Boycamp IV – Teil 8

Dann war die Klappe dieses ersten Tages gefallen. Jonas wurde in dem Bulletin nicht extra erwähnt, scheinbar war mit ihm alles in Ordnung.

Nico zog es dann vor, sich zurückzuziehen. Sein Gespräch mit Falk wirkte immer noch nach, dabei war er nicht wirklich sauer oder böse. Die Dinge mussten nun mal ins Lot, daran ging kein Weg vorbei.

Trotz allem war er Neugierig, wie sich die Jungen in ihren Zimmern eingerichtet hatten. Er schlug deshalb den Weg durch den Gang im Erdgeschoss ein. Es war relativ ruhig, die Türen standen offen und Nico ging einfach daran vorbei, wobei er immer einen Blick in die Zimmer wagte.

Ja, er kontrollierte, wenn die Jungen das so sehen wollten. Er war Teil des Teams und es war seine Pflicht, an der Aufsicht teilzunehmen. Dass sie an der Stelle völlig überflüssig war, musste ja keiner von den Jungs wissen.

Zu seinem Erstaunen waren aber nicht alle auf ihren Zimmern, offenbar befanden einige im Gemeinschaftsraum. Nur aus dem letzten Zimmer hörte er ein leises Fluchen. Er blieb an der Tür stehen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Jonas rutschte mit einem Schuh in der Hand auf dem Boden herum und schien etwas zu suchen. Der Anblick seines süßen Hinterns ließ Nico ein bisschen verweilen, bevor er sich meldete.

„Ups, was ist denn hier los?“

Jonas sah erschrocken hoch und schwieg einen Moment, dann stand er auf.

„Da ist so eine Mistspinne hier drin. Ich kann die nicht ab.“

Süß, dachte Nico. Süß, wenn er sich aufregt.

„Nun, denen wird es jetzt draußen zu kalt, drum kommen die herein.“

„Die können sich von mir aus den Arsch abfrieren oder woanders aufwärmen. In meinem Zimmer nicht.“

„Hast du sie erwischt?“

Nico machte sich nicht im Geringsten etwas aus Spinnen in Zimmern, es war einfach die Unterhaltung, die er auf diese Art suchte. Allerdings fiel ihm spontan Marco ein, der damals das absolut gleiche Theater vollführt hatte.

Nico musste grinsen, als er sie beide beim aufstellen des morschen Feldbetts vor seinem geistigen Auge sah. Daraufhin kam es ja zur ersten Berührung mit ihm und den Kuss, den Marco ihm daraufhin gab, hatte er auch nie wirklich vergessen.

Wieso hatten die Jungen so viel Angst vor Spinnen? Es würde wohl ein Rätsel bleiben und in Zukunft mit Sicherheit Bestandteil eines jeden Camps. Jonas schien das zu bemerken.

„Du machst sich scheinbar lustig über mich? Hör mal, dieses Mistvieh ist soooo groß.“

Dabei deutete er die Größe zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Ich mach mich nicht lustig. Aber sollte sie so groß gewesen sein, müsste es sich wohl um eine Vogelspinne handeln.“

„Ich schwörs, das ist ein Riesending. Eklig lange Beine und behaart ist sie wie ein Bär.“

Nico fiel es schwer, nicht heraus zulachen, es klang einfach herrlich, wie er so schimpfte.

„Und wo ist sie nun hin?“

„Weiß der Geier. Wahrscheinlich unters Bett. Ich hasse den Viehkram.“

„Hm, wenn ich es richtig überlege.. Wenn man auf der Straße lebt, dann sind die ja auch immer irgendwie dabei.“

Jonas‘ Augen wurden groß.

„Ich habe nie welche gesehen. Und solche Riesendinger schon gar nicht.“

Nico machte es Spaß, so mit Jonas zu reden.

„Okay, dann lass sie uns mal suchen.“

Er kniete sich auf den Boden und schaute unter das Bett. Er bemerkte, dass sich Jonas neben ihn kniete und nun ebenfalls einen Blick unter das Bett warf. Nico wollte es nicht, aber er konnte nichts dagegen machen, dass sie sich berührten und er einen leisen Duft des Jungen aufschnappte.

Nein, er wollte von Jonas keinen Danke-Kuss, er wollte auch nicht von ihm berührt werden.

