Boycamp IV – Teil 3

Wenig später betraten sie das Haus, Nico stellte seinen Rucksack in der Diele ab und folgte Leo in den geräumigen Gemeinschaftsraum. Mehrere Tische und Stühle standen darin verteilt, im hinteren Bereich befand sich eine große Eckcouch, ein Flachbild-TV und an der Wand ein offener Kamin. Eine Schwingtür führte in die Küche, sonst zeichnete sich der Raum durch großzügig bemessene Fenster über die ganze Front aus.

„Setz dich, mein Junge, ich bring dir gleich was. Danach sehen wir uns ein bisschen hier um, einverstanden?“

„Klar, kein Problem.“

Nico trat jedoch zuerst an das große Panoramafenster und blickte hinaus in die Landschaft. Es war fast zu schön um wahr zu sein, das waren seine einzigen Gefühle in diesem Augenblick. Hier könnte er alt werden, egal was auch passiert.

Den Gedanken, das alles schon bald wieder mit seiner Bude und der Uni tauschen zu müssen, verdrängte er.

„Schön, nicht?“

Er drehte sich zu Leo Meier um, der mit einem Tablett zu ihm gekommen war.

„Aber nun iss erst mal. Lauter leckere Sachen. Der Koch hier versteht sein Handwerk und wenn ich nicht aufpasse, werde ich das bald büßen müssen.“

Dabei rieb er sich seinen Bauch und grinste. Nico nahm dankend das Tablett und setzte sich auf einen Platz am Fenster.

„Leo, wie geht es dir? Erzähl.“

Leo setzte sich zu ihm und ehe Nico die Brotzeit restlos vertilgt hatte, wusste er, wie es Leo in der Zwischenzeit ergangen war.

»Das war wirklich lecker. Wenn das Standard hier ist, dann muss ich auch auf meine Figur aufpassen. So, und jetzt möchte ich wenn’s geht erst mal meine Räumlichkeiten aufsuchen. Ich brauch ein paar Liter Wasser auf meinem Körper.“

„Gut, komm, ich zeige dir dein Zimmer.“

Sie verließen den Raum und Nico nahm seinen Rucksack auf.

„Die Jungs sind alle hier im Erdgeschoss untergebracht.“

„Dann ist die Stammmannschaft wohl im ersten Stock?“

„So ist das. Da gibt es noch zusätzlich drei freie Zimmer, falls mal Gäste, Eltern oder Verwandte kommen. Drüben hinter der Küche gibt es noch einen separaten Aufgang, da oben wohnt Holzmann und seine Tochter Melanie, wenn sie denn mal hier ist.“

Sie stiegen die Treppe hinauf in das erste Stockwerk und durchquerten den Flur.

„Hier sind wir untergebracht“, erklärte Leo und Nico konnte einen kurzen Blick in eines der Zimmer werfen.

Relativ geräumig waren sie schon, aber für seinen Geschmack etwas zu bieder eingerichtet. Er folge Leo ganz nach hinten, wo eine weitere Treppe nach oben führte. Sie war schmal und steil, man konnte sie eher mit einer Leiter mit breiten Stufen vergleichen. Leo Meier deutete auf die Treppe.

„Hier, nach dir.“

Nico schaute ihn verwundert an.

„Wie, hier hoch?“

„Ja, da hoch.“

Nico wurde neugierig. Der schmale Aufgang ließ nur wenig Licht von oben einfallen und bot etwas Geheimnisvolles. Neugierig stieg er die Treppe nach oben und als er seinen Kopf durch eine breite Luke in den Raum streckte, blieb er wie angewurzelt stehen.

„Leo, bist du sicher?“

Meier lachte.

„Geh weiter, mein Junge, der Tag dauert nicht ewig und ich habe wie schon erwähnt, noch zu tun.“

Der Raum war trotz der schrägen Wände ungewöhnlich groß und hell. Die Möbel schienen eher neu zu sein, auch der Laminatboden hatte noch keine wüsten Gebrauchsspuren. Ein riesiges Fenster befand sich in einem Anbau mit Blick ins Tal und reichte von der Decke bis zum Boden, die ebenso hohe Schiebetür führte hinaus auf einen Balkon.

Nico stellte seinen Rucksack ab.

„Uff, das hab ich nun wirklich nicht erwartet.“

„Es soll dir ja gut gehen hier.“

Mag ja sein, aber so gut? Leo grinste.

