Boycamp IV – Teil 1

Von der Schließung bedroht, konnte das Camp-Projekt durch einen Zufall wieder aufgenommen werden. Nico Hartmann macht sich daher erneut auf den Weg, um das Team zu unterstützen. Und nun muss er – wie alle anderen Teilnehmer auch – die Shorts gegen Schal und Pelzstiefel, die Zelte gegen eine feste Behausung eintauschen: Es herrscht Winter in den Bergen, wo sich diese Geschichte abspielt.

Nico Hartmann ist inzwischen etwas älter und auch reifer geworden und die Absicht, nach seinem Studium einen feste Stelle im Camp anzunehmen, bestimmt zunehmend sein Leben. Er weiß, dass er dann nicht mehr die Freiheiten genießen kann wie zuvor.

Er würde sich zurückhalten müssen und legt sich deshalb schon jetzt selbst Regeln auf, wie er künftig mit den Jugendlichen umgehen will und muss. Leicht fällt ihm das nicht und es hat zur Folge, dass er immer wieder zweifelt, ob er das jemals schaffen würde.

Zwar bietet ihm ein Junge aus dem nahen Ort die Gelegenheit, nicht wie ein Mönch leben zu müssen, aber das schützt ihn nicht, in den eigenen Reihen in Versuchung zu kommen.
Zudem erfährt er, dass es auch Dinge gibt, die im krassen Gegensatz zu dem Ziel stehen, welches das Camp verfolgt. So wird zum ersten Mal deutlich, dass nicht alle Menschen einem solchen Projekt gut gesinnt sind.

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Ich habe diese Story diesmal praktisch nur aus Nicos Sicht beschrieben, wodurch sich diese Episode von den Vorgängern wesentlich unterscheidet und ich hoffe, dass mir das mehr oder weniger gelungen ist.

Wie immer sind Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder noch lebenden Personen rein zufällig. Beschriebene Landschaften, Gebäude oder technische Einrichtungen sind rein fiktiv und entsprechen nicht den Tatsachen.

In diesem Zusammenhang möchte auch an dieser Stelle nochmals betonen, dass ich nur ein Hobbyschreiber bin, was mit einem Schriftsteller im Sinne des Wortes nichts gemeinsam hat.
Doch nun wünsche ich euch eine gute Unterhaltung und ein Feedback ist natürlich auch immer willkommen.

*-*-*
Graue Wolken zogen rasch über die Landschaft dahin und boten der Silhouette des Kölner Doms einen tristen Hintergrund. Der Frühherbst kam mit Kälte und Regen daher und nur wenige Menschen waren bei diesem Wetter an den Ufern des Rheins unterwegs.

Unter ihnen befanden sich zwei große, schlanke Männer, die jetzt ihre Kragen aufstellten, um dem kühlen, herbstlich anmutenden Wind Einhalt zu gebieten. Zwei Hunde, ein Husky und ein brauner Jagdhund, begleiteten sie und fühlten sich offenbar als einzige wohl bei diesen Temperaturen, rasten sogar zeitweise durch das Wasser in der Uferregion.

Einer der Männer blieb nach einer Weile stehen.

„Du hast mir wirklich eine große Freude gemacht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir uns so schnell wieder sehen.“

Der junge Mann lächelte.

„Ehrensache, Falk. Was lag näher, als einen Abstecher zu dir zu machen, wo ich eh Marco hier im Krankenhaus besuchen will? Dich habe ich ja leider nicht erreicht, aber Frau Berger sagte am Telefon, dass du eine Woche frei hast und die Chance, dich hier zu treffen sei sehr groß.“
Stein lachte.

„Ja, die weiß wo ich Ablenkung suche. Hier bin ich sehr oft, das stimmt. Aber sag mal, bist du noch gewachsen? Und so richtig älter werden willst du scheint’s auch nicht.“

Nico Hartmann lächelte verlegen. Erst jetzt stellte er fest, dass er nur noch zwei Zentimeter aufsehen musste, um Falk Stein in die Augen blicken zu können.

„Schon möglich. Ich kontrolliere das eigentlich nicht.“

„Und dir geht es gut?“, wollte Nico wissen.

Dabei betrachtete er seinen Betreuer, Mentor und Freund genau.

„Ich kann nicht klagen. Gut, ja, nach der Entscheidung, das Camp aufzugeben war ich eine Weile ziemlich unten. Das Gremium rechnete den Umzug des Camps aus und am Ende wollte man abwarten. Die suchten billigere Lösungen und manchmal dachte ich, sie kommen nie mehr zu einem Beschluss.“

„Versteh ich nur zu gut, Falk. Mir ging es nicht anders, nachdem mich Professor Roth angerufen und mir das mitgeteilt hatte. Er konnte oder wollte mir über die Zukunft eines neuen Projekts aber nichts Näheres sagen.“

„Nun, da hat sich inzwischen schon etwas getan, Nico. Wir sind zwar noch in der Planung, aber es wird weitergehen.“

Nicos Augen begannen zu leuchten.

„Wirklich? Und was plant ihr?“

Falk Stein wusste, dass Nico an dieser Stelle mehr wissen wollte und Geheimniskrämerei war kaum angebracht.

„Ich denke, wir sollten das in Ruhe besprechen. Hier ist’s mir jetzt ehrlich gesagt zu ungemütlich. Wollen wir einen Kaffee trinken?“

Nico spürte, dass Falk über den Plan reden wollte und dazu würde er zu allem Ja und Amen sagen.

