Boycamp IV – Teil 4

Bevor er anschließend das Haus verließ, ging er an der Küche vorbei. Holzmann werkelte an Töpfen und Pfannen herum, als Nico keck um den Türrahmen hineinsah.

„Ich bin unterwegs, falls man mich wer suchen sollte.“

Der Koch nickte.

„Gut, dann weiß ich Bescheid.“

Gerade war Nico aus der Tür, rief ihn der Koch zurück.

„Halt, warte.“

Holzmann griff in einen Karton und nahm einen Apfel heraus.

„Da, fang.“

Geschickt fing Nico das Obst auf und bedankte sich. Draußen zog er die Stoffmütze tiefer in die Stirn und über die Ohren und wickelte den Schal enger, im Schatten war es recht kühl. Er sah seinem weißen Atem nach und eigentlich würde er doch viel lieber in Short und T-Shirt hier stehen.

Der Himmel über der Landschaft war unnatürlich Dunkelblau, weiße Stellen unter den Bäumen und im Schatten zeugten noch vom Frost der letzten Nacht und wenn die Vorhersagen stimmten, konnte es kommende Woche in höheren Lagen durchaus Schneefälle geben.

Er wurde durch das knatternde Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Vlados Moped war nicht zu überhören und dann tauchte er auch schon damit auf. Herzklopfen war für Nico nichts Neues, das kannte er schon zur Genüge, aber immer wieder war es anders und an diesem Morgen besonders heftig.

Den Grund konnte er nicht finden, denn es war letzten Endes so gut wie ausgeschlossen, dass er mit Vlado jene Dinge machen könnte, wie es in seiner Fantasie der Fall war. Wie am Abend zuvor sauste Vlado auf ihn zu, um kurz vor ihm scharf abzubremsen.

Nicos Gesicht hellte sich noch mehr auf, als er seine Klamotten sah. Ganz in Camouflage, genau wie er. Sein Helm verbarg zwar das hübsche Gesicht, aber da waren diese Augen, denen er schon in der ersten Minute anheimgefallen war. Sie strahlten ihn förmlich an.

„Hi. Bist du soweit?“

Er deutete auf seinen Kopf.

„Ich hab aber keinen Helm.“

„Brauchst hier nicht. Ich fahr schon vorsichtig.“

Ganz wohl war Nico dabei nicht, er musste dem Jungen halt einfach vertrauen. Außerdem war es absolut unmöglich, deswegen nicht hinter diesem Geschöpf Platz zu nehmen. Etwas, das Nico so nebenher eingefallen war.

Man konnte als Sozius zwar durchaus gesittet Platz nehmen, aber man konnte dem Fahrer auch sehr, sehr nahe kommen. Letzteres würde er auf jeden Fall ausprobieren. Er setzte sich hinter Vlado und hielt sich sofort an dessen Hüfte fest.

War da schon wieder so ein außergewöhnlicher, sinnlicher Duft? Viele Jungs riechen gut und aufregend irgendwie, auf diese Erfahrung konnte er ohne Zweifel zurückgreifen. Allerdings war es im Grunde unmöglich, denn das Gefährt spie genug üble Abgase in die Luft.

Also Einbildung, dachte er und der Junge fuhr dann auch zügig los. Er packte die Hüften seines Fahrers etwas kräftiger, klammerte die Knie fester an seine Oberschenkel und ließ die Landschaft in sich vorüberziehen.

Sollte Vlado später fragen, warum er sich so krampfhaft an ihm festgehalten hat, könnte er behaupten, dass er vor Fahrten mit Motorrädern und ähnlichen Gefährten eigentlich Angst hätte. In solchen Fällen fand er Notlügen eigentlich ganz praktisch.

Sie fuhren hinunter ins Tal und Vlado rief nach hinten, dass alles, was sie jetzt abfuhren, seinem Vater gehörte. Nico versuchte dabei die Kälte, die sich langsam durch seine Kleidung fraß, zu ignorieren. Schließlich wollte er sich nicht als jammernde Frostbeule outen, obwohl ihm schon danach zumute war.

