„Na ja, wir vermuten, dass eine heiße Hündin Schuld hat“
„Na ja, hin und wieder sind schon mal Hunde verschwunden. Kleine Streuner meistens. Es ging mal das Gerücht um, dass die Hunde von Wölfen gerissen worden sind. Das ist natürlich blanker Unsinn. Sicher gibt’s hier ab und zu Einwanderer von drüben, aber so nah kommen die den Dörfern nicht.“
„Aber irgendwo müssen die Hunde doch geblieben sein.“
Nico konnte sich nicht vorstellen, dass nicht einer davon je wieder aufgetaucht war.
„Ah, was glauben Sie.“
Die Frau rückte noch näher an ihn heran.
„Hier gibt’s schon auch ziemlich wüstes Gesindel. Die kommen von …“
Dabei zeigte sie mit dem Daumen nach Osten.
„Wenn man mich fragt, dann haben die damit zu tun.“
„Aha. Aber es gibt es doch Polizei hier im Ort. Kümmert die sich nicht?“
Sie grinste.
„Pah, Polizei. Welche meinen Sie? Den Mosler etwa? Vergessen Sie den. Der zieht sich beim Gewitter die Decke über den Kopf. Ein Günstling vom Strehler-Bauer, sonst nichts.“
Trotz des nicht erfreulichen Gesprächs musste Nico lachen. Man merkte, dass sich die Frau viel mit Jugend umgab.
„Und dieser Strehler, was ist das denn für einer?“
Nico fand die Situation günstig. Je mehr er über diesen Burschen wusste, umso besser.
„Mein Bruder? Der hält die Hand hier über die Gegend. Klar, er hat das Dorf zu dem gemacht, was es heute ist, aber er hat nie verwunden, dass er nicht Bürgermeister werden konnte. Dafür protestiert er gegen alles, was ihm hier nicht in seinen Kram passt. Euer Camp gehört wohl dazu.“
„Das ist Ihr Bruder?“
Nico mochte das zunächst nicht zu glauben.
„Ja, aber wir reden schon lange nicht mehr miteinander. Er hat sich mit jedem Jahr weiter negativ verändert, bis ich gesagt habe, jetzt ist Schluss.“
„Und wieso wurde er nicht Bürgermeister? Ich meine, das hätte doch dann auf der Hand gelegen.“
„Er hatte nicht viel für die Zukunft des Dorfs im Sinn gehabt. Wollte alles so lassen, nichts investieren, keine Dorferneuerung, kein neues Dach auf dem Gemeindehaus, keine vierte Glocke in der Kirche oben. Er wollte vielmehr einen Wintersportort draus machen. Mit Hotels, Skiliften, Freizeitanlagen. Das wäre aber auf Kosten von Land gegangen und da hat die knappe Mehrheit nicht mitgemacht. Zwar haben sie dann einen anderen gewählt, aber meinem Bruder sind sie trotzdem hörig geblieben. Nicht alle, aber zumindest die Alteingesessenen. Die springen in den Fluss, wenn er denen das sagt.“
„Und wie steht er zu Hunden?“
Nico hoffte, sie würde verstehen, worauf er hinaus wollte.
„Also wenn Sie glauben, er hätte etwas mit dem Verschwinden der Hunde hier zu tun, dann muss ich Sie enttäuschen. Die liebt er, mehr als die Menschen um sich herum.“
Obwohl es ihm schwer viel, glaubte er ihr. So, wie er alles andere glaubte. Diese Frau war ihm fast unheimlich.
„Noch eine kleine Frage habe ich: Wie steht eigentlich die Jugend hier im Ort zu unserem Camp?“
Die Frau sah an ihm vorbei, hinaus auf die Straße.
„Ich könnte Ihnen auf Anhieb ein paar von denen aufzählen, die halten gar nichts von Fremden hier und die sagen das auch offen. Sie stellen an, was sie können und ich behaupte, das tun sie aus purer Langeweile. Mir haben sie letzten Monat erst hier eingebrochen. Zum Glück lasse ich kein Geld liegen, obwohl das eigentlich kein Problem sein sollte. Natürlich hat mir keiner geglaubt, dass die das waren, aber ich bin nicht blind, wissen Sie.“
„Und der Mosler hat das nicht im Griff?“
„Der? Angst hat er vor denen wie vor dem Leibhaftigen. Er würde es nicht mal wagen, bei deren Eltern zu klingeln. Ich glaube, der schaut sogar zu wenn es dumm läuft, aber machen, machen tut der nichts.“
„Dann helfen wohl auch Anzeigen nicht.“
„Nee, die zeigt keiner an. Fluchen tun sie alle, wenn wieder irgendwo etwas verbrochen wurde. Aber dann heißt es sofort, das waren andere. Fremde von außen.“
Und wieder zeigte ihr Daumen nach Osten.