„Klar, ich hab Zeit.“

Langsam steuerten sie auf das Restaurant zu, das etwas oberhalb vom Rheindamm lag.
„Du wirst also Marco besuchen?“

„Ja, es wird höchste Zeit. Gott sei Dank war es scheinbar nicht so schlimm wie man befürchten musste. Vor allem – sein Gesicht ist von den Verbrennungen fast verschont geblieben. Sagt er wenigstens. Es werden noch ein paar Operationen nötig sein, aber man ist zuversichtlich, dass so gut wie nichts an Narben zurückbleiben wird. Er muss immer mal wieder in die Klink und endlich habe ich dort einen Besuch bei ihm einrichten können. Ich freue mich so, ihn wieder zu sehen.“

Stein nickte.

„Ich habe ihn einmal Mal besucht. Gefreut hat er sich ganz toll, auch wenn ich ihn durch mein Auftauchen ziemlich deutlich an alles erinnert habe. Jetzt ist mein Besuch schon eine Weile her und die Dinge ändern sich. Vergiss ja nicht, ihn von mir zu grüßen.“

„Ich denke nicht, dass ich das vergessen werde. Aber sag, wie sieht er aus? Ich glaube irgendwie nicht, dass er noch so aussieht wie früher und er das nur nicht zugeben will.“

„Ich habe ihn ziemlich am Anfang besucht, weißt du. Er wird heute anders aussehen als gleich nach dieser Katastrophe. Warte es einfach ab, ich glaube nicht, dass du ihn nicht wieder erkennst.“
Diese Antwort reichte. Wäre es anders, hätte Falk ihn gewarnt oder zumindest mental darauf vorbereitet, dass Marco nicht mehr der sein würde, der er einmal war. Kurze Zeit später nahmen sie in dem kleinen, gemütlichen Raum des Restaurants Platz und ohne Anweisung legten sich die beiden Hunde unter den Tisch. Nico kraulte das Fell des Jagdhundes.

„Ich wollte dir auch noch mal Danke sagen, dass du ihn so spontan aufgenommen hast. Ich hätte ja nicht gewusst, wohin mit ihm. War schon komisch, wie der da plötzlich am Eingang stand. Und einen Namen hat er bestimmt auch, oder?“

„Einfach war’s am Anfang nicht, aber wo ein Wille ist. Er verträgt sich ja mit Rick wunderbar und wo einer satt wird, reicht es auch für zwei. Ich habe keinen Namen für ihn gefunden, also rufe ich ihn einfach nur Hund.“

Es folgte dieses spitzbübische Lächeln, das Nico so an Falk Stein mochte. Nico grinste.

„So, so, Hund. Nun ja, wenigstens kann man diesen Namen nicht vergessen.“

Es war bei beiden viel passiert inzwischen und irgendwie wartete jeder, dass der andere mit seiner Geschichte anfing. Schließlich räusperte sich Stein.

„Wie geht es dir eigentlich, was macht dein Studium?“

Sehr viele Antworten verbargen sich dahinter und Nico versuchte, sich auf das Wesentliche zu beschränken.

„Das Studium macht mir keine Probleme, da bin ich zufrieden. Es geht zwar auf die Prüfungen zu, aber große Bedenken hab ich nicht. Wie es mir sonst geht ist eher eine andere Sache.“
„Stefan?“
Nicos Augenaufschlag sagte ihm, dass er mit dieser Frage genau richtig lag. Nico verzog das Gesicht und kam ohne Umschweife auf dieses Thema.

„Wir hatten uns gleich, nach dem ich vom Camp zurückkam, wieder zusammengerauft und es war fast wie in alten Tagen. Aber nach und nach wurde Stefan dann merkwürdig. Er benahm sich immer seltsamer und Falk – ich hatte auf einmal nicht mehr die Kraft, den Willen und die Lust, das alles noch einmal durchzustehen. Es ist nicht lange so gegangen, dann haben wir uns getrennt. Ich hatte erst keine Ahnung was mit ihm los war, darüber sprechen wollte oder konnte er nicht. Aber, das ist jetzt vorbei. Er ist fort und ich weiß noch nicht einmal, wo. Und ehrlich gesagt, es ist mir auch egal. Ich möchte und muss Abstand gewinnen, sonst bleibt mir der Kopf für das Studium nicht frei.“

Falk Stein schien zu ahnen, dass Nico nicht gerne darüber sprach und wechselte das Thema. Er nippte an der Teetasse, die inzwischen von der Bedienung gebracht worden war.
„Und was hat man eigentlich zu den Vorfällen im Camp gesagt? Ich meine, die Studies waren doch sicher neugierig.“

„Ja, klar. Die hätten mir ja nicht geglaubt, wenn ich nicht die Ausschnitte mit den Reportagen und den Fotos aus der Zeitung hätte vorzeigen können. Manche hatten aber auch so schon von dem Unglück gehört. Hm, beneidet haben mich manche sogar und von ihren todlangweiligen Praktika erzählt. Allerdings…“

Stein neigte seinen Kopf, um neugierig genug zu wirken.

„Allerdings?“
„Na ja, mein Professor hat mich natürlich auch interviewt. Er hat nur zugehört, lange nichts dazu gesagt. Erst nach einer Weile meinte er, so wie ich ihm die Dinge geschildert hätte, wüsste er für mich keinen besseren Job nach dem Studium.“

Stein grinste.

„Ein kluger Mann, dein Professor.«

Nico spielte mit seinen Fingern.

„Aber das Camp? Was ist denn nun damit?“

Stein nippte erneut an der Teetasse.

„Wir haben natürlich sofort nach einer Lösung gesucht.“

„Mach es doch nicht so spannend“, drängelte Nico, dem man die unendliche Neugier im Gesicht ablesen konnte.

Stein lehnte sich gemütlich zurück und sah hinaus zu den Schiffen, die ihre langsame Bahn über den Rhein zogen.