„Nun ja, im Keller ist auch noch Platz, aber ich denke, da ist es nicht ganz so spannend. So, ich lass dich jetzt alleine.“

Er sah auf die Uhr.

„Wir werden um zwölf Uhr zu Mittag essen, bis dahin kannst du dich ja einrichten. Die Toilette ist übrigens auf der anderen Seite, gleich neben der Treppe. Mich findest du wenn nötig in der Garage, mein Wagen bockt zurzeit. Also, wir sehen uns.“

Damit verschwand Leo Meier, ohne eine Antwort abzuwarten. Nico trat an das große Fenster und sah erneut gebannt in die weitläufige Landschaft. Vor und unter ihm erstreckte sich das ganze Tal. Als Hotel würde sich das sehr gut hier machen und es dürfte wirklich Glück gewesen sein, dass sie den Zuschlag bekommen hatten.

Dann ließ er sich probehalber auf das in seinen Augen sehr großzügig bemessene Bett fallen.

„Genau meine Kragenweite“, sagte er zu sich selbst.

Dann inspizierte er die Duschkabine, die sorgfältig in die Schräge des Daches einbaut war. Sie besaß sogar ein eigenes, kleines Dachfenster. Schließlich bestückte er den Wandschrank mit seinen Sachen.

Nachdem er alles verstaut hatte, zog er sich aus und stellte sich unter das Wasser. Lange, sehr lange ließ er sich Zeit, seinen Körper einzuseifen. Es tat einfach gut nach der langen Reise.

Er schob die Türe der Kabine beiseite, nahm das Handtuch vom Halter und trat auf die Gummimatte vor der Dusche.

Während er seine Haare frottierte, überkam ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Er konnte sich sehr gut auf diesen siebten Sinn verlassen, auch wenn der ihm zunächst nicht exakt sagen konnte, um was genau er ging. Nico öffnete die Augen und erstarrte.

Mitten im Raum neben dem Tisch stand ein junger Kerl. Hellbraune, gleichmäßig kurz geschnittene und etwas ungezähmte Haare, ein ebenmäßiges Gesicht und von der Figur her seiner eigenen nicht unähnlich.

Bekleidet war der Unbekannte mit einem rot und blau durchwebten Holzfällerhemd sowie verwaschenen Jeans und Sportschuhen. Die ersten Knöpfe des Hemdes standen offen, ließen den Blick auf eine Kette frei und dieser Mensch war Besitzer zweier blitzeblauen Augen, die ihn durch lange, dunkle Wimpern ansahen.

Das sammeln dieser Eindrücke kostete etwas Zeit und deshalb bemerkte Nico zu spät, dass er völlig nackt vor dem Fremden stand. Rasch hielt er sich das Handtuch vor den Bauch.

„Hoppla. Mit.. wem hab ich bitte das Vergnügen?“, fragte er völlig verdattert.

Der Gast räusperte sich.

„Ähm, Entschuldigung, ich wollte nicht so reinplatzen. Ich habe gerufen, aber als keine Antwort kam, hab ich nachgeschaut. Deswegen steh ich jetzt hier.“

Süß, dachte Nico und bezog das zum einen auf seinen Gesamteindruck und zum anderen auf den Dialekt. Anscheinend versuchte sich sein Besucher auf Hochdeutsch, aber damit konnte er seine hiesige Herkunft nicht verbergen.

„Aha“, antwortete er nur und begann, sich allmählich zu fangen.

„Aber dass ich unter Dusche stand, sollte man schon gemerkt haben?“

„Ja, aber da war ich schon hier drin…“

Nico fand es Angesichts dieses nicht uninteressanten Geschöpfs müßig, über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nachzudenken. Am Ende konnte es ja auch genauso gewesen sein und der Junge war nicht hereingekommen, weil er einen Blick auf einen Nackten erhaschen wollte.

„Gut, ja, nimm doch Platz erst mal, ich muss mir nur rasch etwas anziehen.“

Der Junge nickte und setzte sich. Nico hätte bei jedem anderen sicher völlig anders reagiert und ihn mit großer Wahrscheinlichkeit erst ziemlich rüde angemacht und dann im hohen Bogen rausgeschmissen, aber bei diesem jungen Mann machte er eine Ausnahme.

So überraschende und noch dazu ansehnliche Besuche dieser Art hatte er ja sonst nie.

