Margie 23 – Nebelgeister am Fellbach

Die folgenden Tage waren alles andere als toll. Ich ärgerte mich über das schöne Wetter, es passte nicht zu meinen Gefühlen. Felix rief zweimal an und ich vertröstete ihn auf später. Mir war nicht nach Gesellschaft, zumal ich ihm garantiert die Ohren vollgejammert hätte.
In den wenigen Lichtblicken, die ich ab und zu erleben durfte, machte ich mir aber sehr wohl klar, dass ich Felix nicht auch noch verlieren dürfte. Er konnte nichts dafür und immerhin, er merkte am Telefon gleich dass was nicht stimmte.
Ich hielt ihn hin, würde alles später erklären. Aber jeden neuen Tag nahm ich mir vor, ihn zu treffen. Es machte ja auch keinen Sinn, mich den Rest meines Lebens zu verkriechen. Mein Urlaub ging auch langsam zu Ende und zum ersten Mal machte mir das nicht die Bohne aus.

Der letzte Freitag in meinem Urlaub kam. Ich hatte Zeit genug verstreichen lassen, für alles. Die Chance, dass sich Angelo noch einmal melden konnte, die Chance, alles zu vergessen und auch die, an andere Sachen zu denken.
Klar, immer wieder kamen die Tage in mir hoch, die ich mit ihm zusammen war, ein Fragebogen bezüglich des Unfalls erinnerte mich ebenfalls daran. Auch, als ich irgendwann Angelos Telefonnummern aus meinem Handy löschte.
Wirklich tragisch war dieses plötzliche Alleinsein. Der Schmerz saß tiefer als ich je hätte glauben wollen und immer wieder kam diese Schwankung, ob ich ihn nicht lieber abgrundtief hassen sollte. Ich fühlte mich wirklich ausgenutzt, die ganze Spielerei, die Küsse, der Sex, das Gesäusel – Schall und Rauch.
Aber allmählich wurden diese kurzen Einblendungen belanglos. Sie verblassten wie alles andere auch. Nur mit dem Wichsen, das klappte nicht so. Ich musste dann immer wieder an Angelos Schwanz denken.
Selbst die Videos und Pics in meinem Rechner konnten mich nicht ablenken. Versuche, eine Weile Enthaltsam zu leben, schlugen kläglich fehl und so fand der Junge immer wieder Zugang in mein Gedächtnis. Irgendwie musste ich dann einsehen, dass ich dagegen praktisch machtlos war.

An besagtem Freitag meldete sich Felix auch wieder und ich hatte zum ersten Mal so etwas wie Lust mich mit jemandem zu treffen. Ich brachte es sogar hin, mich ein bisschen zu stylen. All diese Dinge waren in der Zeit nach dem Bruch irgendwie baden gegangen.

Wir trafen uns im Park, neben dem Friedhof. Da gibt es einige Bänke die nicht gut von außen einzusehen sind, denn Lust noch jemand anderem über den Weg zu laufen, hatte ich keine.

»Hallo altes Haus. Mir scheint, du hast ein bisschen gelitten.. wenn man dich so ansieht.«

Ja, Felix, der Beobachter. Ich hätte vor ihm nicht die fünf Kilo, die ich abgenommen hatte, verbergen können.

»Kein Wunder möchte ich mal sagen.«

Felix selbst kam mir aber auch verändert vor. Er hatte ja eigentlich nie so den Hang zu modernen Sachen, was ich aber immer auf sein streng behütendes Elternhaus geschoben hatte. Nun aber trug er ein schickes T-Shirt, grüne Shorts und was er nie anhatte bis dato waren Sneakers.
Letztlich führte ich es auf Iris’ Einfluss zurück. Die war doch schon ziemlich städtisch angehaucht.

»Erzähl, was ist denn los?«

Felix reichte mir ne Kippe und dann fing ich an zu reden. Ich schwallte mir die ganze Seele aus dem Leib und ich ließ nichts aus. Im Nachhinein betrachtet weiß ich nicht so genau, ob es klug war nicht mal unsere Spielchen in Sachen Sex auszulassen.
Klar, in Details ging ich nicht, aber ich wusste ja, wie viel Fantasie Felix hatte. Zu Hause hatte ich nicht viel über die Trennung erzählt, ich wollte meine Eltern nicht zu arg strapazieren.
Deswegen erfuhr Felix nun umso mehr.

