Eine kleine, aber wahre Geschichte, die überwiegend auf wahre Tatsachen beruht. Leider nur überwiegend.
„Hey, wir sollten endlich mal wieder `ne Runde Billard spielen gehen!“ Mein alter Kumpel Jan hatte sich telefonisch bei mir gemeldet, um mitzuteilen, dass er es wünschte, mit mir gemeinsam in Kürze eine mehr oder weniger ruhige Kugel zu schieben.
Ich hielt das für keine allzu schlechte Idee, auch deshalb, weil es mir nur zwei Jahre nach meinem Abi gelungen war, fast die gesamte Belegschaft meiner alten Klasse aus den Augen zu verlieren. Obwohl ich immer noch wie in der guten alten Schulzeit hundert Meter von dem Ort entfernt wohnte, der mich dreizehn Jahre lang (obwohl es eigentlich nur zwölf hätten sein müssen!) täglich mehrere Stunden lang mehr oder weniger in seinen Bann gezogen hatte.
Wir verabredeten uns in einer kleinen Gartenkneipe, um dort nicht nur Kügelchen über befilzte Tische zu jagen, sondern bei ein bis sieben schöngeistigen Getränken über alte Zeiten zu plaudern. Eigentlich genau so, wie das auch bei Leuten läuft, die schon sehr viel länger als zwei Jahre die Schulzeit hinter sich haben.
Immerhin hatten Jan und ich das schon zelebriert, als wir noch gemeinsam der Hochschulreife entgegenstrebten. An einem Abend im Jahr 1995 hatten wir uns zum Bierchen verabredet, aus dem dann etwas mehr wurde. Nachdem die kleine Kneipe dichtgemacht hatte, feierten wir mit einer Flasche „Appelkorn“ bei mir zu Hause weiter. Wir wurden mit jedem Schluck sentimentaler und dachten an die Zeiten zurück, als wir gemeinsam das ABC lernten. Als uns beigebracht wurde, das zwei und sieben genauso neun sein kann wie vier und fünf und wir gemeinsam das blaue Halstuch der jungen Pioniere umgebunden bekamen (womit verraten wäre, das die Geschichte im Osten spielt). Diese Nacht endete mit vielen Umarmungen, auch deshalb, weil Jan sonst niemals mehr auf zwei Beinen nach Hause gekommen wäre. Nachts um halb drei lieferte ich ihn wohlbehalten in heimischen Gefilden ab, und er bedankte sich sehr überschwänglich für meine Bemühungen und wollte mich partout nicht loslassen. Irgendwie schaffte ich es dann aber doch, schließlich wollte ich nicht, dass er in diesem Zustand irgendetwas tat, was er ein paar Stunden später bereuen würde.
Nun wäre eine halb durchzechte Nacht weniger schlimm gewesen, wenn da nicht zweierlei Hindernisse am nächsten Morgen zu bewältigen gewesen wären. Erstens für Jan eine nullte Stunde Chemieunterricht (Beginn: 7:05 Uhr), bei er als lebendiges Anschauungsobjekt zum Thema Alkoholabbau hätte herhalten können. Wenn er nicht verschlafen hätte. Zweitens für mich eine Verabredung um 7:30 Uhr – und zwar mit meiner Fahrlehrerin zum Zwecke einer Übungsfahrt. Die brach sie nach 250 Metern ab und setzte mich mit der Empfehlung zu Hause ab, einen starken Kaffee zu trinken oder mich noch mal fünf Stunden aufs Ohr zu hauen. Aus schultechnischen Gründen war mir das nicht möglich, da ich nur für zwei Stunden entschuldigt war. Jan und ich nahmen uns vor, solche Abende häufiger zu verbringen. Allerdings blieb es der einzige bis zu dem Moment, als irgendwann im Sommer 1999 mein Telefon klingelte. (s. Anfang der Geschichte!)
Umso mehr freute ich mich darüber, dass es Jan offensichtlich auch angenehm empfinden würde, wieder mal in alte Zeiten und vielleicht später am Abend auch in meinen Armen zu versinken.
Ich war zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort, Jan kam charaktergemäß rund 15 Minuten zu spät. Und genau das hatte zu dem Problem geführt, dass der Billardtisch von zwei Jungs besetzt war, die den Eindruck machten, sich häuslich an der Platte einrichten zu wollen.
Wir tranken ein Bier, nahmen ein weiteres und als der Kellner das dritte Blonde auf den Tisch stellte, kam Jan auf die Idee, die beiden anzusprechen, ob nicht ein Doppel zu arrangieren wäre: „Sonst treff ich heut abend gar nichts mehr, jedenfalls keine Billardkugel“. Ich hielt das für eine gute Idee und wendete mich an einen der ungefähr 16-jährigen Boys: Sagt mal, was haltet ihr davon, wenn wir uns den Tisch teilen und mit zwei Teams weiterspielen?
