5328 – Teil 2

Es war schon dunkel und so beeilte ich mich während ich durch die jetzt leeren Gassen auf die Baracke zuging. Kurz davor lag zur linken ein Waldstück, nicht besonders groß aber sehr wild und dicht bewachsen. Ich konnte einen schmalen Pfad erkennen und aus eben diesem kam mir jetzt ein leises „Pssssst, David“ entgegen. Ich sah mich um ob jemand in der Nähe war, konnte aber niemanden entdecken. Also machte ich ein paar schnelle Schritte auf den Pfad zu und verschwand dann zwischen den Bäumen und Sträuchern. Auf einmal stand Hans vor mir.

„Hallo David.“

Er lächelte und schloss mich in die Arme.

„Ich hätte es nicht ausgehalten, dich heute nicht mehr zu sehen. Wie fühlst du dich?“

„Schon viel besser. Das Fieber ist runter.“

Hans lächelte mich an, zog mich fest an sich und gab mir einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Gerade spürte ich seine Zunge an meiner als hinter uns das Knacken eines Astes zu hören war. Im nächsten Moment stürzte eine Person auf den Pfad kaum 3 Meter von uns entfernt.

Sofort zog Hans seine Waffe und zielte auf sie. Die Person sah auf, ich konnte nun erkennen, dass es eine Frau war. Mit angsterfüllten Augen sah sie auf die Waffe. Hans ging auf sie zu, ließ die Waffe aber nicht sinken. Die Frau fing an zu weinen, ich lief zu ihr und half ihr aufzustehen. Sie hielt sich den Bauch und stöhnte.

„David sie hat uns gesehen!“

„Und jetzt, willst du sie erschießen? Das kannst du nicht tun!“

„David wenn sie das ausplaudert dann…“

„Sie wird niemandem etwas sagen.“

Die Frau schüttelte den Kopf und sah Hans flehend an.

„Was machst du überhaupt hier?“, fuhr er sie an.

„Ich möchte zur Krankenstation, mein Kind…“, stotterte sie leise.

„Nicht auch das noch. Du bist schwanger?“

Sie antwortete nicht aber man hörte wie ihre Zähne vor Angst klapperten.

„Ich bring dich hin.“

„Das wirst du nicht tun David. Man wird sie erschießen wenn man merkt, dass sie schwanger ist und dann möchte ich dich nicht in der Nähe haben!“

„Hans ich muss sie hinbringen, sie kann sich ja kaum auf den Beinen halten.“

„Du wirst sie nicht hinbringen. Du gehst jetzt in deine Baracke und zwar schnell.“

„Aber…“

„Sofort!“

„Du darfst sie nicht erschießen“, flüsterte ich.

„David geh um Himmels Willen jetzt in die Bracke und zwar auf direktem Weg! Ich bringe sie selber zur Station. Ich verspreche es dir.“

Ich sah, dass Hans furchtbar wütend werden würde wenn ich nicht tat was er sagte also drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zur Baracke. Kurz bevor ich dort war sah ich mich noch einmal um und erkannte wie Hans die Frau auf der Straße vor sich her Richtung Krankenstation führte. Er würde Wort halten.

In der Baracke angekommen suchte ich mir ein kleines freies Fleckchen und legte mich zwischen die anderen teilweise schon schlafenden Männer. Ich war fast eingedöst, da ertönte ein Schuss. Ich erschrak fürchterlich und im selben Moment wusste ich, dass die Frau nicht mehr lebte…

Als ich am nächsten Morgen Richtung Krankenstation ging, um meiner neuen Arbeit nachzugehen fühlte ich mich sehr schlapp. Ich hatte die Nacht kaum geschlafen und in den kurzen Momenten, die ich einnickte, träumte ich furchtbare Dinge. Meistens handelten sie davon, dass Hans und ich uns in irgendeiner Form näher kamen und er sich auf einmal in ein Ungeheuer verwandelte und mich erschoss. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass er es getan hatte aber alles sprach dafür. Etwa 20 Meter von der Krankenstation entfernt machte ich dann einen großen braunen Fleck auf dem Weg aus, den ich sofort als Blut erkannte. In mir zog sich alles zusammen. Ich richtete meinen Blick auf meine Arbeitsstelle und ging eilig darauf zu. Bereits an der Tür wurde ich freundlich von Hanna begrüßt.

„David, ich habe dich kommen sehen“, sagte sie, lächelte mir zu und legte die Hand auf meine Stirn. „Du hast Glück gehabt dein Fieber ist über Nacht nicht wieder gekommen.

„Hattet ihr die letzte Nacht irgendwelche Neuzugänge?“, fragte ich mit tonloser Stimme.

„Nein, warum fragst du?“

„Nur so.“

Sie sah mich einen Moment an und nahm mich dann mit zu den Patienten, um mir alles zu zeigen. Ich verbrachte die meiste Zeit damit die Kranken zu waschen, ihnen vorzulesen oder ihnen behilflich zu sein, wenn sie mal mussten. Das war bis auf das Vorlesen keine besonders angenehme Arbeit und doch tat ich sie gern, weil ich merkte wie dankbar mir die Hilfebedürftigen waren, auch wenn sie es nicht aussprachen. Ein Gesichtsausdruck oder ein Lächeln sagt manchmal mehr als tausend Worte.

Während meiner Arbeit fiel es mir leichter nicht an Hans und die Erlebnisse der letzten Nacht zu denken. Doch manchmal kamen die Gedanken wieder hoch, auch in den folgenden Tagen noch. Ich war furchtbar enttäuscht und ärgerte mich auch über mich selbst, dass ich geglaubt hatte, er sei anderes als die Anderen.

Glücklicherweise bekam ich Hans in meiner ersten Woche auf der Station nur einmal von weitem zu Gesicht. Ich sah ihn, wie er draußen auf der Straße mit einem Kameraden sprach, während ich das Fenster der Krankenstation zum Lüften öffnete. Als er das Quietschen des Fensters hörte, sah Hans zu mir hoch doch ich sah ihn nicht an, sondern drehte mich sofort um und verschwand vom Fenster.

