ruhig, als wäre das das normalste der Welt.

„Ich bin aber nicht schwul!“, blaffte ich hysterisch, worauf Lys nur wie blöde zu kichern anfing. „Was ist denn auf einmal so lustig?!“, fragte ich angepisst.

„Wenn du nicht auf Kerle stehst, bin ich Mutter Theresa“, giggelte mein Schüler.

„Was soll das denn heißen? Du kennst mich überhaupt nicht!“

„Stimmt ich kenne dich nicht. Aber ich habe Augen im Kopf. So wie du gestern am sabbern warst, als ich neben dir oberkörperfrei gelernt habe…“

„Ich… ich habe nicht gesabbert!“

„Richtig“, stimmte er mir zu, stand auf und kam mit jedem Wort näher. „Du bist total niedlich rot angelaufen und hast verlegen angefangen zu stottern, wenn du dich dabei ertappt hattest, mich anzustarren.“

„Das stimmt nicht“, leugnete ich schwach und lief knallrot an. Scheiße, er hatte es wirklich gestern bemerkt.

Er drängte mich gegen ein hohes CD-Regal und ich blickte ihn aus großen Augen ängstlich an, als wäre ich ein winziger Hase, der vor der bösen Schlange saß. Dabei war Lys einen halben Kopf kleiner als ich! Wieder kamen seinen Lippen meinen näher und wieder bekam ich dermaßen Schiss, dass ich ihn grob von mir wegstieß. Nur diesmal schnappte ich mir meinen Rucksack und stürmte Richtung Tür.

Ich hielt es keine Sekunde länger in diesem Raum aus. Es war alles viel zu verwirrend für mich. Dass ich diesen Jungen absolut heiß fand, dass sich mein Körper nach seinen Berührungen sehnte, dass genau diese mich taumeln ließen, egal wie gering sie waren, als hätte ich irgendein Fieber – das Ganze überforderte mich total.

Ich hatte die Tür schon einen Spalt geöffnet, als sich Lys dagegen warf und sie laut zuknallen ließ. Wütend funkelte ich ihn an, während mein Atem stoßweise meine Brust verließ, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir.

„Es tut mir Leid“, meinte mein Schüler ungewohnt sanft. „Ich wollte dich echt nicht erschrecken oder kränken. Bitte bleib hier.“

Er setzte den schlimmsten Dackelblick auf, den ich je gesehen hatte und ich schmolz dahin. Schwer ließ ich mich auf den Hocker fallen und sah irritiert zu Boden. Meine Beine wollten mich nicht länger tragen und nur mit Mühe unterdrückte ich das Zittern in meinen Händen. Man, ich fühlte mich wie auf Drogenentzug. Vielleicht war ich das auch. Mein ‚Dealer‘ setzte sich erleichtert seufzend in seinen Ledersessel.

„Puh, das war ja echt knapp“, sagte er. Ich schaute ihn mit einem riesigen Fragezeichen im Gesicht an. „Du wärst dann der siebente Lehrer, den ich vergrault hätte.“

„Du hast deine Lehrer angemacht?“, fragte ich ungläubig.

„Ich bin nicht pervers, klar!“, zickte er mich an, doch wurden seine Züge wieder sofort sanfter. „Entweder haben mich meine Lover zu früh abgeholt oder hier“, dabei deutete er mit dem Kopf auf das Bett „auf mich gewartet. Die meisten kamen damit irgendwie nicht ganz klar“, erklärte er mir unschuldig.

„Deine Mom weiß also Bescheid?“

„Natürlich. Sie ist meine Mutter. Glücklicherweise hat sie damit kein Problem. Ich darf nur keine Freunde mehr mitbringen, wenn ich Nachhilfe habe. Wegen den Paukern macht sie mir echt Stress.“

„Deswegen hast du mich aufgehalten.“

„Nicht nur“, wieder sah er mich viel sagend an, was mir einen warmen Schauder durch den gesamten Körper jagte.

„Ich hab kein Interesse“, sagte ich trotzig, meinte in Wirklichkeit aber genau das Gegenteil. Nur wollte ich ihm das bestimmt nicht auf die Nase binden, geschweige denn mir selbst eingestehen.

„Ja ja, ich weiß – leider“, stöhnte Lys enttäuscht und kramte seine Mathesachen hervor. Die nächsten zwei Stunden lernten wir sogar richtig brav den Unterrichtsstoff, doch dann fing mein Schüler an zu streiken.

„Ich kann nicht mehr“, quengelte er und legte seinen Kopf auf den Tisch. „Das ist einfach zu viel Input.“

Leider schaffte ich es noch nicht mal ihm zu widersprechen, da ich meine Augen kaum noch offen halten konnte und meine Schläfe an der Stirn nervig pochte.

„Von mir aus. Machen wir für heute Schluss“, gab ich schwach nach. Überrascht blickten mich zwei türkisfarbene Augen an.

„Im Ernst jetzt?“

„Wieso nicht“, zuckte ich mit den Schultern und verkniff mir ein Gähnen.

„Man, du siehst ja wirklich fertig aus. Was hast du denn die ganze Nacht getrieben?“, fragte mich Lys und fast glaubte ich eine gewisse Unsicherheit in seinen Worten raus zu hören – wenn es denn sowas überhaupt bei ihm gab.

„Schlecht geträumt“, wich ich ihm aus und packte mein Zeug ein.

„Ich hoffe doch nicht von mir“, scherzte mein Gegenüber, sprang auf, ging zu seinem großen Kleiderschrank und suchte sich ein ziemlich enges, schwarzes Shirt raus, was ihm kaum über den Bauch reichte.

Ich betete indes inbrünstig, dass er das megalaute Klopfen meines Herzens nicht hörte und auch nicht meine roten Wangen mitbekam. Mit ein paar geschickten Handgriffen hatte er in kurzer Zeit sein großes Keyboard in eine geeignete Tasche verpackt und schulterte diese sich auf.

„Wo willst du denn damit hin?“

„Zur Probe.“

„Steht bald wieder ein Konzert an?“

„Weiß nicht. Dafür müsste ich meine Mom fragen. Sie managt das alles für mich. Ich bin in einer Band. Wir üben so oft es geht in den alten Katakomben der Südstadt. Warte mal.“

Er kramte kurz in einer Schublade, holte dann eine Visitenkarte raus und kritzelte hinten noch was drauf, bevor er sie mir leicht lächelnd reichte. Ich musterte das Stück Papier, wo Werbung für super günstige, schalldichte Übungsräume gemacht wurde und drehte es dann um. Auf der Rückseite prangte in einer geschwungenen Handschrift ‚Lys‘ und eine Telefonnummer.

„Falls du mal Sehnsucht nach mir hast“, kommentierte er, hauchte mir einen Kuss auf die Nasenspitze und war schon aus dem Zimmer verschwunden.

Wie zu Stein erstarrt saß ich da und versuchte gegen diese Ohnmacht anzukämpfen. ‚Wieso reagiert mein Körper so extrem auf seine Berührungen?‘ Um mich herum drehte sich alles und ich musste erst ein paar Mal tief ein- und ausatmen, bevor sich mein Kreislauf wieder beruhigte.

„Thilo? Alles in Ordnung bei dir?“ Mein Schüler war zurück ins Zimmer gekommen und schaute ein wenig besorgt auf mich hinab.

„Nee… ja… Ich brauch nur ne Mütze voll Schlaf.“

Langsam stemmte ich mich hoch und verließ mit Lys zusammen den Raum. Im Flur an einer Kommode hielt ich kurz inne und langte nach dem Briefumschlag, wo mein Geld für heute drin war. Ich wollte schon fünfzehn Euro raus fischen, als mein Schüler mir das Kuvert aus der Hand nahm, alles Geld wieder rein packte und das Ganze in meinen Rucksack stopfte.

„Schau dich mal um. Meine Mom hat genug Kohle. Sieh es einfach als Bonus, dass du dich bisher ganz gut schlägst.“

„Wohl eher als Bestechung, dass ich dich ertragen muss.“

„Von mir aus auch das“, lachte Lysander und war endlich fertig, seine Rangers zu schnüren.

Wie kann man nur solche Schuhe bei dem warmen Wetter draußen tragen? Gemeinsam liefen wir die Treppe hinab und verabschiedeten uns knapp vor dem Hauseingang, da Lys in die entgegengesetzte Richtung musste wie ich. Das alles lief so unspektakulär ab, dass ich mich noch ein zwei Mal umdrehte, in Erwartung irgendeines Blödsinns, bis Lys um die nächste Ecke verschwunden war – ereignislos.

Stimmte mich das etwa melancholisch? Wieso war ich auf einmal enttäuscht? Ich schüttelte meinen Kopf, um diese Beklommenheit loszuwerden, doch sie würde mir noch die nächsten Tage Gesellschaft leisten. Morgen war erstmal Donnerstag, da hatte Lys Klavierunterricht und ich ‚frei‘ – vom Studium abgesehen. Also würde ich ihn erst Freitagnachmittag wieder sehen. Warum machte mich das traurig? Was war eigentlich mit mir los?

Ich kramte in meiner Tasche und suchte mein Handy raus. Das Gespräch mit Maike war schon längst überfällig. Glücklicherweise ging sie dieses Mal ans Telefon und wir verabredeten uns für Donnerstagabend. Im Wohnheim angekommen stieg ich unter die Dusche, um zu entspannen. Doch jedes Mal wenn ich meine Augen schloss, sah ich wieder dieses türkise Leuchten, diese blasse Haut, diese vollen Lippen. In mir staute sich ein Verlangen auf, dem ich nicht länger widerstehen konnte.

Eine halbe Stunde später fiel ich erschöpft, aber um einiges erleichterter auf mein Bett. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr so dermaßen abgegangen, als ich mir selber einen runtergeholt hatte, wie eben. Sollte alles wirklich an diesem Bengel liegen?

Ein paar Mal versuchte ich mich aufzuraffen, um noch was für mein Studium zu tun. Doch nach dem dritten Anlauf kuschelte ich mich einfach unter die dünne Decke und war binnen Sekunden eingeschlafen. Die Nacht verlief relativ ruhig, was größtenteils daran lag, dass dieses Mal meine Träume nicht ganz so heftig waren. Dennoch blieben sie nicht vollkommen aus.

Den nächsten Tag verbrachte ich überwiegend in der Uni oder Bibliothek, um an ein paar Ausarbeitungen zu feilen. Gegen 18 Uhr traf ich mich endlich mit Maike in einem kleinen Café und schilderte ihr meine komplette, verzwickte Situation. Zwar war meine Freundin anfangs überrascht, dass ich mit ihr über etwas Persönliches sprechen wollte, da ich eigentlich nicht der Typ war, der sich bei jeder Gelegenheit irgendwo ausheulte. Doch sie hörte mir stillschweigend zu, bis ich ihr auch wirklich alles erzählt hatte. Dann sah sie mich an, ganz ruhig und genauso ruhig fing sie an zu sprechen.

„Okay. Es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten.“

Erwartungsvoll blickte ich sie an.

„Entweder bist du schwul oder mindestens bi“ Eine kurze Kunstpause folgte. „Oder… oder du bist nur neugierig geworden. Manche nennen das auch ‚Kulturschock‘. Du bist einfach an seiner sexuellen Orientierung interessiert. Meist gibt sich das, wenn dieses Interesse befriedigt wird.“

„Und wie kann man das befriedigen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Küss ihn!“

Eine Weile starrte ich sie mit offenem Mund an.

„Das… das kann ich nicht“, stotterte ich überfordert.

„Wieso nicht? So unterschiedlich ist der männliche zum weiblichen Körper nicht. Mal von kleinen Abweichungen abgesehen.“

„Nein, darum geht’s mir nicht. Nur… als Lys mir gestern einen Kuss auf die Nasenspitze hauchte, war mir so schlecht, dass ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.“

„Darum tippe ich eher auf die erste Variante.“

„Ich bin nicht schwul!“, sagte ich aufgebracht und musste mich zusammenreißen, nicht aufzuspringen.

„Vielleicht bist du bi. Ist doch egal. Ich finde alles in Ordnung. Solange es beide wollen kann doch jeder tun und lassen auf was er Lust hat. Du mein lieber Thilo bist allerdings über beide Ohren verliebt.“

Ich schüttelte nur mit meinem Kopf.

„Wenn dem so wäre, müsste ich da nicht Schmetterlinge im Bauch haben, die ganze Zeit happy sein und alles rosarot sehen? Mir hingegen geht’s beschissen. Ich habe ne Dauerdepri und die Farben, die ich sehe, sind schwarz. Mal davon abgesehen, dass ich fast kotzen muss, wenn Lys mir näher kommt.“

„Das kommt daher, weil du dir die Wahrheit nicht eingestehen willst. In deinem kleinen Kopf schwirrt nur dieses ‚böse‘ Wort schwul umher. Aber wie wäre es, wenn du es mal mit ‚Liebe‘ ersetzt?“

„Wenn sich so Verliebtheit anfühlt weiß ich nicht, ob ich das überhaupt will“, meinte ich trotzig und verschränkte meine Arme vor der Brust wie ein kleiner, bockiger Junge.

Aus ihrem Mund klang das alles so einfach, so klar und durchsichtig. So… so… so normal. Aber das war es nicht! Es war kompliziert, nervig und kurios. Welcher Schönling verliebte sich schon in einen schlaksigen Studenten mit dreckig blonden, dünnen Haaren und rauchgrauen Augen?!

Aber Moment mal. Ob er mich mochte, stand hier ja gar nicht zur Debatte. Klar, er hatte mich ein paar Mal angebaggert, aber auch ziemlich schnell wieder aufgegeben. Machte ich mir gerade echt einen Kopf, ob er mich mögen könnte oder nicht??? Vielleicht war es wirklich nur Neugierde. Aber wieso wurde ich immer rot, sobald ich ihn näher betrachte?

„Mensch Thilo. Selbst wenn du schwul wärst. Wo liegt das Problem? Soweit ich weiß hast du keine Verwandtschaft und seine weiß schon Bescheid. Und falls ein paar Freunde es von dir nicht akzeptieren, können sie dir gestohlen bleiben. Also?“

Maike hatte ja Recht. Das Problem lag einzig und allein bei mir. Klar wollte ich mich neu verlieben, aber eher in jemanden, der mich nicht so einnahm. In jemanden, der mich des Nachts auch mal schlafen ließ und nicht in meinen Träumen umher spukte. Doch gehörte das nicht mit dazu? In meinem Kopf drehte sich alles wie wild und ich fuhr mir mit zittrigen Fingern durch meine Haare.

„Hey“, sanft berührte mich Maike an meiner Wange und streichelte mir kurz über meine Haut. „Du bist ja wirklich fix und fertig. Versuch erst einmal tief durchzuatmen und dich zu beruhigen. Es ist egal, ob du schwul bist oder nicht. Die eigentliche Frage ist doch eher, ob du Lys wirklich magst oder es doch nur Neugierde ist. Lass die nächsten Wochen einfach auf dich zukommen und grübele nicht weiter nach. Lausche deinem Herzen. Hör genau zu. Es wird dir schon den richtigen Weg für dich zeigen.“

Liebevoll redete sie auf mich ein und von Sekunde zu Sekunde wurde ich ruhiger. Sie hatte vollkommen Recht. Und ich war ihr mehr als nur dankbar. Den Tag darauf ging ich regelrecht beschwingt zu Lys. Er war diesmal auf den Unterricht sogar schon vorbereitet und mir war auch nicht mehr so schlecht. Ich hatte immer noch keine Ahnung, ob es wirklich nur ein Kulturschock war oder ich mich in ihn verliebt hatte. Aber ich wollte Maikes Rat befolgen und einfach alles auf mich zukommen lassen.

An diesem Tag war ich echt zufrieden mit meinem Schüler. Er hatte einiges behalten von dem, was ich ihm beigebracht hatte und ackerte die drei Stunden ohne zu murren durch. Nur am Schluss, als er schon seine Sachen weggepackt hatte, sah er mich seltsam an.

„Hab ich irgendwas im Gesicht?“, scherzte ich unwissend.

„Ja hast du. Eine niedliche Stupsnase, intelligente graue Augen und einladende, schmale Lippen.“ Unsicher starrte ich ihn an, wie er eine Hand hob und mir eine Strähne des langen Haares aus dem Gesicht strich. Als seine Fingerspitze meine Wange berührte, brannte diese heiß auf und wieder begann sich alles um mich herum zu drehen.

„Ich mag dich, weißt du“, gestand Lys mir leise und kam mir Stück um Stück näher.

Allerdings steigerte sich bei mir die Panik. Ich dachte wieder an Maikes Worte. ‚Kulturschock‘. Vielleicht musste ich mich wirklich nur von ihm küssen lassen und wenn dann meine Neugierde befriedigt war, würde es mir auch wieder besser gehen. Oder ich entdeckte halt, dass ich mich in Lys total verschossen hatte, konnte mir eingestehen, dass ich schwul war und lebte glücklich und zufrieden bis an mein Lebensende??? Das klang viel zu einfach. Meine Panik überwog, weswegen ich seine Hand in meine nahm und ihn sanft aber bestimmend von mir weg schob.

„Ich glaube, ich hatte mich in dieser Hinsicht deutlich genug ausgedrückt“, sagte ich schwach.

„Deine Körpersprache erzählt mir aber was ganz anderes“, widersprach Lys und wollte mir schon wieder näher rücken. Doch ich stand auf und langte nach meinem Rucksack.

„Ich muss los. Hab heute Abend noch was vor“, wich ich ihm aus und verließ das Zimmer.

„Hast du nicht noch etwas vergessen?“, hielt mich mein Schüler von der Wohnungstür ab und ich drehte mich zu ihm um. Er stand vor der Kommode und hielt den Umschlag mit meinem Geld in der Hand. Nur zögerlich setzte ich mich in Bewegung und wollte ihm dann das Kuvert abnehmen, doch er hielt es fest.

„Wieso läufst du vor mir weg?“, fragte Lysander mich unerwartet vorwurfsvoll.

Ich wollte schon trotzig ‚tu ich gar nicht‘ sagen, aber das wäre glatt weg gelogen. Schließlich stand ich gerade im Flur, keine fünf Minuten später, als der Unterricht aufgehört hatte.

„Ich komme mit deinen Annäherungsversuchen nicht zurecht“, antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß.

„Ich würde nicht versuchen bei dir zu landen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass du auch auf mich stehst.“

„Deine Gefühle irren sich.“

„Das glaube ich nicht. Selbst jetzt wirst du wieder rot.“

„Solche Gespräche zu führen bin ich nicht gewohnt. Wie würdest du denn reagieren, wenn dich eine gute Freundin auf einmal anbaggern würde?“

„Ich würde bestimmt nicht so niedlich stottern wie du.“

„Du bist halt ein Junge. Ich kenne keine anderen Schwulen. Das macht mich nervös.“

Lys begann zu grinsen.

„Okay. Meine offensive Haltung macht dich also nervös. Gut. Dann werde ich mich in Zukunft etwas zurückhalten und das Ganze langsamer angehen.“

„Ich glaube nicht, dass das besser sein wird.“

„Ich glaube das schon. So kannst du dich an mich gewöhnen und deine unbegründete Angst ablegen. Und wenn du keine Angst mehr vor mir hast, lässt du dich auch von mir streicheln.“ Er streckte seine Hand nach mir aus, doch ich schlug sie nur aufgebracht beiseite.

„Was soll das? Sehe ich etwa aus wie ein Hund, oder was?“

„Eher wie ein ruheloser Falke, der ungezähmt wild um sich hackt“, antwortete Lys sanft und blickte mich an, als wäre ich ein Wesen aus einer anderen Welt.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich wagte kaum zu atmen. Seine türkisfarbenen Augen bohrten sich tief in mein Innerstes und machten mich bewegungsunfähig. Langsam kam er mir näher und stellte sich auf die Zehenspitzen, um mit mir auf einer Höhe zu sein. Ich sah nur noch seine Lippen, die sich verlockend den meinen näherten und schloss meine Augen. Doch als ich schon seinen heißen Atem auf meiner Haut spüren konnte, hörte ich, wie jemand die Wohnungstür aufschloss. Panisch riss ich meine Augen auf und machte einen Satz nach hinten.

„Oh, hallo Thilo. Sie sind ja noch da“, begrüßte mich meine Professorin.

„Ja, aber gerade auf dem Sprung“, grüßte ich zurück und nahm Lys den Briefumschlag aus der Hand.

„Wenn sie einmal da sind, wie läuft es denn so?“, fragte Frau Schmidt interessiert und zog sich nebenher die Schuhe aus. Gott sei Dank, sonst hätte sie meinen ängstlichen und Lys‘ anzüglichen Blick gesehen.

„Ich habe das Gefühl, dass wir gut voran kommen“, antwortete ich nervös.

„Oh, das denke ich auch“, pflichtete mein Schüler mir bei, jedoch meinte er komplett etwas anderes als ich.

„Schön zu hören, dass sie sich so gut vertragen“, sagte die Professorin und stellte ihre Aktentasche auf die Sitzbank neben der Kommode. „Mit anderen Lehrern kam mein Sohn nicht so gut zurecht.“

„Davon habe ich schon gehört.“

Überrascht schaute Frau Schmidt auf und zwischen mir und ihrem Sprössling hin und her. Dann stahl sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen.

„Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Mein kleiner Schatz plaudert doch sonst nicht so aus dem Nähkästchen“, sagte sie und richtete den Kragen von Lysanders Hemd.

„Thilo ist schon okay“, meinte dieser.

„Na da will ich mal nicht widersprechen“, lachte sie nun. Ich räusperte mich nur verlegen.

„Also. Ich mach dann mal los. Schönes Wochenende ihnen. Wir sehen uns ja am Montag wieder“, verabschiedete ich mich und steuerte auf die Wohnungstür zu.

„Und wir uns am Dienstag“, rief mir mein Schüler hinterher.