„Danke, das war ein sehr nettes Gespräch mit Ihnen, aber ich muss jetzt los.“
„Gern geschehen. Sie sollten ein bisschen aufpassen auf diese Bastarde. Man erkennt die schon auf hundert Meter.“
Nico erinnerte sich an die Gruppe, die ihm und Falk begegnet war.
„Ja, ich werde es mir merken. Ach und übrigens, dann kennen Sie sicher den Hausherrn von da oben gut?“
„Den Eidamer Peter? Klar, der kommt hier auf einen Kaffee. Besucht hab ich den auch öfter mal, früher, als die Behinderten noch da oben waren.“
Nico merkte, dass es noch Stunden hier so weitergehen könnte.
„Und jetzt kommen Sie nicht mehr hoch?“
„Nee, seit die weg sind, ist er ja auch kaum noch oben. Und nach dem Todesfall war es ja auch ganz schnell vorbei mit dem Heim.“
Nico fiel beinahe die Tasse aus der Hand.
„Was für ein Todesfall?“
Die Augen der Frau verengten sich.
„Wissen Sie nicht? Das wundert mich aber. Na ja, einer der Heimbewohner lag morgens tot da oben im Wald. Er war drei Tage vermisst worden, dann haben Suchmannschaften die Leiche gefunden.“
„Und wie ist er.. gestorben?“
Wieder beugte sie sich nah zu Nico hin und redete leiser.
„Man munkelt, er wurde erschlagen. Aber offiziell ist er wohl auf einen Baum geklettert und abgestürzt.“
„Wer munkelt denn das?“
„Angeblich wurde bei der Leiche ein blutiger Holzprügel gefunden, aber der war plötzlich verschwunden. Niemand weiß wohin und damit gabs für einen möglichen Mord keinen Beweis. So heißt es jedenfalls. Keiner hat eine Ahnung, was in jener Zeit dort oben wirklich passiert ist. Das war alles völlig konfus.“
Nico wurde nachdenklich. Wieso erfuhr er erst jetzt davon? Warum hielt man das geheim?
„Gut, dann wird das wohl die Polizei ordentlich geregelt haben.“
Sie winkte energisch ab.
„Pah, Polizei. Der Mosler war da grade frisch im Amt, hat sich aufgeführt als wäre er Kommissar Maigret. Wenn Sie mich fragen, hat der alles vermasselt. Aber das haben Sie nicht von mir…“
Sie zwinkerte dabei.
„Verstanden. Aber jetzt muss ich wirklich gehen. Wenn Sie mal Lust haben, Sie sind gerne eingeladen. Vielleicht möchten Sie die bösen Jungs vom Camp da oben ja mal kennen lernen. Und meine Kollegen natürlich auch.“
Sie lächelte.
„Wissen Sie, es ist hier ja nichts los, gar nichts. Vielleicht kann ich ja mal ein bisschen Abwechslung gebrauchen.“
Sie zwinkerte ihm zu.
„Und nach wem soll ich fragen, falls ich mal hoch komme?“
„Ach so ja, mein Name ist Nico Hartmann.“
Als er zurückfuhr, fiel ihm am Rand des Dorfes mitten in einer Wiese ein kleines Bauwerk auf und er hielt kurz an. Unter einem Schutzdach verschwanden von oben kommend die Seile des Lastenaufzugs. Sein Blick folgte den Seilen bis hoch zum Camp. Hier also war die Talstation.
Das Gespräch mit der Frau verfolgte ihn, bis er wieder auf dem Hof vor dem Camp vorfuhr. Natürlich hatte er insgeheim gehofft, dass ihm Rick entgegenlaufen würde, aber dem war nicht so.
Dafür standen alle Jungs vor dem Eingang und sahen ihn anfahren. Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und ging auf die Gruppe zu.
„Na, alles klar bei euch?“
Sie nickten.
