Margie 15 – Nachtigall, ich hör..

Den nächsten Morgen ging es mir dann schon wesentlich besser, nur, eine gewisse Unruhe machte sich dann in mir breit. Meine Eltern hatten noch mal zurückgerufen, sie würden den Urlaub abbrechen und zurückkommen.
Allerdings würde das zwei Tage dauern, da sie nicht Hals über Kopf abreisen wollten. Na ja, unrecht war mir das nicht. Denn trotz allem, als Topfit konnte ich meinen Zustand nicht beschreiben. Es zog mich ja auch nicht unbedingt nach Hause. Die Nachricht, Angelo müsste bis zwei Wochen in der Klink bleiben… da lag meine Unruhe. Ich musste zu ihm, irgendwie, aber nicht irgendwann. Baldmöglichst.

Die Visite an dem Morgen fiel dann auch gut aus, also so wie ich mich fühlte und es dem Arzt samt zahlreichem Anhang versicherte. Dieser Mensch war allerdings nicht nur ein guter Mediziner, der hatte auch Menschenkenntnis.
Als alle wieder draußen waren aus dem Zimmer, kam er noch einmal kurz alleine zurück.

»So wie ich die Dinge sehe wirst du keine Stunde länger hier bleiben wollen?«

Ich nickte erstaunt.

»Erfasst«, brachte ich nur heraus.

Er nickte.

»Morgen früh, nach der Visite, kannst du nach Hause. Nur deine Versicherungskarte brauchen wir noch.«

Lauter Menschen, die ich hätte küssen wollen. Ging aber halt nicht, weil ich mir das aufheben wollte. Die Karte, ja..

Dieser Tag war mit Abstand der längste, den ich auf dieser Welt erleben durfte. Wenn man sich nicht mehr so richtig Todkrank fühlt und spürt, wie die Energien wieder zurückkommen, dann wird’s echt schwierig. Mal war ich draußen im Park bei den Rauchern zu finden, dann in meinem Bett, sinnlose Programme durchzappend oder dösig. Mehrere Versuche, Angelo telefonisch zu erreichen, scheiterten.
Es ging niemand dran. Natürlich kam dann dieses dumme Gefühl dazu, es stimme doch einiges nicht mit ihm und er lag womöglich unter dem Messer. Abgesehen von den allerschlimmsten Befürchtungen.
Auch Peter am Abend konnte mich nicht trösten. Der Hammer mit ihm war ja, dass er Verdacht zu schöpfen schien. Er redete plötzlich von „dein Freund“ und so. Also irgendwie hatte ich den Eindruck, er wolle mich aushorchen.
Na ja, wie das so spielt. Manch ein Zivi war ja wegen seines Schwulseins nicht zum Militär, wobei ich gehört hatte, dass man die Dinge dort nicht mehr zu verkniffen sah. Und genau auf dieses Thema kam ich dann auch an jenem Abend. So über hundert Ecken landeten wir beim Schwulsein. Ich gab natürlich gar nichts zu, er auch nicht.
War wie Fangen spielen, dabei merkten wir doch beide ziemlich deutlich, worauf das Ganze hinauslaufen wollte.
Nun, lief es aber nicht. Peter meinte nur, das mit dem Militär wäre so ne verlogene Sache, damit denen niemand wegläuft nur weil er Schwul ist.

»Da gibt’s noch Hierarchien. Und Gegängelt werden die Schwulen dort immer noch, wenn’s rauskommt.«

Für meinen Geschmack wusste er da einfach zuviel und für mich stand dann irgendwann in jener Nacht fest, dass Peter genauso schwul war wie Angelo und ich. Aber das kam nicht öffentlich raus.
Angelo erreichte ich auch am Abend nicht, was mich dann doch zunehmend nervös machte. Es gab keinen Zweifel, da war etwas passiert. Und ich musste raus dort, schnellstmöglich.