Danny und Simon – so stellten sie sich später vor – waren einverstanden, und so begannen wir einen netten Billardabend. Der endete darin, dass Jan irgendwann verschwand, weil er genug hatte und die beiden Jungs blieben, obwohl sie nicht mehr genug hatten – nämlich Geld.
Das führte dazu, dass ich noch zwei Runden Billard sponserte und dann einer Einladung von Simon folgte, mit auf ein Bierchen an die frische Luft zu kommen. „Im Rucksack haben wir noch welche, und billiger ist es auch.“
Da eh keine weiteren Billardgegner in Sicht waren und der Gastronom deutlich Lust auf Feierabend signalisierte, entschied ich mich, dieses Angebot anzunehmen.
Im Dunkeln stellten Simon und ich fest, dass wir uns eigentlich schon viel länger kannten. Als er eingeschult wurde, war seine Schwester in meiner Klasse und unsere damalige Klassenlehrerin bat einige Schüler von uns (damals Klassenstufe fünf), eine Patenschaft für Erstklässler zu übernehmen. An Simon bissen wir uns allerdings die Zähne aus, weil er mit einer derartigen Lese- Rechtschreibschwäche ausgestattet war, die ihn später zum Besuch einer Sonderschule zwang.
An seinen unsäglichen Lernschwächen hatte sich nichts geändert. Simon hatte es nur zu einem Abschluss der siebten Klasse geschafft und hatte somit keinerlei Chance, zu einer vernünftigen Berufsausbildung zu kommen. Das wiederum brachte ihm den weniger guten Ruf eines Klein-Kriminellen ein, obwohl er damals zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd mit dem Gesetz zu tun gehabt hatte. Im Gegenteil: Simon war eigentlich ein ausgesprochen liebenswerter Junge mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und großer Naturverbundenheit, die er mir an diesem Abend erstmals präsentierte. „Wir wollen heute noch Nachtangeln, haste Lust mitzukommen?“
Da es nun einmal Hochsommer war und mich der Ausgang dieser Nacht durchaus reizte, begleitete ich die beiden zum ersten Angelausflug meines Lebens. Der wurde aufregender, als ich dachte. Das lag nicht nur an der Anwesenheit der beiden Jungs und der Tatsache, dass die Flussauen der Elbe bei Nacht und sternenklarem Himmel eine äußerst beeindruckende Kulisse bildeten, sondern auch daran, dass weder Danny noch Simon über eine gültige Angelerlaubnis verfügten. Somit mussten wir unsere sechs Augen nicht nur auf den wunderschönen Himmel und die Knicklichter auf dem Wasser richten, sondern auch darauf, dass keine gesetzestreuen Angler unsere Fischfangbucht entdeckten. Die nämlich mochten es natürlich nicht, wenn angelscheinlose Konkurrenz auf Fischfang ging. Auch vor Streifenwagen mussten wir auf der Hut sein, die so selten an den Elbe nächtlichem Strande gar nicht anzutreffen waren. So hieß es bei jedem auftauchenden Scheinwerferkegel in Deckung gehen, obwohl sich in 97 Prozent aller Fälle Liebespaare dahinter versteckten, die Anderes im Sinn hatten, als ein paar Jugendlichen ihre Angelnacht zu zerstören.
Die Nacht endete erst im Morgengrauen und war der Anfang eines Angel-Sommers. Oft fuhren wir, mal zu zweit, mal zu dritt, hinaus an den Fluss. Der Fischertrag hielt sich in sich in Grenzen, gefangene Tiere kamen sofort zurück ins Wasser, und was viel häufiger war als Fische, waren Krabben.
Irgendwann stritten sich Danny und Simon, und fortan fuhr ich an den Wochenenden mit Simon allein. Ich hatte mir vorgenommen, ihm irgendwie zu helfen. Allerdings wurden unsere gemeinsamen Angelausflüge seltener, was ich darauf schob, dass die Vorboten des Herbstes die Nächte einfach schweinekalt werden ließen.
Im darauffolgenden Sommer brachte Simon immer mal einen kleinen, unscheinbaren Jungen mit zu unseren Angelterminen. Thomas war erst elf, aber genau so ins Angeln vernarrt wie Simon. Der Kleine schlief öfter beim Großen, was mich häufig darüber nachgrübeln ließ, warum seine Eltern ihn in diesem Alter auswärts übernachten ließen oder mit welcher Ausrede Thomas sie dazu überreden konnte.
