Ableitungen und ähnliche Unfälle – Teil 12

Linda

Alex und ich saßen eine Weile im Wohnzimmer, auch wenn das nur mit Jacken möglich war, wegen der Tür. Aber zu Peter ins Zimmer konnten wir nicht. Alex saß die ganze Zeit über völlig apathisch neben mir, in meinem Arm. Er trug eine von Peters Jacken, die ich ihm aus dem Schrank geholt hatte. Seine Eigene war ja gerade nicht tragbar. Plötzlich hörte ich das Kratzen eines Schlüssels im Türschloss. Frau Busseck kam nach Hause.

“Linda, Alex, was macht Ihr denn hier. Mein Gott ist das kalt hier. Was ist denn hier passiert? Warum ist die Tür kaputt?“

Sie sah in unsere Augen, die Wahrscheinlich noch immer rot waren, und wurde blass.

“Frau Busseck, Peter ist im Krankenhaus. Er hat Schlaftabletten geschluckt.“

Kreidebleich fiel sie förmlich auf den Sessel neben ihr.

“Wir mussten einbrechen.“ Alex deutete auf die Tür.

“Ich glaub wir waren rechtzeitig da.“

So gut es ging, fasste ich die Ereignisse zusammen. Peters Mutter schleppte sich aus dem Sessel und kniete vor Alex, nahm seine Hand und presste ihr Gesicht dagegen. Sie bedankte sich wieder und wieder. Alex saß weiter starr herum. Ich hatte keine Ahnung, was nun in ihm vorging, wie schlimm das Erlebte wirklich für ihn war.

“Frau Busseck, ihr Mann weiß auch noch nichts davon.“

“Oh Kind, Du hast Recht, ich muss ihn anrufen, und dann müssen wir zu Peter.“

Sie lief in Richtung Haustür, wo sie ihre Handtasche abgestellt hatte und fingerte nach dem Handy. Sie zog sich kurz in die Küche zurück, die ihren Eingang neben der Haustür hatte. Alex sagte noch immer nichts, langsam machte er mich unruhig.

“Alex?“

Er drückte meine Hand und atmete tief ein.

“Alles okay, ich muss das erst irgendwie verarbeiten.“

Er nahm meinen Kopf in seine Hände und drückte mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich erhob und mit knirschenden Schritten durch die Scherben auf die Terrasse ging. Er rauchte extrem selten, aber das war eine dieser Situationen. Er musste wohl mal ein paar Minuten alleine sein.

“Linda, ich habe meinen Mann und ein Taxi gerufen. Möchtet Ihr mit ins Krankenhaus?“

“Ich denke schon. Bei Alex wei…“

“Ich komme mit“, unterbrach er mich.

In fünf Minuten will es hier sein.

Peters Mutter und ich saßen im Wohnzimmer und warteten. Lediglich Alex’ Schritte durch das Scherbenmeer unterbrach die Stille. Keine Minute zu früh, wie es schien, denn im selben Moment ertönte draußen eine Hupe. Schweigend liefen wir zur Tür und folgten dem schmalen Weg durch den Vorgarten. Alex und ich krochen in das Heck des wartenden Taxis, und Frau Busseck nahm vorne Platz. Peters Eltern waren immer relativ distanziert im Umgang mit seinen Freunden. Nicht so wie Joshs Eltern, die uns schnell das ‚Du’ angeboten hatten. Scheinbar hatte sie dem Taxi schon telefonisch das Ziel mitgeteilt, denn ohne ein weiteres Wort fuhren wir los. Eigentlich wäre ein Taxi unnötig gewesen, denn keine fünf Minuten später befanden wir uns am Krankenhaus. Das Taxameter zeigte 5,60 Euro an, die Frau Busseck schweigend mit einem Zehner bezahlte. Ohne auf das Wechselgeld zu warten stiegen wir aus dem Taxi. Der Fahrer bedankte sich höflich und fuhr davon.