Die Nacht war dann auch gegessen, dauernd wachte ich auf. Die kühnsten Alpträume, einer jagte den anderen und dementsprechend sah ich am anderen Morgen aus. Aber es half nichts, sie würden mich keine Sekunde länger halten können, notfalls hätte ich mich ich gegen Unterschrift selbst entlassen.
Die Visite kam und kam nicht, ich war beinahe am durchdrehen. Noch immer kein Zeichen von Angelo. Was war dort bloß passiert? Er hatte doch normal geklungen an dem Abend. Nicht krank oder kaputt oder so.
Endlich kam dann der Tross. Und zum guten Glück wieder mein Arzt. Denn die Angst, es könnte diesmal ein anderer sein und der würde mich hier weiter festnageln können, war in der Nacht auch noch dazugekommen.

Ich flötete in den höchsten Tönen wie gut es mir ging und ich sah in den Gesichtern der Studenten, dass sie mir kein einziges Wort glaubten. Typischer Fall von „ich möchte sofort hier raus“, meinte ich lesen zu können. Aber das war mir egal, letztlich musste ich ja besser wissen wie es mir geht.
Dann fingen die auch noch an zu nuscheln und zu tuscheln. Wollten sie vielleicht mal testen, wie weit man mit mir gehen konnte? Da waren sie an dem Tag an den Falschen geraten. Ich musste zu Angelo, und wenn es Professor Dr. Mett. Wurst. persönlich verboten hätte.
Aber man hatte Einsehen mit mir und meinem wirklichen Leiden. Das, so dachte ich, würde mein Arzt am besten kennen. Liebesentzug und Ungewissheit. Zwei schreckliche Faktoren, die zusammen unberechenbar waren. Sie hätten nur eine Lösung zugelassen: Sofortige Flucht. Spätestens wenn sie die Raum verlassen hätten. Keine zwei Minuten..

»Gut, Herr Bach«, legte dann einer der Studis hin, »wir machen Ihre Papiere fertig. Räumen Sie das Zimmer und melden Sie sich am Schwesternzimmer. Weiterhin gute Besserung und – na ja, auf Wiedersehen erst mal lieber nicht.«

Humor hatte er wenigstens und von da an ging es mir um die Hälfte besser. Die andere bestand in Sache an sich. Wie kam ich nun am schnellsten nach Ludwigshafen? Gut, die beiden Städte liegen nur 15 Kilometer auseinander, aber zu Fuß ging das trotzdem nicht. Ganze zehn Euro befanden sich noch in meinem Besitz und die hätte ich nehmen müssen um nach Hause zu kommen.
Dort lag immerhin meine Jahreskarte für den ÖPNV. Verfluchte Zwickmühle. Ich grübelte mich, während dem anziehen, fast um den Verstand.
Nein, erst zu Angelo, dann konnte ich in der Not immer noch nach Hause laufen. Wichtig war mir, wie es ihm ging. Ein letzter Versuch mit dem Telefon.. Dann kam die nächste Schrecksekunde. Ich musste die Rechnungen begleichen, die ich..
Mein Kopf fing wieder an zu dröhnen und ich musste mich aufs Bett setzen. Das war eine echte Verschwörung und ich hatte nicht einmal etwas dabei, das ich als Sicherheit zurücklegen konnte. Ein Ausweis hätte es da schon getan.
Aber das war nicht. „Jetzt benimmst dich wie der erste Mensch. Geh zu den Schwestern, erklär ihnen was Sache ist und gut.“ Blabla. „Werden die, nur weil ich Ralf Bach heiße, alle Regeln hier umdrehen?“ „Memme. Mach hin. Angelo..“
„Ja, ist ja schon gut.“ Ich machte mich auf die paar sehr schweren Meter zum Schwesternzimmer.

»Ähm..«, druckste ich herum, bis mir eine junge Frau in dem Raum hinter dem Schalter Aufmerksamkeit schenkte.

Ich stellte mich ganz Senkrecht hin und begann, mein Problem zu erörtern. Aber siehe da, man hatte Verständnis.