Meine Hand verharrte augenblicklich auf der Türklinke. Dienstag – etwas mehr als drei Tage. Erst dann sollte ich ihn wieder sehen? Einerseits war ich froh, wenn die drei Stunden vorbei waren, die ich mit Lys verbringen musste, andererseits sehnte ich diese Stunden regelrecht herbei.

„Ja… Dienstag“, stotterte ich und verschwand aus der Wohnung, ohne mich ein letztes Mal umzudrehen.

Schnell hatte ich mir meine Turnschuhe angezogen und lief die Treppen hinab. Raus an die warme und doch frische Luft. Dort angekommen atmete ich tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Er hatte mich wirklich fast geküsst und ich mich nicht dagegen gewehrt. War das wirklich richtig gewesen? Ich horchte in mich hinein, lauschte auf mein Herz, wie Maike mir geraten hatte.

Egal wie sehr ich mich auch konzentrierte, ich spürte einzig und allein ein warmes Pulsieren, welches nach und nach meinen ganzen Körper ausfüllte. War das Liebe? Oder doch nur ein Echo des Schocks, als ich den Schlüssel im Schloss hörte und bemerkte, was genau ich gerade im Begriff war zu tun? War es nur dieses Adrenalin, das noch immer durch meine Adern schoss?

Wie auch immer. Ich würde das tun, zu was mir Maike geraten hatte und abwarten. Einfach alles auf mich zukommen lassen. Ein wenig erleichterter, aber vor allem viel ruhiger verbrachte ich mein Wochenende. Ich ging mit Freunden weg, schlief lange, genoss das geniale Wetter im Freien mit einem guten Buch. Ja, man könnte sagen, ich fühlte mich wohl und ausgeglichen.

Die nächsten drei Wochen vergingen wie im Flug und auch relativ ereignislos. In Lys‘ Gegenwart entspannte ich mich immer mehr und begann diese kleinen ‚unbeabsichtigten‘ Berührungen, wenn ich ihm zum Beispiel einen Stift reichte, zu genießen. Diese verhaltenen Blicke, die er mir zuwarf, fingen an mir zu gefallen, ohne dass ich es wirklich schnallte. Mein Schüler hatte auch nicht mehr versucht, sich an mich ranzuschmeißen. Keine Ahnung, ob mich das beruhigen oder nachdenklich stimmen sollte.

*-*-*

Es war ein Dienstag, als ich fast schon euphorisch 15 Uhr vor der Tür meines Schülers stand. Nur machte mir wieder mal keiner auf. Auch nach dem dritten und vierten Klingeln passierte nichts. Hatte ich schon erwähnt, dass ich warten hasse? Und Unpünktlichkeit und versetzt werden…

Genervt und ziemlich sauer holte ich mein Handy aus der Seitentasche meiner Hose. Dabei kam die Visitenkarte zum Vorschein, die mir Lys mal in die Hand gedrückt hatte mit seiner Nummer. Ich versuchte mein Glück und klingelte bei meinem Schüler durch. Allerdings nahm keiner ab und auf die Mailbox zu quatschen hatte ich echt keinen Bock.

‚Was bildet der sich eigentlich ein? Er wusste genau, dass wir um diese Zeit zusammen lernten. Oder hatte Lys einfach keine Lust mehr? Okay, wer hatte schon Lust zu pauken, aber mir ging es um mich. Wollte er sich etwa nicht mehr mit mir treffen? War ich ihm zu langweilig geworden? ‘ Meine eigenen Gedanken verwirrten mich mehr und mehr.

Ich drehte die Visitenkarte zwischen meinen Fingern und bemerkte die Adresse, die dort gedruckt stand. Sein Proberaum. Vielleicht war er ja dort? Mit einer Mischung aus Unsicherheit und Wut machte ich mich auf den Weg. Die Straße war gute zehn Minuten von Lys‘ Wohnung entfernt und als ich die passende Hausnummer gefunden hatte, blieb ich ein paar Sekunden verwundert vor dem Gebäude stehen.

Von außen sah das Mehrfamilienhaus recht nobel aus. Heller Anstrich, große, verglaste Balkons, Bogenfenster. Nur ein kleines, goldenes Schild an der Wand neben dem Eingang wies dezent auf die zu mietenden Kellerräume hin. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend betrat ich das Gebäude.

Selbst von Innen sah es vornehm aus. Links und rechts ging ganz normal eine Wohnung ab, geradeaus führte jeweils eine Treppe nach oben und eine nach unten. Ich nahm die Letztere und blieb nach dem zweiten Absatz vor einer glatt polierten Stahltür stehen. An dieser hing wieder ein ganz schlichtes Schild mit der Aufschrift „Zu den Proberäumen“.

Die Tür ließ sich ziemlich schwer öffnen und ein leichter Modergeruch stieg mir in die Nase, als ich die Katakomben betrat. Die Wände bestanden aus unverputztem Stein, trotzdem war alles sehr sauber. Eine gute halbe Minute lief ich hinab und je weiter ich ging, desto deutlicher hörte ich die Musik. Unten angekommen führte ein schmaler Gang weit geradeaus und zu beiden Seiten gingen Türen ab, an denen große, blecherne Zahlen befestigt waren.

Nur gedämpft hörte ich hier wildes Schlagzeuggetrommel, dort Gänsehautmäßiges Gekreische. Keine Ahnung, warum ich gerade vor der Tür Nummer sieben stehen blieb. Es könnte an den Klängen liegen, die dort hinaus drangen und mich sehr an ‚Beseech‘ erinnerten. Langsam öffnete ich sie und steckte meinen Kopf hinein. Mir verschlug es augenblicklich die Sprache. Wie apathisch schob sich der Rest meines Körpers in den Raum und ich starrte mit offenem Mund die Musiker an, die hier spielten.

Es waren vier Leute, die seitlich vor mir standen. Hinten links schlug ein junges Mädchen mit grünen Haaren wild auf ein Schlagzeug ein. Geradeaus stand ein Typ mit langen, wasserstoffblonden Haaren und Piercing in der Unterlippe mit einer E-Gitarre und streichelte leidenschaftlich ihre Saiten. Rechts hinten erkannte ich ein Stück eines anderen Mädchens mit schwarzen Haaren und roten Strähnen, die auch eine Gitarre in ihren Armen hielt und das Mirko vor sich mit wohligen Tönen beglückte. Rechts vorne stand nun er. Lysander. Sein Keyboard vor sich aufgebaut, liebkoste er die Tasten mit seinen schlanken Fingern und holte die schönsten Klänge hervor.

Mein Herz klopfte so dermaßen gegen meine Brust, als wolle es ausbrechen. Meine Knie wurden weicher als Gelee und ich wagte kaum Luft zu holen. Wie konnte dieser Junge nur so verdammt gut aussehen? Dieser Körper, wie er sich zur Musik bewegte, seine Lippen, die fast das Mikro berührten, bei jeder Strophe die er sang, die einzelnen Schweißtropfen, die an seiner Stirn hinab liefen, am Hals entlang und unter dem viel zu engen Shirt verschwanden. Ich war geplättet. Genau deswegen bekam ich Panik. Das war doch echt nicht normal, wie ich ihn so gemustert hatte und was dies in mir auslöste. Das war kein Kulturschock, kein Interesse an dem Unbekannten. Das war mehr. Viel mehr.

Doch gerade als ich mich umdrehen und wieder gehen wollte, verklangen die letzten Töne des Liedes. Und es schlug mit einem lauten Knall die Tür zu, die ich unbedachterweise bei meiner Entdeckung losgelassen hatte. Alle vier Köpfe flogen erschrocken zu mir herum. Der eine wollte schon etwas ansetzen, doch Lys kam ihm zuvor und stürmte auf mich zu.

„Thilo. Mensch, was machst du denn hier?“, fragte er mich freudig überrascht.

„Wir,“, räusper, „Wir hätten jetzt Unterricht“, stotterte ich zusammen und kam mir saudämlich vor.

„Was?“, ungläubig riss Lys seine schönen Augen weit auf und kramte in der Seitentasche seiner Hose. Ein kurzer Blick auf die Uhr seines Handys bestätigte meine Aussage. „Shit. Ich hab die Zeit total verpasst. Weißt du, wir hatten ein paar Stunden Ausfall und da wir in zwei Wochen einen Auftritt haben, wollten wir noch etwas üben. Tut mir echt leid“, entschuldigte sich mein Schüler und setzte wieder seinen miesen Hundeblick auf.

Etwas gequält atmete ich aus und versuchte, ihn nicht all zu direkt anzuschauen.

„Was soll‘s. Wir können es ja heute mal ausfallen lassen“, meinte ich und wollte schon gehen. Doch Lys hielt mich ab.

„Nein, nein, das ist schon okay. Wir wollten eh nur noch ein Lied durchnehmen. Dann hätten wir sowieso aufgehört“, sagte er euphorisch, zerrte mich direkt vor die Gruppe und schubste mich auf eines der beiden alten Sofas, die dort an der Wand standen. Dann begannen sie zu spielen und er zu singen.

Die ganze Zeit sah er mich an, bohrten sich seine türkisfarbenen Augen in mein Innerstes und ich war nicht im Geringsten fähig, wegzuschauen. Ich nahm nicht einen Ton des Liedes wahr, nur seine Lippen, die sich allein für mich bewegten. Seine Hände, die er ab und zu nach vorne ausstreckte, als wolle er MICH erreichen. Wie in Trance blickte ich zu ihm auf, selbst als der Song längst zu Ende war.

„Und, was meinst du? Können wir das so spielen an dem Samstag?“, fragte er mich ganz außer Atem und trank ein paar große Schlucke aus seiner Wasserflasche.

Für mich war das wie das Händeklatschen am Ende einer Sitzung, wenn man wieder aufwachen sollte. Ich zwinkerte ein paar Mal und schaute verwirrt in die Runde, denn auch die Anderen sahen zur mir, begierig auf eine Antwort.

„Ehm.. ich denke schon“, stammelte ich und versuchte krampfhaft, meine Gedanken zu ordnen.

„Ein viel sagendes Feedback“, meinte die Drummerin, wandte sich ab und suchte ihre Sachen zusammen.

„Sag mal, hast du uns überhaupt zugehört?“ Stirnrunzelnd blickte mein Schüler auf mich hinab.

„Laut genug waren wir ja“, lachte der Gitarrist und klopfte Lys auf die Schulter. „Ich mach los. Wir sehen uns morgen.“

Der Typ verabschiedete sich und wollte gerade mit der Grünhaarigen den Proberaum verlassen, als eine junge Frau eintrat. Sie hatte brünette, lange Haare nach hinten zu einem Zopf gebunden. Nur zwei Strähnen ihres Ponys fielen ihr links und rechts ins Gesicht.

„CAT!“ Freudig schreiend lief die andere Sängerin auf den Neuankömmling zu und warf sich ihr um den Hals.

„Na meine Kleine“, begrüßte die Frau sie sanft und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Hast du schon gehört? Wir haben einen Auftritt in einem richtigen Club. Cool, oder?“, plapperte das Mädchen aufgeregt weiter.

„Natürlich hab ich davon gehört. Der Abend wird bestimmt klasse. Komm, pack dein Instrument weg. Ich habe heute noch was mit dir vor“, sagte Cat sanft, worauf die Kleine schon losstürmen wollte, doch kurz inne hielt, der älteren einen Kuss auf die Wange drückte und erst dann weglief um ihr Zeug zusammen zu suchen. Liebevoll sah Cat ihr nach, dann wanderte ihr Blick zu mir.

„Wer bist du denn?“, fragte sie Stirnrunzelnd. Die Antwort nahm mir Lys ab, der nebenher den Reißverschluss seiner Tasche schloss, in der er sein Keyboard verstaut hatte.

„Das geht dich nen Scheiß an.“

„Oh, der Herr ist aber heute mal wieder sehr charmant. Er gehört also zu dir. Naja, besser als die anderen Kerle, die du bisher angeschleppt hast, ist er allemal“, meinte sie ruhig.

„Verpiss dich“, wütend funkelte Lys die junge Frau an und ging drohend auf sie zu. Die anderen beiden Bandmitglieder hatten alarmiert ihre Sachen beiseite gelegt und waren vorsichtshalber an Lysanders Seite getreten. Cat allerdings blieb gelassen.

„Wow. So bissig hast du dich ja noch nie gehabt, wenn ich mich über deine Fickhasen lustig gemacht habe“, sagte sie gelangweilt und wandte sich wieder an das Mädchen.

„Bist du fertig, Micha?“, fragte sie in einem viel sanfteren Ton.

„Bin ich“, antwortete die Schwarzhaarige fröhlich, als hätte sie von allem nichts mitbekommen. Dann lief sie zu Lys, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und wuschelte ihm kurz durch die Haare. „Lass dich doch nicht immer so von ihr provozieren“, mahnte sie ihn.

„Sie macht das doch mit Absicht!“, entgegnete Lys.

„Gerade deswegen solltest du viel ruhiger werden. Du weißt genau, dass es ihr Spaß macht, dich zu ärgern.“

„Ach leck mich doch.“

Micha knuffte ihm freundschaftlich in die Seite und verschwand dann mit dem Rest der Band und Cat aus dem Proberaum. Letztere fing an breit zu grinsen und zwinkerte dem Sänger zu, bevor die Tür mit einem lauten Knall zufiel.

„Boar, ich kann diese Zicke einfach nicht ausstehen“, rief Lys wütend und ging zu seiner Tasche. Ich stand nur weiterhin wie angewurzelt da und starrte bedeppert meinen Schüler an. Mann war der niedlich, wenn er sich so ärgerte.

„Komm, lass uns gehen. Ich brauch dringend frische Luft“, wurde ich aufgefordert und folgte ihm nach draußen.

„Bist du wirklich nicht sauer, dass ich dich warten lassen habe?“, fragte Lys nach einer Weile, die wir schweigend nebenher gelaufen waren.

„Nur kurz am Anfang“, gab ich leise zu. „Aber es war ja nicht mit Absicht.“

Den Rest des Weges bewältigten wir relativ ruhig. Irgendwie hing jeder seinen eigenen Gedanken nach.

„Sag mal, hast du am Samstag in zwei Wochen schon was vor?“, durchbrach Lys die Stille, als wir in seinem Zimmer angekommen waren.

„Noch nicht“, antwortete ich und sah meinen Schüler zu, wie er seine Tasche an der Wand abstellte und sich dann sein Shirt auszog.

„Cool. Du hast ja von dem Auftritt gehört. Komm doch hin. Hast du was dagegen, wenn ich fix duschen gehe? Ich bin total verschwitzt“, redete er ohne Pause.

„Geh nur“, meinte ich und schaute krampfhaft zu Boden. Mann, wie kann er sich nur einfach so vor mir ausziehen? Wusste er nicht was er damit anrichtet? Wollte er das denn mit Absicht provozieren?

„Gut, ich beeil mich. Was ist nun mit Samstag?“, fragte Lys wieder und ließ mich aufblicken.

Er kramte gerade in seinen Schrank, den Rücken zu mir gewandt. Ich starrte ihn nur apathisch an, nicht fähig zu antworten. Nicht weil ich seinen Rücken so geil fand, sondern weil sich drei tiefer Kratzer über die Seite zogen. Mit einmal hatte ich dieses Bild im Kopf, wie mein Schüler auf jemanden lag, ihn befriedigte und dieser vor Ekstase stöhnend seine Finger tief in Lys‘ Haut bohrte. Mir wurde kotz übel. Ich sprang auf, ließ selbst meinen Rucksack liegen und stürmte aus dem Zimmer.

‚Bescheuert. Ja, genau das war ich. Wie konnte ich mir auch nur einbilden, dass dieser absolut geile Typ auf mich stand? Natürlich war ich nicht der Einzige, der ihn toll fand. Es gab bestimmt genug andere, die ein Auge auf Lys geworfen hatten und sich nicht so zierten wie ich. Zwar war er noch ziemlich jung, aber im Endeffekt auch nur ein Mann mit gewissen Bedürfnissen. Wie konnte ich echt nur denken, dass er auf mich warten würde. Warten, bis ich mit mir endlich im Einklang war. Ich war einfach nicht mehr für ihn, als ein einfacher Fickhase und da ich ihn nicht an mich ranließ, hatte er sein Verlangen bei jemand anderem gestillt. So simpel war das Ganze…‘ So simpel, dass mir Tränen in die Augen stiegen.

Anstatt mich endlich in Ruhe zu lassen, war Lys mir nachgelaufen und holte mich schon im Flur ein. Er wollte mich am Arm packen, doch ich fuchtelte nur wild umher.

„Man Thilo. Sag mir endlich was los ist!“

Ich ignorierte ihn, wollte nur noch hier weg, doch als ich die Wohnungstür aufreißen wollte, war sie verschlossen. Ein paar mal rüttelte ich an ihr herum, aber außer dass sie ein wenig klapperte, passierte gar nichts. Erst ein Klimpern ließ mich herum fahren. Lys stand einfach nur da, hielt die Schlüssel gut sichtbar hoch und steckte sie sich dann in die Hosentasche.

„Ich wollte heute mit dir reden“, begann er zu erklären. „Da ich jedoch weiß, dass du bei dem kleinsten bisschen abhaust, hab ich schon mal vorgesorgt.“

„Lass mich gehen, sofort!“, zische ich wütend. Was nahm der Typ sich eigentlich raus?

„Nicht bevor wir vernünftig über alles gesprochen haben.“

„Darauf habe ich aber keinen Bock.“

„Das ist mir egal. Verstehst du denn wirklich gar nichts? Ich habe mich total in dich verliebt“, sagte Lys sanft und sah mich flehentlich an. Ich allerdings achtete da überhaupt nicht drauf.

„Sagst du das zu jedem, den du ins Bett kriegen willst? Wenn du es so nötig hast, dann geh doch zu einem deiner Fickhasen!“

„Wovon redest du?“

Ich hatte nicht die Kraft zu antworten, doch der Junge bemerkte meinen kurzen Blick auf die Kratzer. An seiner Mimik konnte ich erkennen, dass er anfing zu begreifen.

„Deswegen? Nur darum tickst du so aus?“, kicherte er verrückt. „Das war doch komplett harmlos. Nur ein Kater.“

WIE BITTE????

„Mir doch egal wie du deine Stecher nennst!“, schrie ich ihn an.

Dann landete seine flache Hand mit einem lauten Knall mitten in mein Gesicht. Ungläubig wanderten meine Finger zur Wange, die unangenehm heiß prickelte. Meine Knie gaben nach und ich rutschte mit dem Rücken an der Tür hinab zu Boden.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Lys und kniete sich vor mir nieder. „Du steigerst dich da in etwas hinein, das nicht stimmt. Die Kratzer hat mir Michaelas Kater verpasst. Er sollte zum Tierarzt und kastriert werden. Anscheinend merkte das Drecksvieh, was ihm blüht und ist ständig abgehauen. Natürlich hatte ich das Privileg, ihn einfangen zu dürfen. Dabei hat der Minitiger mir die Kratzer verpasst. Sieh doch mal genau hin. So sehen doch niemals Spuren von Fingernägeln aus.“

Toll, ich war also eifersüchtig auf einen beschissenen Kater?! Als ob das nicht genug wäre, war doch meine Reaktion für mich der letzte Beweis, dass ich mich über beide Ohren in Lys verliebt hatte. Okay, ich hatte es mir endlich eingestanden. Wieso ging es mir immer noch hundeelend?

„Seit ich dich das erste Mal sah, konnte ich an niemand anderes mehr denken. Du bist der einzige für mich.“

Warum sagt er sowas? Ich hatte mich total bescheuert aufgeführt und er gestand mir trotzdem, wie viel ich ihm bedeutete? Tränen kullerten wie von selbst meine Wangen hinab, da ich nicht mehr fähig war, sie aufzuhalten. Toll, da gestand ich mir ein, dass ich schwul war und schon benahm ich mich wie ein Weichei. Scheiß Klischee.

„Hey, ist ja gut. Nicht weinen“, versuchte Lys mich zu trösten, nahm meinen Kopf in seine Hände und küsste mir die salzigen Tropfen aus dem Gesicht.

„Ich bin so ein Idiot“, jammerte ich.

„Natürlich bist du das. Hast mich einen ganzen Monat zappeln lassen. Ich wär fast umgekommen vor Sehnsucht.“

Seine türkisfarbenen Augen drangen tief in meine und verursachten ein dermaßen schnelles Herzklopfen, dass mein ganzer Körper im Takt vibrierte. Nach und nach kamen sich unsere Lippen näher und als sie sich endlich trafen, war ich fast der Ohnmacht nahe. Es war nur ein einfacher Kuss, so unschuldig wie ein Neugeborenes, und doch lag darin so viel mehr.

Nach nicht enden wollenden Sekunden löste sich Lys von mir und lächelte mich schüchtern an. Gott sah er niedlich aus. Leider konnte ich das nicht lange genießen. Mein Schüler beugte sich schon wieder vor, doch ich hielt ihn kurz vor meinen Lippen auf. Unsicher blickte er mir in die Augen, schloss dann seine und lehnte die Stirn gegen meine.

„Lass es uns einfach zusammen versuchen. Bitte“, begann er zu betteln, aber ich wand mich aus seinen Händen und versuchte aufzustehen. Lys krallte sich an meinen Armen fest und seine zwei todtraurigen, türkisfarbenen Sterne glitzerten mich flehentlich an. Ich schwankte kurz und brachte dann endlich heraus, was ich die ganze Zeit sagen wollte:

„Mir ist schlecht.“

Ungläubig wurde ich angestarrt.

„Im Ernst jetzt?“, fragte er sicherheitshalber nach, worauf ich nur schwach nickte. „Komm, das Bad ist gleich hier.“

Mein Schüler half mir komplett auf die Beine und zusammen torkelten wir in das besagte Zimmer. Zum Glück musste ich mich nicht übergeben. Ein kalter Waschlappen auf der Stirn und ein Glas Wasser wirkten schon kleine Wunder. Ich saß auf dem Klo (natürlich war der Deckel unten) und lehnte meinen Kopf nach hinten an die kühlen Fliesen. Lys stand mir gegenüber an der Wand, die Arme verschränkt und Beine überkreuzt. Nichts sagend blickte er zu mir rüber.