„Einfach war es gewiss nicht. In der Hauptsache spielte natürlich das Geld eine große Rolle. Nicht, dass die Stiftung Pleite wäre, aber wir mussten trotzdem einen Kompromiss eingehen. Ein neues Camp zu bauen, war von Anfang an keine Option. Aber dann kam eher unerwartet ein Tipp, von außen sozusagen. Du erinnerst dich an Xaver Brauner, den Piloten?“

Nico lachte.

„Ich werde keinen Namen vergessen, der je mit einem Camp in Zusammenhang stand. Was ist mit ihm?“

„Er hat nur mal so angerufen und sich nach uns und euch erkundigt. Dabei fiel auch das Wort Neuanfang und so, also ich hab ihm am Telefon kurz geschildert, dass wir im Augenblick auf der Stelle treten. Prompt meinte er, eine Idee zu haben und rief mich einen Tag später zurück. Ein Bekannter von ihm leitete bis vor kurzem ein Heim für Behinderte, aber der musste es aufgeben, und nun stand diese Immobilie zur Disposition. Es gab zwar auch andere, potente Käufer dafür, aber als die Interessenten auftauchten, hatten wir den Vertrag schon unterschrieben. Dieses Anwesen ist allerdings ziemlich weit weg von hier und liegt wohl völlig einsam, sozusagen. Ich bin mit Xavers Vorschlag gleich ins Gremium und es gab ein bisschen Theater wegen den nötigten Um- und Renovierungsarbeiten, der Logistik und solchen Dingen, aber am Ende haben alle zugestimmt. Dem Vorteil, dass wir damit nicht auf Jahreszeiten angewiesen sind, konnte keiner etwas dagegen setzen.
Die ehemaligen Hütten des Camps konnten ja an Gartenbesitzer einer neuen Anlage verkauft werden. Der Erlös war dann auch das Zünglein an der Waage.“

„Oh, irgendwie schade. Die Dinger waren so heimelig. Und wann geht es los?“

„Wir werden den Betrieb im Oktober wieder aufnehmen.“

„Und wo liegt das nun genau?“, Nico brannte vor Neugier.

„Das war wie gesagt schon ein Thema. Es liegt im Bayrischen Wald, etwa 1000 Meter hoch, nur ein paar Minuten von der nächsten Ortschaft und einen Katzensprung von der tschechischen Grenze entfernt. Es war nicht großartig sanierungsbedürftig, nur kleinere Umbauten an den Zimmern waren nötig und außerdem konnten wir den Koch übernehmen. Wir sparen dadurch nichts, aber er ist schon lange da oben und hat in Sachen Gehalt keine wüsten Vorstellungen gehabt. Um das Haus beziehungsweise die Technik selbst kümmert sich ein mobiler Hausmeister. Der kommt, wenn etwas repariert werden muss. Das hat den Vorteil, dass wir uns ganz auf unsere Arbeit konzentrieren können.“

„Dann ist Felix Gröbner nicht mehr dabei?“

„Nein, aber im Grunde war das Camp eh nur eine seiner Stationen im Leben, wie er sich einmal ausdrückte. Er sagt, er hat nicht nur als Koch, sondern auch als Mensch viel mitgenommen, aber es wäre auch Zeit für etwas Neues gewesen.“

„Gerd Hagen, Michael Korn?«

Nico kam auf die anderen Betreuer, die beim letzten Camp dabei waren, zu sprechen.
Stein lächelte.

„Wie weiß ich nicht, aber Gerd hat Verbindung zu unserem Chip, Charles Rademann aufgenommen. Und jetzt ist er dort in diesem Camp im Osten. Hab erst kürzlich mit ihm telefoniert, es geht ihm prächtig und vermissen in dem Sinn tut er auch nichts. Michael Korn ist nun auch in der Zentrale in Köln. Er hat wohl einige gesundheitliche Probleme und einen Mann im Innendienst konnten wir auch noch gut gebrauchen.“
Nico folgte Steins Blick zum Rhein hinaus. Rademann schien der Neuaufbau im Osten gut gelungen zu sein.

„Wer ist überhaupt noch im Team?“

„Na ja, Rainer Bode hat sich auch ganz schön ins Zeug gelegt was das neue Camp betrifft. Seine privaten Probleme hat er gelöst und jetzt lebt er für die Sache. Nach wie vor vertritt er mich und auf ihn kann das Projekt gar nicht verzichten.“

Nico wurde bei Steins Stimmlage stutzig. Wohl wusste er, dass eher viel Verwaltungsarbeit im Hintergrund vonstattengehen musste, aber es klang, als wäre Stein mehr als froh, dass Michael diese Stelle innehatte.

„Dann ist also Leo noch da?“

„Leo – das Urgestein. Klar, er zählt ja auch praktisch schon zum Inventar.“

„Und Irvin Probst ist dann auch nicht mehr dabei?“

„Leider nicht, wir mussten den einen oder anderen Kompromiss eingehen. Die Kosten für das neue Camp haben am Ende ihren Preis im Personal gehabt. Wie überall. Es gibt eben Dinge im Leben, die laufen oft so völlig anders als man gedacht hat. Von Irvin haben wir seither nichts mehr gehört.“

„Und was für Dinge sind anders gelaufen?“

Nico wurde unruhig. Stein nahm seine Tasse in beide Hände und drehte sie nachdenklich im Kreis.