»Wir benötigen sowieso noch die Karte Ihrer Versicherung. Dr. Tresch meinte, Sie würden das nachreichen. Dann können Sie die Gebühren gleich mitbezahlen.«

Das hatte ich nur meinem geliebten Paps zu verdanken. Ich musste mal nachfragen, um welche Immobilien es da gegangen war. Mein Arzt hatte jedenfalls eine Menge Vertrauen in mich und ich dachte mal wieder an einen Kuss. Also, eine dreiviertel Sekunde lang.
Vielleicht konnte man hier ja sogar in Vorkasse gehen für mich, wegen der anfallenden Reisekosten zu meinem Liebsten? Nein, das war dann doch nicht so genial. Wenigstens kam ich erst Mal hier mit heiler Haut heraus. Der nächste Weg war zur OEG, jenem Verkehrsmittel, was den Großraum Rhein-Neckar mit seinem Schienennetz verbindet.

Zum Glück war Heidelberg kein böhmisches Dorf, früher war ich öfter hier, sogar mal mit dem Fahrrad. Schon bald saß ich in der Bahn und mit jeder Haltestelle ging mein Puls ein Stück weiter nach oben.
In Mannheim umsteigen, mit einer anderen Linie rüber über den Rhein nach Ludwigshafen. Auch kein Drama, selbst wenn es mich eine Viertel Stunde gekostet hatte.

Dann endlich das Schild. Unfallklinik. Jetzt war mein Herzschlag im oberen Bereich angelangt. Fast Mittag, möglich dass ich ihn beim Essen störte, aber das war mir wirklich völlig egal. Aber, aß er überhaupt? Konnte er das oder.. Zur Aufregung kam die Furcht.
Angst, sein Zimmer wäre leer, seit gestern nicht mehr da drin.. Mein Kopf wollte platzen und ich verfluchte diesen Unfall, alles, was damit zusammenhing.
Mit wackligen Knien betrat ich das von Leben wimmelnde Ungetüm an Klinik. Vielleicht würde ich ja eine Woche brauchen bis ich ihn überhaupt gefunden hatte.

Ich ging zu dem Pförtner oder was das war und erfreute mich einen Moment an der Leere vor dem Schalter.

»Ich möchte Herrn Kassini besuchen.«

Noch nie war mir etwas so schwer gefallen wie diese banale Frage. Warum? Weil der mir vielleicht gleich sagen würde, dass es diesen Namen hier nicht mehr gibt.. Mir wurde schwindlig.

Der Mann tippselte in seinen Computer und zum Schwindel kam Übelkeit. Es war aber fast nichts in meinem Magen, nur eine Tasse Kaffee und ein halbes Brötchen. Mehr hatte ich nicht heruntergebacht, aber das bisschen suchte sich nun scheinbar den falschen Weg nach draußen. „Nur jetzt nicht kotzen, da war überall Zeit und Platz.“
Ja sicher, aber überall war mir nicht übel. Sondern hier und jetzt.

»Ist Ihnen nicht gut?«

Eine Frau neben mir hatte scheinbar das Ungemach beobachtet. Ich schüttelte den Kopf.

»Geht schon.«

»Sie sehen aber nicht gut aus. Hallo, Sie da? Rufen Sie doch bitte einen Arzt, dem jungen Mann hier geht es nicht gut«, rief sie ohne lange zu fackeln hinter den Schalter.

Mein Gott, was wollte den die? Tatsächlich unterbrach der Mann hinter dem Schalter seine Suche nach meinem Schnuckel und griff zum Telefon. Aber ich war machtlos. Zu nichts gescheitem fähig eigentlich.
Ich stützte mich an den Schalter und würgte. „Noch zwei Mal, dann ist alles draußen“, mahnte etwas in mir, aber solche Reize kann man nur schwer unterdrücken. Ich schluckte und zu allem Überdruss war nun eine Menge an Leuten auf mich und mein Verhalten aufmerksam geworden. „Die glotzen dir jetzt zu wenn du gleich auf den gebohnerten Boden kotzt.“ Mann, was eine Blamage.
Plötzlich griff mir jemand unter die Arme und ich weiß nicht wie es kam, ziemlich rasch hatte ich eine Kloschüssel in den Armen. Eine saubere Schüssel und es roch gar nicht nach Klo. Was da vor mir herumschwamm wollte ich dann aber weder näher begutachten noch riechen.
Wenn dann hätte ich mich wahrscheinlich zu Tode erbrochen.

