Boycamp IV – Teil 2

»Da schau«, sagte Marco und es gab kein Zurück. Langsam hob Nico den Kopf, ein leichtes Zittern durchfuhr seinen Körper. Er musste sich zwingen, den Körper des Jungen anzusehen, doch mit jeder Sekunde, die sein Blick über die nackte Brust schweifte, fiel es ihm leichter.

Viele rote Stellen, aber keine typische Brandnarben, um die Hüfte trug er einen schmalen Verband.

„Da hat es mich auch erwischt. Der Dampf ist von unten durch die Hosenbeine und das Hemd gekommen.“

Dabei zog er die Hosenbeine hoch und auch an beiden Unterschenkeln leuchteten weiße Verbände. Nico war sich nie sicher, ob Marco bei der Frage, wo es am schlimmsten aussah, bei der Wahrheit geblieben war.

Manchmal dachte er darüber nach, ob es ihn nicht doch auch an der empfindlichsten Stelle getroffen hatte. Marco schien seine Gedanken geahnt zu haben.

„Ich werde an den Hersteller meiner Unterwäsche ein Dankschreiben schicken.“

Er lachte, und das ohne Häme oder Ironie.

„Die Ärzte meinten, es wäre wohl sehr viel schlimmer ausgegangen, wenn ich gewöhnliche Boxershorts oder so angehabt hätte. Der eng anliegende Slip hat das Schlimmste verhindert.“

Dann grinste er bis über beide Ohren.

„Um meine Eier hart zu kochen, hat es zum Glück nicht gereicht.“

Nico prustete heraus.

„Ja, also ich meine, ich kann mich noch dunkel an diesen Slip erinnern.“

Es war damals Nacht, sicher, er konnte ihn nicht wirklich sehen, aber gerade solche Dinge vergisst man nicht. Immerhin hatten sie sich gegenseitig ausgezogen in dem Schuppen und für Nico zählten solche Aktionen bereits zu einem sehr erotischen Vorspiel.

Und er konnte sich deshalb noch sehr gut an Marcos Unterhose in seiner Hand erinnern.

„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte er dann wissen, nachdem sie sich beruhigt hatten.

„Heute Mittag kommt die Visite und dann erfahre ich mehr. Ich denke, sie werden die schlimmste Stelle an meinem rechten Bein noch mal in Angriff nehmen. Aber sie haben schon klasse Arbeit geleistet. Ein paar Narben werden wohl zurückbleiben, sagen sie, aber Hauptsächlich da, wo ich eh meist Klamotten drüber habe.“

„Da fällt mir ein: Was ist eigentlich aus dem Soldaten geworden, der dich mit dem Seil gerettet hat?“

Marco zog die Schultern hoch.

„Man hat es mir nicht gesagt. Dabei habe ich allein ihm zu verdanken, dass mir nicht mehr passiert ist. Ich hätte ihm so gern einmal Danke dafür gesagt.“

Irgendwann hatte Marco die Details schon einmal geschildert, aber Nico ließ ihn erzählen.

„Als er sah, wie die Zisterne unter uns zusammenbrach und der Dampf nach oben schoss, hat er mein Gesicht an seine Brust gedrückt. Ich weiß auch noch, dass er meine Arme zwischen unsere Körper gepresst hat. Wie er das an dem Seil fertig gebracht hat weiß ich nicht, aber nur so ist mir nicht mehr passiert. Ich bin irgendwie ohnmächtig geworden, vor allem hatte ich das Gefühl, ersticken zu müssen. Trotzdem, seine Schreie höre ich manchmal schon noch. Der arme Kerl. Und der war auch noch so jung.“

Nico wollte keine Einzelheiten mehr hören. Er mochte sich nicht ausmalen, was Marco ohne den jungen Soldaten noch alles passiert wäre.

„Warum sagt man es dir nicht?“

„Er war oder ist angeblich in Koblenz im dortigen Militärhospital. Dann wieder, hätte man ihn nach Ludwigshafen verlegt. Aber mehr weiß man entweder nicht oder man verschweigt es mir. Keine Ahnung.“

Marco sah auf die Uhr auf seinem Nachttisch.

„Aber lass uns von anderem reden. Allzu viel Zeit haben wir nicht. Wie geht es dir denn?“

„Ich habe Falk Stein getroffen. Gestern Nachmittag.“

„Was? Ehrlich? Wie geht es denn dem alten Haudegen?“

Marco setzte sich auf das Bett und klopfte neben sich.