Er ließ das Handtuch einfach fallen und kramte in seinen Sachen im Schrank. Sich jetzt zu zieren wie eine Jungfrau war nicht sein Ding.

Zum einen war er eine solche nicht mehr und zum anderen konnte der Junge ja auch wegsehen, falls ihm der Anblick eines fremden Hinterteils peinlich war. Obgleich er seinen wesentlich interessanteren Körperteil eh schon präsentiert hatte – wenn auch ungewollt.

Er holte ohne Hast eine Boxershort aus dem Fach und zog sie an, dann folgte der Jogginganzug. Mit den Händen fuhr er sich noch rasch durch die feuchten Haare, dann setzte er sich seinem Überraschungsgast gegenüber.

„So, nun erzähl mal, wer und was mir die Ehre verschafft. Ich darf doch du sagen?“

Der Junge spielte mit seinen Fingern und Nico ließ vermuten, dass dies mit seinem Auftritt soeben zu tun hatte. Allerdings war er es nicht gewohnt, dass jemand beim Anblick seines nackten Körpers in Verlegenheit geriet.

„Sicher, kein Problem. Ich heiße Vlado, Vlado Gauer. Meinem Vater gehört unter anderem dieses das Grundstück hier und wir waren gestern schon mal da, um uns vorzustellen. Ich bin jetzt noch mal hochgekommen, weil Herr Stein eine Versicherungspolice unterschreiben musste. Und Herr Stein meinte vorhin, dass Sie gerade angekommen wären und ich Ihnen auch guten Tag sagen sollte.“

„Aha. Also das Sie, das lass mal. Ich heiße Nico, Nico Hartmann.“

Er reichte dem Jungen die Hand. Er achtete immer sehr darauf, wie ihm jemand seine Hand gibt. Schlabberig oder kräftig, gefühlvoll oder kalt und danach schätzte er in der Regel sein Gegenüber ein, auch wenn diese Einschätzung nicht zwingend den Tatsachen entsprechen musste.

Der Junge hatte einen kräftigen, aber nicht schmerzhaften Händedruck. Das konnte immerhin ein Zeichen sein, dass Vlado ein Mensch war, der im Leben stand.

„Ihr kommt aus der Gegend?“, fragte er dann.

Vlado wurde lockerer.

„Ja, wir wohnen unten im Dorf.“

Nico hatte die letzten Minuten nebenher dazu genutzt, sich den Jungen haargenau anzusehen. Es gab nicht den allerkleinsten Anhaltspunkt, wie er dieses Geschöpf einordnen sollte. Der Junge hatte eine fast unnatürlich glatte, reine und gebräunte Haut, volle Lippen, hinter denen weiße Zähne blitzten und sehr schöne Hände, schlanke Finger.

Kein Gramm Fett irgendwo. Nico war es gewohnt, so genau hinzusehen, das schob er seinem künftigen Beruf zu. Aber jetzt war er unglaublich neugierig geworden.

„Und du, was machst du so in dieser – Einöde?“

Vlado lachte.

„Einöde ist gut. Ich mag sie, ich brauch kein Stadtleben. Ich bin hier groß geworden, zumindest die meiste Zeit und ich möchte mal Forstwirt oder so etwas werden. Später irgendwas mit Umweltschutz, denn ich bin sicher, hier wird man in den nächsten Jahren viel ändern wollen. Vor allem im Winter schnüffeln ständig irgendwelche Agenten herum, die hier ein lukratives Wintersportgebiet wittern. Ich möchte zu denen gehören, die das nicht so ohne weiteres zulassen.“

„Klingt interessant. Das heißt, du gehst noch zu Schule?“

„Letztes Jahr, so ist es.“

„Und du hast gesagt, du warst die meiste Zeit hier – wo warst du dann in der anderen?“

„Ich bin drüben in der Tschechei geboren, aber als ich Vier war, hat meine Mutter ihren zweiten Mann hier in Deutschland kennengelernt.“

Er lächelte dabei so aufreizend, dass Nico schlucken musste.

„Und wie lange wohnt ihr hier?“

Mit einer Antwort konnte sich Nico die Frage nach seinem Alter ersparen.

„Dreizehn Jahre sind das jetzt und ich werde hier wohl auch nicht auf Dauer weggehen.“

„Na ja, deine Freundin ist aber vielleicht anderer Meinung.“

Nico konnte sich die berühmte Fangfrage auch dieses Mal nicht verkneifen, nur verpackte er sie diesmal recht unauffällig.