Langsam kam ich auch mit dem Rest zu mir. Ich sah weiße Hosen neben mir.

»Geht’s wieder?«

Ich nickte und der gute Mann half mir auf die Beine zu kommen. Beim Aufstieg in die Senkrechte wurde mir zwar wieder schwummrig, aber wenigstens war mir nicht mehr schlecht. Nur das Dröhnen war noch immer da.
Aber ich schob das auf den erhöhten Puls in meinem Kreislauf und sah erst mal meiner Stütze in die Augen. Aha, ein Arzt. Zumindest sah er ganz genau so aus. Kein Sani und kein Zivi.

»Was ist passiert?«, fragte er folgerichtig.

Ich konnte ihm keinesfalls sagen, dass ich gerade aus einem anderen Klinikum entlassen worden war. Dann würde der mich.. Na ja, so absurd war der Gedanke ja nun auch nicht. Ein Bett, neben Angelo.. Nein. Das Prozedere, das die ganze Aktion hier nach sich ziehen würde.. darauf konnte ich liebend gern verzichten.

»Ich weiß nicht, mir ist plötzlich übel geworden. Vielleicht hab ich zu wenig gegessen..«

Der Mann sah mich allerdings mehr als fragend an. Er konnte meine Gehirnerschütterung ja nicht riechen, oder?

»Dann gehen Sie mal in die Kantine. Essen Sie was wenn Ihnen danach ist und ruhen Sie sich aus, Sie sind ja ganz blass.«

Ja, das wusste ich ohne mich zu sehen.

»Danke, werd ich machen.«

Ich wusch mir die Hände und den Mund, spülte den ekligen Geschmack so halbwegs aus meinem Rachen, während sich der Arzt entfernte. Na ja, der wird sicher schon ganz andere Sachen hier erlebt haben.
Interessanterweise fiel mir dazu ein, dass ich mal geduzt und mal gesiezt wurde. Anscheinend war ich in einem sehr merkwürdigen Alter, wo man sich nicht sicher war..

Als ich die Toiletten verließ, stand jene Frau, die den Arzt gerufen hatte, genau vor der Tür. Auch die musterte mich ziemlich eindringlich.

»Geht’s wieder?«

Ich überlegte, wo ich ein Schild herbekommen könnte auf dem steht, „Danke, es geht wieder.“
„Blödarsch. Bedank dich bei der Frau.“ Ja, okay, meine gute Stimme hatte Recht.

»Ja, es geht wieder, danke.«

Damit drehte sie sich um und weg war sie. Noch so einen Anfall durfte ich nicht kriegen, es war wirklich verdammt peinlich.

Erneut tauchte ich bei dem Portier auf. »Ähm, ich wollte vorhin schon mal wissen, also nachfragen.. wegen Herrn Kassini.«

Der Mann guckte mich über seine Lesebrille an. Gut, ich wollte ja an dem Tag nirgends als Model vorstellig werden, aber genau so musterte er mich jetzt. Vermutlich hatte er schon seinen schönen Boden..

Er beugte sich wichtig über die Tastatur und dieses Gehabe machte mich verrückt. Dann schien er intensiv zu lesen was der Monitor hergab. Warum stand das blöde Ding nicht so, dass ich es lesen konnte?
So viele Kassini würde es doch nicht geben.. Aber was, wenn er ihn nun gar nicht fand? Das durfte nicht sein. Ich wurde Hypernervös, bis er endlich seine Augen auf mich richtete. Lange genug hatte das aber auch gedauert.

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