„Komm her zu mir.“

Das ließ sich Nico nicht zweimal sagen und er setzte sich wirklich ganz dicht an den Jungen. „Wenn ich dir zu nahe komme, dann sag es ruhig.“

„Ich kann dich nicht nah genug bei mir haben, ist schon okay. Und ein bisschen weh tut’s eh dauernd.“

„Wirklich?“

„Ja, es ist so ein spannen, aber man muss es bisweilen ignorieren. Also sag schon, was hatte denn Stein zu berichten?“

„Ich weiß nicht ob du mitbekommen hast, dass es nach uns kein Camp mehr geben sollte. Jedenfalls nicht so schnell. Aber – es gibt ein neuer Anfang.“

Marcos Augen wurden groß.

„Ehrlich? Wie und wo? Komm, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“

Ein wenig verwundert war Nico darüber schon, immerhin hatte Marco das alles dem Camp zu verdanken. Doch anscheinend spielte das keine Rolle. Er begann zu erzählen, Wort für Wort seines Gesprächs mit Falk. Und auch, dass er wieder dabei sein würde. Marco wurde mit jeder Minute nachdenklicher.

„Im Oktober schon. Da werde ich sicher noch nicht fit sein“, fügte er dann fast traurig hinzu.

Ohne weitere Erklärungen war Nico klar, dass Marco alles dafür gegeben hätte, trotz allem wieder dabei zu sein. Damit hatte er nicht gerechnet und nun tat es ihm fast Leid, darüber geredet zu haben.

Wenn und Aber, das gab es jetzt praktisch nicht. Nichts wäre schöner gewesen, als wenn er im Camp eingezogen wäre. Es würde ihm zustehen, die noch ausstehende Zeit dort zu Ende zu führen.

Doch es gab nichts daran zu rütteln, der Termin war zu knapp. Dass Marco jetzt eine Hand auf seinen Schenkel legte, fasste Nico nicht als sexuelle Handlung auf. Er spürte ganz deutlich, dass diese Geste einen völlig anderen Hintergrund hatte.

Er legte seine Hand darauf und drückte sie.

„Marco, ich hab dich sehr vermisst.“

Der Junge atmete laut aus.

„Und ich erst. Aber was passiert nun mit uns? Ich meine, so auf Distanz?“

Da war es wieder, dieses Gespräch. Einst hatte sich Nico dagegen gesträubt, allzu sehr war da noch Stefan mit im Spiel.

„Ich habe keine Ahnung. Es ist nicht gegen dich, das musst du mir glauben, aber nach Stefan brauche ich erst mal Abstand. Im Augenblick habe ich mir über meine Zukunft in dieser Richtung echt noch keine ernsthaften Gedanken gemacht.“

Marco legte seinen Arm um ihn und lehnte den Kopf auf seine Schulter.

„Ich kann’s verstehen. Es ist nur diese Ungewissheit, weißt du.“

„Lass uns ein bisschen Zeit, okay?“

Nico streichelte über Marcos Wange. Es war vielleicht nicht der richtige Augenblick darüber zu sprechen, noch dazu musste es fast abweisend klingen. Bestimmt war Stefan kein grundlegender Fehler gewesen, aber irgendwo gab es nun doch eine gewisse Vorsicht.

Nico war sicher, dass er erst diesen Abstand brauchte, doch diese Überlegung währte nur wenige Sekunden. Zu lange hatte er auf Zärtlichkeiten verzichten müssen, zu sehr fühlte er sich auf einmal zu dem Jungen hingezogen.

Er nahm Marcos Kinn in die Hand und drehte sein Gesicht zu seinem, so dass er ihm in die Augen sehen konnte. Diese wunderschönen Augen, sein warmer Atem. Zeit zählte in diesem Moment nicht und so vermochte keiner der beiden zu sagen, wie lange der folgende Kuss gedauert hatte.

Noch lange danach saßen sie auf dem Bett nebeneinander, drückten sich eine Hand und schwiegen. Nico suchte nach Worten; jene, mit denen er seine Zuneigung ausdrücken wollte. Zweifellos würde Marco alles tun, was er wollte, aber es brauchte seine Zeit und das war der entscheidende Punkt.

Unvermittelt öffnete sich die Tür und eine Krankenschwester stand im Raum. Die beiden erschraken nicht und sie ließen auch ihre Hände nicht los. Es gab keinen Grund, sich für irgendetwas zu schämen oder recht fertigen.

„Herr Serrolas, wir müssen“, sagte die junge Frau nur in ruhigem Ton und machte eine Handbewegung zur Tür.

Die beiden standen auf, fest den Blick in die Augen geheftet.

„Nico, ich muss zu den Untersuchungen. Kommst du wieder?“

Nico spürte etwas Seltsames in diesem Augenblick und schluckte. Köln lag nicht um die Ecke, außerdem hatte er seine Verpflichtungen. Rasch suchte er nach einer passenden Antwort, mit der er ihm nicht weh tun konnte.

