Boycamp IV – Teil 6

Einen Augenblick lang überlegte Nico, ob das ernst oder gespielt war.

„Junger Mann, du hast vergessen dass ich homosexuell und damit sehr vorsichtig mit Komplimenten bin. Gar mancher betrachtete das schon als Annäherungsversuch und da gibt es ganz schnell böses Blut.“

Gelogen hatte er damit allerdings nicht.

Vlados Gesicht überflog ein fast nicht wahrnehmbares Lächeln.

„Du gibst also zu, dass ich attraktiv bin, willst es mir aber nicht so direkt sagen?“

„Man könnte es in dieser Richtung auslegen, ja. Die Gretchenfrage dabei ist, was dir all mein Urteil nützt. Frauen haben meist eine völlig andere Sichtweise, das kannst du nicht eins zu eins übertragen.“

„Sichtweise? Was meinst du damit? Und was haben denn die Frauen jetzt mit dem Thema zu tun?“

„Meine Güte, Vlado. Ich orientiere mich an hübschen Gesichtern, der schlanken Figur mit schmaler Hüfte, schönen Händen und Augen mit langen Wimpern, ein knackiger Hintern ist auch nicht verkehrt. Außerdem mag ich keine Haare auf der Brust. Weiber achten meist auf richtige Prallärsche und auf die Beule in der Hose. Alles andere kommt dann irgendwann danach.“

Vlado begann laut zu lachen.

„Ist das so?“

Nico grinste.

„Also ganz genau weiß ich es nicht, aber ich meine, das mal gelesen zu haben.“

„Und jetzt? Hab ich ein hübsches Gesicht und einen kleinen, knackigen Arsch?“

„Ja, das trifft beides zu. Aber in mein Konzept passt du solange nicht, wie ich nicht weiß, ob du behaart bist wie ein Affe.“

Natürlich wusste er sehr genau dass Vlado unbehaart war, aber um ihn aufzuziehen, passte das gerade sehr gut. Vlado sprang auf und stellte sich vor ihn hin. Provokant langsam begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Eigentlich etwas, das Nico liebend gern selbst getan hätte.

Nach dem vierten Knopf hielt er sich das Hemd zu.

„Und, was meinst du? Bin ich ein Affe?“

„Ich wette um eine Flasche Sekt, dass du kein einziges Haar auf der Brust hast.“

Vlados Gesicht begann in einem niedlichen Rot zu schimmern.

„Sicher?“

„Ich behaupte es, ja.“

Vlado riss sein Hemd auf.

„Tata.“

Erst grinste er, dann verzog er den Mund.

„Ich hoffe, du magst nicht nur den teuren Sekt.“

Nico lachte.

„Das war Quatsch.“

„Nein, nein, du hast die Wette gewonnen. Wir werden schon die Zeit finden, sie zu trinken. Aber ich glaube, wir sollten jetzt ins Camp fahren. Ach, und noch etwas: Wenn meine Ausbildung beendet ist, komme ich zurück und wir beide werden Ranger hier.“

Nicos Gesicht wurde zum ersten Mal richtig nachdenklich.

„Ist das dein Ernst?“

„Nun ja, ich meine, das ist doch keine schlechte Idee, oder? Ich könnte mir das sehr gut vorstellen. Wir beide da draußen, in der Wildnis. Kein Mensch der uns aufregt. Nur der Natur auf der Spur.“

„Allein«, fügte Nico nachdenklich hinzu.

„Allein. Nur wir beide.“

Es war ein Gespinst, dachte Nico, aber ein feines. Verliebte Pärchen sommers auf einer Parkbank hatten sicher manchmal solche Anwandlungen. Aber der Gedanke daran ermunterte ihn, auch wenn das nur ein Luftschloss, im Grunde völlig abstrus und nicht wirklich greifbar war. Aber am Ende aller Überlegungen nicht völlig unmöglich. Vlado riss ihn aus den Gedankengängen.

„Komm, ich bring dich ins Camp.“

Er unterließ es später, Vlado nachzuwinken, als der sich mit seinem Gefährt wieder auf den Heimweg machte. Noch wenige Minuten blieben ihm, bis der Alltag nach ihm griff.