Wegen meiner damals grade begonnenen Ausbildung konnte ich mich zunehmend weniger an diesen Ausflügen beteiligen und verpasste somit, dass Simon zumindest zeitweise Anschluss an eine kleine Clique und ein Mädchen gefunden hatte, das ihm gefiel und bei dem diese Gefühle zumindest auf einen Hauch Erwiderung stießen.
Eines späten Abends oder besser frühen Morgens kam ich von der Geburtstagsfeier eines Bekannten, als ich fast vor Simons Haustür auf ein lautes Lachen aufmerksam gemacht wurde. „Huhu“, schallte mir eine bekannte Stimme entgegen. Simon wankte mir entgegen und fiel in meine Arme. „Ich… hihihi … bin `n bisschen besoffen“ Thomas war hinter ihm. „ Ein bisschen is`gut“, lachte unser gemeinsamer junger Freund. „Was habt ihr denn gemacht, fragte ich die Runde. „Wir waren angeln, und Simon hat sich ne Flasche Martini reingedonnert.“, klärte mich Thomas auf. „Hast du auch was getrunken?“, erkundigte ich mich besorgt bei Tommy. „Nur n` ganz kleinen Schluck. „Musst du nicht schon längst zu Hause sein?“ „Ich schlaf bei ihm heut nacht.“ Diese Pläne durchkreuzte der Zustand des betrunkenen Angelfreundes. „Bringt mich in’ Keller auf die Luf`matasse?“, lallte Simon, der offenbar nicht in seinem Bett zu schlafen wünschte. „Und was wird mir?“, fragte Tommy besorgt, nachdem wir den trinkfreudigen Angler in seine „Ausnüchterungszelle“ gesperrt hatten. „Du kommst jetzt erst mal mit zu mir.“ Wir legten die Strecke zu meiner Wohnung in schneller Geschwindigkeit zurück, auch weil Tommy etwas zu mir gesagt hatte, was ich dann auch bemerkte: „Arschkalt hier draußen, oder?“
Nachdem wir die Haustür hinter uns geschlossen hatten, sahen wir uns an, und dann fiel mir Tommy in die Arme, und wir schüttelten uns vor Lachen ob dieses merkwürdigen Endes eines Angelausflugs. „Danke, dass du mich mitgenommen hast.“ Ich bot ihm an, zur Erwärmung zu duschen, worauf er verzichtete. Wir schauten noch ein bisschen fern, und erzählte mir noch einmal die Geschichte dieses Besäufnisses. „Erst hat seine Freundin mit ihm Schluss gemacht, und dann hat er wohl Riesen-Stress mit seinem Vater gehabt. Da hat er wohl ein bisschen abgedreht“. „Kein Wunder“, dachte ich mir. „Dann hat er halt die Flasche Martini klargemacht und dann noch `ne halbe Flasche Sekt, das hat ihm den Rest gegeben. Dazu holte er eine halbgeleerte Flasche „Rotkäppchen“ aus seinen Rucksack, offensichtlich das Übrigbleibsel dieses Frustbesäufnisses. „Soll ich das Zeug wegschütten?“, fragte ich Tommy. Lass uns noch einen Schluck trinken, bat er mich. Ich hielt das zwar nicht für besonders empfehlenswert, aber auch für ungefährlich. Also leerte ich drei Viertel der halben Sektflasche, den Rest gönnte sich Thomas. Danach bereitete ich ihm im Wohnzimmer ein Nachtlager, zog mich in mein Zimmer zurück und wollte eigentlich nur noch schlafen, als es klopfte und Thomas leise die Tür öffnete.
„Hey, schläfst du schon? Darf ich zu dir kommen?“ Nun hatte ich wirklich schon fast im Reich der Träume gelegen, wegschicken wollte ich Tommy aber nicht. „Was gibt’s denn?“ Durch das ins Zimmer fallende Licht der Straßenlaternen bemerkte ich deutlich, dass er mich etwas verunsichert ansah. „Ich bin so alleine!“ „Komm her“ Er setzte sich auf mein Bett und wir fingen an, über Gott und die Welt zu reden – über die Schule, über Familie, übers Angeln und über viele andere Sachen mehr. Irgendwann mitten in der Nacht sagte er zu mir: „Du bist wie ein Vater zu mir“ und kuschelte sich ganz fest an mich. Da saß ich nun mit meinen 21 und wurde von einem zehn Jahre jüngeren Jungen als Vater bezeichnet. Am nächsten Tag wachten wir auf und blieben bis zum Mittag im Bett, redeten weiter und ich hatte den Eindruck, ich war der erste, der dem kleinen Thomas wirklich zuhörte. Irgendwann brachte ich ihn dann auf den Gedanken, eventuell doch mal nach Hause zu müssen. „Wie spät ist es denn“, erkundigte er sich bei mir. „Kurz vor eins“, entgegnete ich ihm. „Scheiße, ich muss los.“ Wir umarmten uns noch einmal, dann ließ mich mein „Sohn“ allein und außerdem mit verdammt vielen Fragen zurück.