„Nö, kein Problem. Ich hab keine feste Freundin und wenn, dann muss sie genauso denken wie ich. Sie muss sich hier wohlfühlen, sonst wird das nichts.“

Diese Antwort kam so ehrlich und offen, dass es keinen anderen Schluss zuließ: Dieser Junge war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tabu. Unvermittelt stand Vlado auf und trat ans Fenster. Nico stellte sich spontan neben ihn und war ihm so das erste Mal richtig nah.

Der Junge zeigte hinaus in die Landschaft.

„Dieser Wald, das ist meine Heimat, meine Bestimmung, weißt du. Da hinten, gleich hinter den Bergkuppen, liegt schon die Tschechei. Von hier bis dort kenne ich zwar nicht jeden, aber fast jeden Baum.“

Erst jetzt fiel Nico auf, dass das ganze Tal unter ihnen völlig ohne Zivilisation war. Kein Haus, keine Scheune, kein Stall. Einfach bloß Natur. Nur ganz rechts unten sah man die ersten Häuser des Dorfes.

Vlado zeigte in die Ferne.

„Da hinten, da liegt Lesní čarodejníc. Oder zu Deutsch: Hexenwald.“

„Du kannst tschechisch?“

Für Nico lag nahe, dass es diese Sprache war.

„a, klar. Meine Mutter unterhält sich öfter mit mir in der Sprache, wir wollen sie nicht verlernen.“

„Hexenwald. Klingt mystisch. Ich denke, die Ecke hier ist voller Geschichten und Sagen.“

Nico wunderte sich über diese Art der Konversation. Hatte er sich je mit diesem Thema beschäftigt? Dieser Junge löste scheinbar etwas in ihm aus, was er noch nicht so richtig verstand.

„Es ranken sich sehr viele Sagen um diese Gegend.“

Unvermittelt änderte Vlado dann das Thema.

„Aber du, du hast ja noch gar nichts von dir erzählt.“

Nico war so gefangen von Vlados Erzählungen, dass er sich dabei völlig vergessen hatte. Aber nun war sie wieder da, jene Stelle, an der noch immer ein wenig stolperte. Er holte tief Luft und erinnerte sich an Worte, die ihm in letzter Zeit im Kopf herumschwirrten.

„Du stehst über den Dingen. Es gibt keinen Grund für Versteckspiele mehr, die Zeit ist vorbei. Du bist angesehen, man mag dich, achtet dich und verlässt sich auf dich. Und es sind die wichtigen Leute in deinem Leben, die dich schätzen und lieben. Alle anderen zählen nicht, auch wenn du es manchmal nur schwer glauben willst.“

Er drehte sich zu Vlado um und entschied in diesem Moment, nie wieder anders auf solche Fragen zu antworten.

»Ich studiere Sozialwissenschaften in Göttingen und möchte später, wenn es möglich ist, auch einmal solche Camps leiten. Hier mache ich jetzt ein Praktikum.“

Vlado sah ihn mit seinen leuchtend blauen Augen an.

„Herr Stein hat mir und meinem Vater alles über das Projekt erzählt, ich finde das echt Klasse was ihr da macht.“

Nico versuchte, beim Thema zu bleiben.

„Ansonsten ist mein Leben eher belanglos. Habe mich erst vor kurzem von meinem Lebensgefährten getrennt, er war wohl nicht so der Richtige.“

Was dann kam, verblüffte Nico so, dass er zunächst sprachlos blieb. Ein Zustand, an den er sich in der Form gar nicht erinnern konnte. Vlado erzählte, als hätte Nico vom Wetter berichtet.

„Tja, die Männer. Frauen können ja schon ziemlich anstrengend sein, aber Männer müssen darüber gar nicht mosern. Die sind untereinander ja auch nicht viel besser.“

Er sagte das mit einem spitzbübischen Grinsen im Gesicht, ohne ironischen Unterton. Aber noch bevor Nico antworten konnte, setzte Vlado fort.

