Boycamp IV – Teil 5

Vlado lachte.

„Mist. Aber vielleicht gibt’s unten ja inzwischen einen Kaffee für mich.“

Nico wollte noch sagen, dass er doch bloß Spaß gemacht hätte, aber Vlado war schneller. Augenblicklich verschwand er und Nico schüttelte den Kopf. Als er später den Duschvorhang aufzog, waberte ihm ein Duft nach Kaffee und frischen Semmel in die Nase.

„Was ist denn jetzt hier los?“

Vlado stand am Tisch und hob theatralisch die Arme.

„Da dein Frühstück ausgefallen ist, hat mir der Koch das mitgegeben“, und deutete dann auf den Tisch, wo ein Tablett abgestellt war. Die Menge, die Holzmann da draufpackt hatte, reichte eher für vier Personen.

„Dieser Mann.. Klasse. War jemand von uns noch unten?“, wollte Nico wissen.

„Nein, die sind wohl mit letzten Vorbereitungen für morgen beschäftigt.“

Nico bekam ein schlechtes Gefühl. Er durfte sich nicht so abgrenzen, schließlich war er Teil der Mannschaft. Er überlegte ob es gut war, schon wieder mit dem Jungen zu verschwinden.

Zuerst jedoch lockte ihn das Frühstück, das im Vlado auf dem Tisch angerichtet hatte.

„Komm, greif mit zu, Vlado, das ist für mich alleine viel zu viel.“

Sie stürzten sich danach förmlich auf die knusprigen Semmel, Frühstückseier, die Marmelade, die Wurst und den Kaffee.

„Du, Vlado, ich möchte erst mal mit meinem Chef sprechen ob es ihm recht ist. Ich meine, dass ich schon wieder das Haus verlasse. Die machen da unten rum und ich wähne mich in einem Luxushotel. Da hab ich jetzt kein gutes Gewissen dabei. Er lässt mich sicher gehen, aber ich möchte, dass er sich dazu nicht überwinden muss.“

Vlado nickte heftig.

„Tu das, ich meine, Ärger müssen wir uns keinen einhandeln. Du bist ja noch ne Weile hier.“

Nico fand Stein etwas später im Gemeinschaftsraum, während Vlado draußen auf ihn warten wollte.

„Morgen Falk.“

„Hallo Nico. Ausgeschlafen?“

„Ja ja, aber es war eine kurze Nacht, weißt du. Ich hab mich noch durch die Personalien gelesen. Dann ist es spät geworden und schon hab ich wieder verpennt.“

Die Unsicherheit in seiner Stimme ärgerte ihn und er wusste, dass Falk das bemerkte.

„Schon in Ordnung, es geht ja erst morgen hier richtig los. Und, was sagst du zu unseren Pfleglingen?“

„Hm, allzu viel steht ja bei den meisten nicht drin. Ich denke, da kann noch so manche Überraschung an den Tag kommen.“

„So ist es. Ich bin diesmal auch viel mehr gespannt als sonst.“

„Übrigens, Falk, liegt heute etwas an?«, versuchte Nico auf den Punkt zu kommen.

„Nicht direkt. Warum fragst du?“

„Na ja, also, wenn ihr mich nicht braucht… Vlado möchte mir noch etwas mehr von der Gegend zeigen.“

„Ja, dann mal los, es ist ja der letzte freie Tag in dem Sinne. Es wäre aber gut, wenn du am Abendessen teilnehmen würdest. Wir wollen die allgemeine Lage besprechen und die Rollen verteilen. Außerdem wird Doktor Schnell seine Aufwartung machen.“

Nico nickte eifrig.

„Auf jeden Fall bin ich dann da.“

„Schön, dann bis heute Abend.“

Vor der Haustür atmete Nico sichtlich erleichtert auf.

Vlado saß gespannt auf seinem Moped und schaute ihn an.