„Du weißt ja, dass ich nicht ganz freiwillig hier nach Köln gegangen bin. Sicher, es hat eigentlich nur Vorteile. Geregelte Arbeitszeit, ein festes Dach über dem Kopf sozusagen. Und mal eben um die Ecke einkaufen, wenn etwas fehlt, hat durchaus auch seine Vorteile.“

Nico hörte trotzdem heraus, dass Falk nicht der glücklichste Mensch dabei war. Nie hatte er Falks Schritt in die Verwaltung verstanden, es passte einfach nicht zu diesem drahtigen, voller Elan strotzendem Mann, der mehr Menschenkenntnis besaß als alle Personen, mit denen er je zu tun gehabt hatte.

„Also willst du mir jetzt erzählen, dass dir das Leben mit den Jungs da draußen zu anstrengend war?“, fragte er keck nach, wobei er Falk tief in die Augen sah.

Der blickte hoch und lange Zeit sahen sich die beiden nur an. Nico spürte eine leichte Gänsehaut, die er sich zwar nicht erklären konnte, aber sie war da und sie wurde ausgelöst von diesem Mann.

Einem Menschen, den Nico verehrte und schätzte und dessen Nähe ihm Sicherheit und Geborgenheit bot.

„Nico, du wirst frech. Du weißt ganz genau, was sie mir bedeutet haben“, grinste Stein und plötzlich legte er eine Hand um Nicos Hals.

„Aber du hast natürlich Recht. Wie oft habe ich mir gewünscht, wieder draußen zu sein statt acht Stunden in einem Büro zu sitzen. Nachdem die Entscheidung für das neue Camp gefallen und das Personal doch recht dezimiert war, kam Professor Roth auf mich zu. Wir haben nur fünf Minuten darüber geredet, dann war es abgemachte Sache.“

Diese Worte wollte Nico hören und sonst nichts. Sein Herz hüpfte förmlich.
»Und ich täusche mich sicher nicht, dass es um deine Rückkehr ins Camp ging?“

„Nein, Nico, du täuschst dich nicht.“

Nico strahlte.

„Das freut mich für dich, ganz ehrlich.“

Er blickte schnell aus dem Fenster und schluckte. Falk musste seine feuchten Augen nicht sehen, obwohl es Unsinn war, diesem Mann etwas vorzumachen.

„Ich weiß, dass dich das freut. Aber vielleicht kann ich dir im Gegenzug ja auch eine Freude machen. Professor Roth steht nach wie vor hinter dem Konzept, im Camp einen Praktikumsplatz fest einzurichten. Mehr als einmal ist inzwischen dein Name gefallen, das kannst du mir glauben – und das besonders oft aus Antonia Bergers Mund. Die will dich haben, unter allen Umständen. Wenn du möchtest, und davon gehe ich aus, kannst du dein Praktikum jederzeit wieder aufnehmen. Und dafür muss ich niemanden um Erlaubnis fragen. Es ist sicher auch kein Problem für dich, nach dem Studium einen Platz in den Camps zu bekommen.“

Nico schluckte erneut. Sein Gespräch mit Frau Berger, da lag ihm noch jedes einzelne Wort in den Ohren. Sie wusste, dass er schwul ist und es war ihr egal. Dafür gab es aber nur ein Wort: Vertrauen.

Das musste sie auch rückhaltlos, die Verantwortung war einfach viel zu groß. Warum konnte er auch nicht einfach die Finger von den Jungs lassen? Er wusste, dass es unzählige homosexuelle Männer gibt, die ihre Jobs im pädagogischen Bereich machen.

Und sie tun das gut und richtig. Waren die anders als er? Können die sich nur sehr gut beherrschen oder welche Faktoren spielen da eine Rolle? Aber da war Falk Stein, die einzige Person, der er im Leben nacheifern wollte, alle anderen waren nicht wichtig.

Er musste sich eben zusammenreißen, stark bleiben und vor allem – nicht ständig daran denken, dass etwas passieren könnte. Damit fiel ihm eine weitere, sehr wichtige Frage ein. „Und wer sind eigentlich diese Jungs, die ins Camp kommen sollen?“

„Ja, auch da gibt’s eine gewisse Änderung. Im Grunde bleibt das Konzept des Camps ja gleich, nur die Klientel ist etwas anders gelagert.“

„So?“

Nico wurde sofort sehr hellhörig.

„Wir wollen Jungs von der Straße holen. Also zumindest ein kleiner Teil jener, die aus irgendwelchen Vorgeschichten kein Dach mehr über dem Kopf haben. Die Gründe dafür sind so unheimlich vielschichtig. Allerdings nehmen wir nur solche auf, die auch den Willen haben, aus diesem Milieu herauszukommen. Aus eigener Kraft schaffen sie es meist nicht und wenn man sich anschaut, warum sie da draußen gelandet sind, unter Brücken leben und fremde Leute um ein paar Cent anbetteln, dann ist es oft kein Wunder. Lehrstellen wurden abgebrochen oder gar nicht erst gefunden, falsche Freunde. Manchmal auch wirklich keinen Bock, um etwas mit sich anzufangen. Da sind dann Verbindungen zu den richtigen Freunden kaputt, ebenso die Beziehungen zum Elternhaus. Die Streetworker kümmern sich zwar um sie, aber es gibt eben Fälle, da lohnt es sich zu investieren. Die sehen die Straße nur als Übergang sozusagen. Warten dort, bis bessere Zeiten kommen mögen. Aber von alleine kommt da nichts. Es ist schon ein riesiger Fortschritt, wenn sie es versuchen wollen.“