Wir trafen uns noch ein paar Mal in diesem Sommer zum Angeln, Tommy, Simon und ich. Es war deutlich zu spüren, dass der Kleine und ich ein besonderes Verhältnis hatten. Ein paar Mal redete er mich wirklich mit Papa an, und ich versuchte somit gleich zwei Sorgenkindern, einen Halt zu geben. So unbeschwert wie in diesem Sommer wurde es allerdings nie wieder.
Ich musste mich um intensiv um meine Ausbildung kümmern, hatte außerdem eine lukrative Nebentätigkeit, die meine Freizeit auf ein Minimum schrumpfen ließ. Simon startete ins berufsvorbereitende Jahr. Unsere Treffen wurden immer seltener. Aber wenn wir uns sahen, beschwerte sich Simon immer wieder darüber, dass ihn seine Umwelt einfach abschreiben würde. Unsere Angelnächte waren eingeschlafen. Immerhin hatte Simon eine Clique gefunden, die ihm ein bisschen Halt gab oder besser zu geben schien. Aber es war eine Clique, die nicht wirklich gut für ihn war.
Tommys Eltern waren wach geworden, der Junge durfte jetzt nur noch sehr eingeschränkt nach draußen und wurde dazu verdonnert, seine schulischen Leistungen auf die Reihe zu bekommen. So kam es, dass es mein nächstes Wiedersehen mit Tommy erst gab, als der bereits 13 war – wir hatten uns fast zwei Jahre lang nicht gesehen.
Simon hatte in unserem Ortsteil einen Garten angemietet, nicht, um dort Radieschen und Tomaten zu züchten, sondern um mit seiner Clique die ein oder andere Partie feiern zu können. Seine neue Leidenschaft galt Motoren aller Art, Schwarzfahren mit getunten Mopeds war „in“ und angesagt. Wir hatten uns in der Gartenkneipe wiedergesehen, in der wir uns vor rund drei Jahren beim Billard getroffen hatten. Dort hatte er mich sofort in seine grüne Oase eingeladen: „Lass uns ein Bier trinken, der Thomas ist auch da und würde sich bestimmt freuen, wenn du mitkommst.“ Auch ich war sofort neugierig, wie sich der Junge entwickelt hatte und beendete das Skatspiel, bei dem ich grad eh alles andere als eine Glückssträhne hatte und folgte Simon in den nur wenige Meter entfernten Garten.
Da saß Tommy auf der Bank und grinste mich an, als wären seit unserem letzten Treffen grade mal zwei Stunden vergangen: „Hi Papa, schön dich wiedersehen“. Ich sah ihm in die Augen, er sah mir in die Augen und suchte dann sofort eine Umarmung. Ich drückte ihn an mich: „Hast dich ja zwei lange Jahre ganz schön rar gemacht…“ Tommy wollte zu einer Antwort ansetzen, als die Tür der Laube aufflog und zwei weitere Garten-Gäste ans Tageslicht traten und begannen, über die Folgen ihres letzten Trips zu diskutieren. Ich enthielt mich der Stimme, dachte mir meinen Teil und starrte unauffällig auf Thomas. Der hatte sich kaum verändert, obwohl er doch spürbar älter geworden war. Auch er schaute gelegentlich zu mir rüber, und wir tauschten das ein oder andere Lächeln aus.
Im Verlaufe des Abends versammelten sich immer mehr Leute in dem kleine Garten. Immerhin hatte ich in Erfahrung gebracht, dass weder Simon noch Thomas in irgendwelche Drogenangelegenheiten verwickelt waren, bei den anderen Herrschaften war mir das eher egal. Für mich endete der Abend, als mich einer der Gäste unabsichtlich in das kleine Schwimmbecken beförderte, was einen Großteil der Anwesenden ungemein erheiterte. Vermutlich hätte ich auch mitgelacht, wenn es einen Anderen getroffen hätte oder mein Hosenbein wenigstens nicht so entsetzlich feucht gewesen wäre. „Ich geh mir was Trockenes anziehen“, verabschiedete ich mich von der ausgelassenen Meute. „Warte, nimm mein Fahrrad“, bot mir Tommy an. „Aber bitte beeil dich, ich muss um zehn zu Hause sein“ Ich warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es sich nicht mehr lohnen würde, dann noch einmal zum Garten zurückzufahren und bot ihm an, gleich mitzukommen. Tommy sagte sofort ja und auch Simon hatte sich schon wieder seinen Gästen gewidmet – ein weiterer war im Pool gelandet. Diesmal allerdings ohne fremdes Zutun, sondern auf Grund mangelnder Koordinationsfähigkeit in Folge überhöhtem Alkoholkonsums.