Wie lange sie so durch die Landschaft sausten, vermochte er nicht zu sagen, aber alles in allem war das kein Grundstück mehr, sondern bereits ein richtiges Land. Er fragte sich, wie

sein Vater zu so etwas kam, denn kaufen, dafür hätte er sicher Millionär sein müssen.

„Das ist fast alles an die Bauern verpachtet“, erklärte Vlado nachträglich.

Irgendwann bog er von der Straße ab und fuhr dann über einen schmalen, unbefestigten Waldweg steil nach oben. Er fuhr Slalom, um am Boden liegenden Ästen, Steinen, Wurzeln und Schlaglöchern auszuweichen.

Dann wurde ihnen der Weg unvermittelt durch einen Zaun versperrt. Vlado hielt an.

„Absteigen.“

Nico folgte artig der Anweisung.

„Was ist das denn?“

„Gehört auch uns, aber dahinter gibt es gefährliche Stellen. Wir mussten das absperren, damit keiner zu Schaden kommt.“

Damit holte er einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und öffnete das Gittertor. Nachdem sie auf dem Gelände waren, schloss er das Tor wieder ab.

„Was ist denn hier so gefährlich?“

„Wirst sehen. Komm, wir fahren weiter.“

Es ging weiter recht steil nach oben, nach und nach wurde der Wald lichter, schließlich kamen sie auf einer fast kahlen Bergkuppe an.

Nachdem sie abgestiegen waren, offenbarte sich Nico ein fantastischer Blick.

„Das ist ja eine Wucht.“

„Ja, nicht? Hier oben bin ich auch oft. Man kommt sich vor wie ein Herr über all das da unten.“

Nun, das passt doch, dachte Nico. Immerhin war es abzusehen, dass all das einmal diesem Jungen gehören würde. Vlado nahm den Helm ab und fuhr sich durch seine wirren Haare.

Wild, dachte Nico, ein kleiner wilder Bengel.

Und zu allem Unglück eine winzig kleine Sünde wert. Vlado gefiel ihm immer besser. Er musste vorsichtig sein, dass ihn seine Gefühle nicht übermannten. Der Junge ging ein Stück voraus, bis er an einer scharfen Abbruchkante anhielt.

„Pass auf, hier geht es steil bergab und man kann nicht wissen, oder der Boden stabil genug ist.“

Vorsichtig näherte sich Nico dem Abgrund und sah respektvoll in die Tiefe.

„Wie weit geht das denn da runter?“

„Sechzig Meter etwa.“

„Und kein Zaun?“

„Eben. Solche Abhänge gibt es hier einige und es war billiger alles komplett einzuzäunen statt jede Stelle einzeln.“

„Und das gehört auch alles euch?“

„Ja. Es wurde hier einmal Basalt abgebaut, aber das ist lange her. Da, schau mal.“

Vlado nahm ihn am Arm und zog ihn zu sich, noch etwas näher zum Abgrund.

„Da unten, siehst du den roten Fleck?“

Vlado hielt ihn recht fest und damit waren ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Dabei hätte Nico ihm auf diese kurze Distanz lieber noch tiefer in diese wunderschönen Augen geschaut.

Er nickte nur, als er die Stelle dort unten sah.

„Das ist das Camp. Und siehst du die Baumreihe da hinten im Tal?“

„Klar.“

„Das ist die Grenze unserer Länderei. Und all das sind wir heute gefahren.“

Vlado malte einen großen Kreis mit seinem Arm in die Luft. Kein Zweifel, er war stolz darauf. Mittlerweile war etwas Wind aufgekommen und trotz der Sonne wurde es Nico kalt. Er hätte noch etwas anziehen sollen.

„Das wird jetzt aber frisch hier oben.“

„Das ist noch angenehm. Warte mal noch ein paar Wochen, dann sind Minus Fünfzehn Grad oder weniger keine Seltenheit. Und wenn unten Wind ist, gibt’s hier oben Sturm.“

„Aber noch ist ja Herbst.“

Vlado winkte mit dem Zeigefinger.