„Also sind die noch nicht straffällig und vom Gericht gezwungen?“

„Nein, das nicht. Klar, es gibt schon gelegentliche Berührungen mit den Gesetzen, kleine Diebstähle oder auch mal leichte Drogen. Klar, es gibt Fälle, die werden dann vom Jugendamt aufgefischt und in betreutes Wohnen gesteckt. Aber das ist zumeist der Beginn vom Untergang. Was sie an illegalen Sachen bis dahin nicht gekannt haben, dort lernen sie es kennen. Und wir, wir müssen das einfach besser machen. Die Jungs brauchen auch Hände, die sie führen. Wir wollen eben jene herausfischen, bei denen noch nichts im Führungszeugnis steht und das ist eine ganz andere Liga als die, welche wir bisher hatten. Für die war es meistens schwer, auch nach dem Camp Fuß zu fassen. Und eben oft nur wegen diesen Eintragungen. Kaum einer nimmt solche Leute in seine Firma, niemand traut ihnen etwas zu und hier liegt der Fall nun anders. Teilweise haben sie ihre Lehre abgebrochen, warum auch immer. Sind sowohl von zu Hause rausgeflogen als auch getürmt. Ein ganz wichtiger Punkt wird daher sein, sie wieder da einzugliedern, wo sie hergekommen sind.“

Nico hatte freilich einen gewissen Einblick in die Welt dieser Gestrandeten, gehörte das ja auch zu seinem Studium. Aber das war alles Papier und Gerede, Vorlesungen und Präsentationen. Nun stand ihm diese relativ kleine Abteilung sozusagen live gegenüber.

„Man will sie also abfangen, bevor es zu spät ist?“

„So kann man sagen, ja. Du kannst dir vorstellen wie ihre soziale Einstellung ist, ihre Gesundheit und zudem, sie haben nicht den geringsten Halt. Vielleicht noch unter jenen, mit denen sie herumziehen, aber das ist eben dieser Teufelskreis. Den gilt es zu durchbrechen.“

Kommen sie freiwillig?“

„Gute Frage. Zwingen kann man sie dazu nicht, das ist klar. Wir haben in diesem Sommer bundesweit Studenten damit beauftragen können, gezielt Ausschau nach solchen Jugendlichen zu halten. Wir legen ziemlich Wert darauf, dass die Jungs sich nicht kennen und dass sie noch nicht lange auf der Straße leben. Sie eigentlich aus der ganzen Republik. Zudem muss man berücksichtigen, dass viele gar nicht so leben wollen. Es ist ihnen am Ende einfach nur nicht viel anderes übrig geblieben. Schwerpunkt des Camps ist deshalb nun mal jene Zeit zu nutzen, in der es auf der Straße am schwierigsten wird.“

„…im Winter“, setzte Nico nachdenklich fort.

„Ja. Aber man muss abwarten. Zunächst mal haben wir acht feste Zusagen, diese Jungs werden kommen. Da sie im Grunde nicht viel mehr haben werden außer ihren Klamotten, wird es dann auch völlig anders ablaufen. Sie bekommen neue Kleider, von der Unterhose bis zur Pelzjacke, werden untersucht und wenn nötig behandelt. Ach ja, fast vergaß ich… Es gibt noch eine Person im Team. Wir sind sehr froh, dass Doktor Schnell dabei ist. Er hat eine kleine Praxis direkt im Haus eingerichtet, kommt aus dem nächsten Dorf und ist immer da wenn wir ihn brauchen. War nicht einfach, seinen Posten zu besetzen, aber ich konnte alle von der Notwendigkeit überzeugen. Da er nur sporadisch für uns da ist, sind die Kosten überschaubar.“

„Mit Ärzten haben wir ja immer Glück.“

„Ich bin froh drum. Er hat einen regelrechten Plan aufgestellt. Weil vermutlich manche von unseren – ich sage diesmal Schützlingen – körperlich unten sind, möchte er sie zunächst richtig aufpäppeln. Offen gestanden, wir haben keine Ahnung was wir uns damit aufladen. Wir vermuten – aber es ist eben nur eine Vermutung – dass wir nur wenige Probleme mit ihnen haben. Zumindest gehen wir davon aus, dass sie durch ihren Willen, wieder in ein geregeltes Leben zu kommen, eher pflegeleicht sind.“

„Und wer hilft ihnen bei der Suche nach einer Lehrstelle, nach einem Arbeitgeber?“

„Das übernimmt ein gewisser Manfred Haber. Sozialarbeiter seines Zeichens, wohl irgendwie ein Bekannter von Frau Berger. Er kommt auch aus der Gegend dort und wird regelmäßig vorbeischauen. Sicher eine Menge Arbeit, aber er sagt, er würde das gerne machen und ich hoffe, er hat darin auch ein glückliches Händchen. Er kümmert sich um notwendige Papiere, Arbeitsamt, Rückführung zu Familie, Verwandten oder Bekannten. Mit ihnen tritt er auch in Kontakt.“
„Aber trotzdem, dafür, dass man zuerst gar kein Camp mehr wollte, ist doch schon eine Menge investiert worden, wie ich das so sehe. Von der Unterhose bis zum Arzt.“

Er grinste bis über beide Ohren.

„Professor Roth ist dafür aber auch wieder mächtig hausieren gegangen. Er verriet mir neulich, dass ein paar namhafte Firmen ordentlich etwas zugesteckt hätten.“

„Firmen? Die wollen doch bloß verdienen. Wie kommt das?“

„Dies wird wohl des Professors Geheimnis bleiben.“

Mittlerweile wurden die bunten Lichter auf den Schiffen deutlicher, die Dämmerung brach herein. Fast Wehmütig sah Nico durch das große Panoramafenster nach draußen. »Winter… habe ich dir schon gesagt, dass ich ihn überhaupt nicht mag?“

Stein lachte.