„Ich kannte mal ein schwules Pärchen aus unserer Schule. Bei denen war ab und zu Party angesagt und es war fast grotesk, was die beiden manchmal veranstaltet haben. Da flogen sogar schon mal die Fetzen, aber lieb haben die sich bestimmt bis ans Ende ihrer Tage.“

Nico konnte darauf verzichten ihn zu fragen, ob er etwas gegen Schwule hatte. Zum einen war er dieser trivialen, ewig gleichen Frage satt, zum anderen reichte ihm diese Schilderung. Vlado hätte das nicht auf diese Art erzählt, wenn er Schwulenfeindlich gewesen wäre.

„Und du gehst einfach so auf denen ihre Partys?“

„So lange sie auf der Schule waren, schon, aber seit sie weggezogen sind leider nicht mehr. Ich mochte die beiden und auch die anderen, die da immer mitfeierten.“

Nico fand es irgendwie erstaunlich.

„Interessant.“

Vlado sah auf die Uhr.

„So, ich muss jetzt aber gehen. Hat mich gefreut, dich kennen zu lernen. Vielleicht sieht man sich mal, ihr seid ja nun eine Weile hier.“

Nico fand diesen Entschluss so auf die Schnelle nicht gut, er musste irgendwie handeln.

„Wenn hier etwas passiert, ich meine, man kann ja nicht wissen, wie erreichen wir euch dann?“

Etwas Besseres war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.

„Unsere Telefonnummern stehen bei Herrn Stein in den Unterlagen, aber wenn du willst, können wir ja die Handynummern tauschen.“

Natürlich war Nico klar, dass die Adresse und alles andere hier irgendwo in den Papieren stand, aber darum ging es ihm nicht.

Sie tauschten die Nummern, wobei er doch noch etwas los werden musste.

„Ach, Vlado, eine Frage habe ich noch…“

Sie stand die ganze Zeit im Raum, diese Frage, aber er traute sich nicht so recht. Doch jetzt musste er die Antwort darauf wissen, wie dieser Junge die Einwohner in Bezug auf das Camp einschätzte.

Er schilderte ihm kurz, welchen Eindruck er bekommen hatte.

„Nun ja, was soll ich sagen. Es gab damals ein Riesentheater, als bekannt wurde, dass hier Behinderte untergebracht werden sollen. Ein Volksaufstand wäre zu viel gesagt, aber verschiedene Leute, die hier in der Gegend das Sagen haben, machten regelrecht mobil dagegen. Mein Vater sagt immer, die wollen und müssen sich wichtig tun. Es geht denen nur ums Prinzip. Allen voran der alte Strehler-Bauer.“

Vlado näherte sich ihm plötzlich bedenklich nahe. Er begann zu flüstern.

„Man sagt, er sei sowas wie ein verkappter Nazi.“

Zu Nicos Leidwesen nahm Vlado wieder sittlichen Abstand.

»Es hat viel geholfen, dass das Land meinem Vater gehört, da waren sie am Ende machtlos.“

„Und jetzt sind die Behinderten weg und Jungs aus der Stadt ziehen ein. Was sagen die denn nun dazu?“

Vlado zog die Schultern hoch.

„Die meisten Alten sind das Kämpfen satt, denen ist’s egal. Zumal sie gesehen haben, dass es nichts bringt. Klar, es sind auch welche dabei, die wollen das nach wie vor nicht. Sie fürchten was weiß ich alles: Diebstähle, Raub, Mord, Drogen. Bei den männlichen Jugendlichen hier dürfte der Grund, warum sie dagegen sind, ein anderer sein: Die haben Angst, eure Jungs könnten eine Konkurrenz für sie werden. Die paar Mädchen, die hier leben, möchten sie schon gern für sich beanspruchen. Aber das ist meine Meinung.“

„Sind die Jugendlichen im Dorf auch gewalttätig?“

„Gewalttätig will ich so nicht sagen, aber kriminell sind da schon einige. Es wird schon mal was gestohlen oder mutwillig kaputt gemacht. Halt ganz so, wie anderswo auch. Aber Nico, mach dir darüber keine Gedanken. Es sind nicht alle Jugendlichen hier so, bei weitem nicht. Ich gebe zwar zu, dass ich hier nur zwei gute Freunde habe, aber das reicht mir. Mit den anderen bin ich nie wirklich in Kontakt gekommen.“

„Und der Strehler-Bauer?“

„Der hat den größten Hof hier, vor allem Vieh. Kühe, Schafe, Pferde, Hühner und was weiß ich noch alles. Er hatte immer schon großen Einfluss auf die Leute und er war es auch, der gegen das Heim Stimmung gemacht hat. Er hofft immer noch, Bürgermeister hier werden zu können und es kann sein, dass der deswegen noch auf seltsame Ideen kommt. Aber mach dir keine Sorgen, da ist auch viel Schau bei der Sache. Okay, ich muss jetzt aber wirklich gehen.“

„Warte, ich begleite dich.“

Sie stiegen die Treppen hinunter und traten vor das Haus. Jetzt bemerkte Nico, dass es bereits empfindlich kühl geworden war. Er fröstelte. Vlado bemerkte das.