„Geht es wieder?“, fragte er eine Spur zu neutral. War er etwa sauer?

„Ich glaube schon. Danke.“

Nachdem ich noch mal tief durchgeatmet hatte, stand ich langsam auf. Die ganze Zeit auf dem WC hocken konnte ich nun wirklich nicht. Allerdings waren meine Knie so weich wie Wackelpudding, weswegen ich mich schwer auf das Waschbecken stützte, das einen Schritt weiter stand. Lys kam erschrocken zu mir gelaufen und hielt mich am Arm fest.

„Bist du ganz sicher?“

„Ehrlich gesagt nicht wirklich. Ich versteh das nicht. Ich habe mir doch alles eingestanden. Wieso geht es mir immer noch so elend?“ Von meinem Zustand hatte ich echt die Schnauze voll. Wird denn das jetzt immer so weitergehen?

„Wie jetzt? Was hast du dir eingestanden?“ Mein Schüler stellte sich vor mich hin und sah stirnrunzelnd zu mir auf. Mich machte das alles nur verlegen und unsicher.

„Na dass… dass ich mich in dich verliebt habe“, stotterte ich und wurde mit jedem Wort leiser. Meinen ganzen Mut zusammennehmend hob ich meine Hand und streichelte über Lys‘ Wange. Er atmete erleichtert aus, schüttelte leicht seinen Kopf und kuschelte sich dann in meine Hand.

„Und ich dachte, dir sei schlecht, weil ich dir zuwider bin.“

„Auf keinen Fall!“, sagte ich erschrocken. „Keine Ahnung ob es daran liegt, dass du der erste Mann bist, in den ich mich verliebt habe. Aber seit ich dich kenne, geht bei mir alles drunter und drüber. Noch nie glaubte ich durch eine leichte Berührung verbrennen zu müssen oder dass nur ein Blick tiefer als ein Blitz in mich dringen könnte. Dass mich Augen bis in meine Träume verfolgen. Dass ein simpler Kuss mich ohnmächtig werden lässt.“

„Das ist das Schönste, was mir je gesagt wurde.“ Lys schlang seine Arme um mich und drückte mich fest an seinen Körper.

„Ich habe einfach nur Angst“, flüsterte ich und klammerte mich an meinen Schatz.

„Die brauchst du nie wieder zu haben. Denn ab jetzt bin ich immer bei dir.“

Keine Ahnung wie lange wir so dastanden. Irgendwann löste Lys sich von mir und verfrachtete mich in sein Bett. Das Glas Wasser hatte er auf den Nachttisch gestellt und den frisch gekühlten Waschlappen auf meine Stirn gelegt.

„Ich geh nur fix duschen. Bin gleich wieder da“, sagte er liebevoll, hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und verschwand im Bad.

Von Minute zu Minute ging es mir besser. Ich schloss meine Augen und lauschte dem Plätschern des Wassers, das aus dem Nebenzimmer zu mir hinüber drang. Mein Magen grummelte zwar noch etwas, aber sonst fühlte ich mich unheimlich glücklich. Wenig später kam Lys wieder ins Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Seine Haare waren komplett durcheinander und noch nass. Außerdem hatte er nur Bermudashorts an, deren Schwarz schon total ausgeblichen war. Lächelnd blickte er auf mich hinab.

„Und? Alles wieder klar bei dir?“

„Jetzt, da du wieder bei mir bist, auf jeden Fall.“ Verliebt schmunzelnd sah ich zu ihm auf und begann mit den Fingern seiner Hand zu spielen.

„Rutsch mal nen Stück“, forderte er mich auf und ehe ich mich versah, hatte er mich nach hinten auf die zweite Betthälfte gedrängt und sich selbst auf die erste gelegt. Aber im Gegensatz zu meinen Befürchtungen ging er nicht auf mich los, sondern lag einfach auf den Rücken, seinen Arm hinter den Kopf gelegt, die Beine überkreuzt. Meine Hand hatte er nicht losgelassen.

„Du bist echt das Einzigartigste, was mir je passiert ist“, sagte Lys nach einer Weile.

„Das glaub ich dir gern“, schnaubte ich lächelnd. Ich lag auf der Seite zu ihm gewandt und konnte mich an ihm einfach nicht satt sehen.

„Vorhin hatte ich echt Panik.“

„Du meinst, als ich sagte, dass mir schlecht ist?“

„Mir war so, als ob mir jemand mein Herz herausreißen würde.“

„Sorry, ich wollte dich nicht verletzen. Du hattest nur so ein Gefühlschaos in mir verursacht, was sich irgendwie voll auf meinen Magen ausgewirkt hat.“

„Ist dir immer übel, wenn ich in deiner Nähe bin?“

„War. Mir war übel. Jetzt geht es einigermaßen, was vielleicht daran liegt, dass ich mit mir langsam ins Reine komme.“

„Das ist gut.“ Als hätte Lys nur auf so eine Bestätigung gewartet, kuschelte er sich ganz nah an mich heran. Seine nassen Haare kitzelten an meiner Nase und ich begann anfangs zögerlich, dann ganz frei seine Schulter bis zum Hals zu kraulen.

„Hmmm. Ich glaube mit lernen wird das heute nichts mehr“, schnurrte mein Schatz und reckte sich so, dass ich ihn besser streicheln konnte.

„Das glaube ich auch.“ Zsss… wer denkt schon in so einen Moment an sowas?

Meine Augen wurden mit der Zeit immer schwerer und ehe ich mich versah, war ich zusammen mit Lys eingenickt. Erst das Klopfen an der Zimmertür weckte mich wieder auf.

„Lysander. Ich bin wieder da. Darf ich kurz reinkommen?“, hörte ich meine Professorin draußen fragen. Scheiße! Genau dieses Wort schwirrte gerade durch meinen Kopf und ließ mich hochfahren. Lys grummelte nur und drehte sich mit dem Rücken zu mir auf die Seite.

„Lysander?“ Und schon trat Frau Schmidt in den Raum. Ich glaube, wir schauten beide so ziemlich erschrocken aus. „Thilo?“

„Ähm…“, begann ich zu stottern und zappelte unruhig hin und her. Mein Schatz wachte von den Bewegungen auf (endlich!) und rieb sich verschlafen die Augen.

„Hey Mom. Schon zurück?“, begrüßte er gähnend seine Mutter.

„Ja bin ich“, meinte diese bissig. „Willst du mir nicht erklären, was das soll?“

„Oh. Sorry. Das ist Thilo. Thilo meine Mom.“ Der Kleine war so verpennt, dass er noch gar nichts schnallte.

„Ich weiß wer das ist. Aber was verdammt noch eins sucht er in deinem Bett?!“, fing sie an zu schimpfen. Dann machte es endlich bei ihm klick.

„Oh… Mom. Bitte, es tut mir Leid. Das ist einfach so passiert.“

„Einfach so passiert???“, rief Frau Schmidt. „Wenn du keine Lust zum Lernen hast, ist das eine Sache. Aber was Herr Gott noch mal gibt dir das Recht, mit deinem Lehrer zu schlafen?!“ Bildete ich mir das nur ein oder wurde die Professorin hysterisch?

„Ich liebe ihn“, flüsterte Lys trotzig und schaute zu Boden.

„Bitte was?“ Ungläubig wurden wir angestarrt.

„Wir lieben uns“, kam ich meinem Schatz zu Hilfe und nahm seine Hand in meine. Die Frau vor uns atmete hörbar aus und schüttelte ihren Kopf.

„Wenn das so ist, ist ja alles in Ordnung.“

Überrascht blickten wir auf.

„Meine Güte, ich dachte du schläfst mit ihm nur, damit du nicht Mathe üben musst.“

„Mom!!!“ Verärgert sahen sich beide an.

„Hör auf Lysander. Deine Aktion ist auch nicht besonders clever. Wir sind also quitt.“

„Okay, das nehm ich an“, meinte mein Schüler kleinlaut und beide Gesichter entspannten sich wieder. Was war das hier? Eine Verhandlung?

„Was sie allerdings betrifft Thilo…“, setzte Frau Schmidt an, doch ich unterbrach sie sofort.

„Ich will weder eine Sonderbehandlung an der Uni, noch nehme ich weiter Geld für den Unterricht.“

„Oh, das überrascht mich. Eigentlich wollte ich sagen, dass es keine Gehaltserhöhung geben wird und wegen der Uni… Dort wird ihnen auf jeden Fall eine Sonderbehandlung zuteil. Denn ab jetzt werde ich ein besonderes Auge auf ihre Arbeiten haben.“ Lys wollte schon widersprechen, aber ich streichelte ihm nur beschwichtigend über seine Wange.

„Damit kann ich leben.“ In dieser Hinsicht konnte mir echt nicht viel passieren. Mein Studium lag mir einfach und ich gehörte unter die ersten zehn. Was wollte ich mehr?

„Dann wär ja alles soweit geklärt. Okay, in zehn Minuten gibt es Abendbrot. Macht euch bis dahin fertig.“ Und schon war sie wieder aus dem Zimmer verschwunden.

„Das ging ja gerade noch mal gut“, sagte ich erleichtert.

„Das war auch nur die erste Phase.“

„Du meinst, sie kann noch krasser werden?“

„Das auch. Sie wird dich aber vorher noch ein paar Mal auf die Probe stellen“, erklärte Lys nicht gerade begeistert, stand auf und zog sich ein locker sitzendes T-Shirt an.

Das waren also die Klamotten, die er zuhause trug. Alles sah etwas ausgewaschen und zwei Nummern zu groß aus. Bei diesem Anblick stahl sich ein kleines Schmunzeln auf meine Lippen, da das einfach zu niedlich ausschaute.

„Du bist der Erste der dabei lächelt, wenn ich erzählt habe, was meine Mom noch vor hat“, wunderte sich mein Schatz und musterte mich stirnrunzelnd.

„Ich lasse die Phasen deiner Mutter einfach auf mich zukommen. Ändern kann ich doch eh nichts daran“, sagte ich Schulter zuckend. „Außerdem musste ich wegen dir grinsen“, gab ich leise zu und zupfte vielsagend an seinem übergroßen Shirt.

„Hey. Ich weiß, dass ich darin nicht besonders sexy ausschaue, aber die sind echt bequem. Gerade für zuhause“, versuchte Lys sich zu rechtfertigen.

„Ich finde, du siehst darin niedlich aus“, flüsterte ich und starrte verlegen zu Boden.

„Niedlich?“, wiederholte er meine Worte. Am Rande des Bettes sitzend, spielte ich nervös mit meinen Fingern und nickte nur leicht mit dem Kopf. „Du findest mich also in den Lumpen niedlich“, kicherte mein Schatz, setzte sich kurzerhand auf meinen Schoß und schlang seine Beine um meine Hüfte.

Dann legte er seine Arme um mich und zog sich somit noch dichter an meinen Körper heran. Ich hingegen wagte nicht im Geringsten, ihn zu berühren. Händchen halten oder mal kurz über die Wange streicheln war ja noch okay. Aber schon das Kraulen vorhin über seine nackte Schulter hatte das ausgelöst, was ich die ganze Zeit vermisst hatte. Das berühmte Bauchkribbeln. Aber alles in solch einer geballten Ladung, dass ich glaubte, tausende von Schmetterlingen würden mit ihren Flügeln meinen Magen von innen kitzeln. Es war überwältigend und viel zu viel auf einmal. Lys knabberte derweil an meinem Ohrläppchen und Hals. Seine Finger suchten sich gerade einen Weg unter mein Shirt, als wir es von draußen rufen hörten.

„Ihr habt noch fünf Minuten.“

Genervt zog mein Schatz seine Hände zurück und sah mich an.

„Du schaust seltsam aus. Alles okay?“, fragte Lys besorgt.

„Soweit ja. Ist nur alles ein wenig viel für den Anfang“, antwortete ich leise.

„Du reagierst sehr sensibel auf Berührungen, weißt du das? Sobald ich dich auch nur anhauche, bekommst du sofort eine Gänsehaut. Dabei habe ich noch gar nichts getan.“

Er hatte seinen Arm um meinen Hals gelegt und streichelte mit seinen Fingerspitzen meinen Nacken. Wie sollte ich bitte so ein normales Gespräch führen?

„Ich reagiere nicht so auf Berührungen. Ich reagiere so auf dich.“

Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille. Weder nahmen wir das Gezwitscher der Vögel wahr, welches gedämpft von draußen hinein schallte, noch das Klappern von Geschirr aus der Küche. Einige Sekunden sahen wir uns einfach nur an. Blickten uns tief in die Augen. Dann küssten wir uns. Zuerst ganz zaghaft und vorsichtig, als wäre der andere aus Zucker und könnte jeden Moment auseinander brechen. Dann spürte ich, wie Lys‘ Zunge fordernd über meine Lippen strich. Nur zögernd öffnete ich meinen Mund und als sich unsere Zungen trafen, explodierte ein Feuerball der Gefühle in mir, bei dem mir kurz schwarz vor Augen wurde.

„Du reagierst so intensiv und unschuldig wie ein kleines Kind“, schmunzelte mein Schatz und streichelte mit seiner Nase über meine.

„Tut mir leid. Ich versuch es ja, aber ich kann es irgendwie nicht steuern.“

„Hey, du brauchst dich für gar nichts zu entschuldigen. Außerdem finde ich das…“, er überlegte kurz. „niedlich.“

Ich konnte nicht anders, als ihn verklärt vor Liebe anzulächeln.

„Komm. Wir sollten langsam in die Küche gehen. Sonst nervt meine Mom wieder.“

„Moment mal. Ich soll auch mit zu Abend essen?“

„Klar. Sie sagte doch, dass WIR uns fertig machen sollen. Das ist übrigens die zweite Phase.“

„Oh, wie beruhigend.“

Beide grinsten wir uns an, ich richtete meine Sachen und zusammen liefen wir dann in die Küche. Dort war alles im amerikanischen Stil gehalten. Auf der einen Seite war eine große Kochecke mit allen möglichen modernen Geräten ausgestattet (selbst der Kühlschrank hatte einen Eiswürfelspender). Davor sah ich eine Theke mit Barhockern. Auf der anderen Seite stand ein Tisch mit vier Stühlen, der reichlich bedeckt war.

Lys geleitete mich zu einem der Stühle und setzte sich dann neben mich. Ihm gegenüber saß seine Mutter. Ihre Haare, die sie sonst streng nach hinten gebunden hatte, fielen ihr nun weit über die Schultern. Sie trug außerdem anstatt einem ihrer Kostüme eine schlichte, ausgewaschene Jeans und ein Holzfällerhemd, dessen Ärmel nach oben gekrempelt waren. Das ganze machte die Frau noch viel jünger und vor allem hübscher.

„Und, wie lief es heute bei dir?“, durchbrach Lys die Stille und langte nach einer Scheibe Brot.

„Hör bloß auf“, stöhnte seine Mutter. „Manche Professoren sind so kleinkariert.“

Nebenher goss sie ihr Glas halbvoll mit Saft. Leider war dann die Flasche schon alle.

„Oh. Schatz, gehst du bitte fix in den Keller und holst zwei neue Flaschen hoch? Hier oben habe ich keine mehr.“

Stirnrunzelnd sah mein Freund seine Mutter an. Dann stand er langsam auf und kniff seine Augen zusammen.

„Das ist doch ne Farce.“

„Auf jeden Fall.“

Genervt nahm Lys die Plasteflasche aus ihrer Hand und verließ die Küche. Sobald die Wohnungstür zu hören war, legte Frau Schmidt ihr belegtes Brot beiseite und sah mich direkt an. Ich hatte mich bisher nicht getraut, etwas anzufassen.

„Okay. Reden wir nicht groß um den heißen Brei herum. Seit wann geht das schon zwischen euch beiden?“

Oh man. Ich kam mir wie ein kleines Kind vor, das heimlich von der verbotenen Schokolade genascht hatte.

„Seit heute“, antwortete ich kleinlaut.

„Dann habt ihr noch gar nicht miteinander geschlafen?“, fragte sie überrascht, worauf ich meinen Kopf schüttelte. „Hm, seit einem Monat arbeiten sie für mich“, überlegte sie laut und redete dann versöhnlicher weiter. „Bei den anderen hatte er nie so viel Geduld. Sie müssen ihm wirklich etwas bedeuten.“

Verwirrt schaute ich zu meiner Professorin auf.

„Es ist so, dass vor zwei Jahren seine erste große Liebe mit ihm Schluss gemacht hatte. Er war so deprimiert, dass er sich erst niemanden mehr und später alle nur flüchtig anschaute. Er ist noch sehr jung, aber ich dachte, wenn er sich einmal richtig ausgetobt hätte, würde er wieder ruhiger werden. In letzter Zeit hatte ich mir schon Sorgen gemacht zwecks des Verschleißes. Und jetzt kommen sie einfach so daher und bändigen meinen Quirlgeist.“

„Ich habe ihn nicht gebändigt und das will ich auch nie. Ich empfinde nur unheimlich viel für ihn. Das ist alles.“

Frau Schmidt musterte mich noch kurz, doch dann begann sie zu lächeln.

„Gut.“ Damit war wohl alles für die Professorin soweit geklärt, denn sie nahm wieder ihr Brot und biss genüsslich hinein. „Greifen sie zu“, forderte sie mich freundlich auf und gehorsam wie ich war, langte ich nach einer Scheibe Brot, Butter und Käse.

Die Stimmung hatte sich deutlich gelockert und wir unterhielten uns gerade über ein paar fachliche Themen, als Lys endlich wieder in die Küche trat.

„Sag mal Schatz, wo warst du denn solange? Wir wollten dir schon einen Suchtrupp nachschicken.“

„Sehr witzig. Die alte Schachtel aus dem Erdgeschoss wollte, dass ich ihr zwei Kisten Selters aus ihrem Keller mitbringe, weil ja morgen ihr Romméclub zu Besuch ist und was weiß ich nicht wie aufregend das wird“, meckerte mein Freund, stellte die zwei Saftflaschen auf den Tisch und setzte sich wieder neben mich.

„Das ist eine ältere Dame, die froh ist, jemanden zum Reden zu haben“, versuchte die Professorin ihren Sohn zu beruhigen.

„Kann die nicht morgen ihre halbtoten Freunde zulabern?“

„Lysander!“ Mahnend schüttelte die Frau ihren Kopf, konnte sich aber dennoch ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dann wandte sie sich wieder an mich. „Wo waren wir stehen geblieben?“

„Bei Professor Jentzsch“, half ich ihr aus.

„Ah genau. Also, er ist mir ein wenig zu theoretisch.“

„Finde ich auch. Wenn er bei seinen Lesungen mehr praktische Beispiele einbringen würde, wäre die Thematik viel einfacher zu verstehen“, pflichtete ich Frau Schmidt bei.

Ich biss gerade von meinem Brot ab, als ich zu Lys rüber sah. Der blickte allerdings nur apathisch seine Mutter an und bekam beim Einschenken des Saftes nicht mit, dass sein Glas schon längst voll war.

„Lys!“

Erschrocken schaute er zu mir, dann auf den Tisch, wo sich eine Pfütze gebildet hatte.

„Shit!“ Endlich stellte mein Schatz die Flasche beiseite und sprang auf, um die Küchenrolle zu holen.

„Was machst du denn?“ Auch seine Mom war aufgestanden und beide tupften sie nun den Saft vom Tisch.

„Tschuldige.“ Mehr brachte Lys nicht raus.

Irgendwas schien ihn total irritiert zu haben. Was genau erfuhr ich erst eine Dreiviertelstunde später, als wir fertig mit Essen und wieder allein auf sein Zimmer waren. Frau Schmidt hatte sich nach dem Abendbrot mit einem Buch von mir verabschiedet. „Was hast du mit meiner Mom gemacht?“, fragte mich auf einmal mein Liebster. Er lag auf dem Bett und starrte die Decke an. Seine Arme hatte er hinter seinen Kopf verschränkt und die Beine wieder überkreuzt. Ich saß im Schneidersitz daneben an die Wand gelehnt.

„Was meinst du?“

„Komm schon Thilo. Ich weiß genau, dass ihr über mich gesprochen habt. Allerdings hat sich hinterher noch nie jemand so locker mit meiner Mom unterhalten können.“

„Nur kurz.“

„Spann mich nicht so auf die Folter. Erzähl schon!“

Mit einem Seufzer erzählte ich, was vorgefallen war. Lys hatte sich aufgesetzt und schaute bedröppelt zu Boden.

„Mann. Damit ist sie echt zu weit gegangen.“

„Hey. Sie macht sich doch nur Sorgen.“

Verwundert sah er auf.

„Dich stört das gar nicht, dass ich schon mit so vielen geschlafen habe?“

Liebevoll lächelte ich ihn an und streichelte über seine Wange.

„Ehrlich gesagt hat es mich traurig gemacht. Du hattest ihn wirklich sehr gern gehabt, wenn du dich so lange mit jemand anderes ablenken musstest.“

Lys kuschelte sich zwischen meine Arme und rückte seinen schmalen Körper so dicht wie nur möglich an meinen.

„Das hatte ich. Alex war mein Sandkastenfreund. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und sind zusammen aufgewachsen. Wir haben echt nur Blödsinn gebaut. Vielleicht lag es genau daran, dass wir uns schon so lange kannten. Länger als ein halbes Jahr haben wir zusammen nicht durchgehalten. Er war viel zu nett zu mir und ich… keine Ahnung. Ich war ein Idiot. Es war besser so wie es gekommen ist. Schließlich durfte ich dadurch dich kennen lernen.“

Er küsste mich an meinen Hals entlang, über mein Kinn bis zu den Lippen. Dann nahm er mein Gesicht in beide Hände und sah mir tief in die Augen. Lys hatte wohl mitbekommen, dass ich seinen Kuss nur zögerlich erwiderte.

