Boycamp IV – Teil 7

Die Jungen saßen bereits und da Falk auf jeden Fall eine strikte Trennung vermeiden wollte, waren Plätze zwischen ihnen für die vier Betreuer frei.

Nico setzte sich und sein Blick fiel auf einen der beiden Jungen, die ihm vorhin draußen den Rücken zugekehrt hatten. Er erkannte ihn an seiner Frisur und saß ihm jetzt genau gegenüber. Einen Augenblick schluckte Nico, als sich ihre Augen trafen.

Er verfluchte sich und seine Gedanken, die ihm in diesem Augenblick das Wort „Beuteschema“ durch den Kopf jagten. Gut, er konnte ja nicht aus seiner Haut, aber er musste zugeben, dass das Wort haargenau zu diesem Jungen passte.

Sofort wandte Nico seinen Blick ab, er musste sich mit Gewalt seine Vorgaben ins Gewissen rufen: Nichts, überhaupt nichts mehr mit ihnen anfangen. Sicherheitsabstand halten, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Er hatte Falks erste Worte absolut überhört, was ihn maßlos ärgerte. Nicht weil es wichtig für ihn sein könnte, sondern weil er sich dermaßen ablenken ließ. Es ging los mit der Vorstellung. Leo hatte angefangen von sich zu erzählen und so ging es dann rechts von ihm weiter.

Nico hörte bei den Jungen genau hin, erkannte sie dann auch aus den Unterlagen wieder.

Es war erstaunlich, wie ähnlich ihre Lebenswege bisher waren und die Gründe, warum sie die Straße wählten. Arbeitslosigkeit, Trennung oder Alkoholprobleme der Eltern, zerrütte Ehen sowie Ablehnung eines neuen Elternteils, finanzielle Schwierigkeiten und offensichtlich oft Überforderung bei der Erziehung.

Es gab auch Ausnahmen wie bei Sascha, Maik oder Jonas, die eher wohlhabende Eltern hatten. Jonas also hier er, der Junge mit diesem schier unwiderstehlichen Blick. Nico war es noch nie schwer gefallen, sich Namen zu merken, dieser Name jedoch meißelte sich ungewollt in sein Gehirn.

Falk Stein war der nächste der sich vorstellte, dann folgte Antonia Berger. Über sie wusste Nico fast nichts, darum hörte er genau zu, wie sie ihre Laufbahn in groben Zügen schilderte.

Alle Augen richteten sich plötzlich zur Tür, als eine Person den Raum betrat. Ein sichtlich gestresster Mann kam zu ihnen an den Tisch.

“Entschuldigung über meine Verspätung, aber ich hatte leider eine ziemlich üble Panne. Mein Name ist Manfred Haber, ich bin der Sozialarbeiter.”

Falk winkte mit der Hand.

“Kommen Sie, nehmen Sie Platz. Sie können sich gleich noch etwas genauer vorstellen.”

Nico hörte an Falks Unterton heraus, dass er sauer war. Gerade diese Runde wäre für Haber sehr wichtig gewesen. Aber man musste ihm glauben, dass er nicht absichtlich zu spät gekommen war.

Haber setzte sich schwer atmend, anschließend begann Nico, sich vorzustellen. Er hielt es wie immer im Telegrammstil, man konnte sich im Lauf der Zeit ja noch mehr austauschen.

Haber beendete diese Runde, in dem er etwas über sich und seine Aufgaben erzählte.

Stein erhob sich anschließend.

“Vielen Dank an alle für diese Gespräche. Wir werden uns im Lauf der Zeit natürlich noch besser kennen lernen. Was wir noch klären müssen, ist die Anrede untereinander. Bisher haben wir unsere Schützlinge immer geduzt, aber künftig wollen wir wissen, ob das in Ordnung ist. Ich bitte also um Abstimmung. Bitte jetzt die Hand, wer beim Sie bleiben möchte.”

Die Jungen sahen sich an, dann in die Runde, aber es erhob sich keine Hand.

“Gegenprobe: Wer ist für das du?”

Die Hände gingen nach oben und Stein nickte.

“Dann ist es eindeutig beschlossen. Danke euch. Wir machen jetzt eine vorgezogene Mittagspause, anschließend werden wie angekündigt die neuen Kleider verteilt. Findet euch dazu bitte nach dem Essen unten im Keller ein, Herr Meier wird euch begleiten. Danke.”