„Ist dir kalt? Pass auf, da hat man sich ganz schnell was geholt. Momentan ist ja richtig warm hier oben. Wir hatten aber schon ein paar Mal Frost in den letzen Nächten, da sind sogar kleine Pfützen zugefroren.“

„Es geht schon. Deine?“

Damit deutete Nico auf das Moped, von dessen Lenkstange Vlado seinen Helm nahm.

„Jepp, meine eigene. Damit kommt man hier praktisch überall hin.“

Der Junge schwang sich auf sein Gefährt und startete den Motor. Nico vergewisserte sich, dass sie alleine waren und bevor Vlado seinen Helm aufsetzen konnte, sagte er noch:

„Schön, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Wäre toll, wenn wir uns öfter sehen könnten.“

Er zwinkerte dabei und klopfte dem Jungen auf die Schulter.

„Ganz meinerseits. Ich denke schon, dass wir uns noch öfter über den Weg laufen.“

Dann hob den Daumen und gab so viel Gas, dass der Sand spritze. Doch er fuhr nur wenige Meter, drehte dann eine rasant enge Kurve und bremste scharf vor Nicos Füßen wieder ab.

Wegen dem knatternden Motor musste er rufen: „Wenn du kannst und willst, zeige ich dir morgen ein bisschen die Gegend.“

„Sehr gern. Ich seh zu, wie sich das einrichten lässt. Ruf mich einfach an.“

Vlado nickte, schob sein Gefährt etwas zurück und brauste endgültig davon. Nico sah ihm nach, bis er auf dem Weg hinunter in den Wald verschwand, dann er lief ein Stück zum Hang neben Haus, wohin jetzt noch die tiefstehende Sonne schien, setzte sich ins Gras, riss einen Halm aus und kaute darauf herum.

Was für ein famoser Auftakt. Vlado war sehr netter Kerl, irgendwie unkompliziert und offen. Und schlecht aussehen war auch etwas anderes. Er gehörte zu jenen Dingen, die Nicos Leben bereicherten, einfach schön machten.

Dass er sich vorstellen konnte, mit diesem Jungen intim zu sein, hatte nichts zu sagen, keine Bedeutung. Das war nun mal seine Eigenart und sie bezog sich grundsätzlich auf alle Jungs, auf die er ein näheres Auge geworfen hatte.

Mit einem Mal zählte dieser Tag nicht mehr, der kommende begann, sein Denken zu steuern. Vielleicht einen ganzen Tag mit Vlado da draußen? Einzig die Frage, was ihn so schnell und heftig zu diesem Jungen hinzog – darauf fand er keine Antwort.

„Na, schon etwas eingelebt?“

Rainer Bodes Stimme tat auch gut. Irgendwie tat alles gut, was hier passierte. Nico nahm den Halm aus dem Mund.

„Ich denke, das wird noch dauern. Ich brauch ja einen ganzen Tag alleine für den Palast da oben.“

Bode setzte sich neben ihn.

„Palast. Es ist eine Dachwohnung, mehr nicht.“

„Findest du?“

„Ach Nico, dir soll es diese Zeit hier doch gut gehen und dazu gehört nun mal eine zünftige Unterkunft. Nimm es hin, frag nicht, fühl dich wohl hier, okay?“

„Ich frage mich ja nur, womit ich das verdient habe. Ich hab in eure Zimmer kurz rein sehen können und das ist kein Vergleich.“

„Hast du schon vergessen, dass wir mit Zelten angefangen haben? Wir sind nicht anspruchsvoll und darum haben wir beschlossen, dich da oben einzuquartieren. Aber komm jetzt, es ist Zeit fürs Mittagsessen.“

Nico beschloss, dieses Thema nicht wieder anzuschneiden. Falk und Leo saßen bereits in dem Gemeinschaftsraum an einem runden Tisch direkt am Panoramafenster. Sie setzten sich dazu und Nico schwärmte dann geradezu.