„Klar, sobald ich Zeit habe.“

Marco nickte und drückte ihm noch einen schnellen Kuss auf die Wange. Für eine lange Abschiedszeremonie blieb die Zeit nicht, Nico wusste wie eng der Zeitplan in einem Krankenhaus ist. Ohne ein weiteres Wort wandte sich Marco ab und folgte der Krankenschwester.

Nico war nicht entgangen, dass es eher eine Flucht war als ein Gehen. Der Junge hing an ihm, darüber gab es keine Zweifel. Alleine stand er nun da, im Augenblick völlig ratlos. Er setzte sich auf das Bett, öffnete seine Tasche und suchte darin herum.

Schließlich fand er den Schlüsselanhänger in Form eines kleinen, weißen Stoffschäfchens. Etwas anderes als Geschenk war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen und so war er froh, den Anhänger im Bahnhof gesehen zu haben. Eigentlich hatte er ihn Marco am Anfang geben wollen.

Nun hielt er das kleine Tier in der Hand, betrachtete es eine Weile und legte es schließlich auf den Nachttisch.

„Pass mir auf den Jungen auf, hörst du?“

*-*-*

Nico saß erschöpft auf seinem Bett, die letzte Zeit war voller Eindrücke gewesen. Jedes von Steins Worten schwirrte in seinem Kopf, dazwischen immer wieder Marcos Gesicht. Sein Lachen trotz allem.

Obwohl Nico sonst kaum etwas trank, hatte er sich eine Flasche Rotwein im Bahnhof mitgenommen und nun nippte er an seinem Glas. Ein neues Camp. Es war einerseits kein Traum, auf der anderen Seite aber doch.

Dass er selbst wieder mit von der Partie sein würde, darüber zweifelte er nicht. Aber das Wichtigste war, dass Falk wieder dorthin zurückkehrte, wo er immer hingehören würde. Ohne ihn und seine Beharrlichkeit wäre das ganze Projekt wahrscheinlich gescheitert.

Marco – was sollte aus ihnen werden? Nicos Gefühle für den Jungen waren nicht die, wie er sie von Stefan kannte. Die Nacht oben im alten Bahnhof fiel ihm ein, es war trotz der Umstände eine der schönsten überhaupt gewesen.

Aber war es doch nur Begierde? Eine Art Sucht nach körperlicher Nähe? Die Sehnsucht nach Zärtlichkeiten mussten nicht zwangsläufig etwas mit Zuneigung oder gar Liebe zu tun haben.

„Du denkst zu viel und du redest dir etwas kaputt“, grummelte er dann vor sich hin und griff spontan zum Telefon, um weiteren, sinnlosen Gedanken in dieser Richtung Einhalt zu gebieten.

„Nico? Wie schön dass du anrufst. Wieder zu Hause?“

Für eine kleine Gänsehaut reichte Marcos Stimme. Und die klang wieder offen und frei, nicht bedrückt oder kläglich. Und sie kitzelte noch etwas anderes in ihm.

„Ja, wieder daheim. Und, wie ist es dir noch ergangen? Was haben sie gemacht?“, wollte er wissen.

Er hörte bei Marcos Schilderungen genau hin, aber es gab keinen Unterton, kein Räuspern oder Nuscheln. Es gab Fortschritte, das war das Wichtigste und das konnte er Marco auch deutlich anhören.

„Du, vielen Dank auch für dein kleines Schäfchen, es ist ein ganz tolles Geschenk.“

 

Nico schluckte und er rang mit den Worten. »Gefällt es dir? Es ist halt nicht viel.«

 

„Es ist süß, Nico. So süß wie du es bist.“

 

Das hatte gesessen. Nico spürte, wie sich seine Kehle zuzog, so dass er fürchten musste, keinen Ton mehr herauszubekommen. Er trank rasch einen kräftigen Schluck, worauf es etwas besser wurde.

„Das war ein Kompliment.“

„Klar, was dachtest du denn?“

Wie lange ihr Gespräch ging, hatte Nico nicht verfolgt, aber es kam ihm nicht vor wie gestohlene Zeit, wie bei manch anderen Gesprächen mit anderen Leuten.

*-*-*

Der Blick auf sein Bett ließ ihn lächeln. Immer dasselbe und doch wieder nicht, dachte er. Sehr viel schneller als erwartet, war der Zeitpunkt gekommen und nun lag sein Reiseequipment ausgebreitet vor ihm. Seit zwei Tagen war er nur am zusammensuchen, er wollte und er durfte nichts vergessen. Von den anderen Camps wusste er, was wichtig war und was er getrost hier lassen konnte.