Wir verließen die Wasserspiele und entschieden uns, das Fahrrad lieber zu schieben. Schon mal, um ein bisschen Zeit zu schinden. Auf dem Weg erklärte mir Tommy, was der Grund dafür war, dass wir uns zwei lange Jahre nicht mehr gesehen hatte. „Meine Mama hat jetzt einen neuen Freund, und ich muss jeden Tag spätestens zum Abendbrot drin sein, und am Wochenende darf ich höchstens noch bis um neun. Mit Simon darf ich mich eigentlich auch nicht mehr treffen, aber manchmal sehen wir uns in einer Garage und basteln dann an seinem Moped. Außerdem hab ich in der Schule Probleme.“ Wenig später standen wir vor meiner Tür, und ich hätte ihn gern mit nach oben genommen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir aber, dass es günstiger wäre, Tommy nach Hause zu schicken, um ihm unnötigen Ärger zu ersparen. Als wir uns verabschiedeten, sagte er zu mir: „Ich wäre gern noch bei dir geblieben, aber ich krieg sonst Stress. Schade, dass wir nicht mehr angeln gehen“. Ich hatte fast eine Träne in den Augen und sagte ihm nur: „Lass es bitte nicht wieder zwei Jahre werden.“ „Kannst du dich drauf verlassen, Papa“, entgegnete mir und drückte mir ein Küsschen auf die Wange, bevor er in die anbrechende Dunkelheit verschwand.
Ein paar Tage erzählte mir Simon, dass Tommy wegen seines Zuspätkommens an diesem Tag zwei Wochen Stubenarrest aufgebrummt bekam. Mein kleiner Tommy… erst ein paar zu lockere Leinen, dann die ganz straffe Tour. Für mich spielte der Kleine irgendwie eine ganz besondere Rolle. Kein Wunder, er hatte mich vor zwei Jahren als Vaterfigur betrachtet, und das war damals jedenfalls alles andere als ein Witz. Jetzt hatten wir uns nach zwei Jahren wiedergetroffen, und von der ersten Sekunde an war sofort wieder die Vertrautheit da.
Bis zum nächsten Wiedersehen dauerte es tatsächlich keine zwei Jahre. Im folgenden Frühjahr traf ich ihn bei einer Motorsportveranstaltung unserer Heimatstadt – als Mitglied der Jugendfeuerwehr. Wir hatten allerdings kaum die Möglichkeit, mit einander zu reden. Ein paar Sätze zum brachten mir immerhin darüber Aufschluss, das er sich bei den jungen Brandbekämpfern engagierte. Kontakt zu Simon hatte er kaum noch. „Simon hatte mittlerweile durch seine Motor-Begeisterung und das ständige Schwarzfahren etliche Probleme bekommen.“, berichtete Tommy. „Wir müssen uns in diesem Jahr unbedingt mal treffen. Ne` Runde Billard oder so.“, bot ich ihm an. Er gab mir seine Handy-Nummer, wir umarmten uns – und danach verloren wir uns wieder länger als ein Jahr aus den Augen. Von kurzen, belanglosen SMS und einem kurzen Treffen während der Hochwasserkatastrophe im August 2002 abgesehen, als er Sandsäcke schleppte und ich mit einem Kamerateam unterwegs war, um die schrecklichen Momente der Wasserherrschaft zu dokumentieren. Wir redeten weniger als eine Minute über die aktuelle Lage, und als ich eigentlich schon weg war, zupfte er mich an der Schulter: „Wir wollten uns treffen, oder?“ Ich sah ihm in die Augen und antwortete: „Ja, irgendwie haben wir es beide verschwitzt.“
In Folge tauschten wir in losen Abständen wenige SMS aus, denn Tommy hatte kaum Geld auf der Handy-Karte und wurde in dieser Hinsicht von seiner Familie wohl recht knapp gehalten. Immerhin verdiente er sich ein paar Cent durch das Austragen eines Werbeblattes dazu. So erfuhr ich bei gelegentlichen zufälligen Treffen an fremden Briefkästen, dass Schule, Feuerwehr sowie Mutti und Stiefpapa ein Treffen verhinderten. Und ich wollte ihn alles andere als drängen, es sollte seine Entscheidung sein. Einen Termin, den er gefunden hatte, musste ich aus dienstlichen Gründen absagen – irgendwie sollte es wohl nicht sein.
