Boycamp IV – Teil 12

Nico ging zu ihm hin und sah ebenfalls in das Zimmer. Es gehörte André, dem unauffälligsten Jungen in der Gruppe. Er hatte sich bislang aus allen Aktivitäten herausgehalten und war eigentlich nur zu den Essenzeiten präsent.

Allerdings war das auf Doktor Schnells Anweisung zurück zu führen, der dem Jungen eher Ruhe verordnet hatte. André lag in seinem Bett und hatte die Decke bis über seinen Kopf gezogen. Nico beschlich ein ungutes Gefühl. Er ging in das Zimmer und trat vors Bett.

„André? Hallo? Alles okay mit dir?“

Doch der Junge antwortete nicht. Nico setzte sich auf die Bettkante und zog die Decke von seinem Kopf. André starrte zur Wand, mit weit geöffneten Augen. Nico kam es vor, als hätte er Tränen in den Augen.

„Hey, Junge, was ist mit dir?“

Er schlug die Decke weiter zurück und erschrak. Nico hatte so etwas noch nie gesehen. André trug nur seine Unterwäsche und sein Körper war übersät mit blauen Flecken, einige waren richtig dunkel.

Ein Wunder, dass man sich mit solchen Blessuren überhaupt noch bewegen konnte. Ihn zu fragen, ob ihm etwas weh tat, war überflüssig..

„Ich hab solche Kopfschmerzen«, hörte er André dann ganz leise sagen.

Sofort läuteten alle Alarmglocken.

„Jonas, ruf bitte sofort den Doktor. Beeil dich.“

Jonas hatte an der Tür gestanden, ohne zu zögern verschwand er nun. Nico fühlte unendliches Bedauern, wie er es in der Form noch nicht kennen gelernt hatte. Sicher, es gab immer wieder einmal Verletzte in seinem Umfeld, aber hier lag der Fall anders. Mit welch brutaler Gewalt wurde dem Jungen hier Leid angetan? Er konnte es nicht fassen, dass ein eigener Vater zu solchen Taten überhaupt fähig war.

Kurz darauf erschien Doktor Schnell mit seiner Tasche. Nico stand auf und machte Platz, verließ dann den Raum unaufgefordert. Er zog Jonas mit sich, über den Flur bis in dessen Zimmer.

„Was für ein Glück, dass du das mitbekommen hast.“

„Ich hab nur ein Wimmern gehört, Nico. Es klang so seltsam, da hab ich nachgeschaut.“

Er griff den Jungen am Arm.

„Vielleicht bist du sein Schutzengel, wer weiß.“

„Quatsch, so etwas gibt’s doch gar nicht.“

Nico erinnerte sich sofort an Manuel und den kleinen Tobias. An das, was damals passierte und er nie die Möglichkeit ausgeschlossen hatte, dass Manuel immer noch unter ihnen weilte, in irgendeiner Form.

„Das mit dem Schutzengel kann man nicht wissen.“

Jonas ging nicht darauf ein.

„Was ist denn jetzt mit André?“

„Keine Ahnung, Jonas. Der Doktor wird wissen, was zu tun ist. Aber ich muss jetzt nach oben. Bis später mal.“

Als Nico an Andrés Zimmer vorbeiging, hörte er den Doktor telefonieren. Demnach war das eine sehr ernste Sache.

„Wie geht es ihm?«, fragte er, nachdem der Arzt das Gespräch beendet hatte.

„Wie ich befürchtet habe. Es gibt Komplikationen, aber der Rettungswagen ist unterwegs.“

„Ist es sehr ernst?“

Der Arzt stand auf und zog die Schultern hoch.

„Ich kann das so nicht feststellen. Rechnen muss man mit allem.“

„Er kann froh sein, dass er bei uns ist, denke ich. Draußen auf der Straße, da hätte er ja gar keine Chance gehabt.“

Der Arzt nickte.