“Wir möchten zu meinem Sohn, Peter Busseck“, meldete sie sich am Empfang an.

“Station 1, Zimmer 115.“

“Er liegt nicht auf Intensiv?“ hakte ich nach.

“Laut Computer ist sein Zustand stabil.“

Wir bedankten uns und machten uns auf den Weg. Station 1 befand sich auf dieser Ebene und der Weg war nicht weit. Noch bevor wir die Verbindungstür erreicht hatten, hörten wir schnelle Schritte hinter uns. Es war Peters Vater. Die beiden Elternteile begrüßten sich knapp, und uns nickte er schweigend zu.

Kurz darauf standen wir auch schon vor Peters Bett. Er war immer noch blass und schlief.

Als ob jemand auf uns gewartet hätte, stand plötzlich ein Arzt bei im Zimmer.

“Guten Tag, mein Name ist Dr. Huber.“

“Was fehlt meinem Sohn?“

Herr Busseck wirkte recht schroff.

“Ihrem Sohn geht es körperlich recht gut. Er hatte eine Überdosis eines Schlafmittels, doch, wie mir ein Sanitäter sagte, hat ein Freund ihn zum Erbrechen gebracht. Damit sind große Mengen wieder ausgeschieden. Ihr Sohn hat ein Gegenmittel bekommen und wir konnten keine lebensbedrohliche Konzentration des Medikaments mehr nachweisen.“

“Gut.“ brummte sein Vater knapp.

“Hat er irgendwelche Probleme in der Schule, mit der Freundin oder war er sonst irgendwie auffällig?“ wollte der Arzt wissen.

“Mein Sohn ist ein guter Schüler. Er hat anständige Freunde und überhaupt keine Probleme.“

Peters Mutter war da sehr überzeugt. Nur leider täuschte sie sich. Sollte ich etwas sagen? Aber Schweigen würde auch nicht helfen. Ich entschied mich für die Wahrheit.

“Also, ich glaube ich kann das aufklären.“

Drei Gesichter sahen mich neugierig an, doch Alex blickte zur Seite. Ihm schien das nicht zu gefallen.

“Peter hat sich sehr unglücklich in einen unserer Mitschüler verliebt, und heute aht er da etwas in den falschen Hals bekommen. Ich denke das war zuviel für ihn.“

Schlagartig änderte sich die Stimmung im Raum. Zuerst keifte seine Mutter lauthals los.

“In EINEN Mitschüler? Du lügst doch!“

Ich schüttelte den Kopf. Dann kam Peters Vater zum Zug.

“Ihr habt es gewusst? Vorher schon?“

“Ja, Herr Busseck. Ich habe es heute in der Schule von ihm erfahren.“

Die Situation schien völlig außer Kontrolle zu geraten. Seine Eltern funkelten uns giftig an, doch das Schweigen dauerte nicht lang, als sein Vater erneut das Wort ergriff.

“Und Ihr habt dieses Stück Abschaum nicht verrecken lassen?“ brüllte er uns entgegen.

“Er ist nicht mehr unser Sohn!“ und sie verschwanden aus dem Krankenhaus.

Joshua

“Nett haben Sie es hier, Herr Dietz.“ Mein Vater sah sich wohlwollend in der Wohnung um.

“Danke. Ich fühle mich hier auch sehr wohl. Und hier“, er deutete auf das große Sofa, „wird Ihr Sohn in den nächsten Tagen schlafen.“

“Sieht groß genug aus. Benötigen sie noch Bettwäsche?“

Florian nickte. Ich erinnerte mich auch, dass im Schlafzimmer zwei Garnituren auf dem Bett lagen, wohl noch vom Ex. Mein Vater schien zufrieden und drückte mir noch 100 Euro in die Hand.

“Das sollte wohl für die nächsten Tage genügen.“

“Paps, das ist doch zuviel!“

“Man weiß ja nie“, gab er zu Bedenken.