„Alex werde ich nie komplett vergessen können. Er ist und bleibt ein Teil meines Lebens. Aber ich liebe ihn nicht mehr. Das ist mir spätestens dann aufgefallen, als ich dich das erste Mal sah. Ich will nur noch dich.“

Ich konnte mich nicht ganz an den Gedanken gewöhnen, dass mein Schatz jemanden so sehr geliebt hatte, dass er gute zwei Jahre Frust schieben musste, um über ihn hinweg zu kommen. Was wäre, wenn er diesem Alex noch einmal begegnete? Was wäre, wenn der Typ plötzlich vor der Tür stände und ihn zurück haben will? Wie würde Lys sich entscheiden?

Diese Fragen konnte ich unmöglich meinem Schatz stellen, denn er würde mir eh keine Antwort darauf geben. Außerdem wollte ich ihn nicht vor die Wahl stellen. Momentan war er hier, hier bei mir. Und das war alles, was gerade für mich zählte.

„Ich vertrau dir“, flüsterte ich ihm deshalb ins Ohr und küsste ihn zum ersten Mal aus eigener Initiative. Lys strahlte mich danach überglücklich an und so lagen wir noch bis spät abends auf seinem Bett und kuschelten wie blöde miteinander rum.

*-*-*

Es waren gut zwei Wochen vergangen und ich stand in einem Club mit lauter schwarzen Leuten. Es war Samstag und mein Schatz und seine Band sollten endlich ihren Auftritt haben. Eineinhalb Stunden durften sie kräftig abrocken, danach würde ein DJ auflegen, der auch noch den Rest zum Rudern bringen sollte. Lys und seine Freunde waren also sowas wie die Vorgruppe.

Mein Liebster hatte sich vor einer halben Stunde verabschiedet und sich mit den anderen zu deren Kabine verzogen. Ich wollte ihm und seinen Kollegen nicht im Weg stehen, weswegen ich es vorzog, mir ihren Auftritt lieber von vor der Bühne anzuschauen. Und dieser war einfach nur hammergeil! Die Menge war am jubeln und die Gruppe am feiern. Mir war, als ob Lys nur für mich singen würde, als ob seine türkisfarbenen Sterne nur mich anstrahlten. Er war der absolute Wahnsinn.

Nachdem auch die Zugabe vorbei war, lief ich an der Bar entlang nach hinten zu den Kabinen. Länger ohne meinen Schatz hielt ich es einfach nicht aus. Ich bog gerade um die Ecke, als ich mitten im Schritt inne hielt. Ein Reporterteam irgendeiner Zeitschrift hatte die vier und noch so einen anderen Typen in Beschlag genommen.

Lange, schwarze Haare, vornehm nach hinten gebunden, große, breite Schultern, aber nicht dick. Er hatte so einen gothic-mäßigen Anzug an, in dem er richtig gut aussah. Zu gut. Denn er tänzelte die ganze Zeit um meinen Liebsten herum. Hier ein paar Fotos, wo er ihm – natürlich rein freundschaftlich – den Arm um die Schulter legte, dort ein Interview, bei dem der Typ ihn am Rücken berührte und vielleicht eine passende Antwort ins Ohr flüsterte.

Wer verdammt noch mal war der Kerl? Und wieso ließ Lys sich das einfach so gefallen? Ich kochte vor Eifersucht. Dass, als die Reporter verschwunden waren, sich alle noch mal umarmten, trug weniger zu einer Beruhigung bei. Der hielt ihn doch tatsächlich länger fest als die restlichen Bandmitglieder. Dann kamen alle auf mich zu, schließlich stand ich ja neben ihrer Kabine.

Alle, außer Lys und der Typ. Denn dieser hielt meinen Schatz zurück und begann leise auf ihn einzureden. Ich war echt in Versuchung, einfach hinzugehen und meinen Liebsten dort wegzuziehen, denn er sah nicht glücklich aus bei dieser Unterredung. Schaute die ganze Zeit bedröppelt zu Boden und nickte ab und zu. Aber die anderen drei nahmen mich vorher für sich ein.

„Na Thilo. Wie fandest du uns?“, sprang Micha begeistert auf mich zu. Ich zwang mich, meinen Blick von Lys abzuwenden und versuchte mich auf die total fertig, aber doch überglücklich ausschauenden Kids vor mir zu konzentrieren.

„Ihr ward echt der absolute Hammer! Meine Ohren sind jetzt noch ganz taub von dem ganzen Gejubel neben mir.“

„Ich fand, die Akustik war nicht so toll. Man hätte die Anlage besser aufeinander abstimmen können“, meinte Kevin, der Gitarrist.

„Davon hab ich zwar überhaupt keine Ahnung, aber vor der Bühne klang das einfach nur mal saugeil.“ Somit nahm ich ihm auch den letzten Zweifel.

„Kommt, lasst uns nach vorne gehen und noch ein bisschen feiern. André meinte es würde reichen, wenn wir alles morgen abbauen. Ich bin übel in Partystimmung“, verkündete Anne, steckte die Sticks für ihr Schlagzeug in eine passende Halterung an ihrem Gürtel und sprang so lange hibbelig um die anderen herum, bis diese sich endlich von mir verabschiedeten.

Als ich wieder allein da stand, schaute ich zu Lys, was ich vielleicht nicht hätte tun sollen. Denn der Typ griff gerade unter Lys‘ Kinn und hob sacht seinen Kopf hoch, damit er ihn anschauen musste. Der Kerl redete weiter auf ihn ein und mein Schatz nickte nur knapp mit einem todtraurigen Gesicht. Das reichte! Was gibt diesem Typen das Recht dazu, meinen Liebsten so zu quälen?!

Ich setzte mich schon in Bewegung und stampfte wütend auf die beiden zu, als der Kerl Lys‘ Kinn los ließ und mein Schatz ihm regelrecht in die Arme sprang. Der ältere sah zwar zuerst etwas überrascht aus, drückte dann aber den Kleineren genauso fest an sich. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Was sollte das jetzt? Zuerst lässt er sich runter machen und dann warf er sich in seine Arme? Wer sollte denn sowas kapieren? Eine gute Minute standen sie so da, bis sie sich endlich lösten und auf mich zukamen.

„Na dann, schönen Abend euch noch“, grinste der Typ mich an und wollte eine Hand auf meine Schulter legen. Doch wütend wie ich war, schlug ich sie beiseite.

„Leck mich doch“, blaffte ich und funkelte ihn böse an. Er sah mit gerunzelter Stirn zu mir, begann dann zu schmunzeln und wandte sich an Lys.

„Klär das“, meinte er knapp und war Sekunden später um die nächste Ecke verschwunden.

„Sag mal, was sollte das eben?“, fragte mich mein Schatz verärgert.

„Das könnte ich dich auch fragen. So wie du ihm an den Hals gesprungen bist“, zickte ich zurück.

„Du bist schon wieder eifersüchtig“, stellte Lys fassungslos fest, worauf meine Wangen heiß aufbrannten.

„Der Typ ist auch ganz schön um dich drum rum getänzelt.“

„Der Typ ist unser Manager! Das ist sein Gott verdammter Job!“

„Ich wusste gar nicht, dass grabschen neuerdings zu den Aufgaben eines Managers gehört.“

Keine Ahnung, warum ich so dermaßen überdreht auf die ganze Sache reagierte, aber ich ertrug es nicht, meinen Liebsten in den Armen eines anderen zu sehen. Lys war überhaupt nicht begeistert von meiner Reaktion. Es sah eher so aus, als würde er mir jeden Moment eine reinhauen.

„Das reicht“, meinte er plötzlich, packte mich am Handgelenk und schleifte mich hinter sich her.

Ich war so perplex, dass ich erst Minuten später, als wir uns schon draußen auf der Straße befanden, nachfragte, wo wir eigentlich hingingen.

„Was klären“, war die einzige Antwort, die ich bekam. Nach zwanzig Minuten standen wir vor seiner Wohnungstür, die er lautstark aufschlug.

„Vorsicht, deine Mom!“

„Die ist auf Lehrgang und kommt erst morgen Abend wieder.“

Lys zerrte mich in sein Zimmer, schubste mich auf sein Bett und setzte sich sofort auf mich drauf. Schnell hatte er sich sein Shirt über den Kopf gezogen und warf es achtlos beiseite. Dann begann er mich am Hals aufwärts zu küssen, seine Finger stahlen sich unter mein Oberteil und seine Zunge bahnte sich unaufhaltsam einen Weg in meinem Mund.

‚Scheiße, was passiert hier? Das ganze war noch lange nicht ausdiskutiert. Auf dem Weg hierher war er nicht ansprechbar gewesen und jetzt wollte er einfach alles vergessen machen, indem er mich verführt???‘

„Lys, warte“, versuchte ich ihn aufzuhalten.

„Nein, ich werde nicht warten. Keine Sekunde mehr länger. Erst dann wirst du wohl endlich begreifen, wie viel du mir bedeutest.“

‚Wie bitte? Er wollte doch jetzt nicht mit mir schlafen?!‘ Gut, wir waren zirka zwei Wochen zusammen, aber außer Händchen halten, kuscheln und ein paar harmlosen Küssen war bisher nichts gelaufen. Ich hatte viel zu viel Panik vor mehr.

„Ich kann das nicht. Lys. Hör auf. HÖR AUF!!!“

Da mein Schatz immer noch nicht aufhörte, mich zu bedrängen, wurde ich immer lauter. Zum Schluss stieß ich ihn panikartig von mir weg, sodass er wieder Mal vor dem Bett auf seinem Hinterteil landete. Mit schnellem Atem richtete ich mich auf und blickte zu Lys hinab. Er schaute mir nur erschrocken in die Augen. Dann schien er zu begreifen, was er gerade mit aller Gewalt erzwingen wollte und sah plötzlich verwirrt und ängstlich in die Gegend.

„Tut mir Leid“, meinte er, stand auf und fuhr sich nervös durch die Haare. „Vergiss das einfach.“

Und schon war er aus dem Zimmer verschwunden. Ich hörte noch die Tür im Nebenraum klappern, stand auch auf und folgte ihm ins Bad. Lys hing über dem Waschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht.

„Lys?“ Zögernd ging ich auf ihn zu. Was war hier nur los?

„Wir sollten damit aufhören“, sagte er leise.

„Mit was?“, fragend sah ich ihn ängstlich an.

„Mit uns.“

„Aber… warum?“

„Ich habe es eingesehen. Ich wünschte, zwischen uns wäre mehr, aber es war wohl doch nur Schwärmerei. Tut mir leid, dass ich dich soweit bedrängt habe, mit mir auszugehen.“ Mein Schatz trocknete sein Gesicht ab und blickte dann gefasst zu mir.

„Wie meinst du das? Das ist nicht nur eine Schwärmerei. Ich… ich liebe dich doch.“ Zitternd ging ich auf ihn zu, wollte ihn berühren, doch er machte zwei Schritte rückwärts und hob abwehrend seine Hände.

„Lass gut sein. Es ist besser, wenn du jetzt gehst.“

Ungläubig schaute ich zu ihm hinüber. Man sah deutlich, dass auch er mit sich zu kämpfen hatte, aber wenn ihm das so schwer fiel, wieso wollte er dann mit mir Schluss machen? Nur weil ich eifersüchtig gewesen war?

„Bitte Lys, sag das nicht. Es tut mir leid, dass ich so überreagiert habe. Dich in den Armen eines Anderen zu sehen, hat mich halb wahnsinnig gemacht. Du gingst so locker und selbstverständlich mit ihm um“, versuchte ich mich zu erklären. Ich wollte meinen Liebsten wegen so einer dummen Aktion von mir nicht verlieren!

„Genau das ist es“, meinte er traurig. „Ich würde auch mit dir so umgehen wollen, aber du schreckst vor jeder Berührung zurück. Ein einziges Mal hast du mich aus Eigeninitiative geküsst – einmal seit über zwei Wochen! Am Wochenende willst du nicht bei mir übernachten und in der Woche hast du abends immer was vor oder musst noch etwas für die Uni machen. Du bekommst ja schon Panik, allein wenn ich dir ans T-Shirt gehe! Es liegt nicht daran, dass ich unbedingt mit dir schlafen will. Du hättest bei mir alle Zeit der Welt. Mir kommt es eher so vor, als wolltest du vor mir flüchten, mich überhaupt nicht näher bei dir haben.“

Einzelne Tränen kullerten über seine Wangen, die er energisch weg wischte. Scheiße, was hatte ich da nur angestellt? Nie hätte ich gedacht, dass ich ihn damit so sehr verletzen würde. Natürlich wusste ich, was er meinte. Aber der Grund, warum ich so auf Abstand ging, war ein komplett anderer. Das Einzigste, was ich wollte seit ich Lys kannte war, ihm so nahe wie nur möglich zu sein. Allerdings brachte mich das, was in mir dabei vorging in Verlegenheit, je geringer der Abstand zwischen uns wurde. Es war mir viel zu peinlich Lys darauf anzusprechen. Ich hatte Angst, er würde mich auslachen, schließlich war ich vier Jahre älter.

„Das ist nicht wahr“, begann ich mit brüchiger Stimme zu erzählen und lehnte mich mit dem Rücken an den Türrahmen. „Es liegt an mir. Ich… Du weißt, wie ich auf deine Berührungen reagiere. Je länger wir zusammen waren, desto heftiger wurden die Reaktionen. Mir war nicht mehr nur so, als würde ich ohnmächtig, sondern als würde ich… als würde ich jeden Augenblick gleich kommen.“ Mein ganzes Blut sammelte sich mit einem mal in meinem Kopf, weswegen ich locker einer Tomate Konkurrenz hätte machen können.

„Wa… warte mal. Du lässt mich die ganze Zeit nicht an dich ran, weil ich dich geil mache???“ Ungläubig kam Lys auf mich zu. Mein roter Kopf war ihm wohl Antwort genug. „Das glaub ich jetzt einfach nicht.“ Langsam wurde er wütend, was mich trotzig reagieren ließ.

„War mir klar, dass du das lächerlich findest. Aber was würdest du denn machen, wenn du sofort abspritzt, nur weil dich einer berührt hat?!“

„Thilo, denkst du etwa wirklich, dass der Tag abrupt endet, sobald du gekommen bist? Du willst wissen was ich machen würde? Mal davon abgesehen, dass ich mich mehr als nur geschmeichelt fühle, wie heftig du auf mich reagierst, würde ich dir eine viertel Stunde geben, damit du dich beruhigst, um dann über dich her zu fallen, dass ganze solange wiederholend, bist du komplett leer wärst.“

„Und wer sagt dir, dass ich überhaupt solange durchhalte? Vielleicht penn ich gleich danach sofort ein.“

„Das können wir nur in der Praxis raus finden. Thilo du hast Recht. Ich finde das wirklich total lächerlich. Und traurig. Weißt du, für mich ist die Grundlage einer Beziehung Vertrauen. Das wiederum baut sich nur auf, wenn man über alles redet. Und zwar über wirklich alles. Woher soll ich denn wissen was in dir vorgeht, wenn du es mir nicht sagst?“

Lys war ganz dicht an mich herangetreten und hatte meinen Kopf in beide Hände genommen. Salziges Nass benetzte meine Wangen, was ich nicht mehr verhindern konnte. Ich kam mir einfach sau bescheuert vor.

„Ich will dich nicht enttäuschen, will nicht, dass du über mich lachst“, gestand ich schniefend.

„Weder das eine noch das andere wird je geschehen. Dafür liebe ich dich viel zu sehr.“ Lys küsste mich sanft und ließ damit meinen Tränenfluss erstarren.

„Obwohl ich ein Trottel bin?“

„Du bist kein Trottel. Eher ein kleiner Tollpatsch.“

Gut, damit konnte ich leben, schließlich hatte er ja Recht. Nur weil ich es nicht geschafft hatte, meinen Mund aufzumachen, hätte ich fast das Wichtigste verloren, was ich zurzeit ‚mein‘ nennen durfte: Lys. Mein Schatz nahm mich fest in seine Arme und ich drückte ihn nicht weniger heftig an mich. Wir waren wohl beide ziemlich froh, dass das geklärt war.

Lys suchte wieder nach meinen Lippen und als er sie fand, entbrannte ein Kuss voller Leidenschaft, der selbst eine Supernova dagegen hätte kalt aussehen lassen. Mein Blut floss sofort aus meinen Kopf und sammelte sich in meiner unteren Hüftgegend. Dass mein Liebster sein Becken aufreizend an meines drängte, verschärfte die ganze Situation nur noch. Mir wurde schwindelig, weswegen ich unseren Kuss löste und mich schwer atmend an meinen Schatz klammerte.

„Lys, das geht alles viel zu schnell. Es ist zu heftig.“

„Nein, das ist genau das richtige Tempo. Du musst dich nur fallen lassen. Vertrau mir.“

Verführerisch drang seine Stimme in mein Ohr, der ich nicht länger widerstehen konnte. Unter etlichen Küssen wurde ich aus dem Bad in Lys‘ Zimmer geführt, zu seinem Bett. Mein T-Shirt hatten wir schon längst achtlos irgendwo beiseite geworfen, Socken und Hose folgten. Eng umschlungen und nur noch mit Retros bekleidet, lagen wir auf dem weichen Futon.

Lys‘ Hände gingen auf Wanderschaft. Seine Fingerspitzen streiften meinen Hals hinab, über meine Schulter bis hin zur Brust. Spielerisch umkreiste er meine Brustwarze und zwickte leicht hinein. Ein wohliger Schauder durchfuhr meinen gesamten Körper und ließ mich aufstöhnen. Für den ersten Moment war mir das megapeinlich. Als ich damals mit meiner Freundin schlief, empfand ich diese Laute an mir zu animalisch, vor allem auch, weil sich meine Freundin davor erschreckte. Wir waren halt beide ziemlich jung und unerfahren gewesen. Mein Liebster merkte, dass ich anfing, mich zu verkrampfen und hielt kurz inne.

„Hey, hör auf dir deine Lippe blutig zu beißen!“, sagte Lys etwas erschrocken. Ich hatte mich anscheinend dermaßen darauf konzentriert, nicht laut zu werden, dass ich gar nicht bemerkte, wie sehr ich zugebissen hatte. Ein leichter, kupferner Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus und ließ mich nervös werden.

„Thilo, entspann dich“, säuselte mir mein Liebster ins Ohr, nur um noch viel verführerischer fortzusetzen. „Ich will dich hören. Zeig mir, was dir gefällt!“

Allein die Worte machten mich fast schon schmerzhaft steif. Ein paar Mal spielte er noch mit meiner Brustwarze und entlockte mir wohlige Töne, bis seine Hand weiter hinunter rutschte, direkt auf mein bestes Stück. Zwar trennte dünner Stoff noch immer Finger und pure Haut, aber trotzdem empfand ich es als so intensiv, dass ich kam.

Das Zucken, welches meinen Körper durchfuhr, war unübersehbar, mal von der Feuchtigkeit, die durch meine Hose drang, ganz abgesehen. Ängstlich schloss ich meine Augen und hätte mich am liebsten tief unter der Decke verkrochen. Doch Lys nahm mich in seine Arme und küsste solange mein Gesicht, bis ich mich endlich getraute ihn anzuschauen.

„Weißt du eigentlich wie geil du aussiehst, wenn du so in Ekstase bist?“, schnurrte mein Schatz.

Er war mir also wirklich nicht böse, auch nicht enttäuscht. Ganz im Gegensatz zu meinen Befürchtungen funkelten mich zwei türkisfarbene Diamanten wild an und verlangten nach mehr. Küssend beugte sich Lys ein wenig über mich und zog mir das letzte Stück Stoff vom Leib. Er benutzte dies gleich, um die Reste meines Lustausbruches zu beseitigen und warf dann meine Retroshorts achtlos beiseite. Allein diese sachten Berührungen ließen mich wieder halb steif werden.

„So viel zu diesem Thema“, grinste mich mein Liebster verschmitzt an.

Schüchtern lächelte ich zurück und rutschte mit meinem Körper dicht an seinen. Es tat so unheimlich gut, ihn bei mir zu haben, ihn zu spüren. Ich glaubte vor Glück zu schweben. Umso mehr drängte es mich, auch etwas für ihn tun zu wollen. Meine Zunge spielte eine Weile an seinem Brustpiercing, was mein Schatz hörbar genoss. Keine Ahnung warum ich damals solche Töne als obszön empfand, denn bei Lys klangen sie einfach nur geil. Meine Küsse gingen langsam tiefer, bis ich am Bund seiner Shorts angelangte.

„Warte“, hielt mich mein Liebster kurz davor auf. „Du musst das nicht tun. Wir haben schließlich alle Zeit der Welt“, meinte er sanft.

„Ich weiß“, lächelte ich zurück und setzte dann einen diabolischen Blick auf.

Schnell fiel auch seine letzte Hülle und ich hörte, wie Lys tief Luft holte, als ich begann, ihn mit meinen Lippen und meiner Zunge zu verwöhnen. Keine Ahnung, ob ich das alles so richtig machte, aber die lustvollen Laute, die mein Schatz von sich gab, bestätigten mir meinen Erfolg. Es war einfach nur Wahnsinn, wie er sich unter mir wand. Ich hätte ihn gern noch länger so ‚gequält‘, doch mein Liebster zog mich nach einer Weile sanft aber bestimmend zu sich hoch. Etwas irritiert sah ich ihn an, wie er schwer atmend neben mir lag.

„Gott, du bist einfach der Hammer. Und du hast es wirklich noch nie vorher mit einem Mann probiert?“

„Du bist der erste“, antwortete ich verlegen. Wow, es hatte ihm echt gefallen. Langsam wurde ich mutiger, weswegen ich begann, ihn am Ohrläppchen zu knabbern und leise etwas anbot. „Wenn du willst mach ich weiter. Bis zum Schluss.“

Überrascht blickte er mir in die Augen, dann, ganz zaghaft, begann er zu lächeln. Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, küsste meine Wange, meine Nase, meine Lippen.