Als ich am Ende meiner Erzählung war, sagte er zunächst nichts. Erst nach einer Weile begann er dann zu reden.

»Ich hab auch Neuigkeiten.«

»Aha.«

»Hab mich von Iris getrennt.«

Nun, das waren tatsächlich Neuigkeiten. Welche von der Sorte, die ich nie vermutet hätte. Die beiden hatte ich in der Clique nämlich am meisten bewundert und in meinen Augen waren sie füreinander geschaffen.
Aber gut, das gleiche dachte ich von Angelo und mir auch.

»Hm, und das sagst du so, als käme gleich die Tagesschau.. wie kam es?«

»Sie ist mir auf den Wecker gegangen. „Tu dies, tu das, lass das und mach mal.“ Bei aller Liebe, aber das kann’s nicht sein. Ich hab’s einigermaßen verwunden, immerhin hab ich Schluss gemacht. Gebrodelt hat’s ja schon ne Weile, auch wenn es keiner so richtig mitbekommen hat.«

»Aha.«

Auch wenn der Grund der Trennung zwischen Angelo und mir ein anderer war, ich konnte Felix sehr gut nachfühlen.

»Wie lange wart ihr zusammen?«, wollte ich dann wissen, ich konnte mich nicht mehr erinnern.

»Etwas über zwei Jahre. 25 Monate, um genau zu sein.«

Ja, er wusste sogar die Woche noch, womöglich sogar den Tag. Wie lange Angelo und ich zusammenwaren, das wollte ich gar nicht ausrechnen. Was hätte ich davon gehabt?

»Und jetzt?«

Felix zog die Schultern hoch.

»Erst mal nichts. Hab die Schnauze vorläufig gestrichen voll. Das Theater zu Hause bei mir und bei ihr war ja auch so ein Kapitel für sich.«

Konnte ich mir lebhaft vorstellen. Die hatten doch schon ans Aufgebot gedacht so wie die kenne. Trotzdem, von Freund zu Freund erlaubte ich mir dann eine etwas anzügliche Frage.

»Aber, Sex hattet ihr schon zusammen, oder?«

Die Frage schien ihm gar nichts auszumachen.

»Klar, wenn wir Gelegenheit hatten.«

Wie oft und ob’s schön war wollte ich dann doch nicht wissen. Irgendwie war ich voller Tatendrang.

»Was machen wir noch?«

»Lass uns doch zum Felle fahren.«

Felle.. ich zog die Mundwinkel hoch. Das war ein kleines, lauschiges Plätzchen am Fellbach. Umgeben von mannshohen Brennnesseln und nur durch einen schmalen Pfad zu erreichen. Das war ganz früher unser Platz wenn wir Weltschmerz zu verarbeiten hatten.
Allerdings, ich war Jahre dort nicht mehr gewesen. Nun schien mir, Felix wusste ziemlich genau dass es diese Stelle noch gab.

Mit ein paar Flaschen Bier aus dem Kiosk beladen, radelten wir dann los. Ja, es ging mir langsam besser und ich war Felix für diese Ablenkung unendlich dankbar.

Tatsächlich sah es am Fellbach aus wie noch vor Jahren. Nur waren die Hecken am Ufer dichter und höher geworden. Felix führte mich auf dem Pfad, der nun wie ein Tunnel unter dem Gebüsch entlang führte.
Heimelig war’s hier immer noch und am Ende des Pfads kamen wir an einer seichten Ausbuchtung des Ufers heraus. Man sah ziemlich deutlich, dass hier zumindest ab und zu jemand war.

»Erkennst du es noch?«, fragte Feix und hatte dabei ein schelmisches Grinsen aufgesetzt.

Klar, hier hatten wir wild geangelt oder Deckung vor den Kirschbauern gesucht, wenn die uns beim Klauen erwischten. Schöne Zeiten waren das. Unbekümmert, sorglos. Nie hätte ich damals daran gedacht, unter welchen Umständen ich wieder hierher zurückkommen würde.
Ich setzte mich in den Sand und kappte eine Flasche Bier.