„Siehst du sie?“

„Nö, keine Spur.“

„Die ist irgendwo hier drunter, jede Wette.“

„Aber ich seh sie nicht.“

„Verdammt. Ich kann nicht schlafen, solange die hier drin ist.“

„Dann mach ich dir einen Vorschlag: Diese Spinnen jagen nachts. Mach das Licht ne Weile aus und dann wieder an. Sicher kriegst du sie so irgendwann.“

Jonas prustete.

„Nicht dein Ernst, oder?“

„Mein voller Ernst.“

Jonas stand auf.

„Ne ne, keine Chance. Die such ich jetzt, bis ich sie habe. Und dann gnade ihr Gott.“

Nico erhob sich ebenfalls.

„Wie du meinst. Aber es kann eine Zeit lang dauern.“

„Mir egal, davon hab ich ja erst mal genügend.“

Nico wurde wieder etwas ernster.

„Sonst ist alles okay mit dir?“

Jonas sah ihn an, mit diesen hellen, wachen Augen.

„Ja, sonst geht es mir gut.“

„Schön. Wenn noch was ist, wir sind da.“

Auf dem Rückweg warf er noch einen Blick in den Gemeinschaftsraum, dort saßen die anderen vor dem Fernseher. Immerhin etwas, worauf sie lange Zeit verzichtet hatten. Dann begab er sich nach oben.

Jonas war ein zutraulicher Junge. Einer, der auch auf Menschen zugehen konnte. Aber sonst war da nichts, er konnte von Jonas keine verräterischen Signale empfangen. Er hatte Gespenster gesehen, wie ja nicht selten zuvor auch schon.

Aber es musste ihm recht sein, er hatte es selbst so gewollt. Trotzdem konnte er sich eine Nacht mit Jonas ohne große Fantasien vorstellen. „Solange es den Betrieb nicht stört, ist es deine Sache.“

Falks Worte schallten in seinen Ohren. Im Grunde waren das ja fast ein Freibrief und ein Widerspruch zu seinem Vorhaben. Aber es wäre naiv zu glauben, dass es immer funktionieren würde. Einmal dumm gelaufen, dann wäre er den Job los.

Er beschloss, noch einmal vor die Tür zu gehen um frische Luft zu schnappen. Es war nicht mehr ganz so kalt, aber der Wind hatte zugenommen. Die Blätter in den Bäumen rauschten, irgendwo klapperte etwas. Und es roch nach Schnee.

„Hallo Rick. Das ist dein Wetter, wie?“

Der Rüde schnüffelte offenbar den ganzen Tag nur ums Haus herum, die meiste Zeit war er gar nicht zu sehen.

„Hallo Nico. Alles okay?“

„Hallo Leo. Ja. Und bei dir?“

„Ich will grad mal rüber ins Heizwerk. Kommst mit?“

Das kleine Heizwerk war links des Hauses in einem Anbau untergebracht. Sie betraten den Kesselraum, das sonore Brummen des Brenners und der Pumpen erfüllte die Luft.

„Sieht ja ganz modern aus hier«, stellte Nico fest.

„Ja, da hat man nicht gespart. Da kann man Öl oder Gas verbrennen. Außerdem ist er umrüst bar auf Festbrennstoffe wie Holz oder Kohle. Die zu heizende Fläche ist doch sehr groß und ein Heizkeller in diesem Ausmaß war wohl nicht machbar.“

„Und was wird grade verbrannt?“

„Erdgas. Ist im Moment am billigsten und einfachsten und zudem bleibt die Brennkammer länger sauber. Aber im Schuppen hinten liegt Holz für einen ganzen Winter, außerdem ist der Öltank voll. In der Sache kann uns hier gar nichts passieren.“

„Also müssen die Jungs kein Holz hacken, wie Falk erzählt hat?“

„Nee, zumindest in dieser Saison nicht. Und dann auch nur, wenn es kein Gas und Öl mehr gäbe. Die Feuerung mit Holz ist eigentlich auch nur für den Notfall gedacht.“

Leo warf einen Blick über die Instrumente an der Schalttafel.

„Sehr schön das. Alles läuft automatisch und selbst überwachend. Man muss sich hier um fast nichts kümmern.“

Neugierig öffnete Nico die Tür zu einer Kabine mit einem kleinen Glasfenster mit Blick in den Heizraum.