„Nein, dazu hast du dich nie geäußert.“

„Ich hasse es, zu frieren. Diese ganzen dicken Klamotten, ganz abgesehen vom trüben Himmel, früh dunkel und klamme Finger.“

Er verschwieg zu bedauern, dass dann auch die Jungs ganz allgemein viel zu viel anhaben. Keine freien Oberkörper, keine nackten Beine, süße Hintern werden von langen Jacken verdeckt und am Ende sogar die Gesichter vermummt. Der Winter brachte in diesen Dingen überhaupt keinen Vorteil.

„Nun, da musst du dich umstellen. Dort oben herrscht sicherlich oft raues Wetter, aber ich denke, das muss ich gerade dir nicht sagen.“

Nico schüttelte den Kopf.

„Nee, wirklich nicht. Aber wenn richtig Schnee liegt ist es sicher auch etwas anderes als das Wetter hier im Rheinland. Da ist Schnee ja schon eine Seltenheit.“

„Oder es kommt zur Katastrophe, weil’s gleich zu viel ist.“

Die ungezwungene Unterhaltung mit Falk tat Nico gut. Es gab in seinem nahen Umfeld niemanden, mit dem man so reden konnte. Und hinter dessen Worten auch Inhalt lag. Kein oberflächliches Gelabere, von dem er so schon genug hatte.

Stefan dagegen war ein ganz anderes Thema. Nachdem sie in ein Mietshaus am Rande der Stadt gezogen waren – näher betrachtet wohl eher ein trostloser Vorort, dem Nico nie etwas Schönes abgewinnen konnte – gerieten sie sich immer öfter in die Haare.

Er wollte raus dort, aber Stefan ließ darin nicht mit sich diskutieren. Wohl auch, weil es billig zu wohnen war. Aber es gab viele andere Gründe, worüber sie immer häufiger stritten, oft auch wegen Kleinigkeiten.

Nico spürte irgendwann, dass da noch ein anderer im Spiel gewesen sein musste, aber Stefan lehnte das immer ab und schimpfte ihn am Ende eine eifersüchtige Schwuchtel. Das war der erste Knick, der am Anfang vom Ende entstand.

Er zog sich zurück, spielte den Beleidigten und das brachte Stefan noch mehr in Rage.
Nur ungern erinnerte er sich an den Abend, als er Stefan klipp und klar sagte, dass es keinen Sinn mehr mit ihnen hätte und er ihm endlich sagen sollte, wer der andere war.

Stefan besorgte sich noch an dem Tag einen Transportwagen, packte seine Sachen und verschwand – ohne Kommentar, nicht einmal Tschüs brachte er über die Lippen.
Wochen später sah ihn Nico zufällig in der Stadt, in Begleitung eines anderen Mannes.

Nico fragte sich zwar, was Stefan an diesem schlampigen Typen fand, aber er zog einen Strich. Eine Ära war zu Ende, ein für allemal. Schnell fand er dann über die Uni ein Zimmer, war auch bereit es mit einem anderen zu teilen.

Im Nachhinein gestand er sich ein, dass er auf einen Jungen gehofft hatte, mit dem sich etwas anfangen ließ. Keine Freundschaft wie mit Stefan, aber ein gutes Verhältnis und bevor er mit Bastian zusammenzog, wagte er sogar an mehr zu denken.

Recht schnell platzten seine Träume, so einen Jungen hätte er sich explizit aussuchen müssen, via Zufall war das doch sehr unwahrscheinlich gewesen. Der Schmerz und auch die Wut über die Trennung mit Stefan klang nur langsam ab und Nico war am Ende froh, dass Bastian ein ausgesprochener Hetero war, den man auch betrunken nicht herumkriegen konnte.

Trotzdem, so nett wie Bastian auch war, er hatte seine Eigenheiten und war manchmal richtig kompliziert. Irgendwie kam es sehr passend, dass er nach einiger Zeit zu seiner Freundin zog. Seither hatte Nico die Bude für sich allein und war nicht unglücklich darüber.

„Worüber denkst du nach?“, wollte Stein nach den langen, schweigsamen Minuten wissen.

„Worüber, ja. Eine gute Frage. Über meine Fehler, Falk. Und über die Möglichkeit, dass ich vielleicht Beziehungsunfähig bin.“

Stein schüttelte den Kopf. »Ich kenne dich gut genug, das trifft auf dich bestimmt nicht zu. Das behaupte ich jedenfalls einfach mal so. Nur weil das mit Stefan schief gegangen ist, musst du an solche Dinge nicht denken.“

„Wenn du nur mal recht hättest. Aber gut – Glück im Beruf, Pech in der Liebe. Man kann nicht alles haben.“

Stein langte über den kleinen Tisch und fuhr Nico durch die Haare.

„Nun komm, das wird schon. Klingt nach Klischee, aber du bist noch jung, siehst gut aus und bist kein Dummkopf. Beste Voraussetzungen, wenn der Richtige deinen Weg kreuzt.“

Nico grinste.

„Wenn es ihn denn gibt. Aber das hat meine Oma schon vor hundert Jahren zu mir gesagt. Na ja, sie wusste da ja nicht… aber, ich glaube, wir sollten von etwas anderem reden. Also wird es diesmal keine Gruppengespräche geben, bei denen es um Straftaten und deren Folgen geht?“
„Nein. Ich denke, in erster Linie müssen die Jungs wieder Boden unter den Füßen spüren. Merken, dass sie jemand sind und vor allem etwas werden können. Und dass es Menschen gibt, die sie schätzen. Insgeheim fürchte ich fast, wir haben uns da sehr, sehr viel vorgenommen und bete, dass es passt.“

„Das passt, Falk, sonst würdest du es nicht tun. Und was tun die sonst noch dort? Wir wissen ja, so ein Tag ist immerhin lang.“

„Das kommt drauf an. An erster Stelle steht die Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Lehrstelle. Und natürlich, wo sie später unterkommen. Wir hoffen, dass die meisten nach Haus zurückkehren können. Wenn sie körperlich dazu in der Lage sind und vor allem, wenn sie auch wollen, können sie Skifahren, Rodeln, Eislaufen, Schneewanderungen machen. Zumindest im Winter gibt’s dafür jede Menge Möglichkeiten dort.“

Stein grinste kurz.

