Ableitungen und ähnliche Unfälle – Teil 8

Jens

Das Essen mit Peer lief ausgezeichnet, und im Anschluss fuhr ich wieder ins Krankenhaus. Es war schon komisch, vorher hätte ich meine Freizeit nie so oft dort verbracht. Aber es war egal, normalerweise wäre ich ja heute auch auf dem Dienstplan gewesen.

Auf Station 2 sah ich durch die geöffnete Tür von Zimmer 211. Florian lag allein im Zimmer, die Augen offen und er starrte an die Decke, offensichtlich in unerfreulichen Gedanken gefangen. Er wirkte traurig, mal wieder. Vorsichtig klopfte ich an den Rahmen und lächelte ihn freundlich an.

“Hallo Florian!“

Er versuchte ebenfalls ein Lächeln, doch es wirkte gequält.

“Hi Jens. Wie war Dein Essen?“

Er versuchte also gleich von sich abzulenken.

“Das Essen war sehr schön, aber wie geht es Dir?“

Ein langes Seufzen kam über seine Lippen. „Josh wurde hierher verlegt.“

“Ja, aber das hatte ich Dir doch schon erzählt.“

“Das ist es ja auch nicht. Er hatte vorhin Besuch von drei Leuten, wahrscheinlich Klassenkameraden. Als einer etwas lauter wurde, da bin ich aufgewacht. Ach, irgendwie lief das alles nicht gut.“

Ich ging zum Bett, setzte mich vorsichtig auf die Kante und legte ihm meine Hand auf die Schulter. „Was ist denn passiert?“

“Diese Linda hat mich wahrscheinlich erwischt.“

“Erwischt? Hast Du was angestellt?“

“Ja. Ich hab Josh wohl recht intensiv betrachtet.“

Irgendwie niedlich war er jetzt schon. Auch wenn er 25 war, wirkte er doch einfach nur wie ein verliebter kleiner Junge.

“Du Florian, ich hab mit Peer gesprochen.“

“Und? Was sagt er?“

“Er stimmt einem Treffen zu, aber unter einer Bedingung.“

“Und die wäre?“

… ungefähr eine Stunde früher…

„Den Laden sollten wir uns merken, das Essen ist fantastisch“, strahlte Peer zufrieden.

“Ganz Deiner Meinung. Du, es ist vielleicht jetzt etwas unpassend, aber ich müsste mal mit Dir über etwas reden.“

“Scheint was Ernstes zu sein, so wie Du guckst.“

Peer wirkte mit einem Mal unsicher.

“Ja, nein. Eigentlich… Also gut. Du weißt, dass ich gestern lange im Krankenhaus war.“

“Natürlich. Ich lag ganz allein im Bett.“ er setzte das Wasserglas an.

“Es war wegen einem neuen Patienten. Sagt Dir der Name, Florian Dietz, etwas?“

Peer verschluckte sich plötzlich heftig und ein Schwall Wasser traf die Tischdecke.

“Florian?“ hustete er.

“Ja.“

“Oh. Wie geht es ihm?“

“Ein Schüler hat ihn angefahren, aber ihm geht es gut soweit gut.“

“Angefahren? Aber wie kommst Du jetzt auf Florian?“

“Wir haben uns unterhalten, und heute war ich in seiner Wohnung um seinen Laptop zu holen. Dabei fiel mir ein Bild von Euch im Schlafzimmer auf.“

Peer fummelte nervös an seiner Serviette herum.

“Ich hab ihn zur Rede gestellt und dabei kam so einiges ans Licht.“

“Er weiß das wir…, dass ich ihn deinetwegen verlassen habe?“

“Ja und nein.“

“Was soll das denn jetzt bedeuten?“

“Du hast ihn nicht meinetwegen verlassen. Er sieht es mittlerweile auch so. Es war euretwegen.“ Peer sah blass aus, aber er nickte leicht.

“Peer, mal Hand aufs Herz: hättest Du ihn verlassen, wenn er gekämpft hätte?“

Er schüttelte leicht den Kopf.

„Wahrscheinlich nicht. Aber er hat es nicht. Jens, ich liebe Dich, wirklich. Und ich werde Dich nicht verlassen, für niemanden!“

Diese Liebeserklärung traf mich plötzlich, tat aber unglaublich gut. Sie gab mir das Gefühl nicht einfach nur zweite Wahl zu sein. Und das sagte ich ihm auch.