»Komm, lass uns auf das Wiedersehen anstoßen«, forderte ich Felix auf, der sich dann neben mich setzte.

Wir stießen an und nahmen ein paar kräftige Züge.

»Richtig überlegt könnte man hier jetzt sogar zelten«, bemerkte ich.

»Ja.«

Felix kam mir dann auf einmal nachdenklich vor.

»Fällt es dir schwer? Ich mein, ihr wart doch bestimmt öfter hier?«

»Ja, Ralf. Im letzten und auch in diesem Sommer. Oft sogar. Mit den anderen sind wir nur zum Baggersee, aber hier waren wir.. immer alleine.«

Na ja, Alex und Jo waren nicht die Romantiker unter uns. Angelo, ja, den hätte ich mir hier auch gut vorstellen können. Dumm, dass ich nicht früher auf die Idee gekommen war. Ja, da war er wieder.
Aber ich ärgerte mich darüber nicht. Irgendwann war er gelöscht da oben, dafür musste ich einfach sorgen.

„Hm, du kannst dich ja mal vorab trösten.“ Was war das denn für eine blödsinnige Idee? „Felix.. ist doch nicht hässlich. Guck ihn dir mal genauer an, das hast du nämlich schon lange nicht mehr getan.“
Das war das irrste Gefasel, das ich seit langem gehört hatte. „Nun, du kannst es ja mal versuchen.“ „Ja, tu das. Dann bist du Felix auch los. Alles was dir dann noch bleibt ist die gemeine Dorfjungend. Freund? Fehlanzeige.“
Ja, dieses Risiko war zu groß. Ich musste ja zugeben dass sich Felix verändert hatte, besonders jetzt, nach meiner inneren Stimme, fiel es mir auf. Aber so nötig, damit eine lange Freundschaft zu zerstören, hatte ich es nicht.
Ich stufte meinen Zustand jedenfalls nicht als „Notgeil“ ein. „Sicher? Guck mal genau hin. Und hör auf Felix’ Stimme. Vielleicht will er es ja mal wissen. Er hat dich immerhin als einziger nicht fallen lassen. Und er ist solo.“
Diese wirren Gedanken machten mich zugegebenermaßen nervös. „Hey, und Angelo lässt sich für Kohle von irgendwelchen dahergelaufenen Heinis durchpoppen. Wegen dem mach dir mal keine Sorgen.“ Ich machte mir keine Sorgen mehr um Angelo.
Von mir aus sollte er sich knallen lassen bis ihm zu bunt würde. „Aber, er wird auch selbst aktiv sein. Schon mal dran gedacht? Die werden sein Sperma..“ „SHUT UP.“ Das war einfach nicht auszuhalten.

»Was ist denn mir dir?«, fragte mich Felix und sah mir besorgt in die Augen.

»Felix, die Sache mit diesem Porno.. wenn ich dran denke, dass Angelo da.. «

Er streichelte meinen Arm.

»Hey, komm wieder runter. Lass den Arsch doch, er hat jemand wie dich gar nicht verdient.«

„Siehst du, er schnappt nach der Fliege.“ „Nein, ich werde Felix nicht anrühren. Nicht einmal der Versuch. Er ist Hetero und.. na gut, er hat sich verändert, sehr zu seinem Vorteil. Aber ich bin keine Hure die auf alles losgeht was drei Beine hat.“
„Dann gib wenigstens zu, dass Angelo nichts damit zu tun hat. Für den brauchst du nämlich überhaupt nichts aufzusparen. Ja, dann willkommen im Land der unerfüllten Träume. Vor allem, warum gehst du nicht ins Kloster?“ „Weil die Mönche..“
Diese Gedanken machten mich beinahe krank.