„Es hat hier früher tatsächlich einen Heizer gegeben. Das war sein Aufenthaltsraum«, erläuterte Leo.

Der Raum war nur etwas größer als ein übliches Gästeklo, ein Tisch, ein Stuhl und eine Leselampe, an der Wand das vergilbte Foto einer Almlandschaft.

„Oh je, der Arme. Das ist ja schlimmer als Knast.“

„Er wird nicht ständig hier gewesen sein. Ich vermute mal, wenn Reparaturen, Wartungen oder Probeläufe stattfanden. Ansonsten dürfte der gute Mann auch noch andere Arbeit hier gehabt haben. Allerdings, solange Dampf erzeugt wurde, war der sicher doch öfter hier. Und dann war es ja auch lauter, darum die Kabine.“

Nico ließ sich auf den Stuhl fallen.

„Leo, mach mal die Tür zu.“

„Du hast was auf dem Herzen, stimmts?“

„Muss ich nicht beantworten, Leo, du weißt es eh.“

Ohne Umschweife kam Nico auf das Thema. Er schilderte sein Gespräch mit Falk, die wirren Gedanken um seine Zukunft im Camp.

„Und nun willst du von mir wissen, was du tun sollst.“

„Nicht direkt. Ich brauch nur einen Menschen, mit dem ich das besprechen kann. Falk will von mir eine Antwort.“

„Nico, ich kann dich nicht belatschen. Du musst es selbst wissen. Falk hat recht: Geh in dich, mehr kannst du nicht machen und auch nicht erwarten. Nur, wenn du mich so fragst, ich an deiner Stelle würde den Job annehmen. Ich glaube nicht, dass du etwas anderes finden wirst, was dir Spaß macht.“

„Okay, Leo, das hat mir schon geholfen. Danke.“

Als Nico am anderen Morgen aufwachte, war er nicht sicher, ob er zum Frühstück erscheinen sollte. Lange Zeit war er noch wach gelegen und hatte über seine Zukunft nachgedacht. Leos Worte waren jedoch ausschlaggebend, er würde den Job annehmen.

Sachbearbeiter im Sozialamt war vielleicht etwas ruhiger, aber keinesfalls etwas fürs Leben. Und für seines schon gar nicht. Streetworker vielleicht noch, aber das war auch keine wirkliche Alternative.

In den Sinn war ihm auch gekommen, dass er eines Tages vielleicht Falks Posten übernehmen oder sogar selbst ein eigenes Camp führen könnte. Das musste gar kein Traum bleiben, das war durchaus möglich.

Ihm war klar, dass er sich dafür vielmehr engagieren musste als bisher und dass ihm gerade in Sachen Organisation noch einiges an Wissen fehlte. Auf diesem Posten würden ihm die Jungen auch kein Problem mehr machen können, da war er sicher.

Er sah auf die Uhr, kurz vor Sieben. Aufkommender Hunger trieb ihn dann jedoch aus dem Bett. Der erste Blick in die noch herrschende Nacht bestätigte ihm, dass noch kein Schnee fiel.

Aber er spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Er sprang unter die Dusche und dann hinunter in den Gemeinschaftsraum. Noch war keiner da, aber es roch bereits verführerisch nach Kaffee und frischen Semmel. Er lugte in die Küche und rief ein freundliches „Guten Morgen“ hinein.

Holzmann war eigentlich nie griesgrämig oder abweisend, allerdings auch nicht besonders gesprächig.

„Ah, der erste ist schon da. Morgen auch. Gut geschlafen?“

„Kann man sagen. Gibt’s schon etwas?“

„Setzen Sie sich rein, ich bringe Ihnen etwas.“

Nico setzte sich an den großen Tisch. Es war schon etwas seltsam, so ganz alleine in diesem Raum, in dem sonst immer irgendwer zugegen war.

„Oh, Rick, altes Schnüffeltier. Auch schon wach?“

Der Rüde kam zu ihm hin, jedoch noch sichtlich verschlafen.

„Du möchtest raus, oder?“

Rick schwänzelte und Nico stand auf, um den Hund hinauszulassen. Im Schein der Flurlampe erkannte er draußen eine Gestalt und das Glimmen einer Zigarette.

„Hallo?“

„Morgen«, hörte er Jonas‘ eher missmutige Stimme.