Kurz darauf öffnete sich die Küchentür und Holzmann rollte einen großen Servierwagen in den Raum. Er stellte sich den Jungen kurz vor und brachte dann auch gleich eine der wichtigen Rahmenbedingungen hervor.

“Alle Speisen werden hier in diesem Raum eingenommen und es wäre ganz nett, wenn ihr ihn sauber halten würdet. Besen und andere Dinge findet ihr im Vorraum. Dazu wäre die Einteilung eines Raumdienstes förderlich und täglich abwechselnd dürfen mich zwei von euch beim Eindecken und Abräumen unterstützen. Essenszeiten sind – jeweils für eine Stunde: Frühstück um halb acht, Mittagessen um Zwölf und neunzehn Uhr ist Abendessen.”

Spontan standen vier Jungs auf, um ihm beim Eindecken zu helfen.

“He, nicht alle auf einmal,” lachte Holzmann, “macht euch erst mal einen Plan.”

Mit einer Rindfleischsuppe und Semmeln begann dann das Willkommensessen für die neue Besatzung.

Nach dem Essen sammelte Leo die Jungen ein und begab sich mit ihnen in Richtung Keller.

Nico blieb zunächst sitzen, bis die Jungen den Raum verlassen hatten. Stein setzte sich neben ihn.

“Und, alles Okay soweit?”

“Ja. Ich denke, das gibt keine allzu großen Probleme mit ihnen.”

“Der Meinung bin ich auch. Außerdem wäre es ein Traum, wenn wir alle nachher unterbringen könnten.”

“Hältst du das grundsätzlich für möglich? Ich meine, so einfach ist das ja nicht.”

“Ja Nico, das kann funktionieren, es ist schließlich unser Ziel. Noch läuft das Camp unter dem Aspekt eines Projekts. Ich habe dir im Übrigen noch nicht gesagt, dass ich ein Buch verfassen werde. Eine Studie besser gesagt. Sie könnte später helfen, ähnliche Camps besser zu steuern.”

“Wow, ein Buch. Klasse. Da freue ich mich schon drauf. Vorausgesetzt, ich werde darin nicht erwähnt.”

Stein wuschelte wieder Nicos Haare und lachte.

“Du stehst gleich auf der ersten Seite.”

Nico grinste.

“Das habe ich jetzt geahnt.”

“Aber wir müssen noch eine Menge tun, vor allem jemanden finden, der sie später aufnimmt. Wie du gehört hast, haben nur zwei eine Lehre abgeschlossen, Maik und Ruben. Einigen Eltern waren auch sehr zickig oder mussten ewig lang nach den wichtigen Papieren suchen. Die Studenten haben echt prima Arbeit geleistet.”

“Die Firmen verlangen aber auch Führungszeugnisse, die meisten die ich kenne jedenfalls.”

Stein holte hörbar Luft.

“Da kümmert sich Haber drum, dies und das Vermitteln ist sein Job. Er muss sie zu Ämtern, den Tests und Vorstellungsgesprächen fahren, wo immer das auch ist. Und wenn nötig, kommen auch Eltern oder Verwandte hierher, um sich mit den Jungen auszusprechen. Oft hilft das, um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.”

“Bleibt Haber eigentlich hier im Haus?”

“Nein, er hat hier nur ein kleines Büro eingerichtet. Wohnen wird er in einer Pension im Ort unten.”

Sie begaben sich dann nach draußen, wo sich Leo und Reiner von Antonia Berger und Professor Roth bereits verabschiedeten. Der Professor reichte Nico die Hand.

“Also, Herr Hartmann, ich erwarte morgen Ihre Antwort, rufen Sie mich einfach an.”

“Mach ich, Herr Professor und vielen Dank nochmals.”

Der Mann lächelte, dann wechselte Nico zu Frau Berger.

“Schön, Sie mal wieder gesehen zu haben.”

“Ja, dann machen Sie das mal gut. Und überlegen Sie sich das Angebot, wir würden uns über eine positive Antwort bestimmt sehr freuen.“

Nico räusperte sich.

“Ich gebe Ihnen Bescheid.”

Er stand nahe bei Frau Berger und sah, wie sie Falk Stein die Hand gab.

“Also, dann mach’s mal gut mit den Jungs. Deine ersten Kapitel aus deinem Buch habe ich gelesen, gefällt mir. Wir sehen uns dann.. ja, wenn es soweit ist.”