„Und, hast du frei?“

„Ja, hab ich. Aber um Neunzehn Uhr müssen wir auf alle Fälle zurück sein.“

„Kein Problem, wir werden sicher nicht so lange brauchen. Komm, wir sollten aber jetzt los.“

„Gut, ich hole nur rasch meine Sachen.“

Kurz darauf erschien er wieder auf dem Vorplatz und nachdem er sich die Handschuhe angezogen und den Schal um den Hals gewickelt hatte, setzte er sich auf den Sozius. Vlado reichte ihm eine Kamera nach hinten.

„Hier, häng die um und pass auf sie auf.“

Nico nahm den Gurt und legte ihn um den Hals, dann fuhr Vlado den Weg hinunter.

„Wofür brauchen wir die?«, rief Nico gegen den Fahrtwind.

„Man sollte nie ohne rausgehen, wer weiß was wir alles zu sehen bekommen.“

Diesmal steuerte Vlado das Gefährt direkt hinunter in den Ort. Nico überkam bei der Einfahrt in die Dorfstraße ein ungutes Gefühl. Er musste an die jungen Leute denken, die ihm und Falk auf dem Weg zum Camp begegnet waren und diese negative Ausstrahlung schlug ihm plötzlich wieder entgegen.

Dabei lag der Ort idyllisch im Sonnenlicht, es war kaum jemand zu sehen; ein paar Autos fuhren ihnen entgegen, ansonsten war es ruhig. Man mochte kaum glauben, dass hier Leute wohnten, die sich gegen alles Neue und Unbekannte zur Wehr setzten. Der Widerstand gegen die Behinderten oder auch möglicherweise auch jetzt gegen die Jungen zum Beispiel.

Die Häuser waren gepflegt, wie auch die Gärten davor und dahinter. Nichts gammelte oder verrottete. Fast ein Vorzeigeort, dachte Nico. Er rutsche Vlado in den Rücken, als der wegen einer kleinen Katze auf der Straße bremsen musste. Da war plötzlich wieder diese Nähe zu dem Jungen und die konnte Nico in dieser Stimmung brauchen.

„Wo sind die denn alle?«, rief er nach vorn.

„In der Kirche da drüben. Die sind hier ziemlich gläubig, die Kirche ist jeden Sonntag voll.“

Auch noch etwas, das gar nicht passte: Wie konnten gläubige Menschen so über andere denken und richten? Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Vlado verlangsamte seine Fahrt plötzlich und steuerte an den Bordstein. Erst jetzt sah Nico den Polizisten, der durch seinen Fahrer verdeckt war.

„Guten Morgen, Josef.“

„Hallo Vlado. Na, wieder auf Tour?“

„Ja, ich zeig unsrem Gast ein bisschen die Gegend.“ Dabei deutete er hinter sich und stellte den Motor ab.

Nico wusste nicht so recht, was er mit der Situation anfangen sollte, zumal er keinen Helm aufhatte. Aber er behielt die Fassung und reichte dem noch jungen Polizisten die Hand.

„Nico Hartmann.“

„Josef Mosler, Hauptwachtmeister.“

Zuerst kam das scannen, dann alles andere. Mosler war vielleicht Mitte oder auch Ende Zwanzig, groß und recht ordentlich gebaut. Er war auffällig braun und die grünen Augen wachsam. Seine Uniform stand ihm sehr gut, sogar die Mütze passte wie angegossen.

„Sie sind von oben?«, wollte Mosler wissen, ohne einen Befehlston hören zu lassen und zeigte in die Richtung, wo das Camp lag.

Seine Stimme war angenehm und deutlich verständlich. Kein Mann, der seinen Beruf heraushängt.

„Ja, ich komme vom Camp.“

„Camp? Ah ja, ich wusste gar nicht, dass das so heißt. Na denn, schönen Tag noch, ich muss mich eilen, die Predigt beginnt gleich.“

Mosler tippte mit dem Finger an seine Mütze, nickte freundlich und sah den beiden noch eine Weile nach.

Schon nach wenigen Minuten hatten sie den Ort durchquert. Vlado folgte der Straße noch etwa einen Kilometer, dann bog er in einen gut ausgebauten Waldweg ab und der führte wieder steil nach oben.