„Im Tal vielleicht, aber hier oben ist er schon vorbei. Wir bekommen bald Schnee, das fühle ich.“

Nico bekam allein von der Vorstellung eine Gänsehaut.

„Aber komm, ich weiß eine Stelle, da ist’s angenehmer.“

Die hätte Nico auch gewusst. Unten im Camp gab es eine kleine, aber feine und beheizte Dachwohnung mit einem großen Bett. Rasch schüttelte er den Gedanken wieder ab. Sie stiegen auf das Gefährt und nach wenigen Minuten bog Vlado in einen Hochwald ab.

Die Fahrt ging querfeldein, bis sie in einer von der Sonne beschienenen Waldlichtung ankamen. Große Felsbrocken verhinderten, dass der Wind dorthin kam und sofort nach dem absteigen stellte sich Nico breitbeinig mit geschlossenen Augen und erhobenen Armen in die Sonne.

„Ah, aufwärmen. Das tut gut.“

Als er nach einer Weile die Augen öffnete, saß Vlado vor ihm und schien ihn die ganze Zeit betrachtet zu haben. Nico wusste zunächst nicht, wie er diese Blicke interpretieren sollte; jedenfalls konnte er die Mimik dieses Jungen noch nicht einschätzen.

Er setzte sich neben ihn. Vlado lehnte sich auf seine Ellenbogen und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

„Es geht mich ja nichts an, aber… du bist so ganz anders.“

„Bitte?“

„Na ja, ich hab dir ja von meinen beiden Freunden erzählt.“

„Ah, die zwei Schwulen, die sich dauernd wieder zusammenraufen“, grinste Nico.

Er war sehr gespannt darauf, wie dieses Gespräch weitergehen würde.

„Ja.“

„Und? Was willst du mir damit sagen?“

„Ich dachte immer, man könnte Schwule auf hundert Meter erkennen. Weil, das ist bei den beiden der Fall.“

Nico lächelte. Das war es also.

„Tja, das geht vielen Anderen aber auch so.“

Vlado nahm einen kleinen Ast und stocherte damit im trockenen Laub.

„Es ist ja nur, wie kommst du eigentlich in deinem Job damit zu Recht? Wenn ich es richtig verstehe, kommen am Montag ja nur Jungs ins Camp.“

Einer, der sich Gedanken darüber machte. Nico fand es erstaunlich.

„Stell dir einfach einmal vor, du wärst dort an meiner Stelle und es kämen lauter Mädchen. Glaubst du, das wäre etwas anderes?“

Vlado blickte nachdenklich, direkt in Nicos Augen.

„Stimmt. So hab ich das noch gar nicht betrachtet.“

„Weißt du, einer der vielen Vorurteile gegen uns Schwule besteht doch darin, dass wir grundsätzlich und ausnahmslos allen Männern nachstellen. Würden sich diejenigen, die diesen Unsinn behaupten, mal näher damit beschäftigen, kämen sie zu der Erkenntnis, dass im Umkehrschluss alle Männer grundsätzlich und ausnahmslos allen Frauen hinterher wären. Merkst du diesen Schwachsinn?“

„Hm, die Heteros könnten von dir viel lernen, glaub ich.“

Nico lachte laut und ehrlich.

„Theoretisch magst du vielleicht Recht haben, praktisch wollen sie davon nichts wissen. Da stellen sich irgendwelche Typen mit dem Rücken an die Wand und jammern – bleib ja vom meinem Arsch weg – in Wirklichkeit würden wir es lieber mit einem Mauseloch treiben, als mit solchen Gestalten. Für die meisten haben wir falsche Gefühle, stellen kleinen Jungs nach und sind geil auf jeden greifbaren Männerarsch. Das ist schon grotesk und diese Impertinenz kann wütend und zugleich traurig machen. Aber das wird sich nie ändern.“