Nico konnte es nicht entgehen. Er wusste, dass die beiden vorher nie per Du waren und die Blicke, die sie in diesem Moment austauschten, waren nicht unbedingt die von Geschäftskollegen.

Er freute sich darüber. Falk und Antonia, ein passenden Pärchen. Falk musste dazu ein paar Worte verlieren. Irgendwann. Wenig später verließ der Bus das Gelände. Jonas stand etwas Abseits und unterhielt sich mit Markus, offenbar der derselbe Junge wie vorhin.

Wieder trafen sich ihre Blicke und diesmal wandte sich Nico noch schneller ab. Nicht so, dass das auffällig gewesen wäre, aber er musste diesen Blicken aus dem Weg, das spürte er instinktiv. Sie mochten nichts zu bedeuten haben, aber er wollte auf Nummer sicher gehen.

Allerdings war ihm klar, dass er dem Jungen nicht dauernd und überall aus dem Weg gehen konnte. Nur wollte er das auf ein Minimum reduzieren. Leo nahm Stellung ein.

“So Leute, bitte alle mir nach, runter in den Keller. Alles Weitere erfahrt ihr dort.”

Nico setzte sich inzwischen auf die Bank vorm Haus, obwohl es für draußen zu sitzen empfindlich kalt war. Aber er hatte nun mal keinen Job im Moment und Lust für sein Zimmer auch nicht.

Trotz aller Vorgabe konnte er gegen den Gedanken nicht ankämpfen, seine Neugier malte ihm das Bild in den Kopf, wie sich Jonas jetzt da unten auszog. Der Junge war sehr schlank, ohne dünn zu wirken.

Nico öffnete sein Repertoire und so fiel es ihm nicht sonderlich schwer, etwas Passendes zwischen die Beine des Jungen zu basteln. Mit einem Kopfschütteln entfernte er dann hastig die Bilder von seinem geistigen Auge.

„Du bist echt ein wüstes Schwein“, flüsterte er zu sich.

“Nico, kommst du mal? Leo bräuchte dich da unten kurz.”

Reiner Bodes Stimme knallte wie eine Wand an Nicos Kopf. Nicht die Stärke, nicht der Ton, sondern der Inhalt des Satzes. Er wollte nicht da runter. Er wollte nicht Zeuge sein, wie die alle aussehen.

In Shorts, Unterhosen oder womöglich mit gar nichts an. Aber er hatte keine Chance. Ablehnen ging nicht und lange überlegen auch nicht.

“Ich komme!”

Mit leicht zitternden Knien ging er die Treppe nach unten. Hier war er erst einmal, ganz kurz nur. Der Keller war sehr geräumig, wahrscheinlich gab es hier einst einen Partyraum oder etwas Ähnliches.

Neben den Duschkabinen befanden in der Mitte des Raums die üblichen Holzbänke nebst den Spinden. Hinten an der Wand stand eine Badewanne, scheinbar ein Relikt aus älteren Tagen.

Die Jungen nahmen ihn nicht wahr, als er zu Leo ging, er selbst achtete auch nicht auf sie. Sogar einem Versuch aus den Augenwinkeln heraus hielt er erfolgreich stand.

“Leo, was gibt’s?”

“Ah, schön dass du kommst. Ich weiß doch, dass du so viel kannst. In einer der Duschkabinen tropft die Brause, es kommt einfach nicht mehr Wasser. Ich hab die Werkzeugkiste schon hingestellt, man muss wohl nur den Duschkopf auswechseln. Der ist scheint’s über Nacht zugekalkt. Bringst du das hin? Ich hab hier einfach keine Zeit.”

“Klar, Ich schau mir das an.”

Wieder bahnte er sich den Weg durch die Jungen, den Blick streng auf den Boden geheftet. Zum großen Glück stand keiner bei der defekten Dusche und so machte er sich sofort an die Arbeit. Er hatte das schon öfter gemacht, im Grunde war es kein Hexenwerk.

“Brauchst Hilfe?«, hörte er hinter sich.

Er atmete auf, das war nicht Jonas‘ Stimme.

Nico wandte sich der Stimme zu.

“Maik, wenn ich mich recht erinnere?”

“Jep, der bin ich.”

Nicos Blick über den nackten Oberkörper dauerte nur Millisekunden, dann sah er Maik wieder in die Augen.