Es folgten viele enge Kurven, die Vlado nur langsam nehmen konnte, sein Moped schnaufte bei der Steigung wie in den letzten Zügen. Dann steuerte er auf einer kurzen, geraden Strecke direkt auf einen Bauwagen zu.

Nico stockte für einen Moment der Atem. Ein ähnliches Gefährt spielte schon einmal eine große Rolle in seinem Leben. Die Sturmnacht und Manuel fielen ihm sofort ein.

Vlado fuhr noch ein Stück darauf zu, dann hielt er an und stellte den Motor ab.

„Eine kleine Pause für mein Maschinchen. Das ist doch sehr anstrengend für Kiste.“

Sie stiegen ab, wobei Nico den blau angestrichenen Wagen nicht aus den Augen ließ. Vlado bemerkte das.

„Ist etwas mit dem Wagen da?“

„Nein, nicht direkt.“

„Der gehört den Waldarbeitern hier, aber da sind schon lange keine Arbeiten mehr gewesen. Ich benutze ihn ab und an wenn das Wetter mal ganz schlecht ist hier oben.“

„Aha.“

„Du hast doch was, oder?“

„Nun ja, es betrifft wirklich den Wagen dort. Aber das ist eine lange, sehr lange Geschichte.“

Vlado öffnete eine der beiden Satteltaschen und nahm zwei Äpfel heraus. Grinsend reichte er Nico einen davon.

„Hier. Damit wir nicht wieder drum kämpfen müssen.“

Nico lächelte.

„Oh. Schade. Aber trotzdem, das ist lieb. Danke.“

Sie setzten sich auf eine alte, marode Holzbank gegenüber dem Wagen. Die Sonne schien durch das licht gewordene Blätterdach und wärmte die beiden auf.

„Nico, magst du mir die Geschichte erzählen?“

„Hm, ich weiß nicht, so besonders ist sie nicht.“

„Das würde ich dir gern glauben, tu ich aber nicht. Komm, leg los.“

Je länger Nico dann über seine Erlebnisse von damals erzählte, desto deutlicher wurden die Bilder. Es erstaunte ihn, an welche Details er sich noch genau erinnern konnte. Und auch daran, wie sehr er Falk damals gehasst hatte. Zu diesem Zeitpunkt hätte er niemals daran gedacht, diesem Mann einmal blind zu vertrauen.

„Das ist ja heftig gewesen«, sagte Vlado nachdenklich, nachdem Nico zu Ende erzählt hatte.

„Ja, das war es. Ein trauriger Auftakt für meinen künftigen Beruf. Aber irgendwie doch wieder nicht. Die Erfahrungen von damals und auch in den Camps danach haben mir und den anderen viel geholfen.“

„Da hast du ja noch viel mehr zu erzählen, glaub ich. Aber wir sollten jetzt weiterfahren, so ein Tag ist immer verdammt kurz.“

Sie fuhren den Weg immer weiter nach oben, bis die Bäume weniger wurden. Nach der letzten Kurve tauchte auf dem Gipfel des Berges ein hoher Sendemast auf.

„Wir sind oben«, sagte Vlado kurz und fuhr bis zu der Umzäunung des Geländes.

„Das ist ein Umsetzer für Fernsehen, Radio und Mobilfunk. Das Tal unten würde sonst im absoluten Medienschatten liegen.“

Nun wusste Nico auch, woher das rote Licht stammte, das er von seinem Zimmer aus sehen konnte.

Kaum waren sie abgestiegen, hielt ihn Vlado am Arm.

„Hörst du das?“

Nico lauschte angestrengt, dann nickte er.