Ich bedankte mich herzlich, und dann war die Zeit für den Abschied bekommen.

“Joshua, wir haben die Rezepte noch nicht eingelöst. Gib sie mir, ich bring die Medikamente dann noch schnell.“

Ich gab ihm das Gewünschte und mein Vater verschwand fürs Erste. Ein leichter Hustenreiz machte sich auch schon bemerkbar und ich haderte mit einer Zigarette.

“Flo, kann ich hier eigentlich auch rauchen?“

“Eigentlich nicht. Aber wenn Du unbedingt möchtest… ich kann Dich ja schlecht vor die Tür schicken.“

Also war es ihm offensichtlich nicht Recht. Ich beschloss Rücksicht zu nehmen und seine Gefühle für mich nicht dahingehend auszunutzen. Vielleicht wäre etwas weniger rauchen eine gute Idee, gerade bei der noch leichten Lungenentzündung.

“Ne, wenn es nicht üblich bei Dir ist, dann will ich keine Ausnahme von der Regel sein.“

Dafür kassierte ich ein dankbares Lächeln.

“Flo, ich möchte nicht das Du hier Deine Regeln für mich verbiegst, okay?“

“Das wird sich in einem Fall aber nicht vermeiden lassen, mein lieber Josh.“

“Wieso denn das? Keine Ausnahmen. Das will ich nicht.“

“In der Regel schläft hier aber auch niemand auf der Couch“, grinste er frech.

Nun wurden mir grade die Konsequenzen meiner unbedachten Forderung klar. Es würde mir ja nichts ausmachen, ihm wahrscheinlich doch. Wie er wohl reagieren würde wenn…

“Ich denke mal Du schläfst links, da das rechte Tischchen leer ist. Okay, ich schlaf rechts.“

Seine Reaktion war herrlich. Er schaffte es gleichzeitig blass und rot zu werden. Die Entwicklung dieser Situation nahm eine sehr merkwürdige Richtung an. Ich war da wohl einen Schritt zu weit gegangen.

“Beruhig Dich, ich werde eine Ausnahme machen, und auf dem Sofa schlafen.“

Seine Erleichterung war spürbar.

“Danke. Hättest Du jetzt darauf bestanden… das hätte ich wahrscheinlich nicht ausgehalten.“

Das verlegende Lächeln machte ihn ja schon irgendwie niedlich. Niedlich… wie kam ich da nur auf dieses Wort? Ich strich den Gedanken schnell wieder, immerhin war er ein Kerl und ich hetero. Wahrscheinlich spielten mir meine Schuld und das Mitleid an seiner Situation nur einen Streich.

Alex

Die Aussage von Peters Erzeuger riss mich schlagartig aus meiner Trauer über das Leid meines Freundes. Linda starrte mit offenem Mund zur Tür. Ich musste hinterher.

“HALT!“ brüllte ich über den Flur. Sie blieben tatsächlich stehen.

“Das können Sie Peter nicht antun. Er ist schwul, na und?“

“Das geht Dich gar nichts an, junger Mann. Er soll sich bei uns nicht mehr blicken lassen!“

“Und wo soll er hin?“

“Das ist uns egal. Er ist Volljährig. Von mir aus soll er es wieder versuchen.“

Das war zuviel. Gerade wollte ich hinter ihnen her, da spürte ich eine Hand, die mich eisern festhielt. Dr. Huber. Er sah mich an und schüttelte den Kopf.

“Bleiben sie. Es macht alles nur noch schlimmer.“

Linda trat kam zu mir und griff nach meiner Hand.