„Das ist der einzige Grund, warum ich seiner Aufnahme hier überhaupt zugestimmt habe.“

Vlado bemerkte sofort, dass mit Nico etwas nicht stimmte, als er wenige Minuten später sein Zimmer betrat.

„Ist etwas passiert?“

Nico setzte sich auf das Bett und schilderte ihm Andrés Geschichte, so viel er davon wusste. Es tat gut, ausgerechnet jetzt jemanden um sich zu haben, der einem mit all den Gedanken nicht alleine ließ.

„Das ist ja mal heftig. Hat man den Alten wenigstens eingesperrt?«, fragte Vlado anschließend sichtlich aufgeregt.

„Keine Ahnung. Ich denk, eher nicht. Er wird André aus dem Haus geprügelt haben und das war’s. Der Junge hat garantiert keine Anzeige erstattet und wo kein Kläger, da kein Richter.“

Vlado ballte die Faust.

„So einer müsste mir mal unter die Finger kommen.“

„Ich hätte da auch so meine Bedenken…“

Von der knisternden Atmosphäre, die sich in der letzten Zeit aufbaute, wenn die beiden zusammen waren, gab es nun keine Spur. Sie hatte Wut und Zorn Platz machen müssen.

„Vlado, ich drehe meine erste Runde schon um Neun Uhr.“

Der Junge nickte.

„Na ja, das ist ja auch wichtig. Außerdem, ich muss dann auch langsam gehen.“

„Tut mir leid, wenn ich dir den Abend verdorben habe.“

„Nico, das hast du nicht. Außerdem kannst du nichts dafür. Ich drücke André die Daumen, dass er da wieder heil herauskommt.“

Als die beiden vor das Haus traten, fuhren ein Rettungs- und Notarztwagen vor. Nico erklärte den Sanitätern, wo sie hin müssen und eilig verschwanden sie im Haus. Nachdenklich sahen sie den Männern nach.

„Ich fahr dann mal, Nico. Kannst mir ja Bescheid geben, wie das mit André gelaufen ist.“

„Mach ich. Komm gut nach Hause.“

Er fuhr diesmal ohne Einlage vom Platz, es musste ihn unheimlich mitgenommen haben. Nico stand unschlüssig herum. Noch eine Stunde, bis seine Runde begann. Sein Blick fiel zu der neuen Hundehütte, allerdings fehlte von dem Bewohner jede Spur.

Dann sah er in den Himmel. Der hatte sich schon vor einiger Zeit wieder zugezogen und Regen war angekündigt. Das hatte lediglich den Vorteil, dass es nicht so kalt werden würde wie die letzten Nächte, mehr aber auch nicht.

„Na, alles in Ordnung?“

Stein war neben ihn getreten.

„Nicht ganz. Mal gespannt, was aus André wird. Weißt du schon etwas Näheres?“

„Nein. Mir ist allerdings ganz recht, dass André in ein Krankenhaus kommt. Weiß der Himmel, welche Komplikationen da noch auftreten können.“

Nico seufzte.

„Der arme Kerl. Seinen Alten würde ich…“

Er unterbrach sich. Immer versuchte er, sich vor Falk nicht gehen zu lassen, so auch jetzt. Obwohl es ihm nicht leicht fiel.

„Ich verstehe dich, mir geht es nicht anders. Manchmal kann ich die Gegensätze nicht verstehen. Wir haben uns einen Job gesucht, der ganz genau das Gegenteil von dem ist, wie solche Eltern sind. Glaub mir, ohne die hätten wir alle hier viel weniger zu tun.“

„Meinst du, die Eltern sind grundsätzlich daran schuld, dass es ein Camp wie dieses gibt?“

„Grundsätzlich nicht, aber zu einem sehr großen Teil. Du kannst es in den Unterlagen lesen, du hörst es von den Jungen selbst. Und ich fürchte, daran wird sich auch nie etwas ändern.“

Die Sanitäter brachten André auf einer Trage zu ihrem Fahrzeug. Nico beunruhigte, dass sie in Eile waren.