„Was ist das?“

„Könnten Motorräder oder so was sein.“

„Kommt denn hier jemand hoch?“

„Eigentlich selten. Im Winter schon eher, da gibt’s weiter drüben eine Abfahrt ins Tal. Aber um diese Jahreszeit hab ich hier höchstens mal ein paar Wanderer gesehen. Aber Fahrzeuge dürfen hier eigentlich nicht rauf.“

„Hey, wir sind ja auch raufgefahren.“

Vlado zwinkerte. „Schon, aber für Mopeds ist es bis zum Sender hier erlaubt. Aber komm, lass uns hier verschwinden, ich möchte wissen wer das ist und die müssen uns nicht sehen.“

Inzwischen waren die Motoren lauter geworden und es stand außer Zweifel, dass es mehrere Motorräder gewesen sein mussten.

Vlado schob sein Moped ein Stück am Zaun entlang und dann in eine dichte Hecke. Von dort hatte man einen guten Überblick über den Platz, ohne selbst gleich gesehen zu werden. Angespannt warteten die beiden, bis sie die drei Motorräder sehen konnten.

„Aha«, gab Vlado von sich.

„Kennst du die?“

Er nickte.

„Sind allesamt aus unserem Ort.“

Da war es wieder, dieses Gefühl. Nico kniff die Augen zusammen und starrte zu den sechs Personen hinüber, die jetzt abgestiegen waren. Keiner von den Männern trug Motorradbekleidung, sie waren trotz der Kälte eher sommerlich angezogen. Vom Alter her schätze sie Nico um die Zwanzig.

Die Gruppe war zu weit weg, als dass man verstehen konnte, was sie sagten. Den Gebärden nach jedoch waren sie nicht auf einem klassischen Sonntagsausflug.

„Was die hier wohl machen?“

„Keine Ahnung, Nico. Warten wir mal ab.“

Nach ein paar Minuten legte einer der Männer einen Rucksack auf den Boden, öffnete ihn und nahm einen Bolzenschneider heraus. Damit ging er, gefolgt von den anderen, schnurstracks auf den Zaun zu.

„Die wollen hier einbrechen«, flüsterte Nico erregt.

„Ja, sieht so aus. Aber da gibt’s nichts zu holen. Es sei denn..“

„Es sei denn was?“

„..die wollen vielleicht sabotieren.“

Vlado, das müssen wir verhindern.“

„Wie? Die sind in der Überzahl und fackeln wohl auch nicht lange, wenn sie uns sehen. Ich habe dir ja erzählt, dass es ein paar im Ort gibt, die immer mal wieder Ärger machen. Und die sind jetzt allesamt hier schön versammelt.“

Vorsichtig nahm Vlado die Kamera in die Hand und begann, Aufnahmen der Szene zu machen.

Der Mann setzte den Bolzenschneider an und knipste nach und nach den Maschendrahtzaun auf, bis er hindurch passte. Zwei aus der Gruppe blieben vor dem Zaun, die anderen schlüpften durch das Loch auf das Gelände und liefen zu dem kleinen Gebäude hin, das am Fuß des Sendeturms stand. Was dort geschah, entzog sich den Blicken der beiden heimlichen Beobachter.

Sie verhielten sich dann so lange still, bis die Gruppe den Ort wieder verließ. Nach einer kurzen Wartezeit schob Vlado sein Moped aus dem Versteck, dann betrachteten sie den Schaden am Zaun. Sie vermieden es jedoch, das Gelände selbst zu betreten.

„Trotz allem sollten wir hier nicht herumtapsen, wer weiß was da noch an Spuren gesichert werden muss«, stellte Vlado fest.

„Was haben die da bloß gemacht?“

„Weiß nicht. Ich ruf jetzt erst mal den Mosler an, der soll hier herauf und sich das ansehen.“

Vlado nahm die Kamera und betrachtete die Fotos auf dem kleinen Monitor.

„Man kann die sehr gut erkennen«, freute er sich darauf hin. Er nahm sein Handy und wählte eine Nummer aus dem Telefonbuch, dann schilderte er dem Polizist kurz den Zwischenfall.

„Er kommt rauf, so schnell er kann. Wir sollen hier warten.“

„Na, hoffentlich dauert das nicht. Ich muss pünktlich unten sein.“

„Er nimmt den Dienstwagen, da ist er in ein paar Minuten hier.“

Nico atmete laut durch.