„Ah, morgen. Der Spinnenjäger ist auch schon auf.“

„Du machst dich schon wieder über mich lustig. Ich find’s aber gar nicht witzig.“

Jetzt tat ihm der Junge fast leid, anscheinend war das doch eine größere Sache gewesen.

„Und, hast du sie erwischt?“

„Nein.“

„Oh je. Wie hast du denn die Nacht rumgebracht?“

„Ich hab mein Bettzeug in den Flur getragen, was hätte ich sonst machen sollen.“

Nico dachte, sich verhört zu haben.

„Mensch Jonas, warum hast du dich nicht gemeldet? Wir hätten bestimmt eine bessere Lösung gefunden. Du hättest sicher auch bei einem anderen Jungen im Zimmer schlafen können. Oder im Gemeinschaftsraum.“

„Lass mal, die Nacht ist ja um. Und heute krieg ich sie, diese Mistspinne, da kannst du dich drauf verlassen.“

In der Stimme lag Wut und Zorn, das war nicht zu überhören. Nico war an dem Punkt angelangt, wo er den Jungen trösten wollte. Und er überschritt jene Grenze, die er sich gesetzt hatte.

Er ging auf ihn zu und legte seine Hand auf seine Schulter.

„Jonas, ich hab mich nicht über dich lustig gemacht, bestimmt nicht. Ich bin es eben nicht gewöhnt, dass sich ein gestandener Mann wie du wegen einer Spinne um die Nachtruhe bringen lässt.“

Jonas zog an seiner Zigarette und lächelte.

„Gestandener Mann.. das dauert wohl noch ne Weile.“

„Ihr fahrt ja später weg und wenn du willst, fange ich in der Zwischenzeit das Vieh in deinem Zimmer, okay? Sofern sie überhaupt noch da ist.“

„Das würdest du tun?“

„Klar, kein Problem.“

Jonas nickte. „Das wäre gut. Ich trau mich ja eh kaum da rein.“

„Dann machen wir das so. Bis ihr wieder kommt, ist deine Bude clean.“

„Danke, das find ich sehr nett von dir.“

„Schon gut, auch dafür sind wir da. Ihr müsst uns nur sagen, wo es klemmt, weil, Hellsehen ist nicht Teil unseres Jobs.“

Als die beiden in den Gemeinschaftsraum kamen, war noch immer niemand da. Sie setzen sich an den Tisch, wo Holzmann bereits aufgedeckt hatte und begannen ohne Zögern mit dem Frühstück.

„Wie bist du eigentlich auf die Straße gekommen? Ich meine, ihr habt zwar soweit schon einiges erzählt darüber, aber da steckt ja oftmals noch viel mehr dahinter.“

Jonas biss in seine Semmel.

„Ihr müsst das wissen, oder?“

„Nun ja, müssen ist das eine, Notwendigkeit das andere. Wir wollen euch ja helfen, aber dazu sollten wir schon wissen, welches die Gründe waren.“

Der Junge sah an Nico vorbei, als wollte er ihm nicht in die Augen sehen.

„Ich hab ne Lehre als Automechaniker angefangen, im Betrieb meines Onkels. War eigentlich im ersten Jahr auch ganz okay, aber dann lief der Laden plötzlich nicht mehr. Hing wohl mit der Wirtschaftskrise zusammen, denk ich. Mein Onkel musste den Laden schließen und ich fast Dreißig Kilometer bei einem anderen Autohändler meine Lehre fortsetzen. War stressig das alles, aber ich wollte ja meine Lehre abschließen. Nach ein paar Monaten dort machte ich dann bloß noch Kleinkram. Autos waschen, die Werkstatt reinigen, innen und außen, den Gesellen Werkzeug reichen, einkaufen für den Chef. Ich hab ihn dann mal gefragt, ob ich auch mal was lernen darf, da ist der patzig geworden. Ich könne ja gehen, hat er gemotzt, er würde jederzeit einen anderen finden und diese übliche Scheiß halt. Da hab ich es hingeschmissen.“

„Du hast dich mit deinem Chef scheinbar nicht so prima verstanden.“

„Anfangs schon. Aber bei ihm lief es dann auch nicht so toll und im Lauf der Zeit wurde er immer seltsamer.“