„Ich fahre mit meinem Wagen hinterher, die im Krankenhaus müssen da Näheres dazu erfahren«, rief Doktor Schnell den beiden zu.

Nach wenigen Minuten herrschte eine drückende, fast lähmende Stille über dem Camp. Nico fröstelte, obwohl es nicht wirklich kalt war. Daran waren die Ereignisse der letzten Stunden schuld.

„Rick? Wo bist du?“

So sehr sich Nico dann bemühte, der Rüde ließ sich nicht blicken. Das war schon deshalb ungewöhnlich, weil er sonst sofort parat stand, sobald Automotoren brummten.

Nico lief ins Haus in den Speisesaal.

„Sagt mal, hat jemand von euch Rick in letzter Zeit gesehen?

Leo und Rainer sahen sich fragend an.

„Seit heute Morgen nicht mehr«, antwortete Leo.

Um ihn war Rick eigentlich am häufigsten, wenn Stein anderweitig beschäftigt war.

„Nee, heute noch gar nicht«, warf Rainer Bode dann ein. „Ich kann mich auch nicht erinnern.“

Leo verließ kurz den Raum, kam dann aber sofort wieder zurück, in der Hand Ricks Futterschüssel. „Hier, das Futter ist von heute Morgen. Normalerweise lässt er nichts stehen.“

Nun machte sich Nico ernsthafte Sorgen.

„Hat ihn denn keiner vermisst? Den ganzen Tag nicht?“

In Nicos Stimme lag ein Vorwurf, obwohl er sich selbst in die Frage einbeziehen musste.

Noch nie war Rick so lange abkömmlich gewesen und sein Futter hatte er auch noch nie stehen lassen. Beunruhigt ging Nico schließlich nach draußen.

Es war, als müsste der Hund jeden Augenblick aus dem Wald oder den Weg hoch kommen, aber in der herrschenden Dunkelheit war nichts außer Stille und Ruhe. Die kamen Nico plötzlich verräterisch vor. Zu ruhig.

Er kannte dieses Gefühl, wenn sich allmählich etwas zusammenbraute. Aber was? Rick war eher übervorsichtig, er würde sich nie in Gefahr begeben. Immer wieder rief er seinen Namen, wenig später standen auch Leo und Rainer draußen.

„Ob es Sinn macht, ihn zu suchen?“

Nico hörte das leichte Zittern in Leos Stimme heraus.

„Nicht im Dunkeln. Wenn ihm nichts passiert ist, hört er uns rufen, Kilometerweit. Ich frage mich, warum er nichts gefressen hat. Das kann nichts Gutes bedeuten.“

„Aber wiederum seltsam: Er war heute Morgen ja noch hier, also hätte er fressen können. Es muss etwas dazwischen gekommen sein.“

„Aber was, Leo?“

Nico ging nach oben und zog sich um, denn so oder so begann für ihn die erste Wache. Unten wieder angekommen, leuchtete er vorsichtshalber in die Hundehütte, dann ging er den Waldrand ab, rief immer wieder nach dem Hund. Aber es rührte sich nichts.

Scheinwerfer erhellten den Weg, der Arzt kam zurück.

„Und, was ist mit André?«, fragte Nico, als Doktor Schnell ausstieg.

„Erste Untersuchungen haben nichts ergeben, was auf eine bedrohliche Situation hat schließen lassen. Sie beobachten ihn jetzt eine Weile, hoffen wir, dass es ihm bald besser geht.“

Nico hätte es sich gern erspart, aber Falk musste sofort von Ricks verschwinden wissen. Er ging nach oben in dessen Zimmer.

„Falk, Rick ist seit heute Morgen verschwunden. Er hat auch sein Futter nicht angerührt.“

Stein sah Nico zunächst an, als hätte er ihn nicht verstanden, doch dann legte er seine Stirn in Falten.

„Stimmt, ich habe ihn auch nicht mehr gesehen.“

Doch entgegen Nicos Befürchtung geriet Falk nicht in Panik.