„Meinst du?“

„Ich werde es sicher nicht mehr erleben. Es ist zwar viel passiert in der Vergangenheit, aber ich glaube, wir haben eine gewisse Grenze erreicht. Vielmehr wird man uns kaum zugestehen. Klar, das ist meine eigene Meinung, aber ich glaube nicht, dass ich so sehr falsch damit liege.“

„Aber da sind doch so viele Sachen wie der Christopher Street Day zum Beispiel. Ich war zwar noch nie da, aber da sind doch immer so viele Zuschauer. Und die Medien berichten darüber ja auch.“

„Schon recht, aber die meisten Leute kommen nicht unbedingt dorthin, weil sie Schwule wirklich mögen. Denen gefällt so ein Umzug, die schätzen das Event an sich, das Theater drum herum. Aber diese schrillen Veranstaltungen werden ihren tiefen Sinn irgendwann an die Gewohnheit verlieren. Ändern wird sich dann bloß das Motto, an das sich nach zwei Tagen keiner mehr erinnern kann. Frag mal die Zuschauer, was sie von den Schwulen an sich halten. – Solange sie mich in Ruhe lassen, hab ich nichts gegen sie – ist die häufigste Antwort und das wird sie auch bleiben. Und da sind wir dann schon wieder bei Punkt eins.“

„Na ja, vielleicht hast du Recht. Aber ich find dich richtig… nett.“

Nico grinste.

„Und deswegen hast du mich vorhin so angestiert?“

„Angestiert? Hab ich gar nicht. Betrachtet vielleicht. Du hast halt eine tolle Figur, das ist mir aufgefallen.“

Komplimente dieser Art freuten Nico, zumal es lange her war, dass er solche Worte gehört hatte.

„Ganz toll ist sicher etwas anderes und außerdem kannst du ja prima mithalten.“

Er spürte, wie ihn das Gespräch zu erregen begann.

„Aber ist es nicht ganz fair.“

„So? Was denn?“

„Du hast mich schon vollkommen nackt gesehen. Nicht bloß meinen Hintern, sondern sogar meinen besten Freund. Andererseits kann ich mir deshalb kein rechtes Urteil über dich bilden. In dieser Beziehung, meine ich.“

Vlado wurde ganz leicht rot.

„Das war Zufall. Hab ich nicht gewollt.“

„Sicher, aber es ist passiert.“

„Und was sollen wir jetzt mit dieser Erkenntnis anstellen?“, fragte Vlado mit einem süßen Grinsen im Gesicht.

Nico wusste, dass er seine Worte an dieser Stelle sehr genau wählen musste. Er wollte keinesfalls den Eindruck erwecken, ihn anzumachen.

„Im Grunde nichts. Ich habe außerdem reichlich Übung darin, Männer auszuziehen, mit den Augen meine ich.“

Vlado grinste noch breiter.

„So? Dann weißt du doch, wie ich aussehe – ohne Klamotten mein ich.“

„Ja, aber wie in allen Dingen bleibt immer ein gewisses Maß an Unsicherheit. Es könnte – wohl bemerkt könnte – ja auch anders sein, als es mir meine Vorstellungskraft vorgaukelt.“

Vlado lachte.

„Meine Güte. Vor zwei Tagen hätte ich jeden einen Deppen genannt, der mir prophezeit hätte, dass ich mich heute über so ein Thema unterhalten würde.“

„Die meisten wollen es ja auch tatsächlich nicht.“

„Und wie schätzt du meine Meinung dazu ein? Ich meine, wie ich dazu stehe?“

„Dazu musst du dein Gewissen befragen, nicht mich. Ich kann dir nicht in den Kopf gucken und insofern weiß ich nicht wirklich, wie ich dich einschätzen soll.“

Vlados Blick ließ nicht locker. Nico kannte nur sehr wenige Menschen, die einem so direkt und dauerhaft in die Augen sehen konnten. Falk Stein gehörte zum Beispiel zu ihnen.