“Du bist nicht zweite Wahl. Wirklich. Es war aber schwer für mich. Mein Herz war so zerrissen. Und als ich ihm das sagte, und er mich wortlos gehen ließ… Er hat mir damit auch wehgetan.“

Da war ja wirklich noch Einiges im Argen.

“Schatz, Florian würde sich gerne mit Dir aussprechen. Und ich denke auch das es überfällig ist.“

Peer schaute ziemlich unglücklich aus der Wäsche. „Meinst Du? Und es würde Dir nichts ausmachen?“

“Nein. Außerdem ist Florian frisch und unglücklich neu verliebt.“

“Unglücklich? Was ist los?“

“Der Schüler, der ihn angefahren hat. Der hat es ihm angetan.“

“Ein Schüler auch noch? Gefährliches Pflaster. Wie alt ist der Schüler?“

“18, noch. Aber ich denke nicht, dass da etwas passieren wird. Er ist hetero.“

Peer schüttelte den Kopf. „Das passt ja mal wieder zu Flo. Er hat einen Hang zum Drama.“

Ich lachte.

„Allerdings.“

“Also gut. Ich rede mit ihm. Aber unter einen Bedingung.“

“Welche?“

Er reichte mir eine seiner Visitenkarten.

„Er soll mich anrufen und den ersten Schritt machen.“

“Das ist fair.“

Ich nahm die Karte entgegen und hielt seine Hand fest, streichelte zärtlich über sie.

„Ich habe einen ganz tollen Freund“ flüsterte ich ihm lächelnd zu.

… wieder in der Gegenwart…

Ich hielt ihm die Visitenkarte hin.

„Ruf ihn an, wenn Du bereit bist. Er will von Dir den ersten Schritt.“

Er trug es mit Fassung.

„Ja, das ist nur fair.“

Innerlich grinste ich, das waren ja vorhin meine Worte zu Peer.

“Ist er sauer auf mich?“

“Ich antworte darauf nicht. Klärt das untereinander.“

Plötzlich wurde es auf dem Flur etwas lauter. Josh wurde von einem jungen Typen ins Zimmer geschoben.

“Sorry Flo, stören wir?“

“Nein, das ist Jens, er kümmert sich hier ein wenig um mich. Er ist Zivi hier.“

“Hallo Joshua, ich hab schon Einiges von Dir gehört. Und ab morgen bin ich auch Dein Zivi“, meinte ich und hielt ihm die Hand hin.

Er griff zögerlich nach ihr.

“Ja, hallo Jens. Das sind Alex und Linda, aus meiner Klasse.“

Ich gab Beiden die Hand.

Josh versuchte gerade aufzustehen, war aber immer noch etwas wackelig. Blitzschnell griff ich unter seine Arme, stützte ihn zum Bett und hing die Infusion wieder um.

“Danke.“

“Nichts zu danken, ist mein Job.“ meinte ich.

“Job? In Jeans und blauem Pulli? Ich dachte ein Zivi trägt weiß?“

“Ja, ich bin privat hier.“

“Dann“, Josh lächelte, „war es auch kein Job.“

Ich blickte fragend zu Flo. War das der Josh? Der von Selbstzweifeln zerfressene traurige Joshua? Flo zuckte nur mit der linken Schulter. Scheinbar ging es Josh grad deutlich besser. Für mich wurde es jedenfalls Zeit zum Gehen.

“Meine Damen und Herren, ich verabschiede mich für heute. Einen schönen Abend noch und gute Nacht.“

Ein verhaltenes ‚Gute Nacht’ kam aus der Schülerecke.

“Nacht Jens, und noch mal danke.“

“Gerne. Also, bis morgen!“

Joshua winkte noch zum Abschied.

Joshua

Dieser Jens schien ja echt ganz nett, aber plötzlich so reserviert, als wir rein kamen. Ob da etwas lief? Alex und Linda verabschiedeten sich auch recht bald danach. Endlich allein mit Florian.

“Flo?“

“Was gibt’s?“

“Du warst gestern bei mir?“

Er blickte erschrocken zu mir, sagte aber nichts.

“Ich muss es wissen. Was war los?“

“Ja. Ich war bei Dir.“

Er zögerte. Was verschwieg er?

“War ich wach?“

“Du warst nicht ganz bei Dir.“

Warum war er so kryptisch?

“FLO! Was war los?“

“Du hattest einen Zusammenbruch.“

“Das hat mir die Ärztin auch gesagt. Erzähl mir mal was Neues.“

Florian seufzte schwer.