Er ging rasch ins Haus nach oben, zog sich um und begab sich dann in den Gemeinschaftsraum.

Alle anderen waren schon da, das einzig fremde Gesicht in der Runde konnte nur Doktor Schnell gewesen sein. Auf ihn steuerte Nico dann auch direkt zu.

Der Arzt war seiner Schätzung nach Mitte Vierzig, ein sportlicher Typ mit dunklen, kurzen Haaren und einer unauffälligen Brille.

„Nico Hartmann«, stellte er sich vor, worauf der Arzt aufstand und ihm die Hand reichte.

„Ferdinand Schnell, angenehm.“

Nico nahm den Platz direkt neben dem Arzt.

„Hallo in die Runde«, rief er und sein Gruß wurde von allen erwidert.

„Fein dass du kommen konntest«, sagte Falk, der ihnen gegenüber saß.

„Schönen Tag gehabt?“

Nico war sich vorher schon im Klaren, dass er über das Gespräch mit Vlado und dem Strehler-Bauern nur mit ihm reden wollte. Wenn Falk es als notwendig erachten sollte, dann würde er auch den Rest der Mannschaft davon unterrichten. Nico neigte sich nah zu ihm hinüber.

„Wir müssen reden, später“, flüsterte er Falk zu.

Das fiel den anderen insofern nicht auf, da soeben das Essen serviert wurde und sie abgelenkt waren. Falk nickte nur, mehr Reaktion hatte Nico in dem Moment auch nicht erwartet.

Das Essen an dem Abend bestand aus Rehbraten, Knödeln, Soße und reichlich Salat. Erst beim Essen verspürte Nico richtig den Hunger, außer dem Apfel hatte er den ganzen Tag über nichts gegessen.

Nachdem sich die allgemeine Stimmung durch einige Gläser Wein etwas hob, klingelte Falk Stein mit einem Löffel an sein Glas. Er stand auf.

„So, liebe Kameraden, sehr geehrter Herr Doktor Schnell. Es ist vermutlich der letzte Abend, an dem wir noch entspannt ins Bett gehen können, aber morgen früh gegen zehn Uhr wird der Kleinbus vorfahren und die ersten acht Teilnehmer unseres neuen Projekts hier abladen. Erwartet werden in diesem Bus übrigens auch Antonia Berger und Professor Roth. Außerdem wird zum selben Zeitpunkt der Sozialarbeiter Manfred Haber eintreffen. Damit sollten erst einmal alle Personen, die direkt mit dem Projekt zu tun haben, hier beisammen sein.

Gemäß den Unterlagen seid ihr soweit informiert, um welche Personen es sich bei den Teilnehmern handelt.

Die Betreuungsarbeit ist bereits aufgeteilt, lediglich Nico Hartmann übernimmt keine spezielle Funktion. Er wird überall dort dabei sein wo er gebraucht wird, aber dies läuft mit ihm eigentlich so, wie schon in den Projekten davor.“

Nico wurde verlegen, zumal in diesem Moment alle Augen auf ihn gerichtet waren. Er durfte also wieder überall herumschnüffeln, einen Plan gab es für ihn nicht.

„Nach dem Eintreffen werden wir die Jungs zunächst hier versammeln. Wir müssen es zu Beginn ihnen überlassen, ob sie so früh hier in der Runde etwas von sich preisgeben wollen. Grundsätzlich wissen sie aber, wie das hier ablaufen wird und sie haben sich bereit erklärt, mitzumachen. Wir haben es also nicht mit renitenten Querulanten zu tun, diese Jungs wollen wieder auf die Füße kommen. Daran sollten wir sie aber auch immer dann erinnern, wenn sie einen Durchhänger haben. Samthandschuhe sind am Anfang sicher angebracht, aber wir sollten die nach und nach ausziehen.

Nach der Begrüßung bekommen sie zunächst neue Klamotten, das übernimmt Leo. Dafür ist der Vorraum im Keller hergerichtet. Wir haben drei provisorische Kabinen eingerichtet, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sie sich am ersten Tag splitternackt zeigen wollen. Sie bekommen weiterhin auch Waschutensilien und Badetücher.