“Ja, das wäre nett. Reich mir mal bitte die Wasserpumpenzange.”

Der Junge griff sofort das richtige Werkzeug und gab es ihm. Währenddessen lief nebenan das Wasser, Stimmen waren zu hören, auch ein Lachen und Kichern. Was immer da auch ablief, es klang gut in Nicos Ohren. Gut, weil es offensichtlich keine trübe Stimmung gab.

Wenige Minuten später war der neue Duschkopf montiert und Nico deutete Maik an, dass er nun unter die Dusche konnte. Auch dabei konzentrierte sich sein Blick nur auf die Augen des Jungen.

Nico packte die Werkzeugkiste zusammen und als er aufstand, huschte sein Blick in die Nachbarkabine. Es gab ja nur seitliche Trennwände und so leuchtete ihm ein nicht uninteressanter Hintern entgegen.

Doch es brauchte nur einen Augenblick bis er gewahr wurde, wem der gehörte, denn in diesem Moment drehte sich Jonas langsam um. Er hatte den Kopf gehoben und ließ mit geschlossenen Augen das Wasser über sein Gesicht laufen, seifte sich die Haare ein und genoss ganz augenscheinlich das warme Wasser.

Wie in Hypnose folgte Nicos Blick dem Wasserlauf, vom Kopf über den Hals und über die Brust. Die Wanderung sollte am Bauch aufhören, aber sie ging das letzte Stück weiter. Zu dem dichten, dunklen Dreieck, in dem der Penis eingebettet hing und die leicht zurückgezogene Vorhaut einen kleinen Blick auf die Spitze der Eichel preisgab. An den Hoden schließlich endete die Reise.

Sofort sah Nico wieder hoch. Er hatte gesehen, was er nicht sehen wollte und sollte und es war ihm peinlich. Peinlich deshalb, weil er jetzt in Jonas‘ offene Augen sah und vermuten musste, dass der seine Musterung mitbekommen hatte. Nico fühlte sich auf einmal nicht wohl in seiner Haut, er musste einfach viel besser auf sich aufpassen. So etwas durfte nicht wieder passieren.

“So, Leo, erledigt«, rief Nico.

“Danke, das war mir eine große Hilfe.”

“Und sonst kommst du klar?”

“Ja, kein Problem.”

Nico eilte wieder nach oben und setzte sich auf die Bank. Die frische Luft tat gut, der Dampf da unten war zwar angenehm, aber auch gefährlich. Er weitete die Blutgefäße und sorgte für ein nicht näher definierbares Kribbeln auf der Haut. Stein setzte sich zu ihm.

“Na, Langeweile?”

“Oh, eher nicht. Hab grad eine Brause da unten repariert.”

“Schön, nichts ist schlimmer als Nichtstun.”

“Ich geh aber mal hoch in mein Zimmer. Hier ist es einfach nur lausig kalt.”

“Tu das. Vor dem Abendessen passiert für uns eh nichts mehr.”

In seinem Zimmer, das er eigentlich eher als Wohnung bezeichnen wollte, drehte er die Heizung etwas höher, ihn fröstelte. Als er zum Fenster hinaussah, tanzten die ersten leichten Schneeflocken herab.

“Na Klasse«, stöhnte er und warf sich auf das Bett. Er schaute auf sein Handy, das auf dem Nachttisch lag.

„Anruf in Abwesenheit“.

Er startete den Rückruf und wenige Freizeichen später nahm Vlado das Gespräch an.

“Hi. Gehst du nicht ans Handy?”

“Hallo Vlado. Nein, während der Termine hab ich es gar nicht dabei. Wundere dich also nicht.”

“Ah so. Und, wie sind die Neuen?”

“Oh, ganz okay würde ich sagen. Es ist anzunehmen, dass wir keinen Stress mit denen haben werden.”

“Freut mich. Was ist, sehen wir uns heut Abend?”

“Hm, wir werden um Neunzehn Uhr zu Abend essen, dann ist noch Sitzung. Ruf einfach noch mal an, so gegen halb Neun würde ich sagen.”

Nico fiel ein, dass es ab jetzt eigentlich eher schwierig wurde mit den Treffen.

“Hm, Vlado, ich glaube, das wird zumindest unter der Woche schlecht mit uns. Es wird keinesfalls früher gehen.”

Eine kleine Pause verriet Nico, dass diese Nachricht nicht von der guten Sorte war.