„Es ist immer dasselbe. Wo ich bin, ist Unheil. Ich kann’s manchmal einfach nicht fassen. Aber eines kann ich dir jetzt schon sagen: Ich werde mich aus all dem raushalten.“

„Nu ja, schon richtig, aber wenn es um den Zeugenstand geht, hast du keine Chance.“

Nicos Blick ging nach oben, zu der Mastspitze. War der Morgen noch ohne Wolken gewesen, tauchten jetzt die ersten am Himmel auf.

„Das Wetter wird sich ändern«, sagte er fast zu sich selbst.

„Hatte ich ja schon gesagt. Mich würde nicht wundern, wenn im Lauf der nächsten Woche hier der erste Schnee fällt. Besonders natürlich hier oben.“

„Wie hoch sind wir hier eigentlich?“

„Die Mastspitze ist ziemlich genau 1270 Meter über dem Meer. Der Mast selber ist fünfundsechzig Meter hoch.“

„Und das Camp?“

„Etwa tausend Meter. Das reicht oft auch für frühen Schnee. Allerdings war’s die letzten Winter eher gnädig.“

„Hab ich schon gehört. Kann ja so bleiben. Schnee ist im Prinzip nicht meins.“

Der Polizeiwagen näherte sich ihnen.

„Siehste, der ist schon da. Mal gespannt, was er sagt.“

Mosler stieg aus dem Wagen.

„Na, so schnell sieht man sich wieder. Was ist denn passiert?“

Nico ließ Vlado reden, er nickte nur hin und wieder, um seine Erläuterungen zu bestätigen. Er musste sich heraushalten, im Hintergrund bleiben.

Vlado zeigte dem Polizisten die Fotos im Kameramonitor.

„Gut, ich nehme die Speicherkarte an mich. Ich schau mich jetzt mal kurz da drin um, ihr bleibt so lange hier.“

Die beiden blickten dem Polizisten durch den Zaun hinterher.

„Sonderlich aufgeregt war der aber jetzt nicht, oder?“

„Warum sollte er, Nico? Es ist niemand mehr da drin und der schaut sich nur um, macht Meldung und Bericht, das ist sein Job.“

Wenige Minuten später kam Mosler zurück.

„Da ist nichts zu sehen, nicht die Spur eines Einbruchs oder so. Was die hier wohl gesucht haben? Egal. Ich werde das jedenfalls der Zentrale melden, mehr kann ich jetzt auch nicht tun.“

Mosler verabschiedete sich kurz und knapp und fuhr zurück.

„Wir sollten auch langsam heimwärts steuern. Ich hab dir den höchsten Punkt in der Gegend zeigen wollen, das ist mir ja trotz allem auch gelungen. Wollen wir?“

„Gern.“

Zwar vergaß Nico nicht, dass dies der letzte gemeinsame Tag mit Vlado gewesen war, von morgen an würde sich das auf wenige Stunden reduzieren, wenn überhaupt. Aber er begann sich in dieser Umgebung plötzlich unwohl zu fühlen.

Er nahm hinter Vlado Platz und versuchte auf dem Rückweg, an andere Dinge zu denken.

„Halt mal an«, rief er nach vorn, als sie wieder an dem Bauwagen angekommen waren.

Vlado bremste.

„Absteigen?“

„Ja, einen Moment wenigstens.“

Nico ging mit langsamen Schritten auf den Bauwagen zu. Deutlich vernahm er plötzlich das Heulen des Sturms, das brechen von Holz und Kunststoff, die Schreie der Jungen. Es gab einen leichten Stich ins Herz, als er Manuel dort liegen sah. „Wirklich tot ist jemand erst, wenn er vergessen wird“. Diese Worte schwirrten durch seinen Kopf.

„Und da kann man rein?“

„Ja, er ist offen. Aber willst du dir das nach alldem wirklich antun? Und wohnlich ist es da drinnen wahrlich auch nicht.“

„Vlado, das alles ist vorbei, und doch nicht. Ich möchte wirklich.. nur mal reinschauen.“

Langsam öffnete er die Tür. Knarrend gaben die Scharniere nach, ein dumpfer Geruch nach Feuchtigkeit, Schimmel und Moder schlug ihm entgegen.