Sie müssen ihre alten Klamotten in die Säcke geben, die dort bereitstehen und sie sollten sich natürlich duschen, bevor sie die neuen Sachen anziehen. Wir können sie dazu nicht zwingen, aber ich gehe davon aus, dass sie das freiwillig tun. Wir wollen so verhindern, dass mögliches Ungeziefer ins Haus und auf die Zimmer geschleppt wird.

Während dessen wird hier ein Frühstück vorbereitet. Laut Doktor Schnell ist herzhafte Kost erst einmal nicht günstig, da man nicht weiß, wann sie das letzte Mal etwas Vernünftiges gegessen haben. Bei diesem Frühstück und den gemeinsamen Essen danach bitte ich darum, dass alle hier anwesend sind.

Es wir dann auch die Hausordnung bekannt gegeben. Wir müssen zunächst Sorge dafür tragen, dass keiner das Gelände verlässt. Den Jungs steht ein Beihilfegeld von fünfzehn Euro am Tag zu. Davon müssen sie allerdings auch Zigaretten und die Handykarten bezahlen.

Die Ausgabe des Geldes und die Buchführung übernimmt Leo Meier. Bei ihm können die Jungs auch Einkaufszettel hinterlassen, jeweils am Abend sind diese abzugeben. Leo wird dann morgens einkaufen gehen. Somit können wir auch sicher sein, dass kein Alkohol ins Haus geschleust wird.

Gegen vierzehn Uhr beginnen dann die Untersuchungen durch Doktor Schnell. Er wird in dieser Sache sämtliche notwendigen Schritte einleiten, sollten welche nötig sein. Vorgesehen ist im Übrigen am Dienstag eine Busfahrt in die Klink nach Weiden, dort werden Röntgenaufnahmen gemacht.

Gegen neunzehn Uhr ist dann wie jeden Tag Abendessen, anschließend Freizeit und um dreiundzwanzig Uhr ist Nachtruhe. Wir werden jeden Abend nach dem Essen in dieser Runde hier ein Feedback abgeben und den nächsten Tag besprechen. Gibt es bis hierher noch Fragen?“

„Schön, dann ist der offizielle Teil des Abends hiermit beendet.“

Falk stand auf und deutete Nico an, ihm zu folgen. Sie begaben sich in Steins Zimmer, das auch als Büro hergerichtet war.

Nico setzte sich bequem auf die Couch.

„Schön, der Plan gefällt mir. Hoffentlich gibt’s keine Überraschungen.“

„Na ja, man kann nie wissen. Also, was wolltest du mir sagen?“

Nico erzählte von den Motorradfahrern, dem Zaun am Sendemast, dem Polizisten und auch vom Strehler-Bauern.

Falk rieb sich anschließend das Kinn.

„Hier scheint ja wirklich nicht unbedingt die heile Welt zu sein, wie es den Anschein hat.“

„Hab ich auch gedacht, als wir durch den Ort gefahren sind. Sieht alles so bieder und fein aus, aber irgendwas ist da nicht ganz geheuer. Sagen meine Gefühle jedenfalls.“

„Gut, Nico, mach dir mal keine Gedanken. Ihr habt das mit dem Einbruch da oben gemeldet, alles andere ist nicht mehr eure Sache. Was diesen Polizisten angeht beunruhigt mich nur, dass deine Gefühle und Ahnungen selten danebenliegen. Allerdings – welche Rolle sollte er da spielen? Und diesen Bauern, da weiß ich nun zumindest vom Namen her, wenn Wind aufkommen sollte. Aber komm, lass und noch ein Glas Wein trinken, der Tag morgen wird anstrengend.“

„Falk, eher nicht. Ich bin müde, das Bett höre ich schon hier rufen.“

Stein wuschelte seine Haare, wie er das scheinbar gerne tat.