„Wahrscheinlich hat er eine läufige Hündin ausgemacht. Auf einem Dorf wie diesem rennen oft nicht wenige Weiber herum. Kastrieren tut die auch kein Mensch. Lass mal, der kommt schon wieder.“

Nico sah Stein an wie einen Geist, dann jedoch legte sich auch seine Spannung. Falk kannte seinen Hund, besser als jeder andere hier. Und es sprachen ja keine Anzeichen gegen die Vermutung, dass sich Rick seinem Vergnügen hingab. Nico folgte Stein dann nach oben und nahm das Walkie-Talkie in Empfang.

„Mach dir keine Sorgen Nico, Rick ist schneller wieder hier wie du denkst. Es ist nicht das erste Mal, auch wenn das jetzt ein denkbar blöder Zeitpunkt dafür ist.“

„Ja, ja, wo die Liebe hinfällt«, sagte Nico im hinausgehen.

Während er kurz darauf seine Runden drehte, lauschte er viel angestrengter in die Dunkelheit als die Nacht zuvor. Dabei ging es ihm nur darum, dass Rick plötzlich vor ihm auftauchen könnte.

Da es noch nicht so spät war, hatte er jedoch kaum die Langeweile des Morgens zu ertragen. Immer wieder kam einer der Betreuer heraus, mit jedem konnte sich Nico eine Weile unterhalten.

Es ging in dabei um die Sicherheit, um André und natürlich um Rick.

Auch Benjamin, Sascha und Timo gesellten sich für eine Weile zu ihm. Er vermisste zwar Jonas in der Runde, aber vielleicht war es besser, ihm nicht so oft in die Quere zu kommen.

Immer noch tauchten seine Tagebucheinträge vor Nico auf, wenn auch in abgemilderter Form. Erst zu Beginn der zweiten Stunde wurde es etwas ruhiger, aber dafür ungemütlicher – es begann zu regnen. Nun war es unmöglich, das Prasseln der Tropfen auf den Blättern im Wind von Schritten zu unterscheiden.

Nico mochte das nicht. Wenn es jemand geschickt anstellte, konnte er sich ihm bis auf die Nasenspitze nähern, ohne dass er das bemerken würde. Dazu kam die stockdunkle Nacht, in der man fast die Hand vor Augen nicht sah. Nur in der Nähe des Hauses, wo aus den Fenstern etwas Licht fiel, war etwas zu erkennen.

Obwohl es nicht frostig war, kroch die nasse Kälte durch seine Klamotten. Er zog die Kapuze enger und vergrub seine Hände tief in den Jackentaschen. Als er wieder am Haus vorbei kam, stand Jonas unter der Tür und blies den Rauch der Zigarette in die Nachtluft.

„Nicht freundlich, das Wetter, oder?“

Hatte er extra gewartet, bis sie alleine sein konnten? Wieso war er nicht mit den anderen Jungen vorher hier aufgetaucht? Alles Fragen, die Nico durch den Kopf gingen.

„Nein Jonas, das macht echt keinen Spaß. Alles okay bei dir?“

Nico hielt es für angebracht, jedes einzelne seiner Worte vorher zu überlegen. Schnell war etwas anzüglicher ausgesprochen als er das wollte. Doch seit er wusste wie es um Jonas stand, fiel ihm das Versteckspiel zunehmend schwer.

Was wäre die schlimmste Folge, wenn der Junge Gewissheit hatte? Jonas könnte es den anderen Jungs erzählen, aber das gerade wollte er nicht riskieren.

„Rick ist noch nicht wieder aufgetaucht, oder?“

„Nein, Jonas. Falk meint, er wäre sicher nur verliebt und würde eine der Dorfschönen aufgegabelt haben.“ Nico versuchte noch immer, dem Glauben zu schenken, aber mit jeder Minute, die der Rüde verschwunden blieb, zweifelte er an dieser Vermutung.

„Na ja, kann man schließlich verstehen.“

Trotz des nur schwachen Lichts aus dem Flur hätte Nico schwören können, dass Jonas bei diesen Worten grinste. Er war sich nicht sicher, ob das eine zweideutige Aussage war. Leo gesellte sich zu ihnen.