„Schlaf mit mir“, flüsterte er.

Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Mein Herz klopfte so dermaßen wild gegen meine Brust, dass es schon fast schmerzhaft war. Keine Ahnung ob es an der Aufregung lag, oder an der aufkeimenden Panik. Ich sah wohl ziemlich erschrocken aus, denn mein Schatz rückte etwas von mir ab, um mich besser anschauen zu können.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ganz sanft, versprochen. Lass dich einfach fallen und treiben. Überlass mir den Rest.“

Wieso glaubte ich ihm auf Anhieb jedes Wort? Unter seinen verliebt funkelten Augen entspannte ich mich wieder und begann ihn auffordernd zu küssen. Natürlich hatte ich noch immer ein wenig Angst, vor allem da ich nun wusste, welche Rolle zumindest heute mir zu Teil wurde. Aber meine Panik war verschwunden.

Lys war einfach unglaublich. Zwar tat es am Anfang doch ziemlich weh, aber mein Schatz wusste genau, was zu tun war, damit ich mich wieder entspannte. Der Schmerz wurde übertüncht von einem dermaßen geilen Gefühl, was ich einfach nicht in Worte fassen konnte. Komplett von Raum und Zeit entrückt schwebte ich in einer anderen Dimension umgeben von absoluter Ekstase, bis ein starker Sog an meinem Körper zerrte, ihn zum erbeben brachte und dann alles um mich herum explodierte.

Meine Finger hatten sich tief in das Bettlaken unter mir gegraben und nur langsam löste sich meine Starre auf. Immer noch keuchend, aber überglücklich lag mein Schatz auf mir. Sein zarter, verschwitzter Körper glänzte im Mondlicht, was ihn wie ein Wesen aus einer anderen Welt aussehen ließ. Ich schloss meine Augen, um alles bis aufs letzte zu genießen. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch einen Orgasmus, dass dieser noch gut fünf Minuten nachklang.

Lys richtete sich etwas auf, wischte die Spuren unseres nächtlichen Treibens mit Tüchern weg, die er im Nachtschrank deponiert hatte, und kuschelte sich dann wieder ganz dicht an mich heran.

„Thilo?“

„Hm?“ Müde blickte ich zu ihm, wie er kurz vor dem Einschlafen halb auf mir drauf lag und meine Brust kraulte.

„Ich liebe dich.“

„Ich dich noch viel mehr“, antwortete ich schmunzelnd. Dann nickten wir beide ein und schliefen glücklich bis zum nächsten Morgen durch.

*

Die nächsten Wochen flogen nur so dahin. Lys und ich sahen uns fast jeden Tag. Er nahm mich sogar zu seinen Proben ständig mit und langsam hörte ich auch richtig zu und schmachtete nicht nur dir ganze Zeit meinen Schatz an. Mathe übten wir trotzdem weiter, allerdings hatte sich die Art der Bezahlung geändert. Ich führte einfach ein Belohnungssystem ein. Wenn mein Liebster eine Aufgabe richtig löste, bekam er von mir einen Kuss. Wenn zwei hintereinander korrekt waren, schenkte ich ihm einen Zungenkuss. Sobald er drei richtig hatte, durfte er mich beim Küssen berühren… usw. Wenn er allerdings einen Fehler machte, fiel er wieder zurück und die Prozedur begann von vorn.

Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, dass Lys sich deswegen mehr als nur ins Zeug legte. Für mich war es Lohn genug, seine heißen Lippen auf meinen spüren zu dürfen. Zwar beschwerte sich mein Schatz hinterher, weil er in der Prüfung ständig schmutzige Gedanken gehabt hatte, aber im Endeffekt bestand er diese mit einer guten zwei.

Sabine war komplett aus dem Häuschen und schmiss kurzerhand nach der Zeugnisausgabe eine Party für ihren Sohn und dessen Freunde. Ja, ich durfte meine Chemieprofessorin neuerdings duzen – zumindest privat. Als Lys das hörte, wäre er fast aus den Latschen gekippt, aber mit Biene verstand ich mich einfach richtig gut. Sie war es auch, die Micha und mich hinter die Bühne im kleinen Opernhaus schmuggelte, als der Vorentscheid zur Talentsuche von jungen Pianisten stattfand.

Ich versuchte wirklich gelassen zu bleiben, wollte unbedingt für Lys ein Ruhepol sein. Doch leider war ich so aufgeregt, dass ich auf dem schmalen Gang hinter der Bühne wie wild auf und ab tigerte. Micha war lustiger weise nicht viel besser. Sie saß die ganze Zeit auf dem Boden, die Beine angestellt. Nervös knabberte die Kleine an ihren Fingernägeln und wippte apathisch mit ihren Füßen vor und zurück. Der einzige, der alles relativ cool nahm, war Lys. Dieser kam gerade auf uns zugeschlendert, die Hände locker in den Hosentaschen vergraben.

Zum ersten Mal sah ich ihn im Anzug aus der Nähe. Es war ungewohnt, ihn so zu sehen, in schicken Klamotten, ohne das Piercing in der Lippe, die Haare streng nach hinten gegelt. Das alles machte ihn beängstigend erwachsen.

„Du starrst mich schon wieder mit offenem Mund an. Man könnte meinen, du siehst mich zum ersten Mal“, scherzte mein Schatz, drückte mir einen Kuss auf die Lippen und verschlang seine Finger beider Hände in meine.

„Du schaust seltsam in diesem Outfit aus“, erklärte ich verwirrt.

„Oh, danke für das Kompliment. Ich bevorzuge auch lieber nen Shirt, lockere Hose und Rangers, aber ich glaube, die Talentsucher fänden das nicht sehr anregend.“

„Ich mein ja nur, dass es ungewohnt für mich ist. Außerdem ist es egal welche Sachen du anhast. Die Juroren werden so oder so von dir mehr als nur begeistert sein, sobald du anfängst zu spielen. Genauso wie ich.“ Tief sah ich meinem Liebsten in die Augen und lächelte ihn an, was er nicht weniger verliebt erwiderte.

 „Kleiner Schmeichler“, meinte er sanft.

„Das hab ich nicht nötig“, antwortete ich selbstsicher und beugte meinen Kopf etwas zu ihm hinab.

„Du bist ja sehr von dir überzeugt“, kicherte mein Schatz, worauf ich meine Lippen fordernd auf seine presste und wir in einem nicht enden wollenden, leidenschaftlichen Kuss verfielen.

„Lys, die kündigen dich gerade an“, unterbrach uns Micha aufgeregt.

„Na dann“, seufzte mein Schatz und wollte sich irgendwie überhaupt nicht von mir lösen. Erst als ich ihn ein wenig von mir weggeschoben hatte, ging er murrend zum Aufgang der Bühne.

„Viel Glück“, rief ich ihm noch hinterher, was Lys mir mit einem absolut genialen Lächeln dankte.

Gott, am liebsten hätte ich ihn mir einfach geschnappt, ihn aus diesem blöden, viel zu gut besuchten Haus geschliffen, in sein Zimmer gezerrt, ihm seine Klamotten vom Leib gerissen und wäre hemmungslos über ihn hergefallen. Keine Ahnung was dieser kleine Dämon mit mir gemacht hatte, als wir das erste Mal miteinander schliefen. Ich wusste nur, dass ich seitdem regelrecht süchtig nach ihm war. Keinen Tag hielt ich es mehr ohne ihn aus.

Sanfte Töne drangen zu uns, als Lys begann zu spielen. Micha und ich lehnten gemeinsam an der Wand und lauschten diesen wunderschönen Klängen, welche mir genauso leidenschaftlich schienen, wie der Pianist selbst, der sie hervorrief. Die Kleine neben mir spielte die ganze Zeit nervös an ihrem Armband, was mich neugierig werden ließ.

„Sieht schick aus, was du da hast“, sprach ich sie an, vielleicht auch, um mich selbst ein wenig abzulenken.

„Danke. Ich habe es von Cat geschenkt bekommen. Ist aber leider kaputt.“

Sie hielt mir das aus Leder bestehende Schmuckstück hin, damit ich es näher betrachten konnte. Es war recht schlicht gehalten. Das kleine Stück war höchstens  zwei Zentimeter breit und umfasste ein längliches Tribal. Am Ende zusammengehalten wurde es von 4 dünnen Lederschnüren. Allerdings konnte ich nicht erkennen, was daran kaputt sein sollte.

„Du magst Cat sehr, oder?“

Micha bekam einen verträumten Gesichtsausdruck.

„Ja. Sie ist für mich wie eine große Schwester, die ich nie hatte. Die Farben des Tribals sind die ihrer Augen. Schön, was?“

Ich nickte. Die Kleine stemmte sich von der Wand ab und lief ein wenig auf und nieder.

„Eigentlich wollte Cat schon längst wieder hier sein. Sie meinte, dass es nicht lange dauert, ein neues Armband zu besorgen“, sagte Micha beunruhigt.

„Hey, es ist Freitag und früher Nachmittag. Weist du, was da in der Stadt los ist? Außerdem sieht doch dein Schmuckstück überhaupt nicht kaputt aus.“

„Du solltest nicht alles nur von außen betrachten. Schließlich ist es das Innere, was zählt.“

„Sehr tiefsinnig“, schmunzelte ich.

„Ist so ein Spruch von Cat.“

Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile, bis das Spiel des Klaviers endete. Sofort horchten Micha und ich auf und stimmten wenige Sekunden später in das wilde Jubelgeschrei und den Applaus des Publikums ein. Bei keinem der Teilnehmer waren die Zurufe so laut und heftig gewesen. Locker und lässig erschien Lys hinter der Bühne, als würde der Lärm überhaupt nicht ihm gelten. Micha rannte sofort auf meinen Schatz zu und sprang ihm um den Hals.

„Du warst echt der Wahnsinn. Hörst du das? Die sind total begeistert von dir!“, plapperte die Kleine wild drauf los.

„Das Stück war recht einfach, was ich spielen sollte“, winkte Lys unbeeindruckt ab.

„Ich fand, es war eines der Schönsten, die du bisher gespielt hast“, gab ich meinen Kommentar sanft hinzu, worauf mein Liebster mich schüchtern anlächelte.

„Meinst du?“

„Weiß ich.“ Ich ging auf ihn zu und drückte meinem Schatz einen Kuss auf die Stirn, da Micha noch immer an ihm hing.

Es war schon seltsam, mit was für Kleinigkeiten ich Lys aus der Bahn werfen konnte, schließlich war er sonst immer so tough drauf. Doch jetzt sah er verklärt zu mir auf, keine Spur von Lockerheit und Coolness. Nur widerlich süße Verliebtheit.

„Ah, hier bist du. Hätte ich mir eigentlich auch denken können“, unterbrach uns Sabine und steuerte auf ihren Sohn zu. „Die Juroren waren wirklich hin und weg von dir. Zwar müssen die sich noch die restlichen Teilnehmer anhören, aber du zählst schon jetzt zu ihren Favoriten. Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz“, quasselte Biene begeistert, zog ihren Sprössling aus Michas Armen und knuddelte ihn richtig durch.

„Mooom! Ich bekomm kaum noch Luft“, protestierte Lys genervt, freute sich aber doch sehr über das Lob seiner Mutter, schließlich verteilte sie so etwas nur mit bedacht und entsprechend selten.

„Ist ja gut. Also, die offizielle Bekanntgabe der Gewinner erfolgt per Post in einer Woche. Heute Abend findet noch eine kleine Gala statt für die gesamten Teilnehmer. Sei also bitte spätestens 18 Uhr zuhause. Ansonsten hast du jetzt frei.“

„Das ist doch mal ein Wort. Ich geh mich umziehen“, sprachs, schenkte mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und war dann schon mit seiner Mutter Richtung Umkleide verschwunden.

„Wow. Das wäre ja echt der Hammer, wenn Lys den Vorentscheid gewinnt. Wusstest du, dass die drei Erstplatzierten zum Finale nach Zürich fliegen?“, begann Micha begeistert zu erzählen.

„Ehrlich jetzt? Davon hat er mir gar nichts erzählt.“

„Mir auch nicht. Lys spricht nicht gern über sein Talent. Er spielt zwar gerne Klavier, hängt es aber nicht an die große Glocke. Ich hab mit seiner Mom gesprochen und die hat das so nebenher ausgeplaudert.“

Mir wurde es ein wenig mulmig in der Magengegend. Zürich war ganz schön weit weg und das sollte nur der Anfang sein. Wenn schon ein Vorentscheid in einem anderen Land ausgetragen werden sollte, wo findet dann erst das Finale statt? In Sydney? Wenn er Erfolg haben würde – was sehr wahrscheinlich war – würde er dann die ganze Zeit um die halbe Welt reisen? Vielleicht klang das egoistisch, doch ich wollte meinen Schatz nicht hergeben. Jedes Mal länger von ihm getrennt zu sein, konnte ich mir schon jetzt kaum vorstellen. Aber er hatte so viel Talent. Wollte ich wirklich, dass er dies wegen mir vergeudete?

Fürs erste kam ich nicht dazu, mir weiter Gedanken darüber zu machen, denn neben mir begann es laut zu poltern. Jemand war buchstäblich durch die Tür hinter der Bühne, welche nach draußen zum Hintereingang führte, gestolpert und quälte sich leise stöhnend halb auf. Ich wollte schon hingehen um zu helfen, doch Micha kam mir zuvor.

„Cat!“

Laut rufend lief sie auf die junge Frau zu und half ihr sich soweit hochzustemmen, bis sie mit wackeligen Beinen schwer schnaufend an der Wand lehnte. Sie hielt eine Hand fest auf ihre Seite, kurz über der Hüfte, gepresst, aus der stetig Blut hervorquoll. Augenblicklich begann Micha am ganzen Körper zu zittern und Tränen rannen über ihre Wangen hinab.

„Du… musst sofort… von hier verschwinden. Raus… aus der Stadt. Sie haben… uns gefunden. Ein Spion… aus den eigenen… Reihen hat uns… verraten. Sie wissen… wo du gerade bist. Die… Polizei… steckt mit drin… wurden bestochen. Nimm das… und geh. Fliehe… Vertraue nur… Flo. Niemand anderem. Versprich… mir das!“

Nur stockend brachte Cat diese Worte über ihre Lippen. Schwach drückte sie Micha eine Plastikkarte in die Hand und sah sie fest an. Doch die Kleine schüttelte nur wild mit ihrem Kopf.

„Nein! Ich lass dich hier nicht zurück. Die töten dich!“

„Ich dulde… keine Widerworte! Allein komm ich eh… viel besser klar!“ Cat löste sich von der Wand und schubste Micha ein Stück von sich weg. „Geh endlich!“, schrie sie, worauf ihre kleine Freundin zusammenzuckte.

Deren Atem ging immer schneller und sie blickte panisch zwischen Tür und ihrer Fastschwester hin und her.

„Verdammt noch mal, verschwinde!“, rief Cat wütend und brach im nächsten Moment zusammen.

Nur Micha war es zu verdanken, dass sie nicht mit voller Wucht auf den Boden aufschlug, sondern sanft nieder glitt. Erst da löste sich meine Erstarrung. Schnell hatte ich mir mein Handy aus der Hosentasche geangelt und wählte die Nummer des Notrufes. Doch ehe ich mich versah, stand Micha vor mir, riss das Handy aus meiner Hand und warf es kräftig auf den Boden.

„Bist du wahnsinnig? Hast du Cat eben nicht richtig zugehört??? Die Polizei ist an ihrem Zustand schuld. Wenn du jetzt einen Notarzt rufst, wissen die sofort wo wir sind. Da kannst du uns auch gleich hier umbringen!“

Wutentbrannt sah mich die Kleine mit Tränen verschmiertem Gesicht an. Fassungslos blickte ich ihr in die Augen. Mal davon abgesehen, dass sie mir mein neues Handy zerstört hatte, verstand ich hier gar nichts.

„Micha, sie verblutet, wenn wir nichts unternehmen!“

„Sie wird aber auch sterben, wenn wir sie ins Krankenhaus bringen!“, schrie Michaela verzweifelt und begann, hemmungslos zu weinen.

„Was ist denn hier los?“, hörten wir Lysander sich nähern. „Ach du scheiße.“

Als mein Schatz gewahrte, was hier los war, zückte er sofort sein Kommunikationshelfer, den ich ihm geistesgegenwärtig gleich wieder abnahm. Verwundert schaut er zwischen mir und seiner Freundin hin und her.

„Könntet ihr mir bitte erklären, was hier los ist?“, forderte Lys uns auf.

„Diese Frage kann nur Micha beantworten“, sagte ich und sah die Kleine auffordernd an.

„Ich erzähl euch alles. Versprochen. Aber erst müssen wir hier weg. Wenn Cat Recht behält, sind wir hier nicht mehr sicher. Bitte, ihr müsst mir vertrauen!“, flehte sie regelrecht.

Nach einem knappen, bestätigenden Nicken von Lys, faste ich einen Entschluss.

„Also gut, verschwinden wir erstmal. Ich kenne da jemanden, der uns helfen könnte. Versprechen tu ich allerdings nichts.“

Ich ging zu Cat und nahm sie auf meine Arme. Sie war so leicht, dass ich Angst bekam, nur noch eine leere Hülle in den Händen zu halten. Wir gelangten durch die Hintertür nach draußen in eine Gasse. Ein paar Schritte weiter weg stand ein herrenloser, mattschwarzer Transporter, in dessen Zündschloss sogar die Schlüssel steckten. Wir nahmen erst an, dass es der von Cat war, doch drinnen fanden wir kein Blut. Beide Frauen verstauten wir nach hinten auf der Ladefläche, während ich mich hinters Steuer setzte, meinen Schatz neben mich.

„Ich wusste gar nicht, dass du Autofahren kannst“, meine Lys verwundert.

„Kann ich auch nicht, zumindest nicht offiziell. Hab mal in nem großem Autohaus aushilfsweise gearbeitet. Fahrzeuge waschen und so.“

„Hoffentlich werden wir nicht angehalten“, sagte darauf mein Schatz und krallte sich am Sitz fest, als ich den Motor startete.

Beim Anfahren holperte der Wagen zwar kurz, doch dann bog ich geschmeidig auf die Hauptstraße. Es war klar, dass ich zu Maike wollte. Nur schwer fand ich mich auf den Straßen zurecht. War halt doch anders, als mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Nach zehn Minuten kamen wir endlich bei dem Haus meiner Freundin an. Ich parkte halb auf dem Fußweg, direkt davor. Das war vielleicht auffällig, aber nicht ganz so schlimm, wie eine stark blutende Frau durch die Gegend zu schleppen. Im zweiten Stock angekommen, betätigte Lys so lange die Türklingel, bis die Wohnungstür vor Wut regelrecht aufgerissen wurde.

Maike wollte gerade zu einem verärgerten Gezeter ansetzen, als ihr die Worte im Munde stecken blieben. Mit immer größer werdenden Augen starrte meine Freundin erst die Frau in meinen Armen, dann Michaela ungläubig an.

„Dürfen wir reinkommen?“, fragte ich vorsichtig.

Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, wie Maike reagieren würde. Zwischen Hysterie und vollkommener Gelassenheit hatte ich mir alles ausgemalt. Doch dann fasste sie sich und trat beiseite.

„Klar. Geht ins Esszimmer, die zweite Tür rechts. Ich räume nur den Tisch ab.“

Schnell hatte sie die Wohnungstür hinter uns geschlossen, war an mir vorbei geeilt und nahm Kerzenständer und Blumen von der langen Tafel ab. Meine Freundin verschwand in ein anderes Zimmer und kam Sekunden später mit einer Rolle weißer Papiertischdecke wieder, die Lys mit ihr auf den Tisch ausbreitete. Dann konnte ich Cat endlich niederlegen. Vielleicht war die Kleine nur eine halbe Portion, doch mit der Zeit wurde sie immer schwerer.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich fragen soll, was passiert ist“, meinte Maike, als sie neben Cat ihr ‚Werkzeug‘ zusammen suchte.

„Ehrlich gesagt wissen wir das auch nicht. Cat ist uns regelrecht vor die Füße gefallen“, versuchte ich zu erklären.

„Ihr kenn sie?“, hakte sie fast zu beiläufig nach.

„Na ja, nicht wirklich. Nur vom sehen her. Sie ist Michas große Schwester. Cat wurde angegriffen, sagte uns aber nicht von wem, sondern nur, dass sie nicht zur Polizei will. Ich dachte, du könntest ihr helfen.“

„Das kann ich auch. Siehst du, es ist nur ein Streifschuss, mehr nicht. Allerdings hat sie sehr viel Blut verloren. Selbst wenn ich die Wunde reinige und nähe, bräuchte sie immer noch eine Transfusion. Ihr wisst nicht rein zufällig ihre Blutgruppe?“

„Cat hat meine. Ich wurde… ich hatte mal einen Unfall“, stotterte Micha. „Damals half sie mir aus.“

„Oh, sehr gut. Nimm dir einen Stuhl und setz dich neben deine Schwester. Ich werde alles Nötige vorbereiten. Ihr habt wirklich Glück, dass ich alle Utensilien soweit im Haus habe. Wollte eigentlich einen Vortrag drüber schreiben, weswegen ich mir einiges aus der Klinik ausleihen durfte. Thilo, wasch dir bitte deine Hände und zieh dir Handschuhe drüber. Du musst mir hier helfen.“

Ich tat wie geheißen und half Maike die nächste Zeit, Cats Wunde zu verarzten. Als wir fertig waren, legte sie noch die Transfusion und atmete dann tief durch.

„Jetzt hängt es nur noch von ihr ab. Sie scheint zäh zu sein, also können wir hoffen.“ Aufmunternd lächelte meine Freundin Micha an, die es schwach erwiderte.

„Du Thilo. Wir müssen noch den Wagen vorm Haus wegfahren. Nicht dass der noch jemandem auffällt“, meldete sich Lys zu Wort, der die ganze Zeit neben seiner Bandkameradin gestanden und ihre Hand gehalten hatte.