Da er ihn jetzt in der Tasche drückte, nahm er den Apfel aus seiner Schenkeltasche, rieb ihn am Stoff und biss hinein.

„Du kannst dir ja mal ernsthafte Gedanken darüber machen“, sagte kauend.

„Ich esse auch gern und viel Obst“, kam Vlado dann vom Thema ab.

„Hat mir der Koch zugeschmissen. Magst ein Stück?“

Vlado nickte und spontan hielt ihm Nico den Apfel so hin, dass er nur hinein zu beißen brauchte. Doch als er seinen Mund öffnete und zubeißen wollte, zog Nico den Apfel wieder zurück.

So ging das zweimal hin und her, bis Vlado plötzlich aufsprang und nach dem Apfel zu greifen versuchte. Nico stand sofort auf den Beinen und eine wilde Jagd durch den Wald begann.

Mit jedem Meter, den Nico rannte und mit jedem Haken, den er um die Bäume schlug um von Vlado nicht erwischt zu werden, fühlte er sich freier. Fort waren alle Gedanken, nichts war in der Lage, diesen Spaß zu trüben.

Sie lachten, Vlado fluchte und rief, aber Nico gab nicht nach. Bis zu dem Augenblick, wo er über eine Wurzel stolperte und längelang ins Laub fiel. Sekunden später ließ sich Vlado direkt auf ihn fallen und griff nach der Hand, die den Apfel hielt.

Schwer atmend lagen sie so da und Nico gab endlich nach. Er ließ es zu, dass Vlado den Apfel nahm und genoss es ausgiebig, dass sie so hautnah beieinander waren. Und jetzt roch er ihn wirklich.

Betörend und aufregend kitzelte der Duft des Jungen seine Sinne. Vlado machte keine Anstalten aufzustehen, stattdessen sah er ihm wieder unglaublich intensiv in die Augen während er herzhaft in den Apfel biss.

„Wie ist das eigentlich, wenn man einen Mann küsst? «, fragte er dann kauend und wie aus heiterem Himmel.

Nico reagierte sofort. Eine großartige Beschreibung gab es dafür sowieso nicht.

„Probiers doch einfach aus. Es passiert nichts, glaub mir.“

Vlado verharrte unschlüssig auf der Stelle.

„Ich weiß nicht…“

„Du hast gefragt, ich hab geantwortet, es liegt nun an dir. Übrigens ist Schwulsein keine ansteckende Krankheit.“

Frech kniff ihm Vlado in die Nase.

„Haha, das ist mir bekannt.“

Nico war es in diesen Minuten völlig egal, ob das nur ein kleines Spielchen war oder ob es etwas zu bedeuten hatte. Er genoss diese Nähe jede Sekunde und ließ es sich dabei auch nicht nehmen, seine Hände auf Vlados Rücken zu legen und einfach abzuwarten.

Er wollte auf jeden Fall passiv bleiben, um den Jungen nicht zu erschrecken.

Vlado biss erneut in den Apfel und hielt nun ein Stückchen zwischen seinen Zähnen. Ohne etwas zu sagen, näherte er sich damit Nicos Mund und diese Aufforderung war eindeutig.

Es war lange her, dass Nico auf diese Art bis aufs Äußerste erregt wurde. Er öffnete seinen Mund und biss ein Stück des Obstes ab. Dass sich dabei ihre Lippen berührten, konnte er unmöglich verhindern und zudem unterstellte er Vlado darin pure Absicht. Der Junge erhob sich langsam und schüttelte den Kopf.

„Das war jetzt blöd, glaub ich“, sagte er leise.

Nico lächelte und diesmal nahm er dafür die verführerische Variante.

„Was war blöd? Ich bin begeistert, wie du das hinbekommen hast.“

Vlado stand auf und klopfte sich das Laub von seinen Klamotten.