„Aber dazu gehört unter Umständen auch Holzhacken und Schneeschippen.“

„Oh weh, klingt aber echt nicht nach Langeweile oder Kaffeetrinken.“

„Nein, Nico, das soll und darf es nicht sein. Im Sommer gibt’s halt Schwimmen, Wandern, Kletterwand, Rafting. Doktor Schnell ist übrigens auch Sportmediziner und der Meinung, wenn sich die Jungs richtig fit fühlen, kommt alles andere fast wie von selbst. Schwerpunkt wird jedoch sein, sie wieder an das Teamleben zu gewöhnen. Zusammenhalt, sich aufeinander verlassen können, Verantwortung übernehmen. Das ist den meisten völlig abhanden gekommen. Wir werden diesmal keine Führung, sondern höchstens Begleitung sein. Moderatoren wenn man so will. Sie müssen wieder lernen, Konflikte mit der Umwelt und unter sich selbst zu lösen. Es kann riskant sein und was dabei herauskommt, das weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand. Was uns hilft, ist die Erfahrung in solchen Sachen.“

„Warst du übrigens schon mal dort?«, wollte Nico dann wissen.

„Klar, gleich nachdem feststand, dass wir weitermachen, bin ich mit ihm hin. Übrigens – in seinem Flugzeug.“

Oh Mann, fliegen… ich glaub, so schnell muss das nicht wieder sein. Hat er etwas von seinem Sohn Thomas gesagt?“

„Ja, sicher. Der hat Arbeit in der Schweiz gefunden bei einem Hubschrauberunternehmen. Er möchte den Flugschein für Helikopter machen und später Masten fliegen. Hat er jedenfalls vor.“

„Finde ich ja Klasse. Thomas ist schon ein richtiger Kerl.“

„Hey Nico, keine falsche Bescheidenheit. Das bist du auch, ohne Zweifel.“

Nico spürte, dass er Rot wurde und lenkte schnell ab. »Falk, was ist eigentlich aus all den anderen Jungs aus dem letzen Camp geworden? Du wirst es doch sicher wissen.“

„Nun ja, im Grunde weiß ich auch nur, dass sie mehr oder weniger wohlbehalten zurückgekehrt sind. Außer Marco hat keiner einen ernsthaften Schaden genommen.“

Nico lächelte verlegen und erinnerte sich daran, warum er überhaupt hier in Köln war. Er schaute auf die Uhr.

„Das freut mich. Aber ich glaube, ich muss langsam gehen und morgen will ich früh raus.“
„Weiß Marco, dass du kommst?“

„Ja klar, ich musste es ihm sagen. Nicht, dass er irgendwelche Untersuchungen vor sich hat und ich ihn dann nicht besuchen könnte. Er hat gesagt, er könne diese Nacht sicher nicht schlafen, obwohl wir nicht viel Zeit haben werden. Er ist ja auch nur drei Tage in der Klinik, es stünden kleinere Operationen bevor, mehr kosmetischer Art. Er hatte ja Glück, dass er nach dem Camp bei einer Großtante in Bonn unterkommen konnte. Mit ihr kommt er prima klar, sagt er. Wie es zu Hause in Berlin aussieht, weiß er nicht. Er hat nach dem Einzug ins Camp nie wieder etwas von seinen Eltern gehört.“

„Ja, manchmal klappt es mit Verwandten und Bekannten, wenn das Elternhaus in Trümmern liegt, aber leider nicht immer. Und wo bleibst du diese Nacht?“

„Eine Studentin hat mir ihre Adresse gegeben, ich kann bei ihrer Familie in ihrem Zimmer pennen. Ist gleich in der Nähe am Bahnhof, ich hab mich da auch schon gemeldet. Sie meinten, ich soll zum Abendessen kommen. Das werde ich jetzt wohl auch tun.“

„Okay, Nico.“

Stein stand auf und hielt ihm die Hand hin.

„Ich geh noch ein bisschen mit den Hunden, so richtig ausgetobt haben sie sich heute nicht.“

Nico spürte, wie seine Hand ein bisschen zitterte und hoffte, Falk würde es nicht merken.
Natürlich blieb es dem nicht verborgen.

„Scheinst ja jetzt schon aufgeregt zu sein“, grinste er.

Ähm ja, ich denk schon. Ist ja auch immerhin ein Grund, oder?“

Stein klopfte ihm auf die Schulter.

„Ja, ich denke, mir würde es nicht anders gehen. Und nun mach, dass du zum Essen kommst. Ich werde dich über alles Nötige informieren, deine Handynummer stimmt noch?“

„Ja, die ist geblieben.“

*-*-*
Der Gebäudekomplex des Krankenhauses ragte fast drohend in den bleigrauen Septemberhimmel. Nieselregen und ein ungemütlicher Wind sorgten für ein fast gespenstisches Szenario, als Nico vor dem Haupteingang aus dem Bus stieg. Manche Dinge wurden eben schwieriger, wenn man kein Auto besaß, aber Nico hatte sich vor kurzem gegen den Wagen entschieden und sparte damit eine Menge Geld.

Zudem war er so finanziell unabhängiger geworden, vor allem auch seinen Eltern gegenüber, die ihm immer mal wieder etwas für sein Auto zuschoben, wenn er sie besuchte. Doch jetzt gerieten alle anderen Gedanken in den Hintergrund.