Erst jetzt bemerkte Nico, dass der Wagen des Hausmeisters ebenfalls auf dem Hof stand. Automatisch ging sein Blick in die Runde und dann erkannte er den Scheinwerfer, der hoch am Stamm des Baums gegenüber angebracht war. Sein erster Gedanke war, dass sie nun keine Wache mehr laufen mussten.
„Wo ist der Hausmeister?«, fragte er die Jungen.
„Der ist mit Leo runter in den Keller«, antwortete Sascha.
Nico interessierte, was sie dort zu tun hatten und begab sich ebenfalls in den Keller. Er folgte den leisen Stimmen, bis er in einer Ecke zu einer sehr schmalen Tür gelangte. An dieser Stelle war er noch nicht und so betrat er neugierig den schmalen Gang dahinter.
Es war eigentlich ein Tunnel, der in den nackten Fels geschlagen war. Nicht höher als eins achtzig und ein Meter breit. An der Decke brannten alle zwei Meter schwache Lichter und die zeigten, dass der Tunnel teilweise feucht war.
Muffige, stickige Luft herrschte hier und erst nach gut fünfzehn Metern sah Nico helleres Licht. Er betrat den Raum, der sich vor ihm auftat und staunte. Er wusste zwar von dem Notstromaggregat, nur nicht, wo es stand und dass es so groß war. Der Raum war eine künstliche Höhle im Felsen, groß genug für den Notstrommotor. Dahinter hörte er die beiden reden.
Ein kleiner Gang führte von der Höhle hinaus auf ein hölzernes Podest. Er trat zu Eidamer und Leo und staunte nochmals. Das Podest hing wie ein Balkon über dem Abgrund und diente als Anleger für die Aufzugsgondel.
Leo warnte ihn, als er zu ihnen hinaus wollte.
„Pass auf, Nico. Hier ist kein Geländer, nur so ein billiges Seil. Dem kann man nicht trauen.“
Er nickte und trat vorsichtig noch einen Schritt vor. Eidamer stand auf dem Podest und war gerade dabei, den zweiten Scheinwerfer so auszurichten, dass dessen Lichtstrahl den ganzen Abhang ausleuchten konnte.
Nico wagte einen Blick hinunter. Hier war der Hang ausgegraben worden und führte etwa fünfzig Meter senkrecht in die Tiefe. Unten befanden sich zwar Hecken und Büsche, aber einen Sturz aus dieser Höhe würde trotzdem niemand überleben.
„Und dieser Aufzug funktioniert noch?«, wunderte sich Nico in Anbetracht der wohl schon uralten Anlage. Die etwa drei mal drei Meter große, hölzerne Platte war an den vier Ecken mit Seilen an einer Rolle oben auf den Tragseilen befestigt, dreißig Zentimeter hohe Holzwände um die Platte sorgten wohl, sowie auch vier Gurte zum befestigen von Transportgut, dafür, dass bei einer Schaukelei nichts herunterfallen konnte.
Leo nickte.
„Der wird laut Betriebsbuch regelmäßig gewartet. Er funktioniert mit einem Elektromotor, aber zur Not kann man auch mit der Hand leiern. Bloß, in diesen Genuss möchte ich mal nicht kommen.“
„So, fertig«, hörte er Eidamer sagen. „Jetzt könnt ihr ruhig schlafen.“
Er packte sein Werkzeug zusammen und gemeinsam verließen sie den Ort.
Während dem kurz darauf stattfindenden Mittagessen erzählte Nico am Tisch alles, was er von der Frau erfahren hatte.
„Eigentlich hat sie nur bestätigt, was wir eh schon wissen«, sagte Stein. Allerdings merkte man, dass ihm die Sache mit Rick sehr viel wichtiger war, zumindest im Augenblick.
„Ich möchte jetzt nur mal wissen, wo er abgeblieben ist.“
Niemand wagte in den Mund zu nehmen, dass Rick auch etwas anderes zugestoßen sein könnte. Allerdings hatte auch keiner eine Idee.
„Wir suchen weiter. Er muss irgendwo sein.“ Falk Stein würde von nun an keine ruhige Minute mehr haben.
„Ich kann ja mal Vlado fragen, vielleicht hat der eine Idee.“
„Tu das, Nico, wir wollen jede Möglichkeit nutzen.“
Leo berichtete dann von seinen Aktionen.