„Macht das mal ganz schnell. Die alten Damen im Haus sind echt penetrant. Danach will ich allerdings eine Erklärung haben“, forderte Maike und reichte mir ein Hemd ihres Freundes. Mein Shirt, was über und über mit Blut besudelt war, wäre doch zu auffällig gewesen.

„Nicht nur du, glaub mir.“

Wir verabschiedeten uns knapp und Minuten später saßen mein Schatz und ich wieder in dem mattschwarzen Transporter und fuhren durch die Gegend. In irgendeiner verlassenen Straße stellten wir ihn ab, versuchten unsere Fingerabdrücke und Spuren so gut wie nur möglich zu verwischen und verschwanden Richtung Maike. Auf dem Weg dorthin spielte ich unentwegt mit dem ledernen Armband, welches ich Cat abgenommen hatte, als ich meiner Freundin half sie zu verarzten. Lys fiel es auf und klaubte es sich sanft aus meinen Fingern.

„Woher hast du denn das?“, fragte er und musterte das Schmuckstück interessiert.

„Von Cat. Sie trug es um ihr Handgelenk. Ich musste es wegen der Transfusion abmachen. Weißt du, was mir wieder einfällt? Micha hat genau das Gleiche, nur dass bei ihr die Farbe des Tribals anders ist. Als ich mich mit ihr hinter der Bühne im kleinen Opernhaus darüber unterhielt meinte sie, es sei kaputt und Cat sei gerade dabei, ihr ein neues zu besorgen. Dabei war das Armband ganz, als ich es mir anschaute. Ihr schien das übel wichtig zu sein. Hast du ne Ahnung warum?“

„Keine. Aber ich wüsste vielleicht jemanden, der uns mehr darüber sagen könnte.“ Lys beschleunigte seine Schritte. „Micha hat dieses Teil immer getragen. Ein einziges Mal – sie war erst neu in der Stadt – legte sie es ab. An dem Tag war es schweinewarm und wir alle zusammen baden. Sie wollte es im Wasser nicht verlieren und versteckte das Armband in ihrem Rucksack. Es dauerte keine fünf Minuten, da stand schon Cat auf der Matte und fauchte Micha übel an, dass sie es ja nie wieder abmachen solle.“

„Seltsam. Sonst ist sie doch immer mit ihrer kleinen so lieb. Und woher wusste sie davon? Hat das Teil etwa nen Pulsmessgerät integriert?“

Eigentlich war das als Scherz gemeint, aber momentan schien mir nichts mehr abwegig. Meinem Schatz ging es wohl genauso, denn er sah mich vielsagend an. Nach gut fünfzehn Minuten bemerkte ich ein größeres Gebäude rechts von mir. Wir liefen an einem zwei Meter hohen, steinernen Zaun vorbei, durch dessen Lücken ich besagtes Haus sehen konnte.

Es schien eine Turnhalle zu sein, denn auf dem Gelände davor erkannte ich einen Basketball- und Tennisplatz. Einige Kids kamen gerade durch das Eingangstor auf den Fußweg mit großen Sporttaschen in den Händen und schauten mal mehr, mal weniger geschafft aus. Lys‘ Schritte wurden immer energischer, als würde er jeden Moment anfangen zu rennen. Doch gerade als er stürmisch in den Eingang einbog, knallte er volle Wucht mit jemandem zusammen.

„Lys!“ Erschrocken kniete ich mich neben meinen Schatz nieder. „Alles okay bei dir?“, fragte ich und streichelte ihn besorgt über die Wange.

„Ich glaube schon. Diese dumme Angewohnheit hat der Typ sich über die Jahre echt nicht abgewöhnen können“, knurrte er spöttisch und schaute, sich seine Stirn reibend, zu dem Jungen rüber, mit dem er zusammengestoßen war. Bei den Worten blickte dieser augenblicklich auf und starrte meinen Liebsten ungläubig an.

„Lysander?“ Mit Hilfe eines anderen Jungen war er aufgestanden und schien nicht wirklich was mit der Anwesenheit meines Schatzes anzufangen.

„Du schon wieder. Sag mal, war ich das letzte Mal nicht deutlich genug oder was willst du hier?“ Der Dritte mit den braunen Haaren kam bedrohlich auf Lys zu, wurde aber gleich von eben jenem unterbrochen.

„Ob du’s glaubst oder nicht, Keyl“, begann mein Schatz locker und stand auf. „Aber ich brauche eine Auskunft. Von euch beiden.“

„Warte mal Lys. Du kannst hier nicht nach nem halben Jahr auftauchen und ein wenig Smalltalk führen, nach der Show, die du an Sylvester abgezogen hast.“ Der schwarzhaarige, mit dem mein Liebster kollidiert war, trat zu diesem Keyl und klammerte sich an dessen Arm und Hand fest. Beide waren wohl ein Paar, denn diese Geste sprach Bände.

„Sylvester war ein dummes Ding. Zu viel Alk und Frust. Tut mir wirklich leid.“ Lys schob die Hände in seine Hosentaschen und schaute bedröppelt zu Boden. Die Jungs sahen sich nur verblüfft an und dann zu meinem Schatz. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet.

„So eine ernst gemeinte Entschuldigung höre ich seit zehn Jahren zum ersten Mal“, meinte das Schwarzhaar erstaunt.

„Liegt vielleicht an dem guten Einfluss“, grinste nun Lys, hakte sich bei mir ein und lächelte mich liebevoll an. Die anderen Beiden bekamen noch größere Augen – wenn das denn ginge – und Keyls Freund klappte regelrecht der Unterkiefer runter.

„Wow… also… ähm… das hätte ich nun nicht erwartet. Aber freut mich wirklich sehr“, stotterte er.

„Ich weiß, dass die Sache von damals damit nicht behoben ist, aber ich hab mich verändert, Alex. Vielleicht kannst du mir ja… könnt IHR mir irgendwann verzeihen.“

Alex? Moment mal. War das wirklich DER Alex??? Die erste große Liebe von Lys? Es schien so. Mir wurde seltsam mulmig zumute. Obwohl sich mein Schatz gerade an mich drängte, hatte ich trotzdem Angst, ihn verlieren zu können.

„Es ist viel passiert Lys. Viel zu viel. Ich kann nichts versprechen. Aber ich würde es sehr gerne versuchen.“

Der Atem meines Schatzes wurde immer schneller und die Freude stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Fast sah es so aus, als wolle er sich von mir lösen um auf Alex zuzustürmen. Doch er zuckte im letzten Moment zurück und klammerte sich noch heftiger an mich.

„Nun komm schon endlich her, du Vollidiot!“, forderte Alex und kam mit offenen Armen auf meinen Schatz zu. Beide drückten sich sehr fest und deutlich konnte ich Tränen in ihren Augen glitzern sehen.

Ich wollte mich freuen, dass die zwei Freunde aus dem Sandkasten sich wieder vertragen hatten, ehrlich. Aber ich konnte nicht. Es war mehr als nur Eifersucht, was meinen Magen zum Rebellieren brachte. Es war Angst, denjenigen verlieren zu können, den ich so sehr zu lieben gelernt hatte. Sie klammerte noch immer aneinander und flüsterten sich leise Worte ins Ohr, als Keyl zu mir trat. Er folgte meinem Blick.

„Guck nicht so besorgt drein. Die Beiden kennen sich schon ihr ganzes Leben, weswegen alles ziemlich heftig für sie war. Das Gute wie das Schlechte. Auch wenn es mir nicht ganz passt, aber es ist gut, dass sie wieder Freunde sind. Gute Freunde, nicht mehr, nicht weniger. Zwecks dem ersten wird mein Schatz auf jeden Fall für sorgen.“

‚Toll, sollte mich das etwa beruhigen? Wieso lasse ich mich überhaupt von einem Kind – was auf Garantie nicht älter als 17 Jahre ist – von der Seite zulabern? Macht der sich etwa überhaupt keine Gedanken?!‘

„Ähm. Ich will zwar dieses junge Glück nicht stören, aber wieso seid ihr hier?“, fragte Keyl, wonach die Jungs sich verlegen voneinander lösten.

„Wegen dem hier“, antwortete Lys und hielt das Handgelenk von Alex hoch, an dem das gleiche Armband hing, was ich in den Fingern hielt.

Alex wurde ernst und blickte zu seinem Schatz.

„Was ist damit?“ Die Frage, die dieser stellte, sollte wohl beiläufig klingen, doch ich erkannte seine aufkommende Unruhe.

„Och, ich hab es bei euch entdeckt und es gefiel mir. Wir wollen uns vielleicht auch solche herstellen lassen. Könnt ihr uns sagen, wo man die kaufen kann?“, meinte Lys locker und setzte eine unverschämte Unschuldsmiene auf. Zumindest fand ich sie gekonnt.

„Du warst schon immer ein miserabler Lügner“, schüttelte Alex seinen Kopf.

„Nur bei dir“, seufzte mein Schatz. Mich kotzte schon jetzt an, wie vertraut sie einander waren.

„Ich kann es nicht fassen, dass du unsere Freundschaft mit einer Lüge wieder beginnen willst.“

„Tut mit leid. Ich kann dir aber nicht mehr erzählen. Das ist alles ein wenig heikel, weswegen ich dich nicht mit hineinziehen will“, versuchte Lys sich zu erklären.

„Er hat es von mir zu Weihnachten geschenkt bekommen“, mischte sich Keyl ein. „Das ist eine Sonderanfertigung. Sehr teuer und rar.“

„So rar anscheinend nun auch wieder nicht“, sagte ich und hielt dem Jungen Cats Armband unter die Nase. Kaum hatte dieser es gesehen, riss er mir es schon aus der Hand. Nach kurzer aber intensiver Untersuchung, kniff Keyl seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und funkelte mich bedrohlich an.

„Woher hast du das?“, blaffte er.

„Gefund…“, setzte ich zu einer Antwort an, wurde aber gleich unterbrochen.

„Lüge!“, schrie fast der Junge, wobei ich mich tierisch zusammen reißen musste, um nicht zusammenzuzucken.

„Hey, ich sagte schon, dass wir nicht alles erzählen können. Wir wollen euch da auf keinen Fall mit reinziehen“, verteidigte mich mein Liebster.

„Wir stecken viel tiefer drin, als ihr ahnt. Ich wiederhole mich also kein zweites Mal“, zischte Keyl und kam einen Schritt auf mich zu. Ich baute mich ein wenig vor ihm auf, schließlich war ich nicht nur älter, sondern auch einen Kopf größer als dieser Wicht.

„Wenn du mir sagst was es mit diesem Teil hier auf sich hat, dann erzähle ich dir, wo ich dieses Exemplar her habe“, bot ich ihm an.

„Da ich mich klar und deutlich ausgedrückt hatte, scheint ihr mich einfach nur zu unterschätzen. Leider ist das ein sehr großer Fehler!“

Kaum hatte Keyl ausgesprochen wurde ich schon von ihm am Hemdkragen gepackt und herumgeschleudert, dass ich schmerzhaft an einen der Zaunpfähle landete. Keyls Hände hatten sich fest um den Kragen geschlossen und seine Fäuste bohrten sich in meinen Hals, sodass ich kaum noch Luft bekam.

„Sag mir wo Cathrina ist, sofort!“, zischte mein Gegner aggressiv. Wo nahm dieser Winzling nur seine Kraft her?

„Schatz, hör auf! Er wird dir deine Fragen beantworten auch ohne dass du ihn erwürgst“, mischte sich Alex ein und legte beschwichtigend seine Hände auf Keyls Arme.

„Jetzt schon“, meinte dieser kalt und ließ mich los.

Diese vor Wut verzerrte Grimasse passte irgendwie überhaupt nicht zu Keyls fast engelhaftem Gesicht, mit den hellbraunen, fast sandig-farbig wirkenden Augen. Lys war zu mir gelaufen und stand mit seinem Ex neben mir.

„Ich hatte deinen Macker ruhiger in Erinnerung“, spottete mein Schatz und fixierte wütend den vor uns auf und ab laufenden Jungen.

„Hör auf Lys. Dieses Armband bedeutet viel mehr als ihr denkt“, sagte Alex.

„Dann klär uns endlich auf!“, forderte mein Liebster.

„Das können wir nicht. Es ist verboten… geheim.“ Verzweifelt blickten sich die beiden Freunde an.

„Es gehört meiner Cousine.“ Keyl war zu uns getreten und hatte sich soweit wieder beruhigt. Nur noch seinen Augen war die Nervosität anzusehen. „Sie ist sowas wie ne Agentin.“

„Schatz!“, unterbrach ihn Alex. „Deine Mom bringt uns um, wenn sie erfährt, dass wir Außenstehenden was erzählt haben“, gab er zu bedenken.

„Ich weiß. Aber ich muss Cathrina finden. Sie ist meine Cousine!“ Um Bestätigung erhaschend blickte Keyl seinen Freund an und nahm dessen Hand. Dann nickte dieser.

„Dieses Armband ist viel mehr als zur Zierde für das Handgelenk“, begann der Junge zu  erklären.

Er schob sein Hosenbein ein Stück hoch und holte ein kleines, schmales Messer hervor, das in einer Hülle am Knöchel befestigt war. Winzige Edelsteine zierten das Heft und funkelten bedrohlich in der Sonne. Mit der Spitze der Klinge hebelte Keyl das Tribal aus dem Leder und zum Vorschein kam winzige Minielektronik.

„Also ist es doch sowas wie ein Pulsmesser?“, entwich es mir erstaunt, worauf der Junge vor mir schmunzelte.

„Dieses Schmuckstück kann mehr als du denkst. Aber du hast nicht ganz Unrecht. Neben einem Peilsender ist auch sowas ähnliches mit integriert. Dieses Exemplar hier ist total durchgeschmort. Seht ihr. Alles sieht wie rußgeschwärzt aus. Als hätte man meiner Cousine einen Elektroschocker direkt ans Handgelenk gepresst. Das kann nur jemand getan haben, der über dieses Erkennungszeichen Bescheid wusste. Einer aus den eigenen Reihen.“ Keyls Blick verdunkelte sich und starrte angestrengt auf das Schmuckstück.

„Der Meinung war auch Cat“, sagte ich. „Wir waren im kleinen Opernhaus, weil Lys dort am Piano aufgetreten ist. Kurz nach der Vorführung kam Cat durch den Hintereingang gestolpert und faselte, dass die Polizei bestochen worden war und auch von einem Verräter.“

Keyl wurde immer blasser.

„So ernst ist es schon…“, sagte er leise, wie zu sich selbst. Dann sah er zu mir auf. „Wo ist ihr Schützling? Das Mädchen mit den schwarzen Haaren und roten Strähnen?“

„Micha ist bei Cat. Ihr geht es gut“, antwortete Lys.

„Und Cathrina? Was ist mit ihr? Freiwillig würde sie ihr Armband nie ablegen.“

„Sie wurde angeschossen.“ Ich berichtete knapp was geschehen war, als die junge Frau hinter der Bühne auftauchte, was sie erzählt hatte und wo wir sie hinbrachten.

„Bitte bringt mich zu ihr. Wir haben eigene Krankenhäuser. Bestimmt konnte deine Freundin sie vorerst versorgen, aber Cathrina braucht professionelle Hilfe.“

Lys vertraute Alex und dieser wiederum Keyl. Also musste ich ihm wohl Glauben schenken. Ich verriet ihm die Adresse von Maike, wonach der Junge sofort sein Handy zückte. Er war ein paar Schritte von uns weggelaufen, weswegen ich nicht hören konnte, was er sagte. Dann kam er wieder näher.

„Ich gehe zu ihr, ob dir das passt oder nicht!“, schrie Keyl fast ins Handy und legte wutentbrannt auf.

„Flo war nicht begeistert, oder?“, grinste Alex.

„Wenn der denkt, dass ich mich aus allem raushalten werde, still bleibe und Däumchen drehe, während meine Cousine Hilfe braucht, hat er sich aber ganz schön tief geschnitten!“

„Er ist nur besorgt um deine Sicherheit.“

„Manchmal geht mir das aber tierisch auf den Wecker.“

„Ich weiß.“ Beruhigend nahm Alex seinen Freund in den Arm und küsste ihn auf die Stirn. Dann sah er auffordernd zu uns. „Gehen wir?“

Lys und ich nickten und wollten gerade losmarschieren, als Keyl das Lederband von Alex und sich löste und in den nächsten Abfalleimer warf.

„Wenn es wirklich einen Verräter gibt, kann er uns darüber prima aufspüren. Michas Armband war nicht einfach so kaputt gegangen. Das passiert nicht so schnell. Cathrina hat es auf Garantie manipuliert, wenn nicht sogar ihr eigenes gleich mit“, erklärte Keyl, während wir auf dem Weg zu Maike waren. „Flo weiß wo wir sind. Das reicht.“

Erst eine gute dreiviertel Stunde später standen wir vor der Wohnungstür meiner Freundin.

„Da seid ihr ja endlich wieder. Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, tadelte sie, machte ihre Tür aber nicht weiter auf, als sie die anderen zwei Jungs hinter mir entdeckte.

„Das sind Freunde von Cat. Sie werden uns helfen“, beruhigte ich sie.

„Kann ich sonst noch mit jemandem fremden rechnen, der unerwartet vor meiner Tür steht? Versteh mich nicht falsch, aber langsam macht mich das echt nervös.“

„Erstmal nicht“, antwortete ich, worauf Maike uns endlich in ihre Wohnung ließ.

Wir schritten durch den länglichen Gang und erst jetzt hatte ich die Gelegenheit, mich gründlicher umzusehen. Bisher hatte mich meine Freundin noch nie zu sich mit eingeladen. Meist trafen wir uns in unserem Lieblingskaffee oder an der Uni. Zwar waren wir gute Freunde, aber ein DVD-Abend bei einem von uns zuhause stand bisher noch nie zur Diskussion.

Allein ihr Flur war recht breit und da sie ein extra Esszimmer hatte, schloss ich mindestens auf zwei weitere Zimmer – also Stube und eines zum Schlafen. Welcher Student konnte sich so eine große Wohnung leisten? Genügend Geld hatte sie doch bisher noch nie und viel Lohn warf ihr kleiner Nebenjob als Empfangsdame auch wieder nicht ab. Von reichen Eltern oder einem Erbe hatte Maike bisher nichts erzählt.

Gedankenverloren betrat ich mit den Anderen das Esszimmer. Im gleichen Moment fiel Keyl neben mir bewusstlos zu Boden. Verwirrt drehte ich mich um und sah gerade noch mit an, wie Maike mit etwas in Alex’ Nacken hieb, der sich besorgt über seinen Freund gebeugt hatte. Ich war viel zu perplex um zu reagieren. Doch was ich nicht tat, tat mein Schatz umso mehr. Brüllend warf sich Lys auf meine Freundin, aber diese wich geschickt aus und verpasste ihm einen derben Faustschlag ins Gesicht. Noch ehe sich mein Liebster wieder fangen konnte, hielt Maike ihm den Lauf einer Pistole zwischen die Augen.

„Schluss mit den Spielchen. Schafft die Beiden hier rüber. Na los!“, befahl sie uns und deutete mit ihrer Waffe in eine Ecke des Zimmers. In dieser saß leider schon Micha mit vom Weinen verquollenen Augen, gefesselt und geknebelt. Maike warf uns stärkere Kabelstrapse zu und unter ihrer Anweisung banden wir Hände und Füße unserer Freunde zusammen.

„Wieso machst du das?“, fragte ich verbittert, während ich Lys Beine fixierte.

„Wegen des Geldes, wieso auch sonst. Dachtest du wirklich, ich sei nur eine einfache Medizinstudentin? Meine Auftraggeber haben mich in diese Stadt geschickt um eine unerwünschte Zeugin aus dem Weg zu räumen. Leider stand sie unter dem Schutz der Organisation, also musste ich zuerst ihren Aufpasser ausschalten um an sie ran zu kommen. Aber dass ihr sie mir lebendig auf dem silbernen Tablett liefert und dann noch den Hoheprinzen persönlich… Ha, mit so viel Erfolg hatte ich nicht gerechnet. Tot ist auf ihre Köpfe schon eine Menge Geld ausgesetzt, aber lebendig…“

Wild lachte meine Freundin auf und ich erkannte sie kaum wieder. Sie war doch sonst immer so lieb und friedlich gewesen. Jetzt glich sie eher einer verrückt gewordenen Furie.

„Lass uns gehen Maike. Noch ist es nicht zu spät.“

„Komm, hör auf Thilo. Jetzt fehlt nur noch, dass du mir sagst, ihr würdet mich nicht verraten und gehen lassen. Denkst du wirklich, ich sei so naiv? Außerdem ist dir nicht im Geringsten bewusst, wie viel diese drei hier wert sind. Setz dich neben deinem Schätzchen und binde deine Beine fest. Na los.“

Traurig tat ich wie geheißen und kaum dass meine Füße mit den Kabelstrapsen fixiert waren und ich wieder zu Maike aufschauen wollte, traf mich etwas Hartes im Genick und ich fiel in dunkle Schwärze. Keine Ahnung wie lange ich ohnmächtig war, aber irgendwann erwachte ich durch ein sanftes Rütteln an meiner Schulter.

„Thilo? Schatz? Bitte wach wieder auf!“, hörte ich die besorgte Stimme meines Liebsten.

Stöhnend zwang ich mich, meine Augen zu öffnen. Wir saßen alle aneinander gereiht auf dem Boden, links vor uns stand der lange Esstisch. Keyl wurde gerade wie ich von seinem Schatz geweckt und zappelte genauso ungelenk wie meiner einer rum, als er merkte, dass er gefesselt war. ‚Hm, wieso hatte Lys Alex eher geweckt als mich? Wie lange hatten die Beiden ihre Freunde bewusstlos gelassen um miteinander ungestört sein zu können? Wurde ich jetzt komplett paranoid oder war meine Eifersucht begründet?‘

„Thilo? Alles klar bei dir?“, holte mich mein Schatz aus meinen Gedanken und ließ mich zu ihm aufschauen. Ich sah wohl so ziemlich verwirrt aus, denn Lys blickte mich mitleidig an und rückte so weit es ging an mich ran, küsste meine Wange, Nase und Mund und schmiegte dann sein Gesicht an meinen Hals.