Er drehte sich um, sein Blick fiel in den großen Schrankspiegel. Ein Tag zuvor war er noch beim Friseur gewesen und wie meistens betrachtete er nun sehr kritisch sein Spiegelbild.

Er drehte sich zur Seite, sein Blick glitt über den nackten Oberkörper zu den Hüften und weiter nach unten.

Einen Bauch konnte er so wenig ausmachen wie Hüftpölsterchen, fast jeden Morgen Joggen war doch nicht umsonst gewesen. Frech streifte er die Shorts zu den Knien hinunter und betrachtete nun auch jenen Körperteil, der ihm bislang eigentlich nur Spaß und viel Freude gebracht hatte. Rasch sah er auf, direkt in seine Augen.

Sicher war ihm gerade Marco eingefallen, aber auch sonst noch ganz viele Sachen, die mit seinem kleinen Freund da unten in direktem Zusammenhang standen. Es lag nun mal in seiner Natur, den hübschen Männern nachzusehen, sie mit den Augen auszuziehen und manchmal tauchten diese Gestalten abends im Bett wieder auf.

Dann trieb er es mit ihnen, mal wild, mal zärtlich, manchmal lagen sie auch nur nebeneinander und erzählten. Sein Kopfkino war manchmal erschreckend realistisch und er schämte sich dafür nicht, das war einfach so.

Er war kein Eremit und noch war er jung genug, um sich über diese Dinge keine Gedanken zu machen. Marco war noch immer eine ganz andere Geschichte und so lange sich zwischen ihnen nichts Entscheidendes abspielte, ließ er solcherlei Gedanken freien Lauf.

Das tat er auch jetzt, da sich ihm sein Penis zur vollen Größe aufgerichtet dem Spiegelbild entgegenstreckte. Es mochte auch ein gewisser Grad an Selbstverliebtheit mit im Spiel gewesen sein, aber das störte ich nicht.

Sein Körper, seine Figur im Spiegel veränderte sich plötzlich, sein Gesicht verwischte und wechselte mit vielen anderen aus seiner Erinnerung ab. Er schloss die Augen, seine Hand umfasste den harten Schaft und es dauerte nicht lange, dann beseitigte er vom Druck erlöst die Spuren seines Tuns vom Spiegel und Boden und wandte sich wieder seinen Sachen zu.

Auf der Kommode lag die Fahrkarte, das Wichtigste was er nicht vergessen durfte. Sein Notebook war das zweite und sonst eben die üblichen Utensilien. Zum ersten Mal mitnehmen musste er allerdings Winterstiefel, Handschuhe, Schal, den dicken Parka und zusätzlich eine Daunenjacke.

Aber die betrachtete er als notwendiges Übel, schick fand er sie nie. Er packte dann sorgsam den Bundeswehrtornister, in dem alles außer der Jacke Platz fand, und stellte ihn an die Tür. Seine Eltern wollten ihn so nicht fahren lassen und überwiesen prompt einen nicht unbeachtlichen Betrag, der sich nun einen Platz mit Ausweis und Impfpass in seiner Mappe teilte.

Nie hätte er das nach dem Eklat mit Stefan damals erwartet, aber die Zeit heilt Wunden, wenn auch nicht alle. Es dauerte eine Weile, bis die Beziehung zu seinen Eltern wieder gekittet war, aber heute war das alles vergeben und vergessen.

Die Nacht schlief er kaum, was ihm der Wecker am anderen Morgen unmissverständlich klar machte. Dennoch war es früh genug, um duschen zu können und in Ruhe eine frühe Straßenbahn zum Bahnhof nehmen zu können.

Bei einem knappen Frühstück in einem kleinen Cafe dort nahm er sein Notebook und schickte Falk Stein eine kurze Email, in der er ihm mitteilte, dass er auf dem Weg war und wohl auch pünktlich ankommen würde.

Die Zugfahrt nutze er zum dösen und nachdenken. Wie schnell würde der Tag der Rückreise kommen? Am ersten Januar musste er zurück, eine Woche später hieß es wieder einrücken in den Hörsaal.

Er würde sicher ein paar Tage brauchen, um sich in den Alltag hineinzufinden, darum wollte er schon früher das Camp verlassen. Dass die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel schien, war die eine Seite, dass sie allmählich an Kraft verlor, die andere.

Keine Sommerhitze dieses Mal, keine lauen Nächte. Er musste an diverse, delikate Handlungen im Freien denken, dazu bestand diesmal kaum eine Chance. Aber es gab dafür keine Brände und lästige Insekten.