Im Frühjahr 2003 meldete er sich bei mir – und erkundigte sich nach meinem Zeitplan am kommenden Freitag. Der signalisierte grünes Licht, Thomas kam abends um acht – und wir redeten wie in alten Zeiten. Über das Hochwasser, über Simon, der mittlerweile zwar vorbestraft, aber noch immer ohne Job war. Darüber, dass Tommy in Kürze seinen Mopedführerschein machen würde und sich damit den bis dahin größten Traum seines Lebens erfüllen würde, dafür aber auch unglaublich viel für die Schule ackern musste. Zumal Tommy mittlerweile eine Ehrenrunde gedreht hatte. Wir schauten uns ein Video über die Flut an, tauschten unsere Erfahrungen über diese Zeit aus. Tommy wäre an diesem Abend gern länger geblieben, aber SEIN Zeitplan an diesem Abend war von seiner Familie auf 22 Uhr limitiert wurden. Pünktlich zur verabredeten Zeit, also nach knapp zwei Stunden, ging er. Nicht, ohne das wir uns versprachen: „Keine zwei Jahre“ und uns beim Abschied wie übrigens auch bei der Begrüßung in die Arme nahmen.
Wir versuchten danach immer wieder mal, Treffen anzuleiern, und zweimal fuhr er mir auch mit seinem Motorrad über den Weg und wir konnten ein paar Minuten reden – aber entweder hatte er etwas vor oder ich dienstlich zu tun.
Er hatte Freunde gefunden, die seiner Alterklasse entsprachen und zog mit ihnen durch die Kante. So wie jeder normale Junge in seinem Alter. Entgegen meinen Befürchtungen hatte er sein Leben in den Griff gekriegt. Und daran hatten dreierlei Personen(gruppen) einen Anteil. Seine Familie, weil die ihn spät, aber nicht zu spät altersgerecht behandelte. Hätte sie das von Anfang an gemacht, hätten wir uns allerdings nie kennen gelernt. Ich, weil ich ständig versuchte, ihn bei unseren wenigen Treffen in die richtige Richtung zu stupsen. Und nicht zuletzt Simon, weil der ihm ganz deutlich demonstriert hatte, wie es eben nicht laufen sollte.
Zum Ende des Jahres 2004 wechselte ich berufsbedingt meine Wohnung, zog in einen 25 Kilometer entfernten Ort. Von dort schrieb ich Tommy im Januar 2005 eine SMS mit allen guten Wünschen für das neue Jahr und äußerste meinen Wunsch, wieder mal einen Abend mit ihm zu verbringen. Er antwortete, wünschte mir auch ein gesundes neues Jahr und antwortete: „Ich hab grad an dich gedacht, Würd dich auch gern sehn, muss jetzt aber auf alle Fälle Schule hinbekommen. Meld mich aber auf jeden Fall.“
Er meldete sich wirklich im Mai, und er hatte den Realschulabschluss geschafft. Wir wollten uns treffen, wollten feiern und eine Runde Billard spielen … und am verabredeten Abend machte mir ein nicht abwendbarer dienstlicher Termin das Wiedersehen zunichte.
Ende Juni versuchte ich es erneut, einen Termin auf die Beine zu stellen. Diesmal war es Tommy, der total beschäftigt war. „Bin voll im Umzugsstress. „Sorry, ich melde mich“, so ein Teil seiner SMS.
Da er mit seiner Familie in einer wunderschönen Gegend in einer ebenso wunderschönen Wohnung zu Hause war, ging ich davon aus, dass Bekannte oder Verwandte von ihm von einem Domizil ins nächste wechselten und maß dem keine weitere Bedeutung bei. Mitte Juli fragte ich nach, ob denn der Stress absolviert sei. Die Antwort kam einige Tage später, an einem Sonntag. Ich öffnete die SMS, freute mich und bekam zu lesen: „Na du, was machst du grad? Ja, alles erledigt. Wie sieht es aus, wollen wir uns heute abend mal treffen? Bin nur noch bis Montag da.“
Klar, dass ich sofort reagierte und antwortete, auch wenn ich im Auto saß. Ich fuhr rechts ran. „Na du! Wo gehst du denn hin? Treffen wo?“
Irgendwie war ich nervös, ließ das Auto stehen und wartete auf Antwort. Die kam diesmal nicht nach ein paar Tagen, sondern nach wenigen Minuten auf mein Handy. „Nach Österreich. Aber das erzähle ich dir heute abend….“
Wir verabredeten uns an einem Supermarkt in dem Ortsteil, wo wir uns kennen gelernt hatten, den ich verlassen hatte und den er auch verlassen würde. Am nächsten Tag. Mit dem Unterschied, dass er um so vieles weiter weg ziehen würde…
Sein Motorrad war bereits in der Alpenrepublik, so dass wir auf mein Fahrzeug angewiesen waren. Auf die Minute genau bog ich auf den Supermarkt-Parkplatz ein, und ich sah ihn an der Eingangstür stehen. Er lächelte, ich lächelte, und er stieg zu mir ins Auto.. Wir umarmten uns, ich schaute ihn an – und staunte. Ein Jugendlicher, dem zur Volljährigkeit noch ein gutes halbes Jahr fehlte und der außerdem atemberaubend hübsch aussah. „Was wollen wir machen?“ „Ich weiß es nicht.“ „Wollen wir ein Bier trinken fahren?“ „Ja.“ „Wohin?“ „Egal“.