„Findest du?“

„Nun, es ist das bisher trickreichste Manöver gewesen, um zu einem Kuss zu kommen, dass ich je erlebt habe.“

„Aber es war ja gar kein richtiger Kuss.“

„Oh, ich denke, ein Gefühl dafür hast du trotzdem bekommen, oder?“

„Na ja…“

Nico beließ es so wie es war, unter Umständen würden sie kein Wort mehr darüber verlieren. Es hatte beiden Spaß gemacht und was Vlado am Ende mit diesem Erlebnis anfing, musste er ihm selbst überlassen.

Sollte er allen Vermutungen zum Trotz jedoch für gewisse Dinge empfänglich sein, dann musste sich Nico, wie so oft schon, langsam an diese Grenze heranpirschen. Ja nicht plump oder gar derb und obszön, damit könnte er sich rasch selbst aus dem Boot werfen.

Es gab öfter mal Zeiten, wo er sich ausgemalt hatte wie es wäre, eine Frau zu sein. Dann könnte er mit Vlado wahrscheinlich ganz anders umspringen. Wenn man es nur geschickt genug anstellte, konnte man – global gesehen – praktisch jeden Mann haben, der einem gefiel. Zumindest könnte eine Nacht dabei herausspringen und niemand würde das ernsthaft interessieren. Gut, für eine anständige Frau geziemt sich so etwas nicht, aber einfacher wäre es trotzdem.

Abrupt brach er dann seine Gedanken ab. Er war keine Frau, würde keine werden und wollte, richtig betrachtet, auch gar keine sein. Ein Leben ohne den munteren und manchmal auch frechen Lümmel zwischen seinen Beinen war für ihn schlichtweg überhaupt nicht denkbar.

Die Sonne war inzwischen tiefer gewandert, ihre wärmenden Strahlen verschwanden und nach wenigen Minuten wurde die Temperatur sofort unangenehm.

„Vlado, mir wird kalt. Wollen wir gehen?“

„Ja, klar.“

Auf der Fahrt zurück ins Camp wurde es dermaßen kalt, dass Nico an nichts anderes dachte als eine heiße Dusche. Kurz dachte er auch an den kommenden Tag, der letzte, bevor der Ernst des Lebens hier begann.

Ein Sonntag also noch, den er mit Vlado verbringen könnte. So der das überhaupt mochte.

Mit bibbern in der Stimme fragte Nico nach der Ankunft am Camp höflicherweise nach, ob er noch mit reinkommen wollte.

„Nein danke, Nico. Ich muss unter die heiße Dusche, sonst hol ich mir doch noch was. Sehen wir uns morgen?“

Nicos Herz hüpfte und die Kälte in seinem Körper wich einer bekannten, sehr angenehmen Wärme.

„Ich würde mich riesig freuen.“

Vlado zog die Schultern noch.

„Wenn du noch mal frei bekommst.“

„Ich bin mir sehr sicher.“

Nico würde mit Falk schon klar kommen, da hatte er keine Bedenken.

„Okay, dann Anruf. Tschau bis morgen und schlaf gut.“

Nico sah ihm nach. Was für ein Tag, was für ein Junge. Dieses harmlose Spielchen um den Apfel würde er nie wieder vergessen. Noch nie war so wenig geschehen und doch so viel passiert.

Er kam gerade recht zum Abendessen, die anderen hatten bereits angefangen. Er zog sich deshalb auch nicht erst um und setzte sich direkt zu ihnen.

„Und, wie war dein Ausflug?“

„Kalt zwar, aber interessant, Falk. Vlado hat mir die Gegend gezeigt, also das Land, welches ihnen gehört. Das ist ja fast alles hier.“

Viel wurde nicht mehr geredet an diesem Abend, alle waren irgendwie müde und nicht sonderlich gesprächig.

Auch Nico hatte keine große Lust zum reden. Er führte das darauf zurück, dass er in Gedanken noch immer mit dem Apfel in der Hand von Vlado durch den Wald gejagt wurde.

Nach der Dusche wählte er sich in das Internet ein, chattete kurz mit Walter wegen der Wetterlage und rief seine Mails ab. Eine davon stammte von Marco.