„Wir kommen hier wieder raus. Das schaffen wir, keine Sorge“, redete er sanft auf mich ein. Allerdings machte ich mir weniger einen Kopf, ob wir hier unversehrt wieder rauskommen werden, als um meine Beziehung. ‚Scheiße, sowas hatte hier jetzt echt keinen Platz. Später ist noch genug Zeit dafür. Wenige Sekunden später stand Keyl vor mir und befreite meinen Schatz und mich von unseren Fesseln.

„Deine Freundin ist ein Stümper. Sie hat uns ohne uns zu durchsuchen einfach allein gelassen“, spottete er.

„Jetzt weißt du, warum du deinen Dolch immer bei dir führen sollst“, hörten wir alle eine schwache Stimme.

„Cat!“, kam es aus Keyls und Michas Mund gleichzeitig und beide rannten sie zu ihrer Freundin.

„Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Kannst du aufstehen?“ Beide überrumpelten sie mit ihren Fragen, worauf die junge Frau nur stockend antwortete. Sie hatte sich etwas aufgerichtet, das Bettlaken, welches als Decke diente, dicht an ihren nackten Körper gepresst.

„Geht so, glaube nicht, bin mir nicht sicher.“

„Was hat sie dir nur angetan“, meinte Keyl bitter und umarmte seine Cousine.

„Ob ihr es glaubt oder nicht, sie hat mich gerettet. Hätte sie nicht die entsprechenden Maßnahmen ergriffen, wäre ich jetzt tot. Aber ich sollte mir nicht so viel drauf einbilden, schließlich tat sie das nur wegen des Geldes.“

„Kennst du sie?“, wollte Alex wissen.

„Nein. Kurz nachdem die Beiden hier weg waren, wachte ich auf. Micha hatte sie betäubt und für mich bereitete sie gerade eine Spritze vor. Wir unterhielten uns etwas. Die Kleine war sich ihrer ganz schön sicher. Sie ist nur eine Gehilfin, zuständig für die Gebrechen ihrer Leute. Nebenher spürt sie Leute auf Anweisung auf, sowas wie bei uns der Sucher. Ihre Auftraggeber werden jeden Augenblick hier auftauchen. Wir müssen sofort hier weg“, erklärte Cat uns und versuchte aufzustehen. Doch ihre Beine gaben nach und sie wäre fast zu Boden gefallen, hätte ich sie nicht aufgefangen. Ich wickelte das Betttuch um ihren schlanken Leib und nahm sie dann auf meine Arme.

„Danke“, hauchte sie schwach, worauf ich nur müde lächelte.

„Okay, kommen wir zur Sache. Alex, du bleibst bei Cat und Thilo, Lys kümmere dich um Micha. Ich werde mal draußen die Gegend abchecken“, befahl Keyl herrisch, drehte das Messer einmal in der Hand und machte sich dann an dem Türschloss zu schaffen.

Doch noch ehe ich fragen konnte, was er genau vorhatte, bewegte sich die Türklinke von außen. Der Junge schlich ein paar Schritte zurück und bedeutete uns mit ein paar hastigen Bewegungen in Deckung zu gehen. Nur Alex blieb unaufgefordert bei ihm vorne, schnappte sich leise einen Stuhl und postierte sich hinter der Tür. Mit einem Knarren ging diese langsam auf und noch ehe der Mensch, der da gerade rein kam wusste, was ihm geschah, hatte Keyl ihn am Kragen gepackt und mit voller Wucht nach vorne auf den Boden geworfen.

Leider reagierte der Neuankömmling ausgesprochen schnell, rollte sich ab und riss, kaum dass er wieder stand, Alex den Stuhl aus der Hand. Es war einfach Wahnsinn, wie schnell dieser Typ war. Man sah nur wehendes, schwarzes Haar und einen langen Mantel, mehr nicht. Ehe die beiden Jungs begriffen was passierte, landete eine schallende Ohrfeige auf ihre Wangen.

„Flo?“ Micha war aufgestanden und ging langsam auf den großen Kerl zu. Als dieser seinen Namen hörte und sein Gesicht zu uns drehte, verschlug es mir die Sprache. Solch tiefe, dunkelgrün leuchtende Augen hatte ich bisher noch nie gesehen.

„Michaela.“

„Flo!“ Vor Erleichterung weinend lief das Mädchen auf ihn zu und umklammerte ihn schluchzend. Er hingegen tat nichts. Außer dass er sie festhielt, sagte er kein tröstendes Wort.

„Florian.“ Cat begann sich in meinen Armen zu regen, was das Grünauge veranlasste, zu mir zu blicken. Kurz drehte er sich zu den beiden Jungs neben sich.

„Wir sprechen später darüber“, meinte er kalt, ließ die Kleine sanft los und kam auf mich zu. Ich sah noch, wie Keyl und Alex sich ängstlich anschauten und schwer schluckten, dann kniete sich der junge Mann vor mich hin und lächelte Cat liebevoll an.

„Du kleine Närrin musstest auch wieder alles auf eigene Faust ganz alleine durchziehen“, ertönte seine atemberaubende Stimme.

„Du kennst mich doch.“

Flo schüttelte nur sacht mit seinem Kopf, streichelte ihr durchs Haar, beugte sich dann hinab und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Auf einmal sah er mich abrupt an. Meine Wangen färbten sich spontan in ein zartes rosa. Hatte er etwa meine Gedanken gelesen, dass ich mir wünschte, an Cats Stelle zu sein?

„Kannst du sie bis runter tragen?“, fragte er mich sanft.

„Ja… ich denke schon.“ Gott was blieb mir auch sonst für eine Antwort übrig bei diesem Blick.

„Gut. Dann komm.“ Er half mir auf und wandte sich dann der Tür zu. Durch diese schritt gerade ein weiterer Typ, diesmal mit hellbraunen Haaren.

„Der Rest der Wohnung ist gesichert. Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen“, meinte dieser und steckte eine Pistole wieder in den Halfter. Dann sah er Alex und Keyl dicht beieinander stehen. Er ging zu ihnen und sah sich ihre Gesichter genauer an.

„Das hätte echt nicht sein müssen“, meinte er dann und sah strafend zu Flo.

„Das brauchen wir hier jetzt nicht zu diskutieren, Chris“, sagte der Angesprochene schnippig und lief zur Tür. Das Braunhaar verzog nur seinen Mund und schüttelte den Kopf.

„Gut. Ich geh vor und sichere das Treppenhaus, falls sie kommen. Keyl, Alex, ihr folgt mir in etwas Abstand, danach kommt Micha mit Lysander. Denen folgen dann Cat und du“, verkündete Flo und wartete zum Schluss mein Nicken ab. „Du deckst uns den Rücken, Chris. Soweit für alle verständlich?“ Ein kollektives ‚ja‘ folgte.

Flo hatte Keyl eine zweite Pistole gegeben und Alex nahm den Dolch seines Freundes. Professionell wurde der gesamte Weg bis ins Treppenhaus gesichert und in Gänsemarsch folgten wir alle unserem Vordermann. Doch als wir gerade auf dem Treppenabsatz ankamen, begann es mit einem Schlag um uns herum zu toben. Ich hörte Flo über den Krach hinweg ‚zurück‘ schreien und wir begannen uns wieder Richtung Wohnungstür zu bewegen.

Aber nun wurden wir nicht nur aus der unteren, sondern auch aus der oberen Etage angegriffen. Chris stieß mich grob beiseite an die Wand, außer Reichweite der wild umher fliegenden Kugeln. Micha kreischte wie verrückt und klammerte sich wimmernd an Lys, der nur noch mit großer Mühe eine Panikattacke unterdrücken konnte. Keyl, Flo und Chris versuchten uns so gut wie möglich zu verteidigen, selbst Alex wehrte jeden Typen ab, der um die drei herum kam, aber dennoch saßen wir in der Falle. Wir standen mitten auf einer Treppe und von beiden Seiten wurden wir bedrängt. Scheiße, ich glaube ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben.

Mit einmal begann sich alles zuzuspitzen. Drei Leute drangen gleichzeitig auf Alex ein, der sich einen Schlag nach den Anderen einfing. Vor Wut brüllend sprang Lys auf und warf sich den Männern entgegen. Doch weder war er besonders stark, noch beherrschte mein Schatz irgendeine Kampfsportart wie die anderen. Ein Angreifer holte nur einmal aus und verpasste ihm einen Faustschlag ins Gesicht, der Lys mit dem Kopf heftig gegen das Geländer prallen ließ und er bewusstlos zu Boden ging.

Wie in Zeitlupe sah ich sein Gesicht auf den Treppen aufkommen, sah wie Blut aus seiner Stirn quoll, sah das widerliche Grinsen des Typen, als hätte er sich eine lästige Fliege vom Hals geschafft. Ich spürte, wie ich aus voller Kehle brüllte, hörte mich aber nur gedämpft, wie alles um mich herum. Ich versuchte aufzustehen, versuchte mich von Cat zu lösen um zu meinen Liebsten zu gelangen. Doch sie und Micha hielten mich wild durcheinander schreiend auf.

Dann war es mit einem Schlag vorbei. Menschen mit Schutzwesten, schwarzen Wollmasken und schweren Waffen tauchten plötzlich überall auf und umringten uns. Chris hatte sich vor Lys hingekniet, untersuchte seine Wunden und maß den Puls.

„Er lebt.“

Tränen der Erleichterung liefen meine Wangen hinab. Ich war genauso fertig wie alle aussahen. Um uns herum könnte man glauben, hier wären gleich mehrere Splittergranaten hochgegangen. Alle waren wir über und über mit Staub bedeckt von den Wänden. Alex hatte es heftig erwischt. Er blutete aus Lippe und Nase und seine Augen waren geschwollen, als hätte ihn jemand als Sandsack benutzt, was wohl auch der Wahrheit entsprach. Chris‘, Flos und Keyls Klamotten waren aufgerissen, genau wie deren Haut darunter.

Ich bekam nur dumpf mit, wie mir Cat aus den Händen genommen wurde und Micha mit ihr verschwand. Ich wurde erst wach, als Lys auf einer Trage festgeschnürt wurde und man ihn weg bringen wollte. Wie von der Tarantel gebissen sprang ich auf und ging auf die Leute los. Lys gehörte zu mir. Keiner durfte ihn mir einfach so wegnehmen! Man zerrte mich an den Armen zur Seite und irgend so ein Arzt jagte mir eine Spritze in die Vene. Ich hörte nur noch jemanden von einem Schock reden, dann wurde alles schwarz vor meinen Augen.

Irgendwann später wachte ich wieder auf. Ein Rufen hatte mich aus der Dunkelheit geholt, doch es galt nicht mir. Ich hielt meine Augen geschlossen und lauschte dem leisen Gespräch zweier Frauenstimmen.

„Du bist ja wieder auf den Beinen.“

„Klar, du weißt Micha, mich bekommt man nicht so schnell unter.“

„Ich freu mich so.“

„Ich mich auch. Wie geht es den dreien hier?“

„Soweit ganz gut. Thilo hat eine Beruhigungsspritze bekommen. Er stand ganz schön unter Schock. Lys hatte nur eine leichte Gehirnerschütterung. Die Platzwunde an seinem Kopf wurde genäht. Beide müssten eigentlich laut Arzt langsam wieder zu sich kommen. Und Alex‘ Nase ist gebrochen, zwei drei Rippen geprellt, aber er ist stark. Die ganze Zeit schon sitzt er vor Lys‘ Bett. Er macht sich total viele Vorwürfe, dass er an allem Schuld sei, dabei bin ich es doch.“

„Hey kleines, nicht weinen. Niemand von euch trägt die Schuld. Nur diese Verbrecher, die deine Eltern auf dem Gewissen haben sind die Übeltäter. Und ich schwör dir Micha, ich werde dafür sorgen, dass sie eine Ewigkeit in der Hölle schmoren.“

„Danke Cat.“

„Nicht für das, kleines, nicht für das.“

„Wo ist Keyl?“

„Der darf sich gerade eine Standpauke abholen, genau wie Flo und Chris. Aber ihnen geht es gut.“

„Das ist schön zu hören, also dass es ihnen gut geht.“

„Wenn man Alex so dasitzen sieht, könnte man glatt denken, er wäre mit Lys zusammen und nicht mit Keyl.“

„Stimmt. Die Beiden mögen sich sehr. Ich hoffe, dass Lys mir nicht all zu böse ist. Wegen mir hat er die Party mit den Juroren verpasst.“

„Er braucht keine Party. Der Junge ist so gut genug.“

„Da hast du Recht. Stell dir vor, ihm ist der Sieg total egal. Selbst wenn er gewinnt, will er nicht mal zum Finale in die Schweiz fahren. Er will lieber hier bleiben, bei ihm.“

„Du meinst er lässt lieber sein Talent hier verkümmern und verpasst die Chance seines Lebens? Aus Liebe? Ich wusste gar nicht, dass die Sache so ernst ist.“

„Das ahnte keiner.“

„Wow. Sowas hätte ich dem kleinen Giftzwerg nie zugetraut. Und du meinst, das geht gut?“

„Keine Ahnung.“

„Naja, wir werden sehen. Komm kleines, lass uns etwas essen gehen. Nicht dass wir die Jungs noch wecken.“

„Okay Cat.“

Ich hörte, wie beide Frauen das Zimmer verließen und wollte mich gerade umdrehen, um weiter zu schlafen, als plötzlich eine Welle von Bildern wie eine Sintflut über mich schwappte und mich mitriss. Ich sah Kugeln dicht neben meinen Kopf einschlagen, wie der feine Putz der Wand in meine Augen stieb und aufbrannte. Sah meinen Schatz brüllen vor Wut nach vorn stürmen, sah wie er heftig getroffen wurde und zu Boden ging.

Von Angst erfüllt riss ich meine Augen auf und mein Oberkörper schnellte nach oben. Wild atmend versuchte ich diese schrecklichen Bilder aus meinen Kopf zu verbannen, aber es gelang mir nicht. Ich wäre fast an einem Herzinfarkt gestorben, als sich jemand in meiner Nähe regte. Neben mir saß ein Junge auf einem Stuhl, dessen Kopf auf ein anderes Bett niedergesunken war. Er murmelte irgendwas, kuschelte sich in seine Arme, die auf der Matratze lagen und schlief weiter. Dann erinnerte ich mich wieder an das Gespräch zwischen den Frauen.

Meine Vermutungen waren also richtig gewesen. Lys liebte Alex noch immer und das sogar so sehr, dass er seine Karriere für ihn aufgeben würde. Ich war nur der Trostpreis, das Alibi, damit Keyl nicht stutzig wurde. Wie konnte ich auch nur so blöd sein? Wie konnte ich mich von einem siebzehnjährigen Jungen so einwickeln lassen? Tränen kullerten meine Wangen hinab. Wieso war das alles nur passiert?

Hilfesuchend schaute ich mich um, fand aber nur ein paar Sachen rechts von mir auf einen Stuhl liegend. Mit wackligen Beinen stand ich auf, riss mir den Tropf vom Arm und kletterte in die schwarzen Sachen. Ich taumelte zur Tür und sah ein letztes Mal zu Lys hinüber. Er lag friedlich schlafend auf dem Bett und sah einfach nur atemberaubend süß aus. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft in meiner Brust zusammen. Hektisch wischte ich mir meine Tränen aus dem Gesicht, drehte mich um und verließ das Zimmer.

Ich blickte nicht groß um mich, folgte nur den grünen Schildern, die mir den Ausgang wiesen. Fast alle liefen hier in den gleichen schwarzen Sachen umher, aber mir schenkte kaum jemand Beachtung, was wohl daran lang, dass ich dieselben Klamotten anhatte. Wankend stieg ich ein paar Treppen hinab, ging durch einige Flure und trat dann ins Freie. Ich schien mich mitten in der Stadt zu befinden.

‚Seit wann gab es denn hier ein Krankenhaus? Sollte mich das jetzt eigentlich noch wundern? Gott war mir schlecht‘

Um mich herum drehte sich alles und nur schwer schaffte ich es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Weder auf die Ampel oder Autos achtend, überquerte ich halb blind die Straße, was mir einige Verwünschungen und lautes Gehupe einbrachte. Ich wankte gerade um eine Ecke, da lief ich jemandem voll in die Arme.

„Oh, entschuldige. Ich war total in Gedanken“, meinte eine hübsche, junge Frau mit schwarzen, glatten langen Haaren.

„Kein Thema“, nuschelte ich und wollte mich eben an ihr vorbei schieben, als meine Beine nachgaben.

„Vorsicht“, sagte sie erschrocken und fing mich auf. „Meine Güte, du siehst gar nicht gut aus. Soll ich dich zu einem Arzt bringen?“

„Danke, aber nein. Es geht schon irgendwie. Bin nur noch etwas schwach, mehr nicht.“

„Ich lass dich auf keinen Fall allein auf der Straße rumlaufen. Komm, meine Wohnung ist nur einen Block entfernt. Da kannst du dich kurz ausruhen.“

Keine Kraft mehr um zu widersprechen, ließ ich mich abführen in eine kleine Zwei-Raum-Wohnung. Meine Wohltäterin stellte sich als Melanie vor und verfrachtete mich auf ihre Couch im Wohnzimmer, wo ich fast sofort wieder einschlief. Die Drogen, die mir zur Beruhigung verpasst worden waren, hauten voll rein. Am späten Abend wachte ich wieder auf. Es war dunkel draußen und das Zimmer nur schwach beleuchtet.

Mel saß auf einem Sessel, legte ihr Buch beiseite und begrüßte mich freundlich, als sie sah, dass ich aufgewacht war. Sie war die ganze Zeit sehr nett zu mir. Wir redeten viel miteinander, wobei ich aber das letzte halbe Jahr vorsätzlich vermied. Melanie war in meinem Alter und studierte Biologie an der Uni. Ein paar mal hatte sie mich dort schon gesehen, was der einzige Grund war, warum sie mich zu sich in die Wohnung gelassen hatte. Ich verbrachte noch eineinhalb Tage bei ihr, bis ich mich wieder nach Hause traute. Lys wollte ich einfach noch nicht begegnen.

Beim Betreuer für das Wohnheim hatte man mir meine Sachen hinterlassen und eine Nachricht. Schon auf den ersten Blick sah ich, dass es gar nicht meine richtigen Klamotten waren, sondern komplett neue, die den Alten sehr ähnelten. Selbst ein ganzes Handy war mit dabei. Ich schaltete dies ein und empfing gleich mehrere SMS. Alle waren sie von Lys. Ich betätigte wieder den Ausknopf, schälte mich aus diesen Sachen und stieg unter die Dusche. Dort wo mich keiner hören, keiner sehen konnte, wo ich ganz allein für mich war, brachen die Dämme. Heulend rutschte ich die nassen Fliesen hinab und kauerte mich laut schluchzend auf den Boden. Wie im Wahn wiegte ich mich immer hin und her und spürte nicht einen einzigen warmen Tropfen des Duschwassers auf meiner Haut.

Zwei weitere Tage verkroch ich mich auf meinem Zimmer, bis am späten Nachmittag jemand an meiner Tür klopfte. Augenblicklich blieb mein Herz stehen. Was, wenn Lysander plötzlich hier auftauchte?

„Thilo? Ich bin’s, Mel. Darf ich reinkommen?“

Erleichtert atmete ich aus.

„Klar“, rief ich und schwups stand sie schon vor meinem Bett.

„Ich hab dich nicht an der Uni gesehen und mir Sorgen gemacht“, begrüßte sie mich.

„Das ist lieb von dir.“

„So bin ich halt“, lächelte die Freundin.

„Du, ich hab dich versucht auf dem Handy zu erreichen, hatte aber nur die Mailbox ständig dran.“

„Ja, das Ding hatte ich noch ausgeschalten“, entschuldigte ich mich, kramte den kleinen Kommunikationshelfer hervor und schaltete ihn ein. Wieder überschlugen sich die Nachrichten.

„Wow, wie lange hattest du es denn aus?“, lachte Mel über die vielen SMS, welche laut fiepend angekündigt wurden.

„Ein paar Tage. Es geht nur um ein Projekt, an dem ich noch mit jemand anderem arbeite. Ich will da nicht mehr mitmachen. Ist mir zu doof geworden.“

„Hast du ihm das denn schon gesagt?“

„Hä?“

„Also wenn du schon keinen Bock mehr auf das Gemeinschaftsprojekt hast, dann musst du ihm wenigstens absagen. Das ist nur fair für beide Seiten.“

Ich schaute Mel total entgeistert an, als wäre sie ein Alien. Denn obwohl sie absolut nicht den blassesten Schimmer von allem hatte, sagte sie die Wahrheit. Sie hatte so recht. Ich sollte wirklich aufhören mich zu verstecken und reinen Tisch machen. Nur ob ich mich das auch getraute? Meine Freundin musste wohl den Zwiespalt in mir gemerkt haben.

„Wenn du magst komme ich mit. So als moralische Unterstützung.“

„Das würdest du echt tun?“

„Klar, wieso nicht.“

Diese Frau war echt einmalig. Sie kannte mich eigentlich überhaupt nicht und half mir trotzdem. Okay, ich wollte sie vielleicht nicht ganz bis mit zu Lys schleppen, aber vor dem Haus warten würde mir schon genug Mut geben. Ich kontrollierte schnell die SMS. In einer stand, wo ich ihn heute den ganzen Tag antreffen würde, also zog ich mich um und lief mit Mel los. Vor den Stufen des kleinen Opernhauses bekam ich allerdings Muffensausen.

„Komm schon. Du schaffst das“, munterte mich meine Freundin auf und gemeinsam betraten wir das Gebäude.