Hat alles zwei Seiten, dachte er, wobei ihm die sonnige und warme Jahreszeit doch lieber gewesen wäre. Ständig brodelte jedoch in seinem Hinterkopf, dass er wieder neue Jungs kennenlernen würde.

Wer waren sie? Wie waren sie und vor allem, wie sahen sie aus?

*-*-*

Weiter als zum Bahnhof der nächst gelegenen Kleinstadt ging die Reise zunächst nicht – hier endete seine Zugfahrt. Mit einer Mischung aus bleierner Müdigkeit und großer Neugier trat er vor das Bahnhofsgebäude.

Kurze Hubgeräusche machten dann auf Steins Landrover aufmerksam, der auf der anderen Seite geparkt stand. Nico winkte und während er mit seinem schweren Gepäck darauf zusteuerte, sah er plötzlich Leo und den alten VW-Bus vor seinem geistigen Auge.

Spätestens jetzt wusste er, dass all das Bestimmung war und niemals Zufall sein konnte.

Noch auf halben Weg ging die Tür des Rovers auf und wie ein Blitz jagte ein Hund auf Nico zu.

Der hielt sofort an und ging in die Knie, denn er musste fürchten, von dem antobenden Hund umgeworfen zu werden. Ricks Begeisterung mündete mit einem gewaltigen Satz, so dass Nico trotzdem mit Gepäck zur Seite fiel. Er wuschelte das Fell des jaulenden Hundes.

„Hey, alter Freund. Du musst natürlich mit dabei sein, nicht wahr?“

„Rick“, rief Stein und prompt ließ der Rüde von Nico ab.

Lächelnd erhob er sich und trottete zum Wagen. Trotzdem konnte sich Rick gar nicht beruhigen.

„Sag, mal wo hast du denn deinen neuen Freund gelassen?“

„Hund ist zu Hause geblieben, zwei wären doch ein bisschen anstrengend. Aber er hat eine gute Pension bis ich wiederkomme.“

Ihre Begrüßung war herzlich. Falk Stein strahlte und man konnte ihm ansehen, dass es ihm richtig gut ging in seinem Element. Anscheinend waren die Vorgespräche und Vorbereitungen bestens gelaufen, was ihm Falk auf der Fahrt zum Camp auch bestätigte.

„Es wird dir gefallen. Du hast zwar ein Zimmer unter dem Dach, aber ich denke, es wird dir trotzdem gefallen. Die paar Umbauarbeiten waren pünktlich erledigt, wir mussten wirklich nur noch einziehen. Alles andere steht sozusagen, die Jungs könnten heute schon kommen.“

Nico sah hinaus in die Landschaft. Ein Zimmer unter dem Dach; Im Sommer war das öfter mal keine so tolle Angelegenheit, aber der war ja nun nicht. Er konnte sich immerhin an alles gewöhnen und damit verschwendete er keine weiteren Gedanken daran.

Den Bayrischen Wald kannte er nur von Fotos und aus Erzählungen von Leuten, die hier Urlaub gemacht hatten. Wald soweit das Auge reichte, hinter jeder Kurve nur wieder Bäume. Dazwischen einige wenige Wiesen und Weiden, die hier schon viel herbstlicher aussahen.

„Und wie läuft das jetzt so ab? Ich meine, ganz allgemein?“, wollte er dann von Falk wissen.

„Wenn die Jungs da sind, wollen wir sie zuerst in ihre Räumlichkeiten einweisen. Jeder hat sein eigenes Zimmer, Toiletten sind auf dem Gang und die Duschen sind im Keller untergebracht. Die Kleiderkammer ist mit neuen Klamotten gefüllt und Leo kümmert sich um die Wäsche, er fährt sie regelmäßig ins Dorf. Da gibt’s eine kleine Wäscherei, das nimmt uns viel Arbeit ab. Das Wichtigste aber ist, dass die Jungs erst einmal klar kommen müssen, zumal sie sich nicht kennen. Wir fanden das besser als ein Zusammenlegen, man kann nie wissen, wie sie sich zumindest am Anfang vertragen.“

„Aber ist es nicht auch Ziel, sie in die Gemeinschaft zu integrieren?“

„Sicher. Sie haben von Anfang an die Möglichkeit, sich zu treffen, gemeinsame Dinge zu machen. Wenn sich jemand zurückziehen will, dann kann er das tun. Wenn zwei oder sogar mehrere den Wunsch haben, in einer Bude zu wohnen, dann ist das aufgrund der Zimmergröße auch kein Problem. Knastähnliche Zustände wären genau das, was wir auf keinen Fall wollen.“

„Das klingt sehr human muss ich sagen. Steckt da ein neues Konzept dahinter?“

„Irgendwie schon, es ist mal wieder eher ein Versuchsballon. Ein Beispiel dafür gibt es nicht, jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“

„Fernsehen, Radio, Computer?“

Stein lachte.