Marco war da in dem Gebäude, irgendwo und mit jedem Schritt, den Nico auf die Information zuging, wurde er nervöser. Er spürte seinen Herzschlag, was schon lange nicht mehr vorgekommen war.

Wie würde Marco jetzt aussehen? Der heiße Dampf, der ihn damals am Seil unter dem Hubschrauber umhüllt hatte, dürfte alles andere als harmlos gewesen sein. Marco hatte ihm die Situation am Telefon geschildert und sie riefen sich oft an.

Auch etwas, das Stefan weder verstehen noch akzeptieren wollte. Dass er mit Marco geschlafen hatte behielt er für sich, es gab keinen Grund, das irgendwie auch noch zu provozieren. Einmal, da hätte er es Stefan beinahe ins Gesicht geschrien vor Wut, aber er riss sich zusammen.

Doch all das war jetzt unwichtig und belanglos. Die Frage, die er sich oft stellte, sollte kurz vor der Beantwortung stehen: Wie hatten sich die Verletzungen auf Marcos Aussehen ausgewirkt? Gab es hässliche Narben, die nie wieder verschwinden würden?

Marco hatte sie geschildert und am Ende kam ihm der Verdacht auf, dass sich der Junge mit diesem Schicksal abgefunden hatte. Er machte manchmal sogar kleine Witze darüber und Nico wusste dabei nie, wie er es auffassen sollte.

Er holte sich die Information, wo er Marco finden würde und machte sich auf den Weg durch die langen, kahlen Gänge. Das trübe Tageslicht wurde durch die hellen Leuchtstofflampen in dem Gebäude praktisch erdrückt und es schien, als wäre es draußen dunkel, obwohl Vormittag gewesen war.

Nein, das war kein Wetter für ihn und der Gedanke, viele solcher Tage im Camp erleben zu müssen, machte ihn fast traurig. Während er den letzten, unendlich langen Gang entlanglief, hörte er für Sekunden die Vögel im Wald, sah die grünen Blätter über sich an den Bäumen, ja, auch ein paar der Jungs tauchten vor seinem geistigen Auge auf.

Doch nun gab es einen Neuanfang. Ganz neu. Nichts und niemand würde ihn davon abbringen können.

Zimmer 505, „M. Serrolas“

Mit Kuli auf ein Pappschild neben der Tür geschrieben. Für die wenigen Tage lohnte kein weiterer Aufwand für solche Dinge. Nico blieb stehen und starrte auf den Namen. Was würde ihn hinter dieser Tür erwarten?

Marco hatte ihm versichert, dass sein Gesicht verschont geblieben war, nur am Hals, da würde man etwas sehen. Tief atmete er durch und vorsichtig klopfte er an die Tür. Es rührte sich nichts, keine Reaktion.

Erneut klopfte er, diesmal etwas stärker, doch sein letztes Klopfen ging ins Leere. Die Tür wurde so rasch geöffnet, dass er überrascht die Hand innehielt. Da stand er plötzlich vor ihm. Kein Marco, der auf dem Bett lag mit glasig – verweinten Augen und einem hoffnungslosen Blick vor sich hindämmernd.

Obwohl sich es sich am Telefon nie so anhörte, stellte sich Nico dieses Bild jeden Tag vor.
Nun aber sah er in ein paar strahlende Augen, in ein Gesicht, das er noch sehr gut kannte und das sich überhaupt nicht verändert hatte.

Die Haare so schön wild durcheinander, die Figur. Nico konnte zuerst nichts sagen, der Blick hielt ihn einfach gefangen. Aber auch Marco sagte nichts, wie hypnotisiert sahen sie sich in die Augen.

Augen, die alle wunderschönen Momente, die sie erlebt hatten, widerspiegelten und scheinbar darauf warteten, sich all diese Erlebnisse wieder zu erzählen. Auszutauschen, gewahr werden zu lassen, dass das alles kein Alptraum gewesen war.

Nico schloss die Tür hinter seinem Rücken und stellte kurz fest, dass nur ein Bett in dem Raum stand. Sie waren alleine. Da war er, der Geruch nach dem Jungen. Nie hatte er ihn vergessen und jetzt kitzelte er seine Nase wie damals, als sie in dem alten Verladebahnhof übernachteten.

Alles war plötzlich wieder da, jede Minute. Nur der Schrecken am Ende blieb ausgeblendet, auch wenn er die beiden hier wieder zusammengeführt hatte. Keiner der beiden fand den Anfang, eine fast spürbare Spannung füllte in Sekunden den Raum um sie.

Sie war greifbar, fühlbar, sie war da und sie war schön. Nico wagte zunächst nicht, sich Marco genauer anzusehen, er hatte einfach Angst davor. Dabei war der Junge in einen dunkelblauen Jogginganzug gehüllt, nichts war so von seinen Brandverletzungen zu sehen.

Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet? Es begann schon, da war Stefan noch in seiner Nähe. Doch alles Grübeln, warum das so war, spielte jetzt keine Rolle mehr.
„Wie geht es dir?“

Marco zog die Schultern hoch.

„Es wird immer besser, aber es geht halt auch langsam. Die Ärzte haben gesagt, dass es schon seine Zeit brauchen würde.“

„Und du bist jetzt oft hier in der Klinik?“

„Alle vier Wochen, aber die Abstände werden zum Glück länger.“

Marco trat einen Schritt zurück und begann plötzlich, sein Jogginghemd auszuziehen. Nico schluckte und wusste, dass dieser Moment nicht abzuwenden war. Irgendwann musste es so kommen und Marco schien zu wissen, wie sehr es ihn trotz allem interessierte.

Nico senkte den Kopf aus Angst vor dem, was er nun zu sehen bekam.

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