„Und dann hast du nichts anderes mehr gefunden?“

„Ich hab’s dann noch bei drei Werkstätten versucht, aber die hatten schon die Plätze belegt. Als ich das meinen Eltern erzählte, sind sie ausgeflippt. Ich meine, zu denen ich hab eh kein gutes Verhältnis, eigentlich gar keins, aber da war dann die Kacke echt am dampfen.“

„Dann bist du auf die Straße.“

„Na ja, erst gabs richtig Zoff mit meinen Alten. Sie haben mir eines Abends eine riesen Szene gemacht, ich solle mich gefälligst um eine Lehrstelle bemühen. Dabei hab ich ja schon alles versucht. Das war echt fies. Ich bin dann abgehauen vor lauter Wut. Beim Gammeln in der Stadt hab ich dann ein paar Typen getroffen, denen ging das ähnlich und die hatten sich für die Straße entschieden. Denen hab ich mich angeschlossen. Mir war da echt alles egal.“

„Klingt ziemlich bescheuert was da abgelaufen ist. Wieso stimmt es eigentlich mit deinen Eltern nicht?“

Möglicherweise bekam er darauf keine Antwort, aber er versuchte es.

„Ach die. Mein Alter ist Bonze in einer Chemiefabrik, verdient sich dumm und dusslig, meine Mutter spielt das Heimchen hinterm Herd. Ich weiß es heute, die wollten mich gar nicht. Ich war wohl so einer dieser berühmten Unfälle, keine Ahnung. Der Klotz am Bein, wie es so schön heißt. Plötzlich war wegen mir nämlich Schluss mit Lustig. Mit den Reisen um die Welt, den Partys und dem ganzen Schickimickigedöns drum herum. Da zählte nur ihr Haus, ihre Autos, ihr Boot. Der Sohnemann war auch da, ja, aber der spielte überhaupt keine Rolle. Hatten sich extra ein Kindermädchen angeschafft, damit sie wenigstens etwas Spielraum für ihre Späßchen hatten.“

Er nahm einen Schluck Kaffee und drehte die Tasse in seinen Händen.

„Schon früh haben sie mir Kohle in die Tasche gesteckt, ich hatte mehr Geld als die ganzen Schüler meiner Klasse zusammen. Mein Zimmer war voll von Zeugs, das ich gar nicht haben wollte. Bis unter die Decke. Solange ich damit beschäftigt war, die ganzen Spielsachen auszuprobieren, hatten sie nämlich ihre Ruhe. Die Ferien durfte ich bei meiner Tante in der Einöde absitzen, da konnten sie dann ordentlich die Kuh fliegen lassen.

Hab erst spät gerafft, dass sie mich damit so früh wie möglich selbständig machen wollten. Loswerden wollten die mich, mit Achtzehn aus dem Haus, das war wohl ihr Traum. Da war ihnen auch wurscht, was aus mir mal werden soll, die haben mir keinen Meter dabei geholfen. Und genau das haben sie mir dann auch noch vorgeworfen: Ich sei selber schuld, so einen blöden Beruf lernt heute keiner mehr und lauter so ein dummes Bla bla. Hätte ich ein Studium angefangen, wären sie vielleicht nicht so zu mir gewesen, aber darauf hatte ich absolut keinen Bock.

Nun ja, jetzt bin ich aus dem Haus. Die sehen mich nicht wieder, ganz bestimmt nicht. Ob sie jetzt wieder glücklich sind ist mir auch echt scheißegal. Dabei haben sie mir noch gedroht, mich zu enterben, wenn ich mich nicht anstrenge. Da hab ich rumgeschrien, sie sollen an ihrer Kohle und im Proll ersticken, so sauer war ich. Das war auch mein letztes Wort, bevor ich ein paar Sachen gepackt und die Tür von außen zugeknallt habe. Muss die halbe Straße mitbekommen haben, aber das war mir ziemlich egal. Vielleicht merken sie ja mal, dass Geld nicht alles ist. Bloß wissen sie scheinbar noch nicht, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Ich denke, irgendwann kriegen die ne saftige Rechnung von dem da oben. Die wird aber mit Geld nicht zu begleichen sein. Und ich bin so frei, das erleben zu wollen.“

Nico hörte dem Jungen gespannt zu.