Ich hatte oftmals das Gefühl, dass Jakob und Hanna mich beobachteten und sich gegenseitig Blicke oder ein Schulterzucken zuwarfen. Allerdings fragten Sie nie nach was mit mir los ist und ich war ihnen dankbar dafür.

Eines Tages war ich gerade wieder dabei einen Kranken zu waschen, als ich Schritte hörte, die sich auf die Zimmertür zu bewegten. Die Tür ging auf, ich sah hoch und Hans direkt ins Gesicht. Er grüßte Frau und Herrn Nussbaum, sah mich dann an und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, dass ich ihm in den Nebenraum folgen sollte. Da mir nichts anderes übrig blieb betrat ich dem Raum, Hans folgte mir und schloss die Tür. Er kam auf mich zu, nahm mich in den Arm und wollte mich Küssen, doch ich drehte meinen Kopf weg.

„David was ist los?“

„Das weißt du ganz genau“, sagte ich und bereute es im nächsten Moment, denn ich wollte nicht auch noch erschossen werden.

Hans stutze und sagte mir dann, dass er extra her gekommen war, um mir eine Sondergenehmigung zu bringen. Er gab mir ein Schriftstück.

„Damit kannst du jetzt immer hier bleiben und musst abends nicht zurück in die Baracke. Du kannst bei Nussbaums unten mit schlafen, wie in der Nacht als ich dich hergebracht habe.“

Ich reagierte nicht auf das, was er sagte sondern fragte:

„Wieso hast du mich nicht gleich mit erschossen in der Nacht?“

„Wieso ich…??? David ich …Moment, du denkst ich hätte sie erschossen. Die schwangere Frau?“

„Du hast mir versprochen du bringst sie her, du hast sie in dem Glauben gelassen und dann kurz vor ihrem Ziel erschossen.“

Ich sah wie sich Hans´ Gesicht veränderte und abweisend wurde.

„Wenn du das glaubst…“, zischte er und stürmte aus dem Zimmer und kurz darauf aus der Krankenstation.

Ich versuchte mich zusammen zu reißen und fing doch an zu weinen. Ich ärgerte mich maßlos darüber aber ich konnte nicht anders. Ich war noch immer in ihn verliebt und ich hasste mich dafür.

„David was ist denn los?“

Jakob kam, nahm mich in den Arm und drückte mich an sich.

„Was ist los, Junge?“

„Er hat sie erschossen, einfach so. Sie war doch schwanger und er wollte sie herbringen…er hatte es versprochen und sie dann erschossen.“

„Wer hat wen erschossen?“

„Hans in der Nacht nachdem ich Sie kennen gelernt habe. Die Frau draußen auf der Straße.“

„Die Frau…ja ich erinnere mich. Aber Hans hat sie nicht erschossen David.“

Ich sah ihn ungläubig an.

„Ich sah es vom Fenster aus. Er kam mit ihr die Straße entlang. Es sah aus als wollten Sie zu uns. Dann kam ein anderer Uniformierter, ich kannte ihn nicht. Er hat ihn und die Frau angehalten. Hans zeigte auf die Krankenstation und im nächsten Moment hat der Andere sie erschossen.“

„Warum?“, flüsterte ich.

„Das weiß ich nicht David, aber ich denke, dass die Kranken ihnen an diesem Ort nur lästig sind, sogar die Gesunden sind hier ja schon nicht mehr viel wert.“

„Es ist schrecklich.“

„Ja, das ist es! Aber ich kann dir versichern, dass es deinem Hans nicht einerlei war was mit der Frau passiert ist. Du musst wissen, der andere SS-Mann holte mich, um… sie wegzubringen. Hans sollte sich darum kümmern, dass ich es erledige, während der Andere weiter ging. Ich tat es natürlich und dein Hans sah mich an und flüsterte nur >Sie war schwanger<. Er sah wirklich geschockt aus.“

„Mein Hans?“

„David, denkst du denn ich sehe nicht was mit euch los ist. Ich habe Augen im Kopf und weiß auch wie es ist wenn man sich liebt.“

„Aber er ist bei der SS“, schluchzte ich.

„Das ist er, und trotzdem ist er kein schlechter Mensch. Ich will auch nicht sagen er ist ein guter Mensch. Das kann nur Gott allein beurteilen, was ich aber sagen kann ist, dass ich ihn nie gesehen habe, wie er die Waffe gegen einen Menschen erhoben und aus Spaß oder aus irrsinnigen Gründen jemanden erschossen hat. Er war nie grausam oder ungerecht zu mir und meiner Frau oder den Kranken. Im Gegenteil, er hat uns schon zweimal bevor er dich herbrachte mit Essbarem oder Medizin versorgt. Das rechne ich ihm hoch an, denn auch er bringt sich damit in Lebensgefahr. Du weißt wer sein Onkel ist?“

„Ja“, ich schluckte, „ich habe ihn mal kennen gelernt.“

Jakob nickte mir zu.

„Ich glaube nicht, dass es diesem Mann etwas ausmachen würde seinen eigenen Verwandten zu ermorden, wenn er erführe was der so tut.“

Ich nickte und wischte mir die Tränen weg.

„Er hat mir eine Sondergenehmigung gebracht. Ich darf jetzt hier bleiben, auch über Nacht.“

„Das ist eine sehr gute Neuigkeit David.“

„Ja. Ich wette, er bereut es schon. Ich habe ihn gefragt warum er mich nicht auch erschossen hat.“

„Er wird es verstehen David. Hilfst du mir beim Medizin verteilen?“

„Ja, ich komme.“

Hans ließ sich an diesem Tag nicht mehr blicken und leider sah ich ihn auch die darauffolgenden Tage nicht. Ich nahm an, dass er der Krankenstation, und somit mir, absichtlich fern blieb. So hatte ich noch nicht einmal die Möglichkeit, mich für mein Misstrauen bei ihm zu entschuldigen.

Meine Arbeit auf der Station lenkte mich ab, so dass ich nicht ständig über alles am Nachdenken war. Es machte mir viel Spaß, mich um Menschen zu kümmern. Ich erwischte mich sogar bei dem Gedanken, dass dieses mein zukünftiger Beruf werden könnte, sollte ich das Lager und den Krieg überleben.