„So, dann werd ich mal die nächste Wache schieben.“

„Das ist fein, Leo. Bei dem Wetter jagt man nicht mal einen Hund vor die Tür.“

Leo grinste.

„Keine Bange Nico, wie du weißt, bin ich da nicht empfindlich.“

Gerade wollte er die Treppen nach oben, als Jonas ihn aufhielt.

„Hast du mal einen Moment Zeit?“

Nico wurde mit einem Schlag seltsam zumute. War das jetzt der Auftakt?

„Um was geht es denn?“

„Kann sein dass ich mich täusche, aber ich glaube, jemand hat in meinem Zimmer

herumgeschnüffelt.“

Nico wurde auf der Stelle glühend heiß.

„Ja nun, also, ich war ja in deinem Zimmer. Vielleicht..“

„Nein, das muss erst jetzt gewesen sein.“

Nico entspannte sich.

„Gut, lass mich aber erst umziehen, ich bin quatschnass.“

Die heiße Dusche war Überlebenswichtig. Während das Wasser an ihm herab rauschte fragte er sich, wer in Jonas’ Zimmer gewesen sein könnte. Oder – war da überhaupt etwas? Er zog seinen Jogginganzug an und ging nach unten.

Hatte der Junge sich noch fein gemacht? Jonas sah im Licht der kleinen Wandlampe richtig aufgeräumt aus. Er saß mit angewinkelten Beinen auf dem Bett und lehnte sich an die Wand. Keine aufreizende Stellung, wie Nico feststellte.

Wenngleich es so natürlich nicht ausblieb, dass Jonas einen Blick zwischen seine Beine und die eindeutigen Konturen dort freigab. Nico versuchte, ihn nicht intensiver anzusehen als das notwendig war.

„So, nun erzähl mal, wieso kommst du darauf, dass hier einer drin war?“

Jonas zuckte mit den Schultern.

„Ich kann’s nicht beweisen, aber ich fühle einfach, dass da jemand gewesen ist.“

Nico wurde neugierig. Entweder das war eine der billigsten Maschen, die er je erlebt hatte, oder Jonas war genauso feinfühlig wir er selbst. Das musste er einfach herausfinden.

„Es fehlt also nichts?“

„Nein, was soll man hier auch schon klauen.“

Jonas setzte sich auf.

„Nico, ich rieche das förmlich. Hier war jemand drin, warum auch immer.“

„Jonas, wie kann man denn riechen, dass hier jemand drin war? Es sei denn, derjenige hätte äußerst üble oder aufdringliche Körperausdünstungen.“

„So meine ich das nicht. Hattest du noch nie so ein Gefühl?“

Nico kannte das jedoch sehr genau. Oft genug hatte ihm dieses Gefühl schon geholfen und es war keinesfalls unmöglich, dass auch andere solche Fähigkeiten besaßen.

„Doch, allerdings.“

Allmählich jedoch bekam er den Eindruck, dass er von Jonas an der Stelle gedanklich ausgezogen wurde. Diese Blicke waren fast unheimlich und machten es ihm schwer, an die Geschichte mit dem Fremden im Zimmer zu glauben.

„Dein Fenster war doch geschlossen, oder?“

„Bei der Kälte, klar.“

Jonas stand auf und stellte sich direkt vor ihn, dabei ließ er ihn nicht aus den Augen. Nico roch neben dem angenehmen Atem dann noch etwas und dieses Etwas versetze seine Gefühle sofort in Alarmbereitschaft.

Es erregte ihn und tat, was es in der Vergangenheit schon immer getan hatte: Vernunft und Zurückhaltung wurden abgedrängt, die Lust, der Drang nach Berührung und Zärtlichkeit dagegen angefacht.

Die Augen, diese Lippen, die weißen Zähne, die Haare, die zum durchstreifen mit den Fingern einluden, diese makellose Haut – das alles schlug wie ein Hammer auf Nico ein. Zu oft war er diesen Dingen dann erlegen, konnte er sich einfach nicht dagegen wehren, weil sie Übermächtig waren.