Nachdem er einen Schritt vorgegangen war und sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, atmete er erleichtert auf. Das war alles kein Vergleich zu damals. Ein kleiner Tisch, auf dem zwei verstaubte Bierflaschen und ein abgebrannter Kerzenstummel standen, zwei alte Stühle, eine verschlissene Couch und jede Menge Spinnweben in den Ecken waren alles, was den Raum zierte.

Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und ohne Zögern griff er nach ihr. Die Berührung tat gut und sie war gerade jetzt wichtig.

„Du versuchst, deine Vergangenheit zu bewältigen, nicht wahr?“

Nico drehte sich um und sah Vlado in die Augen.

„Ich weiß gar nicht, was ich will. Kann schon sein, ja, aber was soll mir das bringen?“

Vlado legte den Arm um seine Schulter. Ihre Köpfe trennten nun noch wenige Zentimeter.

„Ich habe es so verstanden, dass du dich schuldig fühlst. An all dem was passiert ist glaubst du, die alleinige Verantwortung zu tragen. Ich war nicht dabei, aber ich bin mir sehr sicher, dass du dich irrst. Du hast doch alles getan, um genau das zu verhindern. Man hat dich nicht ernst genommen, dir nicht geglaubt. Dafür kannst du nichts. Und nun versuchst du, dich zu rechtfertigen. Gründe zu finden, warum das alles passiert ist. Lass es, Nico, du machst es dir nur unnötig schwer.“

Nico beugte sich ein wenig vor, so dass sich ihre Stirne berührten. Es war schön, dass Vlado dies zuließ. Er spürte seinen Atem, nahm den Duft des Jungen wieder deutlicher wahr. Es war doch so unendlich wichtig, jemanden in solchen Situationen um sich zu haben. Einen Menschen, der einen versteht, der trösten kann. Doch bevor er noch weiter in diese melancholische Stimmung fallen konnte, nahm er sich zusammen.

„Komm, lass uns fahren, wahrscheinlich hast du Recht.“

Während der Rückfahrt klammerte sich Nico fest um Vlados Taille und lehnte seinen Kopf an

dessen Rücken. Zeitweilig schloss er sie Augen, verließ sich voll und ganz darauf, dass Vlado sie trotz Abwärtsfahrt sicher nach Hause bringen würde.

Die Erinnerungen kosteten Kraft und sie legten sich auf sein Gemüt. Irgendwie freute er sich nun auf den morgigen Tag, da ihm ab dann sicher kaum mehr Gelegenheit blieb, in dieser Stimmung zu verharren.

„Wir haben noch Zeit. Magst du einen Sprung mit zu mir kommen? Ich mach uns etwas Heißes zu trinken.“

Vlados Angebot kam, als sie den Wald verließen und es klang verlockend. Waren noch fast zwei Stunden Zeit bis zum Abendessen.

„Gerne.“

Nico antwortete ohne Hintergedanken. Näher, als sie sich gestern im Wald und vorhin dort am Wagen gekommen waren, würden sie sich nie kommen. Nico bedauerte das zum einen, zum anderen entsprach es aber dem, was er sich vorgenommen hatte.

Kurz vor der Einfahrt in den Ort fuhr Vlado wieder langsamer.

„Da drüben, die Weide. Siehst du den Mann zwischen den Kühen?“

„Ja. Was ist mit ihm?“

„Das ist der Strehler-Bauer, von dem ich dir erzählt habe. Geh ihm am besten aus dem Weg, dann gibt’s keine Konflikte.“

Das trug nicht zu Nicos Erheiterung bei. Wenigstens wusste er jetzt, wie dieser Mensch aussah und er würde jede Begegnung mit ihm konsequent meiden. Aber er musste Falk darüber berichten und auch die anderen sollten wissen, mit wem sie es möglicherweise noch tun bekamen.