***

Ich arbeitete viel und die Nussbaums waren froh, dass sie mich als Hilfe dort hatten. Sie behandelten mich nach den wenigen Tagen, die ich nun schon dort war fast wie ihren Sohn. Sie gaben mir von dem bisschen Essen was sie hatten, richteten mir in ihrem Zimmer eine eigene Matratze her und besorgten mir sogar eine dünne Decke für mein Bett. Nachts waren es ab und zu immer noch um die 0 Grad aber am Tage wurde es langsam wärmer. Ich hoffte auf einen baldigen Frühlingsanfang und freute mich auf die blühenden Bäume, die wenigstens etwas Farbe in diesen schrecklichen grauen Lageralltag bringen würden. Ich hatte das Frühjahr schon immer geliebt…

Ich war gerade damit fertig, eine Patientin zu waschen, als ich Stimmen aus dem Flurbereich vernahm. Mein Herz fing wie wild an zu klopfen, denn ich erkannte Hans. Ich machte leise die Tür auf und linste um die Ecke in den Flur. Da stand er in seiner Uniform und gab Jakob ein kleines Fläschchen mit den Worten:

„Geben Sie ihnen das, falls absehbar ist was kommt.“

Herr Nussbaum nickte, drehte sich um und sah mich in der Tür stehen. Er stoppte und in dem Moment sah auch Hans zu mir herüber. Ich erschrak, denn er sah schlecht aus. Ich sah ihm in die Augen und dann zu Jakob.

„Sie können gerne unser Zimmer nutzen, wenn Sie sich ungestört unterhalten wollen“, sagte dieser zu Hans.

Er nickte und kurz darauf verschwanden wir zusammen in dem Zimmer. Mit traurigen Augen sah Hans mich an. Ich blickte hinab auf den Boden.

„Es tut mir leid. Ich weiß jetzt, dass du…nicht geschossen hast.“

Hans sagte nichts. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er mich immer noch ansah. Mein Herz klopfte wie wild und ich bekam nasse Finger. Dieses Mal hatte ich Angst, dass er nun nichts mehr mit mir zu schaffen haben wollte. Das war ein schreckliches Gefühl. Ich wollte nicht wieder alleine sein. Ich hatte zwar jetzt auch Hanna und Jakob an meiner Seite aber das war halt nicht das gleiche. Ich erschrak als Hans anfing zu sprechen:

„Es ist schon gut David, ich hätte an deiner Stelle sicher genauso reagiert. Entschuldige bitte, dass ich nichts für sie tun konnte.“

Ich konnte mich nicht beherrschen, machte zwei Schritte auf Hans zu und klammerte mich an ihn. Er nahm mich in den Arm, küsste mich auf die Stirn und strich mit seiner Hand immer wieder auf meinem Rücken auf und ab.

„Sie war noch so jung, vielleicht hatte sie Familie hier und war nicht wie ich ganz alleine und jetzt werden sie sie alle schrecklich vermissen…so wie ich meine Eltern vermisse.“

Ich schluckte, wie jedes Mal wenn ich an meine Eltern dachte. Ich wünschte, ich könnte jemanden nach ihrem Verbleib fragen aber wen? Ich legte meinen Kopf gegen Hans´ Schulter, nahm seinen Geruch wahr und dann wurde mir klar, dass es doch eine Möglichkeit gab, zu erfahren was mit meinen Eltern war. Wieso hatte ich nicht früher daran gedacht?

„Hans, hast du die Möglichkeit was über meine Eltern in Erfahrung zu bringen?“ flüsterte ich gegen seine Brust.

Ich spürte wie Hans mit seinem Streicheln inne hielt und ahnte, dass ich was Falsches gesagt hatte.

„Die Möglichkeit habe ich schon David aber willst du das wirklich wissen?“

Ich merkte, dass er seine Worte sehr sorgfältig auswählte.

„Ja!“ hauchte ich. „Bitte kannst du es versuchen?“

„Ich werde es nicht versuchen David…“

Ich löste mich ein wenig von Hans und guckte ihn mit großen Augen an. Er sah so unsagbar traurig aus und ich merkte, dass es ihm schwer fiel weiter zu reden.

„Ich werde es nicht versuchen, weil ich es schon getan habe David…es tut mir leid.“

„Sie…sind tot?“

Er sah mir in die Augen und nickte. Eine Leere, wie ich sie noch nie gefühlt hatte kam über mich. Ich schwankte und hätte Hans mich in diesem Moment nicht fest an sich gezogen wäre ich wohl zusammengebrochen. Ich hielt mich an ihm fest und weinte wie ich noch nie geweint hatte. Hans hielt mich die ganze Zeit über fest und streichelte wieder langsam meinen Rücken. Als ich keine Tränen mehr hatte, hob ich den Kopf zu seinem und ich war sicher, dass auch er geweint hatte. Er lächelte mich an obwohl ihm das ungeheuer schwer fallen musste.

„Danke, dass du es mir gesagt hast. Du musst jetzt wieder gehen oder?“

„Ja, es tut mir leid. Ich möchte dich eigentlich nicht alleine lassen jetzt.“

„Ich werde lernen damit zu Recht zu kommen“, sagte ich tapfer. Ich wollte nicht, dass Hans sich um mich sorgte.

„Was war das eigentlich für ein Fläschchen, dass du Jakob gegeben hast?“

Es interessierte mich eigentlich nicht wirklich. Ich wollte uns nur mit irgendetwas ablenken. Hans zögerte.

„Betäubungsmittel“, sagte er dann doch noch.

„Bet…? Wofür?“

Ich konnte förmlich spüren, wie es in seinem Kopf arbeitete und er nach den richtigen Worten suchte.

„Es ist…also es werden einige Leute immer nervöser und es könnte sein, dass sie zu dem Entschluss kommen, dass die Kranken für das Lager … nicht mehr tragbar sind und mit dem Mittel wäre es für die Kranken leichter, weil sie nichts mehr mitbekämen und nicht unnötig leiden müssten.“

Ich starrte Hans ungläubig an.

„David ich kann nichts anderes tun als das. Es geht einfach nicht.“

„Ich weiß. Ich finde nur, das alles hier ist so menschenverachtend.“

„Mit der Meinung stehst du nicht alleine David, das kannst du mir glauben.“

Ich sah Hans an und er beugte sich vor, um mich zu küssen.