„Es ist wirklich ein ganz tolles Ambiente hier, aber ich hab noch gar nicht alles gesehen.“

„Hat dich der junge Mann gefunden?“, fragte Stein und legte dabei seine Serviette zurecht.

„Ja, hat er. Darum konnte ich mich jetzt noch nicht richtig umsehen.“

„Du hast ja noch zwei Tage Zeit dafür“ mischte sich Rainer in das Gespräch.

Nico richtete sich an Falk Stein.

„Er hat übrigens gefragt, ob er mir morgen ein bisschen die Gegend zeigen kann.“

„Es liegt ja noch nichts an. Klar, kein Problem.“

Stein möchte es geahnt haben, aber hören, wie Nicos innere Stimme Hurra rief, das konnte er nicht. Wenig später betrat ein weiteres, neues Gesicht den Raum. Der Mann war groß, sehr kräftig, einen dichten, grauen Bart, abgewetzte Cordhosen und Holzfällerhemd.

Nico vermutete in ihm einen Eingeborenen dieser Einöde. Die tiefe Stimme, die jetzt „Guten Abend zusammen“, sagte, passte genau zu ihm. Der Mann setzte sich neben Falk Stein und blickte in die Runde.

„Ah, da ist ja dann wohl alles vollzählig?“, brummte er, als sein Blick auf Nico fiel.

Spontan lehnte sich der Mann weit zurück und gab ihm hinter Steins Rücken die Hand.

„Peter Eidamer, Hausmeister über dieses hübsche Anwesen, unter anderem.«

Er lachte und so wie er das tat, schätze ihn Nico als einen humorvollen Menschen ein.

„Nico Hartmann.“

„Na, dein Zimmer schon bezogen?“

Dass ihn Eidamer auf Anhieb duzte, störte ihn nicht.

„Ja, hab ich. Das ist ja echt ganz toll.“

„Es hat recht wüst ausgesehen da oben. Leider hat es der vorherige Bewohner ziemlich verlottern lassen. Aber ich denke, so hält es jetzt wieder eine ganze Weile.“

„So, hier kommt das Essen“, tönte es dann recht auffällig mitten in das Gespräch.

Der Mann, der einen Servierwagen vor sich herschob, stellte sich bei Nico dann als Erich Holzmann vor.

„Ich versuche immer, das Beste aus allem zu machen, manchmal gelingt es mir auch«, lachte der Koch und stellte den Wagen ab.

„Bedienen Sie sich.“

Nach dem Essen zog sich Nico in seine neuen Gemächer zurück. Der Tag forderte nun seinen Tribut in Form von Müdigkeit und er hatte das Bedürfnis, jetzt ganz alleine zu sein.

Er zog sich bis auf seine Short aus, lümmelte sich auf das Bett und schloss die Augen. Ja, hier gefiel es ihm. Die Gegend, das Haus, sein Zimmer, sein Team überhaupt. Und es gab da auch Vlado.

Zwar flackerten kurz die Gesichter der Jugendlichen von der Straße auf, aber er ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Dann fiel wohlige Müdigkeit über ihn her und wenig später sank er in einen ruhigen Schlaf.

Nach dem Blick auf die Uhr schreckte er hoch. So tief, fest und lange hatte er seit ewigen Zeiten nicht mehr geschlafen, und nun stand die Sonne bereits über den Bergen und warf ihr gleißendes Licht in eine Ecke seines Zimmers.

Weil wohl niemand gekommen war um ihn zu wecken, hatte er den ganzen Nachmittag und die komplette Nacht verschlafen. Die Luftveränderung und sicher auch die Unruhe der vergangenen Tage mochten ihre Schuld daran gehabt haben.

Zum Frühstück kam er jetzt wohl auch schon zu spät, darum musste er sich nicht unnötig abhetzen. Er stand auf, streckte sich dass die Knochen knirschten, trat an das Fenster und blickte hinunter ins Tal. Sehen konnte er dort aber nichts, unter dem blauen Himmel hing da unten dichter Nebel.

Langsam öffnete er die Schiebetür und trat hinaus auf den Balkon. Kalte Luft schlug ihm entgegen und er schätzte, dass die Temperatur nur wenig über dem Gefrierpunkt lag.