„Klar, es gibt einen Gemeinschaftsraum mit Fernseher, Radio gibt’s in jedem Zimmer und Computer mit Internet hat es zwei in einem separaten Raum. Sie müssen sich halt aufteilen, wer da wann dran geht. Ob sie damit wirklich nur recherchieren wie wir es uns wünschen, besonders in Bezug auf ihre spätere Arbeit, muss man sehen. Wir können und dürfen sie nicht komplett vom Rest der Welt abschotten.“

„Hm, da wird man fast neidisch.“

„Nun ja, wir werden schon ihre Fortschritte kontrollieren. Sie müssen und sie sollen sehen, was man aus seinem Leben machen kann. Nicht mehr, und nicht weniger.“

„Und wenn es nicht funktioniert, Falk? Stirbt das Projekt Boycamp dann endgültig?“

Stein lachte.

„Was sagtest du gerade? Boycamp?“

Nico grinste etwas verschämt.

„Das ist mir grade so spontan eingefallen.“

Falk Stein wurde wieder ernster, legte seinen Arm freundschaftlich um Nicos Schulter und schüttelte ihn leicht.

„Es geht nicht schief, unser Projekt nicht. Meine Hoffnung ist, dass wir in Zukunft mehr Teilnehmer aufnehmen können. Dann wird man uns auch keine Betreuer mehr streichen.“

Nach einer Weile Fahrt nahm Nico das Gespräch wieder auf.

„Falk, da war doch dieser Bundeswehrsoldat, dem Marco so viel zu verdanken hat. Wir haben im Krankenhaus darüber gesprochen. Weiß irgendjemand, wie es ihm geht? Er soll in Koblenz oder Ludwigshafen gewesen sein, oder ist vielleicht sogar noch dort.“

Falk zog die Schultern hoch.

„Tut mir leid, das weiß ich nicht. Es waren ja viele Soldaten da im Einsatz und wie hätte man ihn finden sollen? Keinen Namen, keine Einheit. Marco kann sich auch nicht mehr an das Kennzeichen des Hubschraubers erinnern. Aber..“, Stein setzte den Blinker und bog von der Landstraße ab, „… ich habe noch einen alten Kumpel beim Militär, der könnte es vielleicht herausfinden.“

Etwas später steuerte Stein seinen Wagen durch eine Ortschaft. Fast schon malerisch lag sie abseits der Bundesstraße in einem kleinen Tal. Wie meistens war die Kirche das auffälligste Bauwerk, sonst gab es viele Fachwerkhäuser, Bauernhöfe und in der Ortsmitte einen größeren Gasthof. Einige modernere Bungalows standen etwas abseits und Nico fragte sich, wer außer den Bauern in so einer Einöde leben wollte und konnte.

„Wir sind fast da. Wir haben uns hier mal umgesehen, ein ziemlich verschlafenes Nest. Die meisten Einwohner sind wohl Bauern.“

Sie verließen die Ortschaft und fuhren eine schmale Asphaltstraße durch den Wald den Berg hinauf. Die Straße war gut ausgebaut, kein holpriger Waldweg. Einige Stellen auf der Straße waren jedoch marode, über sie fuhr Stein etwas langsamer hinweg.

An so einer Stelle am Rande der Straße entdeckte Nico ein wohl uraltes, vergammeltes und vergilbtes Transparent.

„W.. mit de.. Krüp…“, konnte man an einzelnen Buchstaben noch erkennen, zu sehr hatte die Witterung daran genagt.

„Was stand denn da mal drauf? Weißt du das?“ fragte Nico verwundert.

Stein brauchte eine Weile für die Antwort.

„Nun ja, das scheint noch aus der Zeit zu sein, als man das Behindertenheim gebaut hat. Man sagt, die Leute im Ort wollten es nicht dulden und haben dagegen prozessiert.“

Auf einmal beschlich Nico ein seltsames, ungutes Gefühl und er hasste das. Oft genug erwies es sich als richtig.

„Die wollten kein Heim für Behinderte hier?“

„So heißt es, ja.“

„Was für eine Behinderung hatten sie denn eigentlich?“

„Die Bewohner hatten das Down-Syndrom. Eigentlich sind sie nicht pflegebedürftig in dem Sinne, aber hier man jene untergebracht, die draußen keine Chancen bekommen beziehungsweise kein zu Hause hatten.“

Damit wurde Nico noch unverständlicher, warum die Leute in der Gegend dagegen waren.