So standen sie da, kein Wort fiel. Nico war sich ziemlich sicher, dass Jonas in diesen Augenblicken genau das gleiche dachte. Und schuf damit eine brisante Situation. Aber Nico hielt seinem Begehren stand. Jonas provozierte ihn, das war einfach nicht anders zu erklären. Er wollte die Nuss knacken, die vor ihm stand.

„Tja, wenn nichts fehlt und du nur eine Ahnung hast, können wir nichts machen. Jeder von euch hat seinen Zimmerschlüssel, am besten du schließt einfach immer ab.“

Nico spürte, dass Jonas diese Antwort mehr als ungenügend war. Er hatte an dieser Stelle vermutlich mit etwas ganz anderem gerechnet.

„Ja, wird wohl das Beste sein.“

„Okay, ich muss dann wieder nach oben. Ich wünsch dir ne gute Nacht.“

Nico verließ das Zimmer und grinste dabei in sich hinein, ohne dass Jonas dies bemerken konnte.

„Jonas, du musst noch viel lernen“, sagte er zu sich selbst.

Einerseits tat ihm der Junge irgendwie leid, andererseits machte ihm dieses Spiel Spaß. Zumal die Frage im Raum stehen blieb, was sich Jonas als nächstes einfallen ließ.

Den restlichen Abend verbrachte Nico damit, sich mit dem GPS-Gerät näher zu befassen und über eine Karte im Internet die Route für den Freitag auszutüfteln.

*-*-*

Beim Frühstück am anderen Morgen berichtete Stein, dass es André besser ging. Sie würden ihn aber dort behalten, bis die nachträglichen Untersuchungen abgeschlossen wären. Es wurde empfohlen, André anschließend in ein Krankenhaus, das auf solche Fälle spezialisiert war, einzuweisen. Unter anderem hatte der Oberarzt in Rücksprache mit der dortigen Polizeibehörde Strafanzeige gegen den Vater erstattet.

Obwohl es nicht Nicos Art war, klatschte er Beifall.

„So muss das sein. Der gehört in den Knast.“

„Sorge bereitet mir Rick«, fügte Stein dann ohne Übergang hinzu.

„Er ist zwar öfter mal schon weggeblieben, aber noch nie so lange.“

Das drückte die Stimmung sofort. Es gab keinen in der Runde, dem dieser Hund egal gewesen wäre. Er gehörte genauso zu dem Team wie alle anderen.

„Ich muss leider dringende Ausarbeitungen machen, Köln erwartet den ersten Bericht. Wer von euch möchte Rick suchen gehen? Ich schlage vor, erst mal den Ort abzusuchen.“

Nico zögerte keinen Moment.

Ich mach das.“

„Gut. Komm dann gleich mit hoch, den Autoschlüssel holen. Die anderen wissen ja Bescheid, was heute Programm ist.“

Nico ging nach oben und zog sich um. Als er später vor dem Landrover stand, schlucke er zunächst kurz. Er war noch nie so ein großes Auto gefahren und hatte bislang auch kein Verlangen danach.

Stein hatte ihm kurz die notwendigen Dinge zur Bedienung erklärt, ihn dann aber einfach mit einem Tschüs am Wagen stehen lassen. Er stieg ein und startete den Motor. Bis er im Ort unten war, würde er sich an die Größe gewöhnt haben, so hoffte er.

Was ihm jedoch gut gefiel, war der Blick von oben herab. Er konnte alles so schön überblicken. Langsam rollte er am Haus vorbei und nahm dann die Straße hinunter ins Dorf.

Es hatte fast die ganze Nacht geregnet und in Verbindung mit dem Laub auf der Straße könnte es an dem Gefälle gefährlich glatt sein.

Aber Stein hatte ihm erklärt, wie das mit dem Allradantrieb funktioniert und so fuhr er immer sicherer und zügiger bergab. Als er vom Waldweg auf die Dorfstraße einbog, legte er den kleinsten Gang ein und fuhr im Schritttempo weiter.