Ich nickte. Es tat einfach gut. Das Gespräch mit ihm, seine Berührung, auch wenn ich die keinesfalls falsch verstehen wollte. Aber das eigene Verstehen und die Wünsche von jemand anderem konnten durchaus völlig unterschiedlich sein.
Wir kappten die zweite Flasche und – wir schwiegen. Sahen dem langsam fließenden Bach, den Libellen und Eintagfliegen zu, hörten das Gequake der Frösche. Ein paar Fische schnappten an der Oberfläche.
Weit und breit nichts, was diese Idylle stören konnte. Es ging mir wieder gut und ich wollte, dass das nicht endet. Wie kleine Nebelgeister verschwanden nach und nach Bilder aus meinem Kopf und ich ließ mich dann einfach rückwärts umkippen. Schloss die Augen, genoss diesen Moment.
Ich hörte, wie sich auch Felix umlegte.

»Schön, nicht?«

Ich nickte und brummte nur ein undeutliches »Ja«.

So daliegen, bis ans Ende der Tage. „Eben, genau. Und nie, nie wieder verlieben, Spaß und Sex haben.“ Nein, das natürlich nicht. Ob Angelo noch seinen Gips trug? Er müsste nun eigentlich in Frankfurt vorgespielt haben und vielleicht war er noch am selben Tag bei Willard vorstellig geworden.
Ob die eigentlich die Schwänze erst mal messen? Auf HIV untersuchen.. Ich schreckte hoch. Nie, nie wieder wollte ich an so etwas denken. Es musste raus aus dem Kopf, fort, für immer.

»Was hast du?«

»Ach Felix, ich fürchte es wird noch lange dauern bis ich ihn vergessen hab.«

Er kaute auf einem Grashalm herum und schien mit sich und der Welt eigentlich ganz zufrieden zu sein.

»Glaubst du bei mir geht das über Nacht? Aber ich mach mir aus den Gedanken nichts mehr. Nicht dran denken zu wollen, das bringt nichts. Wenn sie da sind, sind sie halt da. Du kannst nur versuchen, sie mit was anderem zu übertünchen.«

Wie das klang. Übertünchen. Aber die Taktik fand ich dann trotzdem gut; anderes musste eben Priorität haben. Überlagerung war sicher das richtige Wort. Die Frage kam dann aber auf, an was man stattdessen denken konnte. Vorfreude auf irgendwas gab es nicht.
Urlaub um, auch sonst war meine Zukunft ziemlich überschaubar. Nichts gab’s auf was ich mich hätte freuen können. „Denkst du.“ Ja, denk ich.

So lagen wir da, nebeneinander auf dem Rücken. Über uns sausten die Mauersegler herum und erfüllten mit ihrem Geschrei die warme Sommerluft. Viel zu schön um jemanden hinterher zu trauern, der es letztlich gar nicht verdient hatte.

»Glaubst du, ich hab ganz alleine die Schuld dass es so gekommen ist?«

»Hm, das ist schwer zu sagen. Aber so wie du es geschildert hast, glaub ich schon.«

Sehr tröstlich war Felix’ Antwort nicht gerade, denn das Schuldgefühl bestimmte irgendwie alles; das Wissen, einen elementaren Fehler gemacht zu haben. Nun wurde mir auch noch bestätigt, dass ich allein der Urheber dieses Dramas war.
Ob Angelo wirklich Kontakt zu Dorfler oder Willard ausgenommen hatte, das war seine Sache und sie hatte nichts mit all dem zu tun. Klar war ich zickig, aber ich denke das war menschlich. Es passte halt einfach nicht in das Bild, das ich von Angelo hatte.
„Aber mitgemacht hättest du trotzdem.“ Ja, unter Auflagen. Aber das war ja alles gar nicht mehr wichtig.
Am meisten Zorn hegte ich dann gegen seine Eltern. Sie trugen eine schöne, zauberhafte Maske. Aber ich hab sie enttarnt. Vielleicht war es sogar das, was Angelo so wütend machte. Dass sein eigenes Bild, das er von den beiden hatte, völlig zerstört wurde.
„..Du kennst meine Eltern nicht..“ So gesehen ahnte er doch was passieren würde, wenn sie von seinem Schwulsein erfuhren. Ob es ihm aber wirklich so unendlich Leid tat, von zu Hause auszuziehen? Es musste ihm doch sogar recht sein. Wie dem auch war, ich musste mit dem Gedanken leben, dass er mich nur ausgenutzt hatte. Sonst überhaupt nichts.

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