„Und Freunde? Wie war es damit?“

„Ja sicher, die gab’s. Da hatte ich wenig Probleme. Schwierig war immer nur denen klar zu machen, dass ich nicht auf das Geld meiner Alten scharf war. Ich wollte nichts Besonderes sein, vor allem nicht der reiche Junge aus gutem Hause. Ja, das war öfter schwierig, das muss ich zugeben. Sicher, ich hab vielen mal was zugesteckt, ich hatte es ja. Aber damit wollte ich mir niemals Freundschaften erkaufen.“

„Und eine Freundin? Jemand, wo man wirklich Trost findet, wenn’s knallt?“

„Pah, Trost. Das ist regelmäßig gründlich schief gegangen. Die haben nämlich sofort den Braten gerochen; da ist Geld, der ist reich. Sie waren hinter mir her wie die Teufel der armen Seele. Die wollten wirklich sonst nichts. Na gut, das eine noch, klar, aber das war dann rein mechanisch, da kam nix rüber bei. Ich hatte immer das Gefühl, die denken, sie werden von einem gerollten Geldschein gefickt. Dann immer die Fragen, wann ich denn endlich meinen ersten Porsche bekäme und lauter so ein schwachsinniger Mumpitz. Das war echt schon voll krank.“

„Hm, Jonas, irgendwie weiß ich jetzt nicht. Du bist ein gutaussehender und sehr sympathischer junger Mann. War denn da keine, der das Geld egal war?“

„Danke für das Kompliment, Nico, aber nö, da gab es keine einzige. Ich hab sie so regelmäßig abserviert wie sie auf der Fläche erschienen sind. Und die reichen Töchter, die bei uns ein- und ausgingen, waren nichts weiter als unerträgliche Zicken. Dumm wie ein Meter Feldweg und übers Aussehen mag ich gar nicht erst reden. Wenn man ihnen in die Augen sah, waren da nur Dollarzeichen zu erkennen. Da wär ich lieber mit einem Kerl ins Bett als mit so einer Geldschisser-Schlampe.“

Nico musste ob des letzten Satzes schlucken. Sicher war das nur so daher gesagt, aber die Vorstellung an sich war recht amüsant und delikat obendrein. Dennoch, die Verbitterung des Jungen ging ihm gehörig an die Substanz.

Am Zittern seiner Stimme war leicht zu erkennen, dass Jonas gelitten hatte, im wahrsten Sinne des Wortes. Er zog sich das nicht aus den Fingern und zu Übertreibungen schien er auch nicht zu neigen.

Nico lehnte sich zurück und schnaufte. Diese Geschichte musste er erst einmal verarbeiten. Und sie trug dazu bei, jeden Schritt zu verstehen, den Jonas dann gegangen war. Auf die Straße zu gehen war einfach die letzte Konsequenz.

Erst recht war er nun wild entschlossen, diesem Jungen wieder auf die Beine zu helfen. Er ernannte ihn in diesem Augenblick zu seinem persönlichen Schützling. Und gleichzeitig wusste er, dass seine Entscheidung richtig gewesen war.

Er konnte es kaum abwarten, mit Professor Roth zu telefonieren. Wie auf Kommando kamen nun alle anderen in den Raum um zu frühstücken, worauf Nico aufstand. Er lief an Falk vorbei und er konnte es sich nicht verkneifen, ihm zuzuzwinkern, während er ihm einen guten Morgen wünschte.

„Ich habe bereits gefrühstückt. Die frische Luft macht Hunger«, grinste er Stein zu.

Der kniff ihm beim vorbeigehen daraufhin in den Arm und lächelte. Er kannte Nicos Entscheidung.

Jonas war ihm vor die Tür gefolgt, nun standen sie vorm Haus. Nico setzte ihr Gespräch fort.

„Würdest du deine Lehre eigentlich beenden wollen, wenn es die Möglichkeit gäbe?“

„Ja klar, das würde ich. Mir macht der Beruf ja Spaß, so ist das nicht. Aber wenn das hier vorbei ist, muss ich erst einmal irgendwo unterkommen. Nach Hause zurück gehe ich nicht.“

„Ja, da haben wir wohl auch die meiste Arbeit mit. Alle Jungs hier müssen eine Bleibe finden. Wir hoffen, dass sie wieder Anschluss an ihre Familien finden. Leicht wird das jedoch nicht werden.“

Inzwischen kam der Bus angefahren und parkte auf dem Platz. Nico wartete, bis die Jungen aus dem Haus kamen und in den Bus einstiegen. Auch Stein begab sich schließlich in den Bus und kurz darauf verließ er das Grundstück.