„Okay, sehe ich ein. Dann schlaf gut und träum was Schönes.“

Nico ließ sich auf sein Bett fallen. Tausend Gedanken sausten durch seinen Kopf. An erster Stelle Vlado.

Er überlegte, ob er noch seine Mails abrufen sollte, denn er war sicher, dass Marco sich gemeldet hatte. Aber für ihn hatte er irgendwie keinen Nerv mehr. So ging er nur ins Internet, um nach dem Wetter zu sehen.

Bereits in der Kurzfristvorhersage wurde ihm dann auch bestätigt, was er bereits geahnt hatte: Für den nächsten Abend wurden die ersten Schneefälle für diese Gegend in dieser Höhe vorausgesagt. Über die Menge konnte er nur spekulieren, aber alles sah danach aus, dass bis zu zehn Zentimeter Schnee fallen könnten.

Er klickte sich noch kurz durch die Nachrichten, dann schaltete er sein Notebook wieder aus.

Er setzte sich aufs Bett und grübelte. Vieles ging ihm jetzt durch den Kopf, aber nun kam noch dazu: Winter. Ab morgen begann hier oben der Winter. Kälte, Schnee, dazu die frühe Dunkelheit.

Oft wünschte er um diese Jahreszeiten eine Fledermaus zu sein. Jetzt irgendwo hinhängen und erst im März wieder aufwachen. Aber das half nichts. Vorbei die Sonnentage, die grünen Wiesen und Wälder.

Als er die Augen schloss, tauchte Vlado sofort wieder auf. Sein Lachen, die wachen Augen.

Entscheiden. Du musst sich entscheiden, sagte er zu sich selbst. Vlado so selten sehen wie möglich oder es würde etwas passieren.

Wahrscheinlich völlig überraschend, aber es war sehr sicher. Marco. Er verdient es nicht. Er verdient dich nicht. Aber du musst es ihm sagen. So schnell wie möglich.

Wie ferngesteuert griff Nico erneut nach dem Notebook, setzte sich in dem Schneidersitz, klappte das Display hoch, ging ins Internet und öffnete sein Postfach. Da war sie, die Mail.

Hallo Nico.

Ich habe tolle Neuigkeiten und das ist alles sehr wichtig für mich. Die Heilung der Wunden geht plötzlich sehr schnell voran, es ist wie ein Wunder. Die Ärzte sagen, noch ein paar Monate und ich hätte alles ausgestanden. Ich bin richtig happy. Was sagst du dazu?

In Liebe

Dein Marco.

Nico kämpfte einen Augenblick gegen eine Träne. Wunder gab es wohl, da gab es keinen Zweifel. Trotzdem stürzte ihn diese Nachricht in ein Loch. Marco. Er war noch immer da. Konnte er ihm jetzt wirklich so mir nichts, dir nichts antworten, dass er es toll findet, aber nichts mehr mit ihm zu tun haben will?

Hallo Marco.

Du glaubst nicht, wie ich mich für dich freue. Ich hatte mit so einer Nachricht nicht gerechnet, denn bis vor Kurzem sah das ja noch anders aus. Ich drücke dir die Daumen, dass du bald wieder ganz gesund bist.

Hier ist es noch ruhig, aber bald wird sich das ja ändern. Du schreibst mir, wie es dir geht, ja? Machs gut und bis bald

Nico

Er zögerte nicht mit dem absenden, mehr wäre genauso schlecht wie weniger. Er vermied es zu schreiben, dass er sich auf ein Wiedersehen freuen würde. Das ginge sowieso erst im neuen Jahr, wenn das Camp vorbei wäre. Und was bis dahin sein würde, konnte eh niemand wissen.

Er stand auf und ging zum Fenster. Kein Licht, nirgendwo, nur die rote Lampe auf dem Sendemast. Was dort oben wohl wirklich passiert war? Er schob die Tür soweit zur Seite, bis er auf den Balkon schlüpfen konnte. Leichter, kalter Nordwind, es waren fünf Grad über null.

Nico fröstelte, aber er sog die frische Luft ein und hoffte, leicht angefroren besser schlafen zu können. Dann lauschte er in die rabenschwarze, mondlose Nacht. Er hörte etwas, aber er konnte es nicht einordnen.