“Oh, das ist aber richtig blöd. Aber gut, ist wohl nichts zu machen. Dann Telefon, oder?”

“Ja, Telefon.”

“Ciao dann und bis bald. Halt die Ohren steif. Ach, und hast du gesehen? Es schneit.”

“Ja, Nico, das ist mir nicht entgangen. Ciao.”

Nico warf das Handy ungehalten auf das Bett. Es konnte nichts dafür, aber irgendetwas musste seinen kleinen Zorn jetzt büßen. Im Grunde hatte er keine Freizeit wie im Sommer, wo es lange hell war und man draußen sein konnte.

Ihm fiel ein, dass er dem Professor eine Antwort schuldig war. Er legte sich zurück und begann eine Reise in die Vergangenheit. Er musste endlich herausfinden, ob er diesen Job für immer machen wollte oder ob es mit diesen Episoden ein Ende haben sollte.

Wenn er sich dagegen entschied, dann war das seine letzte Aktion hier. Nie wieder ein Camp, keine Jungs, keine Abenteuer mehr. Aber auch keine Katastrophen, Verletzte und sogar Todesfälle.

Doch es hieß auch Verzicht auf Kameradschaft, Zusammenhalt. Und Freundschaften. Falk, Leo, Reiner. Gab es etwas anderes für ihn? Er hatte das Gespinst des Rangers im Kopf. Ob mit oder ohne Vlado ließ er dabei außer Acht.

Natur, tagaus, tagein. Menschen in entlegene Gegenden führen, Spuren lesen, Tiere beobachten. Immer draußen, im Sommer wie im Winter. Zweifellos hatte das auch etwas, aber dazu müsste er ins Zölibat.

Und das würde ihm nicht gelingen. Diese kurze Szene mit Jonas vorhin. Sie war einfach schön. Schön, weil Jonas genau jenen Typ Mensch verkörperte, bei dem Nico schwach zu werden drohte.

Aber diese Dinge waren nun mal Teil seines Lebens. Er schweifte ab. Wenn eine Entscheidung fiel, dann hier und jetzt, ein Zurück, egal aus welcher Richtung, würde er sich nicht erlauben.

Wenig später klopfte er an Steins Tür und trat nach Zuruf ein.

“Hallo Nico. Kann ich was für dich tun?”

“Falk, eine Frage nur – und du musst sehr ehrlich zu mir sein. Ich ertrage die Wahrheit.”

“Hoppla, was ist passiert? Komm, setzt dich.”

Stein ging zu seinem Schrank und nahm eine Flasche Wein heraus.

“Ich denke, der Auftakt heute ist gelungen, da können wir mit einem Glas anstoßen.”

Nachdem er eingeschenkt und sich neben ihn gesetzt hatte, legte Nico auch gleich los.

“Du wirst es wissen, Professor Roth hat mich heute Morgen gefragt, ob ich nach meinem Studium fest ins Camp kommen würde.”

“Ja, ich weiß Bescheid. Und, hast du dich entschieden?”

“Das ist irgendwie schwierig, Falk. Ich weiß einfach nicht, was richtig ist. Deshalb bin ich hier. Wir haben uns schon öfter darüber unterhalten, aber jetzt ist es wohl an der Zeit, Tacheles zu reden.”

“Du bist dir also nicht sicher?”

“So ist es. Ich habe hin- und her überlegt, aber ich kann kein eindeutiges Ja oder Nein finden. Und das ist jetzt halt wichtig.”

Stein hob sein Glas und stieß mit Nico an.

“Prost. Auf ein ruhiges und erfolgreiches Projekt! Du hast also überlegt und bist zu keinem Ergebnis gekommen, ist es so?”

“Schon. Aber siehst du, ich habe all die Zeit für Aufregung gesorgt, es ist verdammt viel schief gegangen. Und es waren, wie dir nicht entgangen ist, richtige Katastrophen.”

“Ja, all das hatten wir schon. Und, weiter?”

Stein ahnte, auf was Nico hinauswollte.

“Die Frage ist doch, ob ich hier weiterhin für Theater sorge oder ob es nicht besser ist, etwas anderes zu machen.”

“Hm. Wenn dem so ist, dass du dir die Schuld an all dem gibst, was bisher passiert ist, dann sei dir sicher: Das wird dir auch in einem anderen Job passieren. Nicht auf diese Art sicherlich, aber eben doch schlimm genug.”