Er hatte Zeit. Als Riesenvorteil erwies sich nun seine hohe Sitzposition, denn so konnte er über die meisten Zäune und Einfriedungen hinwegsehen. Er nahm sich vor, alle Straßen abzufahren, die es in dem Dorf gab.

So viele waren es nicht, er würde keine auslassen müssen. Um diese Wochenzeit war der Ort fast wie ausgestorben. Die meisten arbeiteten in Weiden oder Umgebung und große Geschäfte gab es hier nicht.

Ein paar Bauersfrauen waren wohl unterwegs, aber niemand achtete auf das große, auffällige Fahrzeug, obwohl man es nicht übersehen konnte. Man wollte mit den Leuten von da oben eben nichts zu tun haben.

Somit konnte er sich auch sparen, diese Leute nach Rick zu fragen. Jedes Mal, wenn ein Hund in seine Sichtweite kam, fuhr Nico noch langsamer. Und Hunde gab es wohl mehr als Menschen, zumindest schien es so.

Doch von Rick keine Spur. Außerdem war sicher, dass der Rüde das Fahrzeug auf große Entfernung hören würde. Ein Wunder, wenn er dann nicht von selbst gekommen wäre. Als er am Ortsende angekommen war, stoppte er den Wagen und sein Blick ging hinüber zu den Liegenschaften des Strehler-Bauern.

Wenn man vom Besitzer absah, war das ein sehr schönes, an einem Hang gelegenes Gehöft. Von der Straße bis zu den Gebäuden hin befand sich eine große Weide, durch die der mit Bäumen gesäumte Bach lief, dahinter fing der Hochwald an.

Trotzdem, diesen Bauern hatte er insgeheim im Verdacht, mit Ricks Verschwinden zu tun zu haben. Wenn der schon dort oben im Camp spioniert haben sollte, dann war ihm ganz sicher Rick aufgefallen.

Und wenn er dann noch fürchten müsste, dass ihm der Hund seine Machenschaften durchkreuzen könnte, warum sollte er sich da zurückhalten? Vielleicht war Rick sogar dort drüben irgendwo eingesperrt.

Der Hof war groß, mit pompösem Wohnhaus, Ställen und Nebengebäuden. Platz wäre dort sicher überall. Aber Rick konnte man nicht einfach weglocken oder gar einfangen, eigentlich war das ohne Gewalt überhaupt nicht möglich.

Nico war unschlüssig, was er tun sollte. Er hatte große Lust, da drüben nachzusehen, aber es war völlig unmöglich, das unentdeckt zu tun. Immer wieder liefen dort Menschen hin und her, vermutlich alles Beschäftigte auf dem Hof.

Die einzige Chance dazu bestand tief in der Nacht, aber auch dann musste er mit Hofhunden rechnen. Sie mochten harmlos sein, aber bellen würden sie auf alle Fälle.

Er beschloss, umzukehren und dieselbe Strecke noch einmal abzufahren.

Er hielt an, als er an dem Lebensmittelladen vorbei kam. Ein Schild wies daraufhin, dass dazu auch die Wäscherei gehörte. Das war für ein so kleines Dorf etwas ungewöhnlich, aber offenbar rentierte sie sich, so lange das Haus oben seine Wäsche brachte.

Es dürfte billiger gewesen sein als der Betrieb vor Ort. Eine Kreidetafel vor dem Laden lockte mit frischen Semmel und warmem Fleischkäse, das war jetzt genau seine Kragenweite. Bedienen musste man ihn, auch wenn er nicht beliebt war hier.

Als er den Laden betrat, klimperten kleine, über der Tür angebrachte Metallstreifen. Das Interieur erinnerte ihn spontan an Fotos aus älteren Tagen, hier mag die Zeit gut und gerne dreißig Jahre oder länger stehen geblieben sein.