„Ich muss gehen David. Ich werde versuchen heute Abend noch mal zu dir zukommen.“

„Ist gut.“

Hans ließ mich los, ging zur Zimmertür, drehte sich dann aber doch noch einmal um und sagte:

„Das mit deinen Eltern tut mir wirklich Leid David. Ich wünschte ich hätte noch etwas tun können.“

Ich schluckte und nickte nur zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Ich konnte nichts sagen sonst hätte ich wieder angefangen zu weinen.

„Geh und arbeite weiter David, das wird dich ablenken und bitte pass auf dich auf.“

Mit diesen Worten verschwand er aus der Tür und ich ging wieder ins Krankenzimmer. Hanna und Jakob sahen natürlich gleich, dass ich geweint hatte und in einem ruhigen Moment erzählte ich ihnen alles. Natürlich weinte ich wieder und Hanna nahm mich in den Arm und tröstete mich, genau wie meine Mutter es immer getan hatte. Als ich mich beruhigt hatte, arbeitete ich weiter. Hanna und Jakob legten sich zwischendurch abwechselnd hin, um ein wenig zu schlafen da sie in der Nacht aufbleiben und über die Patienten wachen wollten.

Ich hingegen arbeitete bis Abends durch und gönnte mir keine Pause, um nicht soviel Denken zu müssen.

Irgendwann konnte ich mein Gähnen dann aber doch nicht mehr unterdrücken und wurde von beiden ins Bett geschickt. Ich hatte schon einige Zeit geschlafen, als ich jemanden leise an die Tür klopfen hörte. Ich ging zur Tür und öffnete sie. Kurz darauf stand Hans im Zimmer, nahm mich zur Begrüßung in den Arm und küsste mich nachdem er sich versichert hatte, dass niemand außer uns im Zimmer war.

„Wie geht es dir mein Schatz?“

„Es geht schon.“

„Wirklich?“

„Ja. Ich bin nur ziemlich müde.“

„Dann solltest du dich wieder hinlegen. Haben Nussbaums noch zu arbeiten?“

„Ja, sie machen Nachtschicht und haben vorhin geschlafen.

„Sehr gut.“

Hans lächelte mich an und fing an sich die Uniform auszuziehen. Die Waffe legte er neben mein Bett. Ich sah ihn staunend an. Er kam auf mich zu, als er nur noch mit Unterhemd und Unterhose bekleidet war und schob mich Richtung Strohmatratze.

„Ich werde heute Nacht bei dir bleiben David, ich möchte nicht, dass du alleine bist.“

Wir legten uns auf mein Nachtlager und zogen die dünne Decke über uns. Hans war schön warm und ich kuschelte mich an ihn, um etwas von seiner Wärme abzubekommen. Es dauerte nicht lange und ich war in seinen Armen eingeschlafen.

Ich spürte wie mir jemand einen Kuss auf die Lippen hauchte und seufzte leise.

„Oh, ich wollte dich nicht wecken“, flüsterte Hans.

Ich antwortete nicht sondern gab ihm meinerseits einen Kuss auf die Lippen. Hans öffnete leicht seinen Mund und schob langsam seine Zunge hervor, bis er damit meine Zungenspitze berührte. Wieder fühlte ich mich wie elektrisiert. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl, ihn so nah bei mir zu spüren und küssen zu können.

Hans war so überaus zärtlich. Er drehte mich auf den Rücken und streichelte ganz sanft meinen Oberkörper. Irgendwann schob er seine Hand unter mein Hemd und zog es mir später aus, um meine Brust und meinen Bauch zu küssen. Mein Atem ging so laut und schnell, dass ich glaubte man würde ihn noch vor der Tür hören. Hans ging es jedoch ähnlich. Ich fühlte wie erregt er war und doch ging er nicht weiter als ich das wollte. Er hielt zwischendurch immer wieder inne und flüsterte ich solle sagen wenn ich etwas nicht möchte. Doch ich wollte alles, was er mit mir tat. Ich wollte mich ablenken und ein paar schöne Momente lang nicht an dieses schreckliche Leben im Lager, meine Eltern und den Krieg denken müssen. Ich wollte, dass er mit mir schlief…

***

Ich drehte mich auf den Bauch und beobachtete, wie sich Hans´ Brust gleichmäßig hob und wieder senkte. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und fuhr ihm ganz sachte mit meiner Hand über den Bauch.

„Mhhh…bist du etwa schon wieder ausgeschlafen.“

„Du bist ja wach?“

„So halbwegs.“

Ich hörte an seiner Stimme, dass er lächelte und streichelte weiter seinen Bauch bis ich eine Narbe unter meiner Handfläche spürte. Ich fuhr mit zwei Fingern drum herum.

„Woher hast du die?“

„Ich war für kurze Zeit an der Ostfront und wurde verwundet. Ich kam ins Lazarett und mein Onkel brachte mich anschließend hier unter.“

„Du warst an der Ostfront?“ flüsterte ich. „Ist die noch weit weg…?“

Ich biss mir auf die Lippen. Ich hatte das gar nicht sagen wollen aber nun war es zu spät. Ich dachte Hans würde nicht antworten.

„Es dauert nicht mehr lange bis die hier sind David. Die Front rückt immer näher, deswegen werden hier langsam alle ziemlich nervös…“

„Aber…das ist doch gut oder nicht? Wenn sie hier sind kann dieser fürchterliche Krieg aufhören und alle, die im Lager sind werden befreit.“

Hans stöhnte.

„Sicher ist das für euch gut David. Ihr müsst sehen, dass ihr die letzten Wochen überlebt und dann habt ihr dieses Leben endlich hinter euch. Für mich sieht das schon anders aus. Ich bin bei der SS David und ich habe gesehen, was sie mit SS-Leuten machen wenn sie die erwischen…“

„Aber du musst es ihnen doch nicht sagen. Du kannst die Uniform ausziehen oder nicht?“

„David, erstens würde ich dann als Deserteur von den eigenen Leuten erschossen und zweitens würde mich der Feind trotzdem erkennen. Jeder SS-Mann hat seine Blutgruppe unter der Achsel eintätowiert. Unsere Gegner wissen das. Was glaubst du wo sie zuerst hingucken wenn sie einen deutschen Mann vor sich haben?“

„Aber … du hast doch nichts Schlimmes getan oder? Ich meine, du hast doch auch bevor wir uns kennen gelernt haben nichts Schlimmes getan?“

Ich hatte in dem Moment doch ein wenig Angst, dass er mir wiedersprechen würde.