“Meinst du?”

“Ich weiß es nicht, aber ich würde es an deiner Stelle mit ins Kalkül ziehen. Wenn du – wie es offenbar deine Meinung ist – das Unglück anziehst, dann wirst du das immer und überall tun.”

Nico lehnte sich entspannt zurück. Unmöglich, was Falk da eben gesagt hatte, war es freilich nicht.

“Und noch etwas: Hast du eigentlich dein Herz schon gefragt? Also nicht nur Abwägen, hin und her überlegen. Nicht Vor- und Nachteile, sondern einfach das Gefühl sprechen lassen.”

“Ich denke schon.”

“Ich glaube nicht, Nico. Weil, ich kann es immer nur wiederholen: Du bist für diesen Job geboren. Du würdest dafür auch kein Studium brauchen. Du hast das nötige Fingerspitzengengefühl, deine Entscheidungen sind richtig. Du ahnst die Dinge, von denen andere gar nicht wissen, dass es sie gibt. Du hast Menschenkenntnis und weißt damit umzugehen. Und du bist anpassungsfähig. Egal was, du machst aus allem etwas.

All das kann nur funktionieren, wenn man das schon im Blut hat. Man kann vieles lernen, aber das meiste, was hier abläuft, muss aus dem Instinkt heraus kommen. Außer Leo, Reiner und dir hat das hier noch keiner aus der Reihe so perfekt mitgebracht.”

“Und du natürlich«, warf Nico lächelnd ein.

Stein seufzte.

“Sicher, das ist Voraussetzung für meinen Posten. Aber ich stehe auch dazu. Ich habe keinen Beruf, das hier ist Berufung. Genau wie deine. Ich bin nicht mehr der Jüngste, Leo auch nicht. Roth wird dieses Projekt so lange antreiben, bis es vollständig alleine laufen kann. Aber dazu werden fähige Leute gebraucht und du gehörst zu ihnen. Du bist der Mann, den wir hier brauchen.”

“Ja, und ich bin schwul.”

Nicos Antwort kam fast trotzig.

“Auch das hatten wir oft genug. Ich sehe nicht, dass das ein schwerwiegendes Problem ist. Du hast es im Griff, das beweist du jedes Mal neu. Sicher, es mag Ausnahmen geben, aber davon will ich nichts wissen. Keiner der Jungen war zu jung und so lange es den Betrieb nicht stört, ist das deine Sache. Die Jungs sind in diesem Alter selbst verantwortlich. Natürlich, man muss sich die Frage stellen, was es mit dem Paragrafen der Schutzbefohlenen auf sich hat und für dich als Praktikant gibt es sicherlich noch so eine Grauzone, die es im Hauptberuf natürlich nicht mehr gibt. Aber ich bin sicher, dass du dann ganz genau weißt, wo deine Grenzen liegen. Wenn du eines Tages hier fester Betreuer wirst, dann ändert sich auch deine Sichtweise.”

Falk hatte demnach seine Meinung geändert, dass es auf gar keinen Fall zu einer Beziehung kommen durfte. Das letzte Mal, als es um dieses Thema ging, stand das Problem, dass es herauskommen und ein schlechtes, sehr schlechtes Licht auf die Betreuer werfen könnte.

“Und nun bin ich fast so schlau wie vorher, Falk. Ich akzeptiere alles was du eben gesagt hast, aber es ist ein Schritt in meinem Leben, den ich nicht bereuen möchte. Ich versuche ja jedes Mal, Abstand zu halten, aber es gelingt mir manchmal einfach nicht. Und einen festen Freund – ich glaube, da komme ich auch nicht weiter.”

Stein schenkte Wein nach.

“Ich kann dir da nicht helfen, das weißt du. Meine Meinung hast du gehört, alles andere liegt bei dir. Morgen fahren wir nach Weiden zum Röntgen und sind erst am Abend wieder da. Da du nicht mitkommst, nimmst du dir jetzt eine Auszeit – nein, besser, ich befehle sie dir. Frag mich nicht mehr, sondern triff deine Entscheidung. Ich möchte dich außer zu den Essenszeiten vor morgen Abend nicht mehr sehen und wenn du dem Professor deine Entscheidung mitgeteilt hast, dann darf ich sie hören. Vorher nicht. Einverstanden?”

Nico schluckte. So hatte Falk noch nie mit ihm geredet. Das waren deutliche Worte mit einer deutlichen Anweisung.