Es schien, als wolle es kein Tag werden. Der Himmel war bleigrau und schwer, die Sicht ging nur wenige hundert Meter weit. Typisches Herbstwetter. Nico fröstelte und Anbetracht der Tatsache, dass er eigentlich einen freien Tag hatte und wollte in sein Zimmer.

Gerade noch fiel ihm die Spinne ein, die er für Jonas fangen sollte. Er lief den Gang hinunter, bis er an Jonas‘ Zimmer ankam. Er betrat solche Gemächer nicht gerne, er fand es einen Eingriff in die Privatsphäre und das umso mehr, wenn keiner da war.

Aber der Junge hatte ihm die Erlaubnis gegeben, er musste keine Bedenken haben.

Trotzdem betrat der den Raum, als wolle er niemand stören. Es war ein seltsames Gefühl. Jonas‘ Zimmer war ordentlich aufgeräumt, was sich natürlich in den kommenden Wochen noch ändern würde.

Er war sich nicht schlüssig, wo er denn diese Spinne überhaupt suchen sollte, wahrscheinlich war sie schon gar nicht mehr hier. Trotzdem legte er sich auf den Boden und sah unter dem Bett nach.

Dann klapperte er die Ecken des Raums ab, aber nichts deutete auf die Anwesenheit der Spinne hin. Gerade wollte er den Raum verlassen, als sein Blick zum Schrank fiel. Die Tür war nur angelehnt und jetzt trieb ihn seine Neugier.

Vorsichtig öffnete er die Tür ganz und sah in den Schrank. Auch dort lag alles fein säuberlich beisammen, schlampig war Jonas jedenfalls nicht. Doch noch etwas fiel Nico auf: Unter einem der Hemden ragte der Teil eines Buchrückens heraus.

Noch einmal erfuhr seine Neugier einen Schub und während er gespannt nach möglichen verdächtigen Geräuschen lauschte, zog er das Buch heraus. Es war ein Tagebuch. Der Einband war abgegriffen und teilweise sogar zerschlissen.

Nico sagte dies, dass das Buch schon einiges mitgemacht hatte. Er drehte es eine Weile in seinen Händen und er wusste, dass es ihn nicht das geringste anzugehen hatte. Solche Tagebücher waren mit das intimste, was ein Mensch überhaupt besitzen konnte.

Er erinnerte sich, dass er auch schon öfter den Gedanken gehegt hatte, eines zu schreiben. Rückblickend ärgerte es ihn sogar, es nicht getan zu haben. Nun betrachtete er es intensiv, so, als könne er durch den Einband hindurchsehen.

Seine Hände zitterten leicht, als er sich dann doch entschloss, einen, einen einzigen Blick hinein zu werfen. Jonas würde es nicht bemerken. Vielleicht war es gar nicht von ihm, Jungen schreiben in aller Regel keine Tagebücher.

Aber auf der ersten Seite stand sein Name, es musste ihm gehören. Das Buch war etwa zur Hälfte beschrieben und Nico schlug die letzte Seite auf. Jonas hatte eine überraschend schöne, saubere Schrift.

„Es ist ganz nett hier, man muss nichts entbehren. Und sie wollen einem wirklich nur helfen. Wir haben viel Freiheit, mehr, als ich zu hoffen gewagt habe. Unter all den Betreuern ist mir aber der Nico am liebsten. Der ist so offen, freundlich und gar nicht überheblich. Frag mich nicht wieso, aber ich habe so das Gefühl, dass er mich auch sehr gern hat. Er schaut mich immer so lieb an. Schlecht wär’s ja nicht, der ist recht hübsch. Na ja, ich kriegs raus.“

Weiter las Nico nicht, erschrocken und völlig überrascht knallte er das Buch zu. Sein Herz klopfte wie wild, so kannte er sich fast nicht. Der letzte Satz kreiste in seinem Kopf und ließ überhaupt keine anderen Gedanken mehr zu. Noch einmal öffnete er dann mit zittrigen Fingern das Buch, er wählte etwa die Mitte der beschriebenen Seiten.