“Und nun? Alex, was machen wir mit Peter? Wenn er davon erfährt… wer verhindert das er sich wieder etwas antut?“

Dr. Huber räusperte sich. „In diesem Fall können wir eine Wiederholung tatsächlich nicht ausschließen. Ich werde zu seiner Sicherheit eine Einweisung einleiten.“

“Das werden Sie nicht. Er braucht Freunde, und niemanden, der ihn einfach in ein Zimmer sperrt.“

“Dort hat er professionelle Betreuung und wird nicht einfach weggesperrt.“

“Meine Mutter ist Psychologin und praktiziert zu Hause. Und wir haben ein Gästezimmer. Er könnte ständig betreut werden. Und er wär unter Freunden.“

Der Doktor wirkte überrascht, schien aber diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

“Eine Betreuung in einem familiären Umfeld scheint eine gute Alternative zu sein. Wie steht ihre Mutter zum Thema Homosexualität?“

“Mein Onkel ist schwul und meine Mutter hat keine Probleme mit ihrem Bruder.“

Linda sah mich etwas überrascht an, davon wusste sie ja noch nichts. Bisher war es mir eigentlich auch eher Peinlich, doch die ganzen Neuigkeiten drum herum… Mein Plan stand fest, bis ins kleinste Detail. Meine Mutter würde keine Schwierigkeiten machen, da war ich sicher, sie mochte Peter.

“Alex, was machen wir mit seinen Klamotten? Er wird sie brauchen.“

“Ich hab da eine Idee. Der Vater von Joachim aus der 13 hat ein Umzugsunternehmen. Vielleicht können wir da was machen. Ich bin gleich wieder da.“

Ich wollte Peter nicht vor vollendete Tatsachen stellen, aber ich sah keinen anderen Ausweg. Joachim kannte ich vom Fußball und war sicher das er mitziehen würde. Vor dem Krankenhaus wählte ich seine Nummer.

“Stetter.“

“Jo, Alex hier. Ich brauch Deine Hilfe.“

“Hey grüß Dich. Was ist los.“

“Du kennst ja Peter, aus meiner Klasse. Wir müssen schnellstens seine Sachen aus dem Haus seiner Erzeuger holen.“

“Was ist denn los?“

“Erklär ich Dir später. Kannst Du vielleicht einen kleinen Transporter organisieren? Ein paar Kartons wären auch nicht schlecht, und vielleicht ein paar von den Jungs aus dem Verein.“

“Hört sich ja schlimm an. Warte, ich frag grad meinen Vater.“

Das war schon mal gut, er war in der Firma. Es dauerte auch nicht lang bis er wieder ans Telefon ging.

“Wir haben gerade einen 3,5er frei, der ist auch heute nicht gebucht. 15 Kartons hätten wir auch grad da. Mein Vater überlässt es uns, kostenlos. Aber jetzt sag schon was los ist.“

“Kein Wort zu jemandem, klar?“

“Okay.“

“Peter hat versucht sich umzubringen. Linda und ich haben ihn gefunden. Im Krankenhaus haben seine Eltern erfahren das er schwul ist und ihn quasi rausgeworfen.“

“Hammer… okay, ich trommel noch ein paar von den Jungs zusammen. In 60 Minuten vor seinem Haus.“

“Jo, danke. Auf Dich ist verlass.“

“Kein Thema. Die Story ist derb heftig. Das musst Du mir mal genau erzählen. Also, bis nachher!“

Er hatte aufgelegt. Ich drückte auf die Kurzwahl 2.

“Hallo Alexander.“

“Mum, ich hab ein Attentat auf Dich vor.“

Ich erzählte ihr die ganze Geschichte ganz ausführlich und hörte ihr wütendes Schnauben.

“Ich bin stolz auf Dich. Das ist ja nicht zu glauben. Gut, kein Problem. Aber bring es ihm so schonend wie Möglich bei. Besser noch Du sagst gar nichts. Das Krankenhaus soll mich informieren, wenn er aufwacht. Dann kläre ich es mit ihm.“

“Mum, Du bist die Beste. Ich muss los, wir haben noch eine Menge vor. Ciao!“

“Tschüß mein Großer.“

Damit war alles geklärt. Ich ging zurück zu Linda und Dr. Huber, die mich schon erwartungsvoll ansahen.

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