“Gut. Dann gehe ich nach dem Abendessen in Klausur.”

“So meine ich, Nico. Mach es dir nicht einfach, okay? Manchmal ist das Leben nicht fair, aber man muss versuchen, das Beste daraus zu machen. Alles hat zwei Seiten und man sollte den schlechten nicht immer allzu viel Gewicht beimessen. Und vergiss auch nicht, das Wort Chance in Betracht zu ziehen.”

Als Nico später in den Gemeinschaftsraum kam, schlug ihm eher ein Geruch nach Duschgel statt Essen entgegen. Was frische Klamotten und gut gereinigte Jungs so alles bewirken konnten.

Statt Einzeltischen zu je vier Personen stand nun eine Tafel quer im Raum, dort gab es reichlich Platz, ohne dass sich jemand beengt fühlen musste. Die Jungs, Leo, Reiner und Falk saßen schon da, bunt verstreut, wie es gewünscht wurde.

An ein Gesicht musste er sich aber erst noch gewöhnen: Manfred Haber passte irgendwie nicht in das ganze Konzept. Sicher, er hatte einen Job hier, einen sehr wichtigen sogar. Aber allein schon seine biedere Kleidung, die Nickelbrille, das schüttere, leicht ergraute Haar erinnerte ihn vielmehr an einen Bibliothekar, der sich aus Versehen hierher verirrt hatte.

Nico spähte einen der freien Plätze und steuerte darauf zu. Dass Falk neben ihm saß, spielte keine Rolle, ihr Abkommen galt erst nach dem Abendessen. Er hatte sehr oft schon den Eindruck, dass es keine Zufälle gab. Alles, was passierte, hatte einen tieferen Sinn, war irgendwie geplant, ja fast schon beabsichtig.

Nur den leeren Stuhl und Falk im Blick entging ihm zunächst, dass neben ihm Jonas saß.

“Hallo«, sagte der höflich und leise, was Nico erwiderte.

Es war ihm keineswegs unangenehm, neben dem Jungen zu sitzen. Nachdem er ja bereits wichtige anatomische Erkenntnisse über ihn hatte einziehen können, war er nicht mehr der Fremde, wie die anderen noch. Allerdings war das seine alleinige Sichtweise.

Jonas mochte das am Ende völlig egal sein. Nachdem die Jungs noch den Arzt passiert hatten, waren sie offenbar ebenfalls geschafft. Es war erstaunlich ruhig in dem Raum, fast schon bedrückend.

Aber das würde sich legen, da war Nico sicher. Nach dem Essen, das aus Fisch und Kartoffeln bestand, stellten sich die Jungs brav bei Leo an, um ihr Tagesgeld zu empfangen und die Einkaufszettel abzugeben.

Dazu gab es einen extra Tisch in der Ecke und es war alles prächtig organisiert, musste Nico eingestehen. Einfach und problemlos, aber dennoch effizient. Er ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Inzwischen hatte es wieder aufgehört zu schneien und es war gerade so viel Schnee gefallen, dass der Boden wie überzuckert aussah.

Nicht viel, aber möglicherweise ein Anfang. Dem Wetterbericht nach war es erst die Warmfront, die über das Land zog. Am morgigen Tag sollte ihr die Kaltfront folgen und hinter ihr das Schneetief.

Nico setzte sich nicht, die Bank war jetzt wirklich zu kalt. Aufkommender Wind wehte bunte Blätter aus den Bäumen auf den Platz und die begannen ihrerseits, raschelnd vom Wind hin- und her getrieben, den Schnee zu verdecken.

“Hast du mal Feuer?”

Nico musste nicht sehen, wer das war. Er hätte nur geschworen, dass Jonas selbst Feuer besaß. Aber es nutzte nichts.

“Ja klar.”

Nico zündete das Feuerzeug und Jonas umschloss sie mit seinen Händen, während er seine Zigarette anzündete. Das waren so Situationen, wo man Menschen sehr nahe kam. Immerhin gab es dazu auch eine kostenlose und unverfängliche Berührung der Hände. Das Gesicht leuchtete in der Flamme in einer schönen, rötlichen Farbe, außerdem bildeten sich die Wimpern deutlich ab. Ja, Jonas war hübsch, sehr hübsch. Jetzt roch er auch noch nach Duschgel und seine Haare standen ungezähmt vom Kopf.

“Danke.”