Ihn hatte er beinahe vergessen. Er schämte sich dafür, aber Vlado hatte ihm in ganz kurzer Zeit dermaßen den Kopf verdreht, dass alles andere ausgeblendet wurde. Es war nicht richtig, das wusste er, nur, Marco war so weit fort und wer wusste schon, wann sie sich wiedersehen. Außerdem war mit Vlado außer einem Fast-Kuss ja nichts passiert.

Hallo Nico.

Ich hoffe, du bist gut im neuen Camp angekommen. Erzähl doch mal, wie es dort ist, ich bin so neugierig.

Hier gibt es nichts Neues, ich muss nächsten Mittwoch wieder in die Klinik. Ich hoffe, dass ich das bald einmal hinter mir habe.

In Liebe

Marco

Nico las die kurze Mail ein paar Mal, besonders den Schlusssatz. Dann lehnte er sich angespannt zurück. Noch immer war er sich über seine Zukunft nicht im Klaren und die Sache mit Vlado machte es verdammt nicht einfacher.

Er sah Marco genau vor sich, da in dem Krankenzimmer. Diese Augen und überhaupt alles. Aber was war es wirklich? Eine Flucht nach vorn, nur weg aus Stefans Armen in die eines anderen?

Obwohl er sich Abstand erbeten hatte? Das Wort Beziehungsunfähig tauchte wieder auf. Oder war es reiner Egoismus? Die Bestätigung, dass er jeden Jungen haben konnte, den er wollte? Das Wort Schwanzgeil kreiste wie ein Blitz durch seinen Kopf.

Du begehrst ihre Körper, nicht sie selbst. Sie bedeuten dir nichts. War es endlich Zeit für ein schlechtes Gewissen? Er seufzte laut auf. Er hasste diese Momente, in denen er sich selbst in Frage stellte.

Sie kamen ab und zu wie schwarze, furchterregende Geisterreiter aus dem Nichts und verwirrten ihn. Vlado, nur eine weitere Zahl am Ende? Er ist hübsch, er ist anständig und gebildet.

Das, was du suchst, verinnerlicht er. Aber bist du in Wirklichkeit nur scharf auf seinen Körper? Du willst mit ihm schlafen, sonst nichts. Stefan ist danach einfach geblieben, das war vielleicht der Fehler.

Er antwortete auf die Mail, fasste sich aber kurz.

Hallo Marco.

Du wirst es schon schaffen. Irgendwann musst du nicht mehr ständig in die Klinik.

Ich bin gut angekommen und es ist herrlich hier. Ich werde dir ein paar Fotos schicken, damit du dir ein Bild machen kannst.

Sonst ist noch nichts los, die Jungs kommen Übermorgen und ich bin schon sehr gespannt.

Bin etwas knapp mit der Zeit, ich schreibe dir bald ausführlich.

Halt die Ohren steif und bis bald.

Dein Nico

Nachdem er die Mail abgeschickt hatte, fühlte er sich keinesfalls besser, eher das Gegenteil. Er hätte noch viele Seiten schreiben können, aber im Augenblick war ihm nicht danach. Er wollte das nachholen, so schnell wie möglich.

Marco hatte ein Anrecht darauf. Erst jetzt fiel ihm der kleine Stapel Papiere auf dem Tisch auf. Neugierig nahm er das erste in die Hand. Jäh holte ihn nun der Alltag ein. Sicher war es Falk gewesen, der ihm die Personalien der Jungs hierher gelegt hatte.

Er räkelte sich auf dem breiten Bett und begann, die Akten durchzulesen.

Irgendwann brannten seine Augen, aber er hatte sein Pensum durch. So viel wie früher ließ sich aus den Unterlagen der Jungen nicht entnehmen.

Name, Herkunft, Alter und bei einigen eine etwas längere Vorgeschichte. Die Fotos konnte man vergessen, das waren alles miserable Kopien aus den Personalausweisen.