Ich fuhr mit ihm in die kleine Kneipe, in der ich das letzte Mal mit Jan war, als am Folgetag meine Fahrstunde nach 250 Metern zu Ende war. Daran dachte ich, als ich mit Tommy bei wunderschönem Wetter an einem Freilufttisch saß. Und daran, wie schnell die Zeit vergeht. Der Abend mit Jan war zehn Jahre her, das erste Treffen mit Thomas nun schon sechs. Und obwohl wir uns so selten getroffen hatten, bedeutete er mir unglaublich viel. Und ich ihm wohl auch nicht ganz wenig, wenn er mir den letzten Abend in seiner alten Heimat widmete.
Er erzählte mir, dass sein Stiefvater Arbeit in Österreich gefunden hätte, vor einem Jahr schon. Er war mit seiner Mutter nur deswegen noch geblieben, um seine Schule beenden zu können. Das hatte er getan, und nun hieß es Abschied nehmen. Auch wenn nicht für immer, Tommys ältere Schwester blieb genauso in der Stadt wie seine Oma, was eine gelegentliche Rückkehr nicht undenkbar machte.
Wir tranken aus, und ich fragte ihn, ob er noch irgendetwas Bestimmtes sehen wollte. Wollte er nicht, und deswegen lenkte ich mein Fahrzeug in die Gartenkneipe, in der ich vor sechs Jahren Simon getroffen hatte. Auch dort setzten wir uns an einen Freilufttisch und redeten über alte Zeiten und darüber, dass sich Simon endgültig ins Abseits manövriert hatte: Schwarzfahren, keine Arbeit, Alkohol … ein Teufelskreis, aus dem wir ihn nicht befreien konnten.
An diesem Abend hätten wir Billard spielen können, aber das wollten wir beide nicht. Wir setzten uns ins Auto und fuhren an die Elbe. Von dort erreichten wir zu Fuß nach wenigen hundert Metern die Stelle, an der Tommy und Simon im Schutz der Dunkelheit so manches Mal ihre Angel in den Fluss geworfen hatten. „Weißt du noch…“ Wir tauschten Erinnerungen aus, und irgendwann nahm ich ihn in meine Arme. „Warum gehen eigentlich immer die Besten?“ „Ich möchte eigentlich auch nicht weg.“ Ich küsste ihn auf die Wange. „Hey, Kleiner: Wenn es Probleme gibt, ich bin für dich da. Immer. Du musst dich nur melden.“ „Danke.“ Wir gingen langsam zurück zum Auto, und dort drückte ich ihm als Erinnerung das Hochwasservideo in die Hand, dass wir uns rund zwei Jahre zuvor gemeinsam angesehen hatten.
Erneut lagen wir uns in den Armen, und nur wenige Minuten später hieß es endgültig Abschied nehmen. Ich setzte ihn vor der Haustür seiner Oma ab, die ihn und seine Mutter beherbergte in dieser letzten Nacht, die Tommy in seiner Heimatstadt verbrachte. Die er am darauffolgenden Tag in eine ungewisse Zukunft verließ. Keine Freunde, keine Lehrstelle – der Weg würde lang und steinig werden. Ich küsste ihn zum Abschied, er antwortete schüchtern, stieg aus und winkte ein letztes Mal – aus und vorbei.
Ich lenkte mein Auto zurück nach Hause, und während dieser 25 Kilometer wurde ich mir darüber klar, dass an diesem Abend aus väterlichen Gefühlen mehr geworden war. Und eigentlich sträubte ich mich dagegen. Nicht nur zehn Jahre lagen altersmäßig zwischen uns, sondern auch eine Freundschaft. Eine Freundschaft, die eigentlich nicht durch Liebe zerstört werden dürfte. Und woher verdammt wusste ich, dass er auch annähernd ähnlich empfinden würde?