„Die sind doch völlig harmlos, wenn ich das mal so sagen darf.“

„Man wird wohl kaum dahinter kommen, welche Beweggründe Leute zu so einer Ablehnung treiben.“

„Aber es wurde dann offenbar doch genehmigt.“

„Klar, es gab keinen Grund, es nicht zu tun.“

„Und, was sagen sie jetzt, wo Jugendliche aus der Stadt statt Behinderter hier unterkommen?“

„Nico, ich weiß es nicht. Und ehrlich gesagt: Es ist mir eigentlich auch egal. Bis jetzt gab es keinen Hinweis, dass man das Projekt boykottieren will. Zudem werde ich die Türen an höchster Stelle einrennen, sollte sich da etwas tun. Außerdem ist es nicht besonders ratsam, sich mit Professor Roth oder gar Antonia Berger anzulegen, wer immer das hier auch wagen sollte. Also, kein Grund zur Aufregung, okay?“

Nico vertraute Falks Worten, auch wenn es ihm schwer fiel. Zu logisch schien ihm allerdings, dass man hier unter sich sein wollte. Und schon gar kein fremder Jugendlicher mochte, die wer weiß was anstellen konnte.

Sie überquerten eine schmale Brücke, die offenbar noch aus Kriegszeiten stammte.

„Oh weh, was für ein uraltes Gemäuer“, murmelte Nico und sah aus dem Fenster hinunter in eine tiefe, schmale Schlucht.

„Da unten fließt ein Bach, der uns übrigens auch mit Wasser versorgt. Reinstes Quellwasser.“

Zwischen den Baumwipfeln tauchten dann dicke Seile auf, die sich über den Weg spannten und lenkten Nico ab. Nach Strom oder Telefon sah das nicht aus.

„Was ist denn das da oben?“

Stein blickte hoch und nickte.

„Es sind die Seile für einen Lastenaufzug, ein Versorgungsweg sozusagen. Wenn hier im Winter sehr viel Schnee liegt, wird es schwierig mit der Fahrerei. Mit dem Aufzug ist die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Materialien aus dem Dorf gewährleistet.“

„An Schnee wird es hier in der Gegend im Winter wohl kaum mangeln“, sinnierte Nico.

Er konnte sich diese Landschaft im Schnee versunken nicht richtig vorstellen. Noch bedeckten die Straßen nur buntes Herbstlaub, ringsum waren verschiedene Büsche noch grün.

„Der Aufzug war wohl zuletzt vor zwei Jahren in Betrieb gewesen. Die letzten Winter konnte die Straße durch den Räumdienst frei gehalten werden. Was sagt denn eigentlich der Wetterexperte zum kommenden Winter?“

„Nichts, Falk. Kann man so nicht. Kurzfristig vielleicht, aber ob das ein langer, kalter, schneereicher Winter gibt, das sind nur Spekulationen. Bislang deutet nichts verlässlich darauf hin, aber das kann sich morgen schon ändern.“

Kurz bevor sie die Anhöhe erreichten, kamen ihnen auf der Straße fünf Personen auf dem Waldweg entgegen. Nico erkannte auch auf die größere Entfernung, dass es sich um männliche Jugendliche handelte und sofort kniff er die Augen zusammen. Gangart, Kleidung, Frisur, Gestik, Mimik.

Das scannen dieser Eigenschaften war ihm zu Eigen geworden, er konnte schon gar nicht mehr anders. Und so bestand kein Zweifel für ihn, dass sie das Auto sehr genau beobachteten. Außerdem ging die Gruppe dann nur widerwillig zur Seite, weshalb Stein fast auf Schritttempo verlangsamen musste.

Als sie langsam an den jungen Leuten vorbeifuhren, spürte Nico überdeutlich so etwas wie große Abneigung, vielleicht sogar Hass.

„Hast du ihre Augen gesehen?“, fragte er Falk, nachdem sie an der Gruppe vorbeigefahren waren.

„Natürlich.“

„Und?“

„Nico, ich weiß dass du dir Sorgen machst, was die Akzeptanz der Bürger hier betrifft. Dass die so geschaut haben, kann viele Gründe gehabt haben. Menschen aus solch einsamen Gegenden sind Fremden gegenüber sehr oft misstrauisch.“

Nico spürte, dass er ihn nur beruhigen wollte. Das waren nicht nur misstrauische Blicke, darin stand auch Verachtung. Falk hatte das mit absoluter Sicherheit genauso gesehen, dazu war er geboren und auch Rick schien leise geknurrt zu haben.