„David, wenn sie dieses Zeichen sehen ist es egal was ich getan oder nicht getan habe. Für sie zählt nur das Zeichen, das mich als SS-Zugehörigen identifiziert. Ich war dabei, das reicht dann für sie, um mich zu töten und vielleicht haben sie Recht damit…“

„Was soll das heißen? Sie entscheiden nicht für jeden einzelnen sondern fällen ein Urteil über alle?“

„David du verstehst das nicht. Es ist soviel passiert. Du siehst doch wie sich meine Kameraden hier teilweise aufführen und anderswo ist es noch viel schlimmer…“

Die letzten Worte sprach Hans mehr zu sich selbst und ich war sicher, dass sie eigentlich nicht für mich bestimmt gewesen waren aber ich hatte sie gehört und ich wollte es verstehen.

„Was heißt anderswo ist es noch viel schlimmer?“

„David, dieses hier ist nicht das einzige Lager…“

„Es…gibt noch mehr davon und noch schlimmere?“

„Noch viel mehr, David, und noch viel schlimmere!“

„Wie geht es denn noch schlimmer als hier? Hans, du warst doch nicht dort oder? Bitte sag mir, dass du nicht dort warst.“

„Nein, ich war nicht dort aber ich habe davon gehört.“

Hans schwieg einen Moment und ich merkte, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Körper ausbreitete. Dann sprach er sehr leise weiter.

„David, bitte versprich mir, wenn dich irgendjemand abholen und zum Duschen oder zur Desinfektion schicken will, dass du nicht mitgehst. Versteck dich irgendwo, sieh zu, dass du da wegkommst egal mit was sie dich locken, ob mit Seife oder Brot oder sonst was.“

„Aber wieso…?“

„Frag nicht David. Tu es einfach.“

Ich wollte noch etwas sagen doch dann spürte ich wie Hans zitterte und merkte, dass er gegen seine Tränen ankämpfte. Ich legte meinen Kopf zurück auf seine Brust, streichelte wieder seinen Bauch und flüsterte:

„Ich verspreche es dir.“

Nach diesem Gespräch hingen wir beide unseren Gedanken nach und schliefen irgendwann doch noch mal ein.

Wir wurden erst wieder wach, als die Tür sich lautstark öffnete und jemand das Zimmer betrat. Instinktiv griff Hans nach seiner Waffe und zielte in Richtung Tür.

Hanna blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und starrte auf die Waffe, die Hans sofort sinken ließ. Im nächsten Moment kam auch Jakob in das Zimmer.

„Oh, Entschuldigung. Komm Hanna wir gehen wieder.“

„Bleiben Sie hier. Ich muss sowieso los.“

Hans kroch nackt unter der Decke hervor und zog sich blitzschnell an. Ich stand ebenfalls auf, wickelte mich in die Decke ein und ging so zu ihm herüber. Er lächelte mich an, nahm mich in den Arm und dann spürte ich seine Lippen an meinem Ohr.

„Anee ohev otkah David“, flüsterte er so, dass nur ich ihn hören konnte.

Seine Lippen wanderten zu meinem Mund und er küsste mich kurz. Dann ließ er mich los, sah mir in die Augen und schmunzelte über mein erstauntes Gesicht. Ich wollte gerade den Mund öffnen, um was zu sagen, da legte er mir sachte einen Finger auf die Lippen.

„Shhh…schon gut.“

Er drehte sich um, ging zur Zimmertür und im nächsten Moment war er in den noch dunklen Morgen verschwunden. Hanna und Jakob sahen ihm nach.

„Was hat er zu dir gesagt?“, fragte Jakob.

Ich sah ihn an und ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

„Er hat gesagt, dass er mich liebt.“

***

Die nächsten Tage waren für mich schwierig. Ich dachte viel über mein Leben, meine Eltern und den Tod nach, der hier allgegenwärtig war. Außerdem hatte ich große Sehnsucht nach Hans und wollte ihn so oft wie möglich bei mir haben und am liebsten gar nicht mehr weglassen. Er gab mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Natürlich fühlte ich mich auch bei den Nussbaums geborgen aber wenn Hans bei mir war, war es etwas anderes.

Leider konnte er nicht so oft zu mir kommen, da es im Lager mittlerweile ziemlich drunter und drüber ging. Selbst ich bekam nun mit wie nervös und noch unberechenbarer einige seiner Kameraden wurden. Was auch auffiel war, dass es allem Anschein nach von Tag zu Tag weniger SS-Leute wurden. Man sah immer häufiger dieselben Wachposten. Sie sahen alle übermüdet und angespannt aus. Als ich dieses Hans gegenüber vorsichtig ansprach sagte er mir, dass die Front nicht mehr weit entfernt sei und nun immer mehr von den SS-Männern das Lager verließen. Die, die noch da waren sollten die Lagerinsassen in Zaum halten und Beweismaterial vernichten.

Hans musste viele zusätzliche Wachschichten übernehmen und jedes Mal wenn ich ihn sah, sah er noch müder aus als das Mal zuvor. Jetzt war einer dieser kurzen Momente und ich fragte ihn, wieso er noch hier war. Ich war mir sicher, dass sein Onkel ihn hätte gehen lassen wenn er darum gebeten hätte. Er sah mich nur müde an und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.

„Ich will dich nicht alleine lassen David. Ich könnte mir das nie verzeihen, falls dir in den letzten Tagen hier noch etwas zustieße, wenn ich nicht mehr hier wäre.“

„Hans, du hast gesagt sie töten dich wenn sie dich kriegen.“

„Ja ich weiß“, sagte er leise.