Es klang seltsam und ungewohnt und es musste weit, sehr weit weg gewesen sein.

Gerade wollte er zurück in sein Zimmer, als das Geräusch für einen Moment lang deutlicher wurde. Offenbar drehte der Wind und jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Das war das Heulen eines Hundes. Lang und ausgedehnt. ´

Plötzlich erschrak er. Ohne Vorwarnung stürmte etwas durch die Tür zu ihm hinaus.

„Rick. Ich hab jetzt beinahe einen Herzanfall bekommen. Wo kommst du denn her?“

Der Rüde schwänzelte kurz, steckte dann aber den Kopf durch das Geländer und lauschte. Nico kniete sich zu ihm hinunter und kraulte sein Fell.

„Was hörst du denn dort?“

Rick winselte kaum hörbar und schien sich fast durch das Geländer zwängen zu wollen. Wieder war das Heulen deutlich zu hören, auch wenn es wirklich unheimlich weit weg sein musste.

Nico überlegte, aber dort, in der Richtung wo es herkam, war nur Wald, sehr dichter Wald und keine Höfe. Das hatte ihm Vlado ja auch bestätigt. Der konnte das sicher erklären, der wusste es ganz bestimmt.

„Komm rein, Rick, sonst hole ich mir hier noch den Tod.“

Er musste den Hund vom Balkon ziehen, er hätte ihm diesmal nicht gefolgt.

Bibbernd legte er sich in sein Bett und vergrub sich unter der Decke. Dass sich Rick das Fußende seines Bettes als Schlafplatz aussuchte, spürte er, aber er akzeptierte es.

Zumal es eine Wohltat war, die kalten Füße an den Körper des Hundes zu schmiegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das jemand herausbekam, stand gegen Null. Dabei würde es Nico schon interessieren, ob Rick nicht ab und an auch in Falks Bett schlafen durfte.

Das Heulen, von wem immer es auch stammte, in den Ohren schlief Nico endlich ein. Als Rick am Morgen aus dem Bett sprang, wachte Nico auf. Endlich gut geschlafen, keine wilden Träume. Ein Blick auf die Uhr und noch eine Hetze weniger.

Es war acht Uhr, doch an dem Tag schien keine aufgehende Sonne in sein Zimmer. Der Himmel war grau und diesig. Trotzdem rappelte sich Nico auf, einer der spannendsten Tage hier stand bevor.

„Morgen mein Lieber. Gut geschlafen?“

Rick schüttelte sein Fell und tapste sofort zur Balkontür. Leise knurrte er und Nico fiel der Abend ein. Er öffnete die Tür und Rick zwängte wieder seinen Kopf durch das Geländer. Mit gespitzten Ohren lauschte er hinunter ins Tal.

Nico nahm sein Handy und begann eine SMS zu schreiben. Vlado würde schon in der Schule sein und anrufen wäre da nicht so praktisch. Anschließend fuhr er sein Notebook hoch und sprang unter die Dusche. So gut hatte er sich lange nicht gefühlt und er hätte singen mögen – was man jedoch sicher im ganzen Haus hätte hören können.

Die Vorhersage hatte sich gegenüber der letzten dahingehend verändert, als die Fronten des kalten Tiefs aus dem Osten früher ankommen würden. Ein Blick auf den Luftdruck bestätigte diese Aussage.

Sein Handy rappelte.

„Morgen Vlado. Keine Schule?“

Hallo Nico. Doch, aber ich hab mich kurz abgeseilt. Wegen deiner SMS: Ich habe das Heulen die letzten Tage auch schon gehört und es ist mit großer Sicherheit ein Wolf. Dürfte ein Emigrant aus der Tschechei sein, er hat hier ja viel Platz. Aber ich muss wieder zurück in die Klasse. Sehen wir uns heute Abend?

Nico überlegte, aber eine sichere Zusage konnte er nicht machen.

„Ruf einfach mal an, dann sehen wir weiter.“

„Okay, das mach ich. Schönen Tag. Ciao.“

Weg war das Gespräch.