„Josh, ich weiß nicht ob es eine gute Idee ist. Ich weiß auch nicht ob Du das, wie Du das jetzt verkraften würdest.“

“Es nicht zu wissen macht mich fertig. Flo, bitte! Hilf mir. Oder weiß noch jemand davon?“

Er nickte.

„Ich habe mit Jens darüber geredet.“

“Ist Jens auch schwul?“

Flo guckte, ja wie sollte ich seinen Gesichtsausdruck deuten, überrascht.

“Wie kommst Du denn jetzt da drauf?“

“Ihr habt Euch so komisch angesehen… Du erzählst ihm alles…“

“Komisch?“

“Ich weiß auch nicht.“

“Rein hypothetisch: würde es Dich stören?“

“Nein. Ich denke nicht. Läuft da was zwischen Euch?“

“Wir haben uns angefreundet. Sonst nichts.“

“Also doch nicht schwul?“

“Josh! Da wirst Du Jens schon selber fragen müssen, wenn es Dir so wichtig ist.“

Ich musste lachen.

“Was ist daran jetzt so komisch?“

“Weil Linda mich vorhin ständig gefragt hat ob Du schwul bist, und ich hab genau das Gleiche zu Ihr gesagt.“

Flo wurde schlagartig etwas blass um die Nase.

“Sie hat was?“

“Hab ich doch gesagt. Sie meinte Du hättest mich so komisch angeguckt.“

Flo schaute völlig entgeistert zu mir rüber.

“Oh, ich verstehe. Flo, wegen gestern, was war nun?“

“Ich hab Dich besucht, Jens hat dafür gesorgt. Du hast da den ganzen Tag gelegen, ohne Bewusstsein. Da hab ich mit Dir geredet, über alles Mögliche. Aber Du hast weitergeschlafen. Und dann…“

Er stockte.

“Dann was?“

“Dann hab ich etwas Dummes gemacht.“

“Man Flo! Was?“

“Josh, ich… shit.“

Er atmete tief durch.

„Josh, ich weiß das es total dämlich ist. Aber ich hab mich in Dich verliebt. Gestern, als ich dachte Du hörst mich nicht, da hab ich es Dir gestanden. Doch Du bist aufgewacht, glaub ich. Du warst total verheult und hast Dich beschimpft, was ich von einem Versager wie Dir nur wollte. Hast Dich als dummes Stück Dreck beschimpft und noch schlimmer. Und dann hast Du Deinen Kopf gegen das Bett geknallt. Ich wollte aufstehen und Dir helfen, hab nach Hilfe gebrüllt. Aber beim Versuch bin ich Ohnmächtig geworden.“

Das war es also. Das große Geheimnis von gestern. Ich war schockiert, über mich. Das hatte ich getan?

“Flo, es tut mir Leid. Es tut mir Leid das ich Dir soviel Kummer bereitet habe.“

“Red keinen Blödsinn. Ich hab ja selber Schuld. Man Josh, Du wirst so was wie mein Schüler sein. Ich darf Dich gar nicht lieben. Auch das habe ich gestern gesagt. Mit Dir in einer Klasse, das wird die Hölle. Aber selbst wenn, Du bist hetero.“

“Ich verlasse die Schule. Dann kannst Du unterrichten und später Lehrer werden. Das schulde ich Dir.“

“Joshua, bist Du jetzt völlig wahnsinnig geworden? Ich lasse nicht zu das Du Deine Zukunft für mich wegwirfst. Ich muss es nur bis zum Sommer durchstehen. Lehrer kann ich überall werden. Aber Du musst es schaffen. Und ich stehe zu meinem Wort und helfe Dir.“

Ich war sprachlos. Flo war einfach unglaublich. Mir fiel nichts weiter dazu ein. Er liebte mich? Er würde sich meinetwegen quälen und mir helfen? Gut, ich akzeptierte und verstand allmählich meinen Vater.

Auch Alex hatte in der Kantine einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber das sich jemand für MICH dermaßen aufopfern würde? Das hätte ich gerne von Jenny gehabt, aber bekam es nicht. Ich hätte es für sie getan, oder nicht? Flo hatte ich nicht verdient. Irgendwie tat er mir gut, aber er stellte mich gleichzeitig vor einen Abgrund. Warum?

“Josh? Hey Josh! Hörst Du mich? Man, bitte nicht wieder austicken. Verdammt!“

“Nein, alles okay. Ich, wow…“

Flo kletterte aus dem Bett und setzte sich neben mich.

“Ich meine es Ernst. Und hab keine Angst, ich werde nie etwas bei Dir versuchen. Ich möchte nur, dass Du glücklich wirst.“

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