„.. Diese blöden Weiber können mir gestohlen bleiben. Seit mich der Smiff damals mitgenommen hat auf sein Zimmer hab ich viel mehr Lust auf so was. Mann, diese Nacht bei dem im Zimmer war echt ein Knaller. Aber das hatten wir ja schon..“

Nun klappte Nico das Buch endgültig zu, viel mehr wollte und musste er nicht wissen. Er verstaute das Buch genau so wie er es vorgefunden hatte, lehnte die Schranktür wieder an, verließ rasch das Zimmer und ging nach oben.

Er setzte sich aufs Bett und schüttelte den Kopf. Das war der absolute Hammer schlechthin, das Blatt hatte sich total gewendet. War er es gewesen, der sich zurückhalten wollte und musste, könnte jetzt die Gefahr von der anderen Seite kommen. „Ich kriegs raus“.

Vor allem diese drei Worte wiegten schwerer als alles andere. Auch die Sache mit diesem Smiff beschäftigte ihn. Wer war er? Was war da passiert? Wahrscheinlich würde er es nie erfahren, denn fragen konnte er nicht.

Als er sich nach und nach von dem Schreck erholte, versuchte er die Lage einzuschätzen. Es könnte natürlich durchaus amüsant werden, wie Jonas das anstellen wollte, „es“ rauszukriegen.

Zwar war er der Typ, der so eine Frage direkt stellen würde: „Bist du schwul?“ Aber wahrscheinlich würde er eher darauf warten, dass sich Nico durch irgendetwas verraten könnte. Vlado spielte in dem Moment nun nicht die Rolle, wie das sonst der Fall war.

Mit ihm hatte er lediglich ein Techtelmechtel, nichts Festes und nichts Ernstes. Dass Jonas durchaus eine Sünde wert war, das waren ja seine Gedanken, als er den Jungen zum ersten Mal sah.

Nun standen ihm zwar nicht die üblichen Gewissensbisse im Weg, er war mit niemandem liiert. Marco tauchte kurz auf, tauchte aber nach wenigen Augenblicken wieder ab. Abstand, Nico, Abstand! redete er auf sich ein. Keiner der anvertrauten Jungen mehr, das nicht.

Die Frage war nun eher, wie sich Jonas jetzt verhalten würde. Das Dumme an der Sache war lediglich, dass er ihn von nun an mit ganz anderen Augen betrachten würde. Und es lag an ihm selbst, wie viel er in der Sache von sich preisgeben wollte.

Er musste an etwas anderen denken und so holte er sein Notebook aus dem Schrank. Mehr als surfen war sicher nicht mehr drin an dem Tag und Lust darauf hatte er dann auch. Ein Blick auf das Regenradar zeigte, dass die Kaltfront in wenigen Stunden eintreffen würde, außerdem war die Vorhersage nun genauer: Es war ziemlich sicher, dass bis zu fünfzehn Zentimetern Schnee fallen könnten.

Von einer plötzlichen Idee übermannt, begann Nico die Textverarbeitung zu öffnen und tippte darauf los. Kaum hatte er einige Zeilen geschrieben, tanzte sein Handy auf dem Nachttisch, eine SMS war angekommen.

„Hi Nico. Wie geht’s eben? Es ist grad Pause und ich hab Langeweile. Es ist wirklich schade, dass wir uns nicht sehen können. Grüße, Vlado.“

Vlado. Nico ließ sich in seine Kissen fallen, überlegte kurz und dann begann er zu antworten.

„Hallo. Heute hätte ich ein bisschen Zeit, ich hab keinen Dienst in dem Sinne. Wenn du nach der Schule kurz raufkommen möchtest, ich bin da. Ciao, Nico.“

Nur Sekunden später kam die Antwort:

„Das ist ja Super. Oki, ich komme hoch. Bis später.“

Nico stand auf und ging zum Fenster. Vereinzelt tanzten die ersten Schneeflocken vorbei, die Front stand vor der Tür. Aller Erfahrung nach war jetzt abzusehen, dass der Bus nicht so früh zurück sein würde.

Er hatte es versäumt, zumindest Falk von dem kommenden Wetter zu warnen. Aber an alles konnte er auch nicht denken. Er setzte sich wieder auf das Bett, nahm sein Notebook und setzte seinen Text fort.

 

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