„Bitte geh und lass mich hier zurück wenn sie schon so nah sind. Bitte…“

„Noch sind sie ja nicht in unmittelbarer Nähe David. Es ist noch Zeit.“

So ganz überzeugt war ich von diesen Worten nicht und ich glaube, Hans war es selber nicht. Er versuchte seine Angst vor mir zu verbergen, wollte für mich stark sein. Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und küsste ihn zärtlich, bevor er wieder verschwand, um seinen Kameraden bei der Wache abzulösen.

An diesem Abend ging ich noch einmal raus obwohl ich schon sehr müde war. Vielleicht war Hans ja in dieser Gegend als Wachposten aufgestellt und ich konnte ihn wenigstens aus der Ferne sehen. Ich sah keinen Hans, dafür aber etwas anderes. Es war eine klare Nacht und es war immer wieder hell zwischendurch. Ich hörte auch ganz entferntes Donnern und Grummeln. Obwohl ich wusste, dass es unsere Erlösung war machte es mir Angst. Ich wusste, dass das was ich sah und hörte von der Front kommen musste. Und das hieß, sie konnte wirklich nicht mehr weit weg sein.

„Komm rein und schließ die Tür David.“

Ich hatte gar nicht gehört, dass Jakob eine ganze Weile hinter mir gestanden und ebenfalls in den Nachthimmel gesehen hatte. Er schob mich wieder ins Haus. Ich ging in das Zimmer und legte mich mit Anziehsachen ins Bett. Ich hatte keine Kraft mehr sie auszuziehen. Jakob legte sich dann auch zu seiner Frau auf die Matratze nieder und so schliefen wir bis sich unsere Zimmertür mit einem Knarren öffnete. Im nächsten Moment spürte ich, dass jemand an meinem Bett stand.

„David?“

„Hans!“

Ich stand auf und fiel ihm um den Hals. Ich merkte, dass er andere Kleidung trug, nicht mehr die Uniform. Ich ahnte bereits was jetzt kommen würde und klammerte mich an ihm fest.

„David, ich muss fliehen. Die Russen kommen von Osten und die Amerikaner aus dem Süden. Letztere brauchen noch zwei höchstens drei Tage dann sind sie hier.“

Ich sah Hans mit großen Augen an.

„Ich liebe dich David. Bitte vergiss mich nicht. Es tut mir leid, was du…“, er sah zu Nussbaums herüber, die ebenfalls wach und aufgestanden waren, „was ihr alle durchmachen musstet.“

Er lächelte mich an und ich sah wie seine Augen feucht wurden. Im nächsten Moment klammerte ich mich wieder an ihn, so dass es ihm schon wehtun musste. Doch er sagte nichts. Wir blieben einen Moment so stehen und dann ließ Hans mich los und wandte sich den Nussbaums zu.

„Ich möchte Sie bitten, auf ihn aufzupassen, bis das alles hier vorbei ist.“

Hanna ging auf Hans zu, umarmte ihn und streichelte ihm über den Kopf.

„Das werden wir und wir werden ihn auch mit uns nehmen wenn alles vorbei ist und David mit uns kommen möchte. In den letzten Wochen schöpften wir neue Hoffnung unseren Heimatort doch noch wiederzusehen.“

Sie küsste Hans auf die Wange und ließ ihn los. Jakob nahm seine Hand und sah ihm tief in die Augen.

„Dass wir diese Hoffnung schöpften ist zum Großteil auch Ihr Verdienst. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken für alles, was Sie für David und für uns getan haben. Vielen Dank. Gott möge Sie schützen. Ich wünsche ihnen viel Glück.“

Hans nickte, sagen konnte er nichts. Er sah noch einmal zu mir herüber und ging langsam Richtung Tür.

„Hans…!“

Er drehte sich nach mir um und im nächsten Moment hing ich ihm wieder am Hals. Wir umarmten uns fest und küssten uns ein letztes Mal. Dann verließ Hans das Haus und als er außer Sicht war wurde mir klar, dass es ein Abschied war. Und mir wurde noch etwas klar, was ich in dieser Form vorher nie gewagt habe mir gegenüber einzugestehen. Mir wurde klar, dass ich ihn von ganzem Herzen liebte.

***

Tatsächlich wurden wir drei Tage nach Hans´ Abschied von Hanna, Jakob und mir von den Amerikanern befreit. Die letzten SS-Männer hatten sich genau wie Hans in jener Nacht abgesetzt und so mussten wir nur noch auf die Befreier warten. Wir freuten uns, sie zu sehen. Sie gaben uns Essen und Trinken und sangen und tanzten und doch fehlte mir etwas Entscheidendes: Hans. Ich verging fast vor Liebeskummer und so war ich froh, als Jakob und Hanna mir zwei Wochen nach der Befreiung eröffneten, dass sie in ihre Heimat zurückkehren würden und fragten ob ich mit ihnen kommen wollte.

„Ihr wollt mich wirklich mitnehmen und ich darf bei euch leben?“

„Ja David, du hast gehört, was wir zu Hans gesagt haben. Wir lieben dich wie einen Sohn. Wir wären sehr glücklich wenn du uns begleiten würdest.“

Vor lauter Rührung konnte ich gar nicht antworten. Mir liefen die Tränen über die Wange und ich umarmte einfach beide und sie fassten das als meine Zustimmung auf.

Der Nachhauseweg dauerte lange und war sehr beschwerlich. Bis zur endgültigen Kapitulation Deutschlands hatten wir noch einige Luftangriffe durchzustehen, aber irgendwann waren auch die vorüber und die Nachricht, dass der Krieg aus war verbreitete sich in Windeseile.

Die Orte und Städte, durch die wir kamen, wiesen meistens große Schäden auf. Menschen waren damit beschäftigt Schutt von zerbombten Häusern abzutragen. Hin und wieder zeigte man mit dem Finger auf uns und wenn sie merkten, dass wir es sahen, guckten sie schnell zu Boden.

Wir wussten warum das so war. Auch wir hatten, wie diese Menschen, inzwischen von den anderen Lagern gehört und davon, was dort alles geschehen war. Ich wusste jetzt, was Hans mit seiner Warnung sagen wollte, in der Nacht als wir das einzige Mal miteinander schliefen.