Sehen wir uns heute Abend? Natürlich hatte das gar nichts zu bedeuten. Sie mochten sich, funkten gewissermaßen auf derselben Wellenlänge. Er zog sich an und ging nach unten. Ob er so lange mit dem Frühstück warten konnte war eher fraglich, er hatte plötzlich unbeschreiblichen Hunger.

Rainer Bode begegnete ihm am Eingang zum Gemeinschaftssaal.

„Morgen Rainer. Gut geschlafen?“

„Moin Nico. Ja, du auch?“

„Kann man sagen. Aber hab schon ganz schön Hunger.“

„Geht mir genauso. Aber hab ich schon geklärt, Holzmann richtet grade was für uns her, Falk und Leo sind auch schon hier irgendwo im Haus unterwegs. Wir können später mit den Jungs ja noch ne Kleinigkeit zu uns nehmen. Komm, lass uns setzen, wir kriegen was gebracht.“

Nico gefiel die kleine Runde, mit der er später zusammen frühstückte. Falk, Rainer, Leo. Mehr mussten es gar nicht sein. Nico erzählte von dem Heulen in der Nacht und der Möglichkeit, dass es tatsächlich ein Wolf gewesen sein könnte. Darauf gab es eine rege Diskussion, immerhin war das kein alltägliches Thema.

Als sie gegessen hatten, stand Nico auf und ging zu dem großen Panoramafenster.

„Es wird wahrscheinlich heute noch zu schneien anfangen.“

Stein trat neben ihn und blickte hinaus in das herbstlich-trübe Wetter.

„Hab’s gehört in den Nachrichten. Sind wir mal gespannt.“

„So, eigentlich könnte die Gesellschaft ja kommen. Ist alles hergerichtet.“

„Fein, Leo.“ Stein sah auf die Uhr an der Wand. „Aber ne gute Stunde bleibt uns noch.“

„Ich geh dann mal mit Rick vor die Tür«, sagte Nico.

„Ach ja, Rick. Den hab ich die Nacht über vermisst.“

„Der war bei mir oben, Falk. Den hat das Geheul angelockt und raus konnte er ja nicht.“

Stein lachte. „Oh, da geht einer fremd.“

„Kein Problem, er hat mich nicht gestört.“

Kurz darauf trat Nico vor das Haus und Rick verschwand sofort im Wald gegenüber.

„Lauf ja nicht weg, hörst du? Der da draußen hat nicht deine Kragenweite!“

Nico setzte sich auf die Bank vor dem Eingang und blickte zum Himmel. Doch außer einem einfarbigen Grau gab es dort nichts. Er kramte die zerknautschte Zigarettenschachtel aus der Tasche und sah sie sich an. Keine einzige, seit er hier war.

Die ersten Züge an der Zigarette ließen seinen Blick kurz schummrig werden, aber er genoss das. Ab und zu würde er sich eine genehmigen, das hatte er immer schon so gehalten.

„Na, schmeckt sie?“

„Sag ich mal so, sie ist jetzt ganz angenehm.“

Rainer setzte sich neben ihn, in der Hand hielt er ein größeres Paket. Er begann, den Inhalt auszupacken.

Nico war viel zu neugierig, um nicht genauer hinzusehen.

„Was ist das denn?“

„Wirst gleich sehen. „Wenig hielt er ein Gerät in der Hand. Es sah aus wie ein großes Handy mit stabiler, kurzer Antenne. „Damit sollte es nicht mehr passieren, dass man sich verlaufen kann.“

Nicos Augen wurden groß.

„Ein GPS.“

„Ja. Hat ne Weile gedauert, bis Frau Berger zugestimmt hat, aber ich hab es ihr mal vorgeführt und dann gab’s gleich vier von den Geräten.“

Nico kannte diese Geräte zur Satellitennavigation nur von Bildern, jedoch war ihm die Funktionsweise bereits bekannt.

„Darf ich? Das muss ich unbedingt mal ausprobieren.“

Rainer gab ihm das Gerät und faltete die Kurzanleitung auseinander.