Am Dienstag meldete er mir seine Ankunft in Österreich. Da SMS aus dem Ausland alles andere als kostengünstig sind, übermittelte ich ihm meine E-Mail-Adresse und schrieb als Schlusssatz: „Ich danke dir für die schöne Zeit, auch wenn sie viel zu kurz war, mein Freund.“ Kaum fünf Minuten später hatte ich die Antwort: „Ja, war echt schön … Du bist wie ein großer Bruder …. ich danke dir für die schöne Zeit.“ Es war die erste SMS meines Lebens, nach der ich Tränen in den Augen hatte. Vor Freude und vor Schmerz gleichzeitig, hey, ein blödes Gefühl. Eigentlich würde sich nichts ändern. Wir würden uns ewig nicht sehen, wie gehabt eigentlich. Aber, das Gefühl, jemanden deswegen nicht sehen zu können, weil er hunderte Kilometer weit weg wohnte, löste in mir sämtliche Alarmglocken aus. Und ein bisschen was Anderes steckte auch noch dahinter…
Ich musste ihn wiedersehen, nicht in einem Jahr oder so. Ich wollte Gewissheit. Was empfindet er für mich? Vater, Bruder, Freund oder doch etwas mehr? Der letzte Abend hatte viele Fragen gestellt. Nun wollte ich Tommy nicht damit überfallen, das ich ihn unbedingt sehen müsse, es hätte auf Grund unserer Vergangenheit vielleicht etwas komisch geklungen. Monatelang Ruhe, und dann nach dem Umzug nach Österreich fällt mir nach drei Tagen ein, dass es ohne ihn nicht geht.
Ich ließ mir also ein Bewerbungsgespräch in München einfallen, und da es von dort nur noch rund zwei Stunden Fahrtzeit in Tommys neue österreichische Heimat waren, machte ich ihm den Vorschlag, ein Wochenende bei ihm zu verbringen. Es dauerte eine Weile bis zu seiner Antwort, aber Begeisterung hatte er mir schon vorher schon kurz signalisiert. Mama und Stiefpapa hatten eingewilligt, und er wollte mich auch sehen. Und so fuhr ich an einem Septemberfreitag ins Salzburger Land.
Tommy holte mich mit seinem Motorrad von der Ortseinfahrt ab und lotste mich zu seinem neuen Zuhause. Was ich in unserer gemeinsamen alten Heimat nicht geschafft hatte, gelang mir in Österreich – seine Mutter und ihren Freund kennen zu lernen. Ich wurde herzlich begrüßt, das Gästezimmer war für mich hergerichtet. „Schön, das den Thomas jemand aus der alten Heimat besucht. Es ist ein bisschen schwer für ihn, hier Anschluss zu finden“, erklärte mir Tommys Mutter beim Abendbrot. Nach dem Essen setzte ich zum ersten Mal in meinem Leben auf ein Motorrad und ließ mir von meinem Gastgeber die Umgebung seines neuen Heimatortes zeigen.
Die Müdigkeit zog mich nach langer Fahrt recht zeitig ins Bett, ich wollte fit sein für den nächsten Tag, für den wir uns Salzburg vorgenommen hatten. Ich war fast schon in Morpheus Armen gefangen, als es an der Tür klopfte und Tommy leise die Tür öffnete. „Hey, schläfst du schon? Darf ich zu dir kommen?“ Ich war auf einen Schlag hellwach – genau dieselben Worte hatte Tommy vor rund sechs Jahren benutzt, als es darum ging, nicht allein im Wohnzimmer bei mir schlafen zu müssen. „Komm rein“ Er setzte sich auf mein Bett, und ich nahm ihn sofort in die Arme. Er küsste mich auf die Stirn. „Danke, dass du gekommen bist. Du hattest kein Vorstellungsgespräch in München, oder?“ Es war die Minute, in der es Zeit wurde, offen zu sein. „Nein, aber weißt du, was ich hatte?“ Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. „Sehnsucht nach dir. Ich hab den Gedanken nicht ertragen, dass du so weit weg bist. Du bedeutest mir nämlich ne ganze Menge“ Er schaute mich aus feucht werdenden Augen an. „Ist das dein Ernst?“ „Ja, sonst wäre ich nicht hier.“ „Dir ist klar, dass ich nie wieder Bruder oder Papa zu dir sagen werde?“ „Ich werd damit leben müssen.“ Tommy lächelte mich an, was ich nur durch das einfallende Licht einer Straßenlaterne erkennen konnte. Dann fiel er mir in die Arme, und es war anders als jemals zuvor. Wir küssten uns, und auch das anders, als jemals zuvor.
Wir hatten uns gefunden, 700 Kilometer von zu Hause entfernt. Aber wir wussten genau, das es niemandem mehr gelingen würde, uns zu trennen. Nicht mal zehn Jahre Alterunterschied. Wir hatten uns selbst lange genug voneinander ferngehalten. Diese erste Nacht in Österreich war die eine Nacht des Lebens, die nie enden sollte …. weil man eine zweite davon nicht erlebt.
I LOVE YOU TOMMY.
Kleines Nachwort:
Ein Teil der Geschichte ist wahr, ein weiterer an wahre Begebenheiten angelehnt und ein dritter ist frei erfunden. Bis jetzt. Über Reaktionen und Anregungen bin ich jedem Leser dankbar.