Es roch nach allem möglichen, vor allem aber nach frischem Brot. An der Decke baumelten zwei Honigfliegenfänger, neben dem Tresen stand eine uralte Waage. Es war ein seltsames Gefühl, innerhalb weniger Sekunden so weit in die Vergangenheit gerutscht zu sein.

„Grüß Gott.“

Die Stimme der Frau, die jetzt den Raum durch eine schmale Tür betrat, klang nicht abweisend. Dabei war davon auszugehen, dass man ihn hier längst als ein Mensch vom Camp registriert hatte.

Er erwiderte den Gruß. Die Frau in der Kittelschürze war sicher schon weit über Siebzig, aber man konnte sich gerade auf Dörfern bei solchen Menschen auch sehr täuschen. Ihre Haut war faltig, sicherlich gegerbt vom Landleben.

Streng hatte sie die grauen Haare nach hinten gekämmt und zu einem Dutt zusammengebunden. Dir Frau erinnerte ihn irgendwie an eine pensionierte Lehrerin.

„Ich hätte gern ein Fleischkäse Semmel.“

Die Frau nickte. Wache, helle Augen hefteten nun auf Nico, aber er konnte keine Feindseligkeit darin erkennen. Es war viel eher eine gewisse Neugier, was sich Sekunden später bewahrheitete.

„Sie sind sicher von oben?«, fragte sie, während sie das Semmel aufschnitt.

Aber auch da war nichts in der Stimme, was Nico negativ aufgefallen wäre. Erstaunlich nur, dass man hier offenbar nur ein Wort für das Camp kannte: Oben.

„Ja, ich bin einer der Betreuer.“

Dabei beobachtete er die Frau genau. Wie war sie wirklich eingestellt? Die Frau klappte einen Behälter auf und nahm einen großen Laib dampfenden Fleischkäse heraus.

„Darf ich Sie etwas fragen?“

„Ja, sicher.“

Sie schnitt eine dicke Scheibe des Bratens ab, viel zu dick, wie Nico befand.

„Was machen Sie denn eigentlich genau da oben? Wissen Sie, es wird hier im Dorf so viel geredet, aber nichts Genaues weiß man irgendwie nicht.“

Sie reichte ihm die Semmel.

„Möchten Sie einen Kaffee dazu haben?“

Spätestens jetzt wusste Nico, dass diese Frau nicht gegen das Camp war.

„Das wäre sehr nett.“

Er erklärte ihr, was es mit dem Camp auf sich hatte, während er seine Semmel aß. Die Frau hörte ihm sehr aufmerksam zu und nickte ab und zu. Es schien, als hätte sie doch ganz andere Stories gehört.

Nachdem er die wichtigsten Punkte erzählt hatte, beugte sie sich über den Tresen zu ihm hin. So wie es Leute tun, die nicht wollen, dass jemand anderes mithören konnte.

„Sie sollten die Augen und Ohren offen halten. Einige Bauern hier sind gar nicht gut auf das, wie sagten Sie, Camp? zu sprechen.“

Er nickte.

„Das ist uns inzwischen bekannt. Leider sind diese Leute ziemlich Kleingeistig. Das muss man einfach mal so sagen.“

Sie lachte.

„Welch ein Wort. Ja, manchmal denke ich, die leben hier im Mittelalter. Aber glauben Sie mir, ich lebe hier schon länger als die meisten anderen. Es sind viele dabei, die schon nichts mehr mit dem zu tun haben wollen, was ein Kilometer von hier entfernt passiert. Meine Enkel lesen öfter diese Asterix-Geschichten und so kommt es mir hier auch vor: Wie ein gallisches Dorf. Es fehlt nur der Zaun.“

Nico war erstaunt, wie sich die Frau mit ihm unterhielt.

„Kann man nichts machen. Übrigens bin ich auf der Suche nach unserem Hund. Er ist seit einem Tag verschwunden und niemand kann es sich erklären. Es ist ein Husky, so ein Schlittenhund, wissen Sie?“

„Nein, der wäre mir hier aufgefallen.“

 

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