„Dazu hast du jede Menge Gelegenheit, denke ich. Wir werden ja auch wandern und mal biwakieren, so es das Wetter einigermaßen zulässt.“

Nico setzte die Batterien ein und beobachtete, wie das Gerät die Satelliten suchte.

„So ein Ding hätten wir schon viel früher haben müssen.“

„Stimmt. Aber nun sind sie ja da.“

„Hier, ich werd mir das beizeiten mal genauer ansehen.“

Er wollte Bode das Gerät zurückgeben.

„Das kannst du, wann du willst. Behalte es, es gehört dir.“

Nico machte große Augen.

„Mir?“

„Sagte ich eben.“

„Vielen Dank. Das ist ganz toll.“

„Keine Ursache.“

Motorengeräusch war zu hören, dann das Knirschen der Steinchen auf der Straße.

„Sie kommen«, rief Nico.

Er stand auf und sein Herz legte einiges an Schlägen zu. Ab jetzt stand er wieder voll im Auftrag des Camps; der Alltag, obwohl es eigentlich keiner war, nahm seinen Lauf. Nun tauchte der kleine Reisebus auf. Ein schon etwas älterer, grauhaariger Mann steuerte ihn über den Platz und hielt an.

Nico platzte fast vor Neugier, allerdings dürfte es dem Rest der Mannschaft, die sich nun auch eingefunden hatte, nicht anders gegangen sein.

Als erste stieg Antonia Berger aus. Wie immer ein gepflegtes Äußeres, jedoch diesmal ungewohnt eingehüllt in einen dicken, bis zum Boden reichenden Mantel. Lächelnd, fast einem Filmstar ähnlich, kam sie ohne Zögern auf die Crew zu.

Ihr folgte fast auf dem Fuße Professor Roth. Auch er schützte seinen Körper mit einem langen, dicken Mantel, einem Schal und einer Fellmütze. Es hatte sich offenbar herumgesprochen, dass hier oben der Winter am einkehren war.

Antonia Berger streckte Stein die Hand hin.

„Schön, dass es alles so reibungslos geklappt hat.“

Falk schüttelte ihre Hand und es war leicht zu erkennen, dass auch er erfreut war, sie zu sehen.

„Ja, nur leider diesmal keine Sonne und kein Sommer.“

Die Berger lachte.

„Nun ja, wir haben es uns am Ende so ausgesucht.“

Dann kam sie überraschenderweise direkt auf Nico zu.

„Ich freue mich, dass Sie wieder hier sind“

Nico nahm höflich ihre Hand.

Ganz meinerseits.“

Er hielt es immer für etwas besonderes, mit Professor Roth bekannt zu sein. Dieser große, ruhige Mann, der unbeirrt seinen Weg ging was das Camp betraf. Und der energisch werden konnte, wenn man sich ihm in dieser Sache in den Weg stellen wollte. Ganz besonders aber empfand Nico seine Beziehung zu diesem Mann. Ein Mensch, der an ihn glaubte, was immer bis jetzt auch passiert war. Nun stand dieser Mann direkt vor ihm und reichte mit einem Lächeln die Hand.

„Ich gehe davon aus, dass dies Ihr letztes Praktikum im Camp sein wird?“

„Ja, sofern ich die Prüfung bestehe..“

„Na, höre ich da Bedenken heraus?“

Nico wurde verlegen.

„Eigentlich nicht, aber man kann ja nie so genau wissen.“

„Herr Hartmann, Sie haben die Prüfung doch schon in der Tasche. Reine Formsache.“

Der Professor nahm ihn dann am Arm und zog in ein Stück weit von der Gruppe.