Schnell hüpfte er danach unter die Dusche und unter dem heißen Wasser wurde er dann richtig wach und der Gedanke an Vlado kurbelte seine Lebensgeister zusätzlich an. So abstrus dieser Gedanke auch war: die Vorstellung, doch etwas mit dem Jungen anfangen zu können, heizten seine Triebe gehörig an.

Aber er beherrschte sich. Als er später den Gemeinschaftsraum betrat, befand sich dort wie erwartet niemand mehr. Nur sein Gedeck stand einsam auf einem Tisch. Kaffeeduft erfüllte den Raum und Nico bekam auf einmal richtig Hunger.

Holzmann kam plötzlich aus der Küche und hielt eine Kanne Kaffee sowie einen Korb mit Semmeln und diversen Brotaufstriche in den Händen.

„Na, gut geschlafen?“

„Ja, das kann man wohl sagen. Entschuldigung, ich hab ja sogar das Abendendessen verpennt.“

„Macht nichts, du hast nichts versäumt. Dein Chef war wohl oben, aber er sagte anschließend, er würde es nicht fertig bringen, dich zu wecken.“

Es schien hier so üblich zu sein, dass man jüngere Personen duzte.

„Aha. Und wo sind denn die jetzt alle hin? Ich sehe und höre gar niemanden.“

„Runter gefahren ins Dorf. Einkaufen und solche Sachen. Bis Mittag wollen sie wieder zurück sein.“

Der Koch schenkte eine Tasse Kaffee ein.

„So, nun lass dir das mal schmecken. Du kannst dir Zeit lassen.“

Nico hielt den Koch auf.

„Sagen Sie, gibt’s etwas besonderes da unten im Dorf?“

Erich Holzmann setzte sich neben ihn.

„Wenn ein Lebensmittelladen mit Wäscherei, eine Kirche, zwei Gasthöfe und ein Friedhof etwas besonderes sind, dann ja. Ansonsten ist es ein mausetotes Nest, wo mancher nicht begraben sein möchte. Ich übrigens auch nicht.“

„So schlimm? Wie viel Einwohner hat es eigentlich?“

„Genau weiß ich es auch nicht, aber es sind etwa Vierhundert.“

„Und Sie? Leben Sie schon immer hier?“

„Hier oben schon eine Weile, ja. Ich bin hierhergekommen, als das Behindertenheim gebaut wurde. Hab mich mittlerweile an die Einsamkeit gewöhnt. Meine Tochter kommt mich ab und zu besuchen, da habe ich dann etwas Abwechslung.“

Nach einer Frau in seinem Leben fragte Nico nicht, es würde einen Grund geben, warum er sie nicht erwähnte. Und er fragte auch nicht nach unschönen Vorkommnissen, das würde mit Sicherheit so oder so ans Licht kommen.

„Gut, ich muss wieder in die Küche. Schönen Tag noch.“

Damit verschwand er und Nico griff erneut zu, wobei es ihm bei der Auswahl an Zutaten schwer fiel, wo er weitermachen sollte. Als er die dritte Semmel anbiss, vibrierte sein Handy. Plötzlich geriet er in innere Aufregung und nervös nestelte er das Telefon aus der Hosentasche.

Nein, es war nicht Falk, nicht Leo oder sonst wer. Vlados Name stand im Display.

„Guten Morgen“, begrüßte er seine neue Bekanntschaft und die Freude über den Anruf musste er nicht verbergen.

„Hallo auch. Ausgeschlafen? Du klingst schon so munter.“

„Das ist nur gestellt“, lachte Nico.

„Und, kannst du weg?“

„Ja, ich habe heute frei bekommen.“

„Ist ja klasse. Wann soll ich kommen?“

„Du könntest eigentlich schon hier sein.“

„Okay, bis gleich.“

Nico nahm die Semmel mit und aß sie auf dem Weg nach oben. Er hatte schon am Abend zuvor beschlossen, seinen Kampfanzug anzuziehen, nur wollte er beim Frühstück nicht damit im Haus herumlaufen.

Diese Klamotten waren einfach praktisch, weil sie einiges aushielten, man damit nicht aufpassen musste und nebenher betonten sie seine Figur. Fand er wenigstens. Angesichts der Temperaturen schnappte er sich noch seine Jacke, die Handschuhe, die Stoffmütze und den Schal.

 

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