Hans…ich dachte weiterhin viel an ihn. Einmal bin ich auf dem Weg fast zusammengesackt, als ich mehrere Tote in SS-Uniform an einem Baum hängen sah. Als erstes erkannte ich Hans´ Onkel. In dem Moment hielt ich mir nur die Hände vor die Augen und fing am ganzen Leib an zu zittern.

„Er ist nicht dabei“, hörte ich eine geflüsterte Stimme in meinem Ohr.

Ich ließ mich von Jakob weiterziehen und sah nicht mehr zu dem Baum hin. Wir setzten unseren Weg in meine neue und Nussbaums alte Heimat fort und kamen an einem sonnigen Nachmittag in dem kleinen Örtchen an.

Wie durch ein Wunder hatte der Krieg hier kaum Spuren hinterlassen. Hanna und Jakob gingen mit mir einen Fluss entlang und dann über einen schmalen Steg, der auf der anderen Seite zu ein paar einzeln stehenden Häusern und Ställen führte. Aus einem dieser Häuser trat in jenem Augenblick eine ältere Frau, sie hätte meine Großmutter sein können. Wir blieben etwa 10 Meter von ihr entfernt stehen.

„Hanna, Jakob…nein, das glaube ich nicht.“

Die alte Dame schrie uns das förmlich entgegen, kam auf uns zu und begrüßte die beiden sehr herzlich.

„Dass ich das noch erleben darf. Ich glaubte nicht daran euch noch einmal wiederzusehen, nachdem ihr in dieser Nacht aus euerm Haus gejagt und weggefahren wurdet.“

„Hallo Agnes“, erwiderte Hanna.

„Niemand hat uns Auskunft erteilt wo ihr hingebracht werdet. Euer Haus stand seit dem leer. Es muss einiges daran gemacht werden. Aber wer bist denn du überhaupt?“

Sie sah mich mit großen Kulleraugen an. Ich hatte die alte Dame sofort in mein Herz geschlossen.

„Ich bin David.“

„David? Das gibt es doch nicht!“

Verwundert sah sie mich an und ich wiederum sah Hanna und Jakob verwundert an und diese die alte Frau.

„David…man sagte mir schon, dass du herkommen würdest.“

„Man…wie bitte?“

„Kommt einmal mit…“

So führte uns Agnes an ihrem Haus vorbei meinem neuen Zuhause entgegen. Sie ging jedoch nicht zur Eingangstüre um das Haus herum.

„Wir gehen zur Hinterseite des Hauses, es hat nämlich jemand was für dich dagelassen David.“

Ich wunderte mich immer mehr über die ganze Sache und ging langsam hinterher. Als ich um die letzte Ecke bog und hinter das Haus sehen konnte stockte mir der Atem. Meine Beine knickten ein und im nächsten Moment saß ich auf duftendem Gras. Meine Augen starrten auf ein weißes Pferd, das in einer umzäunten Koppel am Grasen war.

„Schneesturm“, flüsterte ich.

„Sie ist schon ein paar Wochen hier. Der Junge bat meinen Mann für sie zu sorgen, bis ein gewisser David käme und sich um sie kümmern würde. Er gab uns ein paar Tauschwaren, damit wir zusätzliches Futter für das Pferd besorgen konnten.“

Ich rappelte mich wieder hoch, stellte mich direkt an den Zaun der Koppel und pfiff. Schneesturm spitze die Ohren, wieherte und kam dann langsam angetrottet.

„Wie sah er aus? Der Junge…“

„Oh, ich habe ihn nicht gesehen. Es war schon mitten in der Nacht und ich habe geschlafen. Mein Mann sagt, er wollte wohl nicht von mehr Leuten als nötig gesehen werden. Da kommt er, wir können ihn fragen.“

Tatsächlich schlurfte ein alter Greis auf uns zu und die Begrüßung zwischen ihm und meiner neuen Familie fiel ebenso herzlich aus wie bei Agnes.

„Erich, wie hat der Junge ausgesehen, der uns das Pferd hier gelassen hat?“

„Müde.“

„Müde?“

„Ja, schrecklich müde. Ich habe ihm ein Bett angeboten, er hat sich bedankt und gesagt er müsse weiter. Dann war er auch schon wieder verschwunden.“

Ich fragte den alten Mann, ob Hans noch etwas gesagt hätte aber dieser verneinte. Und so wandte ich mich Schneesturm zu, sie war inzwischen bei mir angelangt. Ich kletterte über den Zaun, schlang meine Arme um ihren großen Kopf und weinte. Teils vor Freude und teils vor Trauer. Sie hielt ganz still, als wüsste sie genau was gerade in mir vorgeht.

***

Es war nun schon einige Monate her, dass wir hier ankamen. Wir hatten die erste Zeit viel zu tun, um das Haus wieder bewohnbar zu machen. Ich hatte viel dabei geholfen und unsere Nachbarn ebenfalls. Nicht nur Agnes und Erich sondern auch die Anderen. Alle waren sehr freundlich und nahmen uns herzlich auf. Allerdings war das wohl eher dem Umstand zu verdanken, dass es ein sehr kleines Dorf war mit nur ca. 30 Einwohnern und sich fast alle schon vor dem Krieg kannten.

Schneesturm war natürlich noch bei uns. Immer wenn ich sie sah, dachte ich an Hans. Ich vermisste ihn sehr und ich war mir sicher, dass auch sie ihn sehr vermisste. Das letzte was ich von ihm gehört hatte waren die Erzählungen von Erich und Agnes.

Es bedeutete mir sehr viel, dass Hans mir sein Pferd anvertraut hatte. Ich wusste, wie sehr er sein Schimmel liebte und was es ihn für Überwindung gekostet haben musste, es zurück zu lassen.

„David?“

„Ja Hanna?“

„Schau doch bitte mal nach Schneesturm, sie ist so unruhig.“

„In Ordnung.“

Ich verließ das Haus und ging auf die Koppel zu, wo das Schimmel aufgeregt auf und ab lief. Ich pfiff, doch sie reagierte nicht.

„Was ist denn los mit dir, komm her und beruhige dich.“

Ich streckte meine Hand nach ihr aus, zog sie aber gleich wieder zurück, da ich den Schatten bemerkte, der von einer Person, die hinter mir stehen musste, auf den Boden vor mir fiel.