„So wie die Dinge liegen, wird das Camp weiterlaufen. Die Betreuer werden nicht jünger und es ist sehr schwer, jemanden zu finden der diesen Job gern und anständig macht. Und noch schwieriger ist es, unter den Willigen den Richtigen zu finden, nicht alle mit den Qualifikationen taugen auch dafür. Aber das muss ich Ihnen ja nicht groß erklären. Ein großes Problem ist im Moment ja auch die Personallage, Sie haben es ja mitbekommen.“

„Ja, das ist irgendwie bedauerlich.“

„Allerdings könnte ich mir schon denken, dass Sie hier einen festen Platz bekommen. Besonders wenn es uns gelingen sollte, zu expandieren.“

Nico ahnte, was kommen würde. Hier an dieser Stelle und jetzt hatte er die Chance, die Weichen für seine Zukunft zu stellen. Man wollte ihn, das war schon aus vielen Gesprächen hervorgegangen. Ein Seitenblick zu Falk genügte ihm.

Der schaute herüber und lächelte. Er wusste ganz genau, worum es bei diesem Gespräch ging und letztendlich war das todsicher seine Anregung. Darüber war jeder Zweifel erhaben.

„Ich gehe doch davon aus, dass ich nächstes Jahr fest mit Ihnen rechnen kann?“

Nico war sonst ein Mensch, der nicht lange überlegen musste, aber er wollte sich das noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen lassen.

„Räumen Sie mir ein bisschen Bedenkzeit ein? So, bis Morgen Abend?“

Roth nickte eifrig.

„Selbstverständlich. Allerdings gehe ich dann davon aus, dass es, sollte Ihre Entscheidung positiv verlaufen, praktisch eine feste Zusage ist?“

„Ja, Herr Professor, davon können Sie ausgehen.“

Der Mann lächelte und begab sich zurück in die Gruppe. Nico hatte nicht mitbekommen, dass Leo die Jungs bereits aus dem Bus gelotst hatte und nun standen sie auf dem Platz. Sie unterhielten sich, offenbar war man sich bei der Busfahrt schon etwas näher gekommen. Damit war bereits ein wichtiger Schritt getan.

Der erste Eindruck überraschte ihn. Hatte er eine total vergammelte und verwahrloste Gruppe vermutet, so sah er sich getäuscht. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie irgendeine Dorfjugend, die sich hier zufällig getroffen hatte.

Natürlich trugen sie keine modischen Klamotten, vor allem waren sie in dicke Jacken eingemummt. Zwei hatten auch über schulterlange Haare, aber im Großen und Ganzen sahen sie recht aufgeräumt aus.

Bei zwei von ihnen verweilte sein Blick länger. Der eine war groß und schlank, dunkle, lockige Haare, der andere etwas kleiner und ein paar Kilo mehr, aber das Gesicht unter dem braunen Schopf war ausnehmend hübsch.

Der Kleinste mochte etwa ein Meter Siebzig gewesen sein. Zwei der Jungen standen mit dem Rücken zu ihm und unterhielten sich. Rauchwölkchen stiegen zwischen ihnen auf, außerdem schienen sie sich über irgendetwas zu amüsieren.

Diese Tatsachen beruhigten Nico. Kein verstockter Haufen, dem am Ende mit Nichts beizukommen war. Seine Anspannung löste sich merklich, ganz so wild wie in seinen Vorstellungen wurde es offenbar nicht. Stein klatschte in die Hände.

„So, Herrschaften. Wir wollen denn mal hinein gehen. Und gleich zu Beginn: Rauchen ist nur außerhalb des Hauses erlaubt, an der Tür gibt’s einen Aschenbecher. Bitte keine Kippen auf den Boden schmeißen. Danke.“

Nico wartete, bis alle ins Haus gegangen waren. Neben ihm stand Rick, den offenbar die Neugier zurückgetrieben hatte.

„Schön, dass du mal nicht nach dem Heuler suchst.“

Er kraulte ihn kurz, dann gingen auch sie zum Haus. Der Gemeinschaftsraum war umgestellt worden, aber nicht in einen wie von Nico befürchteten Stuhlkreis. Dergleichen Anordnungen verpassten jedem Raum etwas von Verhör, Offenbarung, Preisgabe.

Er hasste das, egal wo immer er diese Aufstellungen schon erlebt hatte. Irgendwann später konnte das sinnvoll sein, aber nicht in der ersten Minute. Stattdessen waren die Tische zusammengestellt und genau so viele Stühle wie gebraucht wurden, standen drum herum.

 

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