Schon von weitem hörte ich die melodischen Klänge eines Klaviers und eine zarte Singstimme. Ich folgte diesen Tönen und musste bitter schlucken, als ich feststellte, dass sie genau aus jenem Raum kamen, wo ich Lysander das erste Mal begegnet war. Mel bat ich draußen zu warten, dann atmete ich noch einmal tief ein und betrat den kleinen Saal. Micha stand neben dem Klavier und sang, während ihr Bandkollege spielte. Doch ihre Stimme setzte sofort aus, als sie mich sah. Irritiert hörte Lys auf und folgte ihrem Blick.

„Thilo“, hauchte er ungläubig. „Bei den Göttern, Thilo!“ Der Kleine sprang auf, hüpfte die Bühne hinunter und lief freudestrahlend auf mich zu. Ich bekam noch nicht mal ein Lächeln zu Stande, wehrte ihn nur ab und ging ein paar Schritte zurück, als er mir um den Hals fallen wollte. Verwirrt schaute er zu mir auf.

„Die letzten Tage hatte ich genug Zeit zum nachdenken. Ich kann so nicht mehr weiter machen wie bisher, nicht nachdem was ich gesehen und gehört habe. Wir sind zu unterschiedlich Lysander.“

„Nein, sag das nicht. Wir haben doch alles bisher gut gemeistert, zusammen“, ängstlich begann seine Stimme zu zittern, was mir in der Seele weh tat. Am liebsten hätte ich ihn einfach nur in meine Arme geschlossen und ganz fest an mich gedrückt. Aber ich riss mich zusammen. Ich wollte und konnte nicht mit einer Lüge leben. Zu wissen, dass er mich eigentlich nicht wirklich liebte, ertrug ich nicht.

„Wir haben uns gegenseitig nur was vorgemacht.“

„Nein, das ist nicht wahr. Glaub ja nicht, dass du so einfach davon kommst. Ich geb dich nicht auf und auch nie wieder her. Vergiss es Thilo.“

„Es ist aus.“

„Nein.“

„Akzeptier doch endlich, dass er keine Lust mehr hat, hm?!“, meinte Mel freundlich, kam näher und hakte sich in meinen rechten Arm ein. Gott, wenn sie wüsste worum es ging, hätte sie auf Garantie andere Worte gewählt.

„Was soll das?“, fragte Lys und deutete ärgerlich auf die Frau neben mir.

„Das ist Melanie. Ich war die letzten Tage bei ihr. Sie ist meine Freundin.“

Als ich das sagte, blickte ich zu ihr und sah ihr überraschtes, aber doch glückliches Lächeln. Das hatte sie sich wohl die ganze Zeit erhofft. Ich fühlte mich einfach nur beschissen. Ich drehte gerade wieder meinen Kopf zu Lysander, als ich gleich wieder Sterne sah. Der Kleine hatte mir mit voller Kraft seine Faust aufs Auge gedrückt.

„Hey, was soll der Scheiß?“, brüllte Mel und hielt mich am Arm fest. Ohne sie wäre ich wohl zu Boden gegangen.

„Eine Woche, Thilo. Ich geb dir genau eine Woche.“

Hasserfüllt trafen mich seine vor Wut blitzenden, türkisfarbenen Augen. Dann drehte er sich um und verschwand hinter der Bühne. Micha schaute mich nur traurig an, schüttelte ihren Kopf und lief dann Lys hinterher. Sollten sie mich doch alle für den Bösen halten, von mir aus. Für mich war es an der Zeit einen neuen Weg einzuschlagen, einen normalen, ohne verräterische Freunde, ohne wilde Schießereien, ohne Männer…

*

Seit diesem Tag waren zwei Wochen vergangen. Gelangweilt lag ich an einem Samstag auf mein Bett und warf einen kleinen Stoffball, der gerne zum Kicken benutzt wurde, in die Luft und fing ihn wieder auf. Das machte ich schon den ganzen Tag. Noch vor einem knappen Monat hatte ich mich nach etwas Ruhe und Zeit für mich gesehnt, jetzt kotzte diese mich nur noch an. Was passiert war? Ehrlich gesagt nicht viel. Außer, dass ich mich die erste Woche jeden Tag mit Mel traf, um mich krampfhaft von der gesetzten Frist abzulenken, war nichts Aufregendes geschehen. Wenn man vom Mittwoch absah.

An diesen Abend schleppte mich meine Freundin auf eine absolut geile Darkewave-Party. Wumpscut und Kiev spielte man auf und ab und ich genoss die coole Musik – leider auch ein paar Toxic Dreams zu viel. Mel hatte sich total schick aufgedonnert und sah in den kurzen, lockerfaltigen Rock und engem Oberteil absolut sexy aus. Ein paar Weingläser ihrerseits später landeten wir in ihrer Wohnung im Bett.

Mit zittrigen Händen hatte ich sie ausgezogen, saugte mit geschlossenen Augen an ihren steifen Nippeln und befingerte sie, was sie stöhnend genoss. Melanie hatte einen genialen Körper: einen süßen Bauch, lange Beine, knackigen Hintern und zwei wohlgeformte, nicht zu große oder zu kleine, feste Brüste, welche ich heftig dabei war zu kneten. Lange dauerte das Vorspiel nicht an. Unter etlichen heißen Küssen presste sie meinen Rücken auf die Matratze, setzte sich auf mich drauf, stülpte mir ein Kondom über und ließ mich in sie eindringen. Rhythmisch begann sie sich zu bewegen und stimmte in mein Stöhnen mit ein. Sekunden später kam ich schon und nach dem Zittern meiner Freundin zu beurteilen sie wohl auch. Keuchend fiel sie auf mich hinab und küsste meinen Hals.

Ich schlug mir nur meine Hände vor die Augen und begann zu weinen. Irritiert und hilflos versuchte Mel mich zu beruhigen, doch dadurch schluchzte ich nur noch mehr. Ich erkannte was ich war – der letzte Dreck. Wie konnte ich diesen lieben Menschen nur so ausnutzen? Wie konnte ich das Mel nur antun? Heulend stellte ich fest, dass ich nicht viel besser war, als der, den ich versuchte zu vergessen. Die ganzen letzten Tage, die ich mit meiner Freundin verbrachte, all die Küsse die wir austauschten, die Berührungen der heißen Nacht, selbst als ich mit ihr schlief hatte ich nicht an sie gedacht. Noch nicht mal an eine Frau. Die ganze Zeit konnte ich nur an einen denken. Lysander.

Mit seinen Lippen hatte er mich gebrandmarkt, mit seinen Worten eingelullt, mit seinem Körper mich abhängig gemacht. Nie wieder könnte ich jemand anderes küssen, berühren oder mit jemandem schlafen, ohne ihn vor Augen zu haben. Ich liebte ihn mehr als mir lieb war. In derselben Nacht gestand ich Melanie alles. Zuerst war sie fix und fertig, glaubte mir kein Wort. Doch nachdem sie sich beruhigt und geduscht hatte, nahm sie mich einfach in den Arm.

Selbst danach trafen wir uns noch regelmäßig. Mel versuchte mich abzulenken und mit ihrer natürlichen, fröhlichen Art schaffte sie das auch recht gut. Ich spürte schon, dass sie noch immer in mich verliebt war und nicht so leicht loslassen konnte. Aber sie versuchte mir eine gute Freundin zu sein, weswegen ich ihr sehr dankbar war.

Wenn ich allerdings mal alleine war, so wie jetzt, holten mich wieder düstere Gedanken ein. Ich zuckte erschrocken zusammen, als es an meiner Tür plötzlich klopfte. Melanie hatte wohl früher auf Arbeit Schluss gemacht, darum rief ich herein. Doch nicht die junge Frau betrat mein Zimmer, sondern zwei Jungs.

„Alex? Keyl? Was macht ihr denn hier?“, verwundert setzte ich mich auf.

„Die Frage sollte eher sein, was machst DU NOCH hier“, meinte Keyl, langte nach einem Stuhl und setzte sich verkehrt herum drauf.

„Wie meinst du das?“

„So, wie ich’s gesagt habe.“

Wieso sprach der nur in solchen Rätseln?

„Warum läufst du vor dir selbst davon?“, fragte mich Alex ernst. Der Kleine sah ein wenig mitgenommen aus und hatte tiefe, schwarze Ränder unter den Augen, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.

„Ich weiß gar nicht was du von mir willst“, antwortete ich verärgert, legte mich wieder hin und begann erneut mit dem kleinen Ball zu spielen. Doch als ich ihn hoch warf, fing Alex diesen auf und schaute auf mich hinab.

„Du weißt genau, was los ist. Wie konntest du Lys nur so hängen lassen? Er hat dich gebraucht!“

„Wieso mich? Du warst doch da. Das reichte ihm, glaub mir.“ Verbittert wollte ich mich umdrehen, aber Alex warf mir den Ball an den Kopf, griff nach meinem Kissen und schlug wie wild damit auf mich ein.

„Du bist so ein Arsch, Thilo. Lys musste ohne dich im Krankenhaus aufwachen, durfte keinen Kontakt zu dir aufnehmen, bis die Organisation dich komplett überprüft hatte, schrieb dir etliche beschissene SMS, auf die du nie geantwortet hast und als du dann endlich bei ihm aufgetaucht bist, schleppst du ne Tussi mit und machst Schluss. Nur weil du Wichser eifersüchtig bist!“

Alex drosch wie wahnsinnig auf mich ein und schrie das halbe Zimmer zusammen, bis Keyl ihn endlich von mir weg ziehen konnte.

„Beruhige dich Schatz. Komm her.“

Der Junge nahm seinen Freund in die Arme und drückte ihn fest an sich. Dann fixierte er mich mit seinen sandig-braunen Augen.

„Thilo, ich hab dir das schon mal versucht klar zu machen. Es stimmt, Lys und Alex mögen sich sehr. Sie haben einen Großteil ihres bisherigen Lebens miteinander verbracht. Aber sie lieben sich nicht. Nicht so wie du denkst. Die beiden sind als Partner füreinander nicht geschaffen, sondern lediglich als Freunde. Alex gehört zu mir und Lys… er gehört zu dir. Auch wenn ich es selbst kaum fasse, dass ich diesen Typen hier in Schutz nehme, aber dieser kleine Giftpilz liebt dich. Nur dich. Weißt du, wie fertig er nach allem war? Du bist aus dem Krankenhaus abgehauen, darum dachte die Organisation, du hättest mit der ganzen Sache was zu tun. Keiner durfte mit dir Kontakt aufnehmen und Lys wurde rund um die Uhr bewacht. Weißt du, wie viele Male meine Leute ihn aufhalten und einsperren mussten, damit er nicht hierher kommt? Er hätte dich verdammt noch mal gebraucht!“

Bedröppelt hatte ich mich aufgesetzt und starrte verlegen vor mich hin.

„Jetzt ist es eh zu spät. Der Flieger in die Schweiz ist längst weg.“

„Es ist nie zu spät. Komm, steh auf!“, forderte Keyl.

„Er will mich jetzt bestimmt eh nicht mehr sehen.“ Man, ich wollte überhaupt nicht so weinerlich klingen. Warum mussten diese Typen hier auch auftauchen und mir vor Augen führen, was für ein Idiot ich war? Das wusste ich doch schon längst selbst.

„Hey Thilo. Lys hat bis zur letzten Minute am Flughafen auf dich gewartet. Sabine musste ihn regelrecht ins Flugzeug zerren, damit er endlich einstieg. Wann glaubst du uns endlich?“, bittend sah mich Alex an.

„Das Konzert fängt in zwei Stunden an und außerdem ist er gerade in der Schweiz. Momentan kann ich gar nichts tun“, spielte ich meinen letzten Trumpf aus. Die Jungs mussten das Ganze realistisch betrachten. Sobald Lys gewann, würde er sofort den Vertrag unterschreiben und quer durch die Welt gondeln, weit weg von mir. Und ich hatte absolut keine Möglichkeit ihn davon abzuhalten.

„Du nicht, aber wir. Los, schnapp dir deine Schuhe und steh endlich auf“, befahl Keyl.

„Das hat doch alles keinen Sinn“, sagte ich traurig und versuchte krampfhaft die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Alex kniete sich daraufhin vor mein Bett, nahm mein Gesicht in beide Hände und zwang mich, ihn anzuschauen.

„Liebst du ihn?“, fragte er mich sanft. Ich konnte nicht antworten, sondern nickte nur gequält. Bei der Bewegung löste sich eine Träne aus meinen Augen, die der Kleine zärtlich mit dem Daumen von meiner Wange wischte.

„Dann vertrau uns und komm mit.“

Ohne weitere Widerworte zog ich meine Schuhe an und folgte den Beiden nach unten auf die Straße. Dort wartete Cat vor einem mattschwarzen Van und kam uns lächelnd entgegen, als sie uns sah. Vielleicht einen Meter vor mir blieb sie stehen und musterte meine Wange. Ich wollte schon fragen was sie hat, als ihre flache Hand auch schon schallend in meinem Gesicht landete.

„Die war für deine grenzenlose Dummheit.“

Gleich danach bedeutete sie mir freundlich einzusteigen. Das sollte mal einer verstehen. Nach fünf Minuten umhergefahre in der Stadt, bog die junge Frau auf die Autobahn. Wollten die wirklich mit dem Van in die Schweiz? Zehn Minuten später erkannte ich, wo genau ich hingebracht wurde. Schon von weitem sah ich den großen Flughafen der Stadt. Wieder fragte ich mich, was das bringen sollte. Ich selbst hatte mich doch schon erkundigt, wie ich Lys kurzfristig nachreisen könnte. Von meiner Stadt gab es keinen Direktflug nach Zürich. Entweder landete man in Paris, London oder München zwischen mit einem Aufenthalt von mindestens einer Stunde oder länger. Dass mussten sie doch wissen. Allerdings bekam ich große Augen, als wir nicht wie normal so üblich ins Parkdeck fuhren, sondern direkt auf die Rollbahn. Dort empfing uns eine kleine Privatmaschine und ein Helfer, der uns entgegen kam.

„Die Maschine ist voll aufgetankt und startbereit“, berichtete dieser, als wir vier ausstiegen. Cat warf ihm den Schlüssel des Wagens zu und bedankte sich.

„Na dann mal los“, sagte sie freudig und stieg die Treppen des Flugzeuges hinauf, ich ihr direkt hinterher.

Drinnen warteten schon zwei weitere Leute, die sich gerade aus einer Umarmung lösten.

„Da seid ihr ja endlich“, motzte Flo.

„Also fliegen kann ich noch nicht“, entgegnete Cat genervt.

„Aber ich. Dann werd ich mal die Motoren anlaufen lassen. Macht’s euch bequem“, sagte Chris freudig, drückte sich an uns vorbei und verschwand im Cockpit.

„Setzt euch und schnallt euch an“, befahl das Grünauge und verschloss, als alle im Flugzeug waren, die Tür.

Dann verdrückte er sich zu seinem Freund. Alles hier war zwar ein wenig eng, aber die hellen Ledersitze mit den breiten Armlehnen sehr bequem. Minuten später heulten die Motoren auf und der Flieger setzte sich in Bewegung. Den ganzen Flug über redeten wir kaum ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken hinterher. Nach knapp zwei Stunden setzte der kleine Flieger zum Sinkflug an und mein Magen verkrampfte sich noch mehr.

Was, wenn ich zu spät käme? Jede Minute, die wir vergeudeten mit dem Ausrollen der Maschine, mit dem Warten auf den Wagen, regte mich unglaublich auf. Nun, da ich einen Entschluss gefasst hatte, da ich es endlich schaffte, mich aufzuraffen, zu meinen Gefühlen zu stehen und seine zu akzeptieren, wollte ich keine Zeit mehr verschwenden. Ich wollte nur noch zu Lys. Hektisch verabschiedeten wir uns von Flo und Chris und stiegen in den Van ein, als dieser endlich auftauchte. Souverän lenkte Cat den Wagen auf die Autobahn, wenig später befanden wir uns schon in der Stadt. Sie meinte, wir bräuchten maximal 16 Minuten bis zur Tonhalle, wo das Konzert im großen Saal stattfinden sollte. Eine viertel Stunde später kamen wir an dem besagten Gebäude an. Cat wollte das Auto woanders parken, also stiegen nur Alex, Keyl und ich aus und betraten fast rennend das Haus.

Das Konzert musste schon angefangen haben, denn im Eingang und Vorraum war kaum einer zu sehen. Und dann hörte ich die Klänge, die mir so vertraut waren. Mit klopfendem Herzen lauschte ich seinem Spiel, von dem ich angezogen wurde wie die Ratten aus Hameln vom Fänger. Ich weiß nicht mehr genau wie ich den Weg fand, doch plötzlich stand ich im Backstage-Bereich neben der Bühne. Ich konnte genau auf das Podest blicken, auf den riesigen Flügel, der aufgebaut war. Und vor diesem saß Lys.

Ich sah nur seinen Rücken, ab und an die schmalen Finger, welche graziös über die Tasten huschten. Er spielte einmalig. Niemand beachtete mich im Geringsten, da sie alle verzaubert waren von diesem wunderschönen Lied, welches dieser junge Pianist spielte. Nein, ich konnte nicht zu ihm gehen. Er würde alles aufgeben, seine ganze Zukunft, nur für mich. Ich durfte ihm das nicht verbauen. Dafür liebte ich ihn viel zu sehr. Tränen huschten über meine Wange, als ich mich zittrig umdrehte, um zu gehen. Doch plötzlich, mitten im Spiel, hörte Lys auf. Es kam so abrupt und unerwartet, dass ich mich irritiert wieder zu ihm wandte. Die Verwunderungen der Zuschauer konnte ich bis hier her hören, als der Junge aufstand und starr auf das Klavier hinab schaute.

„Es tut mit leid, aber… ich kann nicht weiter spielen. Das alles hat keinen Sinn mehr“, sagte Lys stockend, aber laut genug, dass es auch jeder hörte.

„Junger Mann, wenn sie jetzt aufhören, sind sie disqualifiziert und scheiden aus dem Wettbewerb aus“, schimpfte ein älterer Herr aus den vordersten Reihen.

„Von mir aus“, schnaubte Lysander schwach. „Ich wollte eh komplett aufhören“, setzte er traurig nach, dass es kaum einer mitbekam.

„Das darfst du nicht“, rief ich geschockt und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Er konnte seine Chance doch nicht einfach so wegwerfen! Erschrocken drehte der Kleine sich um und sah mich aus großen Augen an. Er sah so müde aus und total fertig. War ich daran etwa Schuld? Aber das war doch keine Absicht. Das Letzte was ich wollte war, ihm weh zu tun.

„Bitte, du darfst nicht aufhören zu spielen. Das Piano und die Musik ist dein Leben. Wirf es nicht so leichtfertig weg.“

„Du bist hier“, flüstere er, als hätten ihn meine letzten Worte gar nicht erreicht.

„Ich… ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich war nur so eifersüchtig, dass ich blind wurde und taub. Dabei liebe ich dich doch über alles.“

Zuerst stockte ich noch, aber dann sprudelte alles nur so aus mir heraus. Lys sah mich weiterhin einfach nur an und rührte sich kein Stück, als könne er nicht glauben, dass ich wirklich vor ihm stand.

„Lysander, ich liebe dich“, sagte ich noch mal und ging wieder zwei Schritte auf ihn zu.

Plötzlich schien er aus der Trance zu erwachen

„Thilo!“

Mit einem Satz war er bei mir und sprang mir um den Hals. Sein ganzer Körper bebte und ich hörte ihn leise schluchzen. Ich drückte ihn nur fest an mich, so fest wie ich konnte. Das Gefühl, ihn in meinen Armen zu halten, meine Nase in seine Haare zu graben, seine Wärme zu spüren war überwältigend. Wie konnte ich das alles nur tun? Warum habe ich uns beiden nur so wehgetan? Tränen kullerten meine Wangen hinab, als ich leise zu flüstern begann:

„Es tut mir so leid, Lys. Mir tut alles so schrecklich leid. Kannst du mir jemals verzeihen?“

Schniefend sah mein kleiner zu mir auf. Sein Gesicht war mit Tränen verschmiert, aber seine türkisfarbenen Augen leuchteten heller denn je. Er hob die rechte Hand, strich mir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und begann etwas zu lächeln.

„Glaub mir ja nicht, dass du so einfach davon kommst. Aber ich kann eh nicht anders, als dir zu vergeben. Ich liebe dich einfach viel zu sehr.“

Nicht nur ein kleiner Stein, sondern eine ganze Lawine polterte von meinem Herzen, so erleichtert war ich über seine Antwort. Mir war egal, dass wir gerade auf der Bühne standen und über hundert Leute zusahen, wie zwei heulende Schwuppen sich ein Liebesgeständnis machten. Ich beugte mich leicht zu meinem Schatz hinab und endlich berührten sich unsere Lippen. Gott, wie hatte ich das alles vermisst. Waren wir am Anfang noch sehr zaghaft, als hätten wir Angst in einem Tagtraum zu leben und der Gegenüber würde jeden Augenblick verschwinden, wurden wir von Sekunde zu Sekunde immer gieriger und verschlagen uns halb.

Klar hatte ich noch so einige Fragen. Warum zum Beispiel wurde Micha verfolgt und was hatte das mit ihren Eltern zu tun? Für was für eine Organisation arbeiteten Cat, Flo und Chris und was verband sie mit Keyl und Alex? Und wie verdammt noch mal konnten die sich einen Privatjet leisten? Aber ich verschob die Antworten auf später. Für mich war nur wichtig, dass ich Lys nicht verloren hatte und dass ich dies auch nie wollte. Selbst wenn er hier gewinnen sollte, ich würde ihm folgen, egal in welche Stadt, egal in welches Land. Ich brauchte seine Nähe, seine Wärme, wie die Luft zum atmen. Niemals wieder würde ich ihn hergeben oder loslassen. Niemals wieder.

 

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