Er schwieg dann zu dem Thema, aber er hatte sich die Gesichter der Jugendlichen sehr genau eingeprägt.

Die Steigung nahm nun ab, die hohen Bäume ringsum lichteten sich etwas und gaben schließlich den Blick auf das vollständig aus Holz bestehende Gebäude frei. Nico vergaß für einen Augenblick die letzten Minuten, mit so einem großen Haus hatte er hier oben nicht gerechnet.

„Tatsächlich, ein Hotel.“

„Na ja, wer sagt, dass ein Heim nicht wie ein kleines Hotel aussehen darf? Ist wohl aber eher eine opulente Blockhütte.“

Nico knuffte Falk in die Seite und grinste.

„Blockhütte.“

Sie fuhren auf den geräumigen Vorplatz und stiegen aus. Nico drehte sich langsam im Kreis und begutachtete die Umgebung. Das zweistöckige Haus mit Dachgeschoss stand direkt am Hang des Berges, die große Terrasse war über den Abhang angebaut und wurde durch schräge Pfeilern am Hang abgestützt.

Direkt unter der Terrasse befand sich offenbar die Aufzugstation und rechts direkt an dem Gebäude gab es drei überdachte Abstellplätze für die Autos. Gegenüber des Hauses stieg der mit hohen Buchen bestückte Wald steil an und dann ging sein Blick über das weitläufige Tal unterhalb des Hauses, hinüber zu einer Bergkette, wo die Herbstsonne eine Symphonie der Farben hin zauberte.

Überall leuchteten bunte Flecken in den Wäldern und die Luft war frisch und klar, nicht so drückend dumpf wie im Rheintal.

„Ich muss sagen, das gefällt mir.“

„Hallo ihr beiden.“

Nico drehte sich zu der Stimme um und betrachtete den Mann, der unter die Tür getreten war, genau. Etwas abgenommen hatte er, aber nicht zu seinem Nachteil und langsam ging er dann auf den gleichgroßen Mann zu.

Die Augen wachsam wie immer, das Lächeln gab dem gebräunten Gesicht etwas Jungenhaftes.

„Wer immer mit Jugendlichen zu tun hat, wird selbst lange jung bleiben“, hatte der Professor einmal gesagt.

Rainer Bode war ein lebendiges Beispiel dafür. Sie sahen sich eine Weile an, dann umarmten und drückten sie sich, lange und innig. Sie schwiegen zunächst und Nico ahnte, dass in Rainers Kopf genau das gleiche wie bei ihm passierte.

Ihre letzten gemeinsamen Stunden, oben im brennenden Wald. Das Floß in der Zisterne, die Pfadfinder. Da war das Krachen der umstürzenden Bäume, das Prasseln der Flammen, die Hilferufe.

Und schließlich das Dröhnen der Hubschrauber.

„Ich freu mich so, dass du wieder da bist“, sagte Rainer Bode nach langen Minuten.

„Und ich mich erst.“

Sie sahen sich in die Augen und Nico wusste in jeder Sekunde mehr, dass er heimgekehrt war. Nie wieder würde er woanders sein wollen als hier, bei dieser Mannschaft.

„Wenn für mich dann mal ein paar Sekunden Zeit ist, ich hab noch zu tun.“

Nico verzog den Mund zu einem Lächeln. Diese Stimme, die, seit er sie zum ersten Mal gehört hatte, bis heute gleich geblieben war.

„Bist du zufällig Nico Hartmann? … Leo Meier. Kannst aber Leo zu mir sagen, ich werd diese Tage mit ein Auge auf euch werfen.“

Das war am allerersten Tag und diese Worte würde Nico mit ins Grab nehmen eines Tages.

Er drehte sich um. Leo war eigentlich immer der Mann im Hintergrund, aber genauso wichtig wie all die anderen.

Nico sah in ihm eine Vaterfigur, einen Menschen, dem man blind vertrauen konnte. Ja, väterlicher Freund war genau das Wort, das für ihn zutraf. Sie fielen sich ebenso in die Arme, klopften sich freundschaftlich auf die Schultern.

Leo schob ihn ein Stück von sich.

»Lass dich ansehen. Hm, hast wohl ein bisschen abgenommen? Macht nichts, das kriegen wir schon wieder hin. Aber komm, du musst dich nach der Reise erst mal regenerieren. Hunger und Durst hast du auch, das sehe ich dir an.“

Leo grinste bis über beide Ohren und es gab keinen Grund, ihm zu widersprechen. Leo, wie er ihn kannte. Immer besorgt um die anderen, immer da, wenn man ihn brauchte.

„Du hast wohl recht, aber ich hol nur erst meine Sachen, okay?“

 

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