„Hallo David.“

Ich erkannte die Stimme sofort, drehte mich aber nicht um, weil ich Angst hatte, dass es nur ein Traum wäre und er würde vorbei sein, wenn ich mich jetzt umdrehte.

„David?“

Jetzt fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter und nun drehte ich mich endlich um. Ich sah meinem Gegenüber in die Augen und im nächsten Moment fiel ich Hans in die Arme und fing fürchterlich an zu weinen. Ich merkte, dass Hans ebenfalls kurz davor war loszuweinen, doch er riss sich zusammen, hielt mich ganz fest und streichelte über meinen Rücken.

„Oh David, ich hab dich so vermisst. Ich liebe dich so sehr.“

Hans sah mir in die Augen und wir küssten uns das erste Mal seit unserem Abschied an diesen schrecklichen Ort. Nach ein paar Sekunden löste ich mich von ihm.

„Hans, ich liebe dich auch aber…“

„Aber…?“

„Es ist…ich habe so viele Dinge erfahren über die SS seit wir befreit wurden…“

„David, Ich wünschte ich könnte sagen, dass ich nicht zur SS gehörte. Ich wünschte mir hätte es von Anfang an keinen Spaß gemacht dabei zu sein aber das hat es. Es fühlte sich gut an und war ein Zusammenhalt den ich vorher nicht kannte. Ich habe viel zu spät gemerkt, was wirklich hinter all dem steckte. Es tut mir wahnsinnig Leid David. Bitte verzeih mir.“

„Wo warst du die ganze Zeit nachdem du geflohen bist?

„Ich bin von einem Ort zum nächsten und habe mich versteckt. Es war besser, mich nirgends zu lange aufzuhalten.“

„Und jetzt musst du dich nicht mehr verstecken?“

„Doch eigentlich schon aber ich habe es nicht mehr ausgehalten ohne dich.“

Ich schaute Hans tief in die Augen. Dann nahm ich ihn erneut in den Arm und drückte ihn fest an mich. Ich konnte Hanna und Jakob sehen, die in einiger Entfernung standen und zu uns rüber sahen. Ich war mir in diesem Moment nicht sicher, ob ich akzeptieren konnte, dass er der schlimmsten Gruppe von Kriegsverbrechern überhaupt angehörte. Die Zeit würde es zeigen. Wir mussten es versuchen und einen neuen Anfang wagen: den Anfang, den nach diesen schrecklichen Jahren jeder wagen musste.

ENDE Teil 2/2

Nachwort:

Ich durfte im letzten Jahr an einer Sommerfreizeit mit jungen Schwulen und Lesben teilnehmen, zu denen auch eine Gruppe aus Israel gehörte. Hiervon möchte ich euch noch kurz erzählen:

In dieser Freizeit steht jedes Jahr auch ein Besuch in einem Konzentrationslager an. Wir fuhren also mit allen Teilnehmern in die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Dort erfuhren wir, dass gerade hier auch viele Homosexuelle untergebracht waren. Wir wurden über das Gelände geführt und uns wurde einiges über das KZ erzählt. Ebenso konnten wir uns z.B. die Arrestzellen ansehen, sowie eine riesige Karte auf der das ganze Gelände dargestellt war, so wie es früher dort aussah.

Es dauerte nicht lange und wir kamen mit unserer Gruppe an das Krematorium, wo zwei Öfen standen und Bilder von früher an den Wänden hingen. Auf kleinen Wandtäfelchen wurde beschrieben was in diesem Krematorium und seinen Nebenräumen, sowie dem Keller alles passiert ist. Ich möchte das hier nicht wiedergeben, da es doch ziemlich furchtbar ist. Nur soviel: ich hielt mich bei diesem Thema eigentlich schon für recht „abgebrüht“. Nicht im negativem Sinne sondern ich war der Meinung ich wusste alles und kannte alles. Man kaut dieses Thema in der Schule ja immer wieder durch und irgendwann ist es auch mal genug. Als ich jedoch alleine durch diese Räume ging und mir vorstellte wie es den Juden unter uns dabei gehen musste kamen mir doch die Tränen. Es ist ein vollkommen anderes Gefühl ein Buch oder eine Internetseite über Buchenwald zu lesen oder selbst dort zu sein. Noch dazu mit Besuchern aus Israel. Ich kann es kaum in Worte fassen, was ich dabei fühlte.

Als alle von uns das Krematorium und den schrecklichen Keller verlassen hatten trafen wir uns davor auf einem Platz, wo der Wind nur so fegte (es war sehr kalt und grau an dem Tag). Wir stellten uns im Kreis auf und die Israelis hielten mit deutschen Teilnehmern zusammen (!) eine kleine Gedenkfeier ab. Es wurde auf Hebräisch gesungen, es wurden Texte in dieser Sprache und auf Deutsch vorgetragen und es ging mir unheimlich nahe! Ich und ein guter Freund standen dort, eng umschlungen, weinten um die Wette und trösteten uns gegenseitig. Zu Anfang des Gedenkens hatte jeder von uns eine Rose bekommen, die er an irgendeinem Platz auf dem Gelände niederlegen sollte.

Das war unser Besuch in Buchenwald. Vor diesem Besuch sagte einer der jüdischen Teilnehmer zu uns, er würde uns Deutschen mit gemischten Gefühlen gegenüber treten. Einerseits fand er uns als Gruppe nett aber andererseits könnte wüsste er ja nicht ob nicht gerade einer unserer Großväter den seinen ins Gas geschickt hätte. Diese Aussage machte uns alle sehr betroffen und sie zeigt wie tiefe Wunden diese Taten noch bis heute, über Generationen hinweg, hinterlassen haben.

Meine Geschichte „5328“ ist frei erfunden und doch könnte sie sich in der damaligen Zeit genau so oder ähnlich zugetragen haben. Ich widme diese Geschichte allen Opfern des Krieges, sowie deren Angehörigen.

Es ist wichtig, dass diese Zeit nicht vergessen wird auch wenn die Erinnerung schmerzt. Doch ebenso wichtig ist es zu vergeben.

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