Vlados Elternhaus lag am Ortsrand auf einer leichten Anhöhe. Zweifellos gehörte das Haus zu den schönsten hier.

Sie fuhren die Einfahrt hinauf und Vlado steuerte direkt durch das offene Garagentor.

„Niemand zu Hause?«, fragte Nico, da er kein weiteres Fahrzeug ausmachen konnte.

„Meine Eltern sind heute den ganzen Tag unterwegs, in Weiden bei meiner Tante.“

„Aha.“ Nico wagte nicht zu fragen, wann sie zurückkommen wollten. Auch dadurch nahmen bestimmte Dinge manchmal ihren Lauf.

„Da wird es sehr spät, die haben eine Feier.“

Nico holte tief Luft: Nichts würde passieren, gar nichts. Vlado war vielleicht neugierig, aber nicht schwul und damit war der Fall eh erledigt.

„Komm, wir setzen uns raus auf die Terrasse. Die Sonne scheint dorthin und Wind gibt’s da auch keinen.“

Er folgte seinem Gastgeber durch die sehr schönen, großen Wohnräume nach draußen. Ein herrlicher Blick auf den Ort und die Landschaft eröffnete sich ihm.

„Hier könnt es mir auch gefallen.“

„Das glaube ich dir. Du bist ja trotz allem scheint’s eher ein Naturmensch.“

„Trifft es wohl so, ja.“

Wenig später stellte Vlado eine Kanne Kaffee auf den Tisch und setzte sich direkt neben Nico auf die Gartencouch. Zu direkt, wie Nico fand, aber er sagte nichts. Letztendlich war Vlado ja kein unangenehmer Mensch, dem man aus dem Weg gehen musste.

„So, dann kommen morgen also eure.. Jungs.“

„Ja, ich bin schon ziemlich gespannt. Nach den letzen zwei Tagen hatte ich fast völlig vergessen, warum ich eigentlich hier bin.“

„Daran bin ich aber nicht schuld, oder?“

Nico grinste.

„Sagen wir mal so: Unschuldig bist du nun grade nicht. Bei der Gelegenheit möchte ich mich dafür bedanken. Das waren ein paar sehr schöne Stunden. Bis auf das Erlebnis vorhin, aber da kannst du ja nichts dafür.“

Vlado winkte ab.

„Ach, keine Rede wert. Ich glaube, ich könnte mit dir hier Wochenlang jeden Tag etwas unternehmen.“

„Tja, unter anderen Umständen hätten wir Freunde werden können«, sinnierte Nico.

„Mit Freunde meine ich allerdings das Wort im eigentlichen Sinne.“

Plötzlich stupste ihn Vlado mit dem Finger auf die Nase.

„Das klingt aber, als würde ich dir so gar nicht gefallen.“

Sein Grinsen dabei fand Nico schon als Provokation und auf die musste er reagieren.

„Das hast du jetzt gesagt.“

Vlado setzte sich hoch und die ernste Mine auf.

„Nun sag schon: Bin ich attraktiv oder eher nicht? Kannst es mir ruhig sagen, auf dein Urteil lege ich sehr großen Wert.“

Nico räusperte sich. Er spürte, dass etwas im Gange war und wenn er das verhindern wollte, dann musste er jetzt lügen.

„Schön, wenn du meinst. Du bist ein lieber Kerl, nett, höflich, hilfsbereit.“

„Und weiter?“

„Na ja, was heißt weiter? An der Stelle endet mein Urteil.“

„Das ist aber nicht alles und du hast meine Frage noch nicht direkt beantwortet.“

„Ach so.. attraktiv..“

„Genau.“

„Nun, weißt du, ich habe ja so meine Prinzipien. Ich würde nie und nimmer jedem hinterherlaufen, nur weil der drei Beine hat.“

Krampfhaft versuchte er dabei, ein Grinsen zu vermeiden. Vlado kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen.

„Willst du damit andeuten, dass ich nicht attraktiv bin? Dass ich womöglich ein Allerweltskerl bin, dem man keine Beachtung zu schenken braucht?

 

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