Er versuchte nach mehrmaligem lesen, die Neuankömmlinge auswendig aufzuzählen:

André, Berlin, 18

Benjamin, Hannover, 18

Jonas, Mannheim, 19

Ruben, Heilbronn, 20

Nils, Hamburg, 18

Sascha, Dortmund, 19

Maik, München, 19

Timo, Stuttgart, 18

Und dann kehrten Erinnerungen zurück. Fast alle Namen, die mit den Camps in Verbindung standen, hätte er aufzählen können. Was ihn nun hier erwartete war genau so unmöglich vorher zu sagen wie alles andere davor auch. ´

Immer hatte es harmlos angefangen und war immer in irgendeinem Chaos geendet. Vielleicht würde diesmal alles in Ruhe und Frieden ablaufen. Wenn nicht, wollte er sich rechtzeitig aus der Affäre ziehen.

Nicht mehr überall dabei sein und vor allem wollte er nun endlich wissen, ob er nicht doch Abstand zu den Jungen wahren konnte. Einfach immer auf Distanz bleiben, das konnten die anderen doch auch.

Vlado war kein Problem, er gehörte nicht dazu und was mit ihm werden würde, sollte sich einfach ergeben. Sein Blick fiel irgendwann auf die Uhr und er erschrak. Es war bereits nach Mitternacht geworden.

Er löschte das Licht und rollte sich in die Decke ein. Aber schon nach wenigen Minuten war ihm klar, dass diese Nacht kurz, sehr kurz werden würde. Vlado begann sehr lebhaft von seinen Gedanken Besitz zu ergreifen, als wäre er höchstpersönlich hier im Raum und raubte ihm den Schlaf.

Nicos Fantasie schaltete sich ein und alles andere aus. Obwohl todmüde, befriedigte er sich und mit Vlado im Kopf war das eine schnelle Angelegenheit. Schon nach wenigen Minuten wischte er sich das Sperma von seinem Bauch.

Das Handy tanzte auf dem Nachttisch und holte ihn aus irgendwelchen abstrusen Träumen, die sich in dieser Nacht noch eingestellt hatten. Die war eindeutig zu kurz und unbeholfen tastete er nach dem Handy.

Verschwommen erkannte er den Schriftzug und nahm das Gespräch an.

„Ja?“

„Guten Morgen. Es klingt, als wärst du noch im Bett irgendwie?“

„Irgendwie ist gut. Ich schlafe noch.“

„Ah, dann darf ich wann bei dir sein?“

„Fahr los, bis dahin bin ich fertig.“

Nico konnte nicht sehen, dass Vlado spitzbübisch grinste.

„Ok, ich nehme dich beim Wort. Bis gleich.“

Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf und rieb sich die Augen. Seinem Gefühl nach war es mitten in der Nacht, doch da pflegte die Sonne nicht zu scheinen und mit einem Blick auf die Uhr war ihm klar, dass er das Frühstück schon wieder verpennt hatte.

Er entschuldigte sich das damit, dass es vielleicht der letzte Tag gewesen war, an dem er hier so lange ausschlafen konnte. Er stand auf und trat ans Fenster. Erneut waberten Nebel unten im Tal und das Thermometer zeigte zwei Grad über Null.

Aber der Himmel war wolkenlos und es schien ein schöner Tag zu werden. Eine Stufe auf seiner Treppe knarrte unüberhörbar, das hatte er schon ein paar Mal registriert und so wusste er Augenblicke später, dass jemand auf dem Weg zu ihm nach oben war.

So geschah das auch jetzt und kaum hatte er sich dorthin gedreht, erschienen ein Blondschopf und dann ein grinsendes Gesicht.

„Vlado? Wieso..? Bist du geflogen?“

Der Junge lachte.

„Nein, ich hab von der Tür unten angerufen. Ich wollte dir wenigstens zum aufstehen Zeit lassen.“

Nico schüttelte grinsend den Kopf.

„Komm rein, ich muss noch rasch unter die Dusche. Aber ich werde nicht mehr splitternackt vor dir herumtanzen. Falls du darauf spekuliert hast, muss ich dich enttäuschen.“

 

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