“Bitte, gern geschehen.”

Jonas blieb bei ihm stehen und sah in den dunklen Himmel.

“Saukalt wird das heute Nacht.”

“Ja, davon ist auszugehen. Was wäre eigentlich, wenn du noch im Freien schlafen müsstest? Ich meine jetzt, wo es Winter wird?”

Jonas zuckte mit den Achseln.

“Keine Ahnung. Heilsarmee vielleicht oder Bahnhofsmission. Es wäre mein erster Winter, ich bin ja erst seit dem Frühjahr auf der Straße.”

Nico wusste das, aber er hätte noch viele Fragen gehabt. Er hielt sich zurück, denn zum einen war gleich Feedback, zum anderen begann die Kälte seine Klamotten zu unterwandern.

“Ich geh mal wieder rein. Man sieht sich.”

Jonas winkte nur mit der Hand, sagte aber nichts. Wenig später trafen sich die Betreuer zu ihrer Austauschrunde.

“Nach einer ersten Untersuchung bin ich zu folgenden Ergebnissen gekommen: Die jungen Männer sind in verhältnismäßig guter körperlicher Verfassung, Befall von Flöhen oder Läusen waren nicht festzustellen, sowenig wie Ekzeme oder andere typische Erkrankungen durch Mangelernährung. Bei André Jansen habe ich allerdings erhebliche Blessuren festgestellt. Im Gespräch war zu erfahren, dass der Junge von seinem Vater aus dem Haus geprügelt wurde. Ungünstig war, dass es kurze Zeit später zu einer weiteren Prügelei auf der Straße gekommen ist. Damit wurde die Sache noch verschlimmert. Einige Prellungen muss ich behandeln, sie sind noch sehr effektiv. Seine Klagen über Kopfschmerzen muss ich daher zunächst sehr ernst nehmen. Wie ich da weiter vorgehe, entscheide ich aber noch. Er darf vorerst nicht an körperlichen Aktivitäten teilnehmen und sollte er Klagen, bitte ich darum, ihn sofort zu mir zu bringen. Bei zwei Personen sind demnächst zahnärztliche Behandlungen notwendig, vier Personen sind leicht untergewichtig, drei haben Normalgewicht und einer leichtes Übergewicht. Gemäß dem, das alle dennoch etwas untrainiert sind, sollte der erste geplante Ausflug am Freitag nicht zu anstrengend sein. André darf nicht daran teilnehmen. Ich möchte kein Risiko eingehen. Es ist ein Glück, dass wir ihn hier haben, draußen hätte es für ihn kritisch werden können. Auf Normalkost braucht nicht verzichtet zu werden, die erste Woche werden jedoch alle zusätzlich von mir mit Vitaminen versorgt. Es wäre gut, wenn sie überhaupt viel Obst und Gemüse zu sich nehmen würden. Morgen findet in Weiden eine Reihenuntersuchung der Lungen statt und das Ergebnis der Blutuntersuchungen erwarte ich am Donnerstag. Alle haben übrigens einem freiwilligen HIV-Test zugestimmt. Das ist im Moment alles von meiner Seite.”

Stein stand auf und übernahm das Wort.

“Ja, vielen Dank für Ihr Statement, Herr Doktor. Dass wir hier einen Fall von Misshandlung unter uns haben, ist natürlich sehr bedauerlich. Ich möchte euch auf jeden Fall bitten, André genauer im Auge zu behalten. Ansonsten denke ich, gibt es heute nichts Wichtiges zu berichten. Meiner Ansicht nach ist alles so gelaufen wie es sollte, dafür möchte ich mich natürlich auch bei allen hier bedanken.”

Nachdem der Doktor und Haber gegangen waren, übernahm Leo noch einmal das Wort.

“Also, unser Haus- und Hofhund wird immer seltsamer. Heute Morgen habe ich Rick dabei erwischt, wie er die Haustür aufgemacht hat. Richtig professionell. Ein Sprung auf die Klinke und schwupp, war er draußen. Ich meine, das ist nicht schlimm, aber ich kann nachts diese Tür nicht abschließen. Wenn hier etwas passiert, ist das auch eine Fluchttür und die darf nicht verschlossen sein. Ich werde einen Türschließer montieren, nicht dass da mal die ganze Nacht die Tür aufsteht.”

Stein lachte.

“Tja, Hunde sind auch nur Menschen.“

 

 

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