„Also, Wache schieben brauchen wir nicht mehr. Eidamer hat die Lichtanlage und Bewegungsmelder installiert. Und weil ihm sehr viel an der Sicherheit hier liegt, hat er an den Melder vorn am Haus eine Webcam mit angeklemmt. Das heißt, immer wenn das Licht angeht, läuft die Kamera mit. Und zwar fünfzehn Minuten lang. Die Aufzeichnung geht an mein Notebook, das muss jetzt halt rund um die Uhr an bleiben.“
„Ein hoch der modernen Technik«, freute sich Nico. Allerdings hatte seine letzte Begegnung mit solch einer Webcam einen bitteren Nachgeschmack behalten.
Nico war müde nach diesem Vormittag, er legte sich auf sein Bett und schloss die Augen. Die Jungs waren im Gruppengespräch mit Haber und Rainer Bode, die Tour für den anderen Tag vorbereitet. Stein war gleich nach dem Essen losgefahren, er wollte selbst nach seinem Hund suchen.
Somit konnte Nico faulenzen. Er holte sich sein Notebook und durchforstete das Internet nach neuen Meldungen. Im Wetterforum schließlich stieß er auf einen Eintrag eines Users, der nicht weit von hier wohnte. Laut dessen Prognosen war ab dem Wochenende wieder mit Schneefällen hier in den Höhenlagen zu rechnen und diesmal sollte es auch eine längere Zeit schneien.
Als Nico aufwachte, war es bereits dunkel. Erschrocken setzte er sich auf, ihm war nicht mehr bewusst, wann ihn der Schlaf übermannt hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es gerade Abendessen gab.
Schon beim betreten des Gemeinschaftsraums sah er Falk an, dass er kein Glück gehabt hatte. Nico stellte eine Veränderung seines Meisters fest, die ihm nicht behagte. Es war logisch, dass sich Falk große Sorgen um seinen Hund machte und er war nicht einzige, dem das sehr nahe ging.
So war die Stimmung am Tisch allgemein bedrückt, auch von den Jungs gab es keine fröhlichen Anzeichen. Niemand traute sich, ein Gespräch anzufangen und es war wohl die beste Lösung.
„Ich habe alles abgesucht was möglich ist. Rick ist nicht gesehen worden und niemand kann sich vorstellen, wo er sein könnte. Hier ist sonst nichts, wohin er hätte laufen können.“
Wenn Rick nicht wieder auftauchte, war das für die Stimmung im Camp sehr schlecht. Nico suchte krampfhaft nach einer Idee, nach einem Einfall, aber da war nichts.
Er brachte an dem Abend kaum etwas herunter und das erste in seinem Zimmer war der Griff zum Handy.
*-*-*
„Nico, ich habe keine Ahnung. Es stimmt, dass immer mal wieder Hunde verschwunden sind, aber das letzte Mal ist bestimmt über ein Jahr her. Und das waren kleiner Hunde, nicht solche wie euer Rick.“
Vlado wusste also auch keine Lösung.
„Kann er denn irgendwo gefangen sein? Also ich meine, dass er wo hineingelaufen ist und nicht wieder zurück kann?“
“Nein Nico. Es gibt hier wohl alte Silberminen, aber die sind verrammelt und vernagelt. Da kommt vielleicht ne Maus rein, aber mehr nicht. Und selbst wenn er reinkommt, dann kommt er ja auch wieder raus. Fraglich ist dazu auch, was er dort wollen könnte.“
„Kann man da denn nicht trotzdem mal nachsehen? Rick ist ja auch mal sehr neugierig und da hat der auch schon seltsame Ideen entwickelt.“
„Schon, wenn dich das beruhigt. Aber Hoffnung mach dir mal keine.“
„Dumm nur, dass uns die Zeit wegläuft. Du hast sicher erst Samstag Zeit.“
Plötzlich hatte er eine Idee.
„Wie weit sind denn die Minen weg von hier?“
„Von euch.. etwa drei Kilometer.“
„Okay, Vlado, ich schau mal. Melde mich. Ach, und noch etwas: Was ist denn damals mit dem Heimbewohner passiert? Ich habe heute erst von dem Todesfall erfahren.“
„Oh, ja, der.. Also das ist ja nie geklärt worden. Der Arme ist da wohl von einem Baum gestürzt.“
„Kann es nicht auch anders gewesen sein?“
„Anders? Wie anders?“
„Ich meine, dass es kein Unfall war.“
„Ja, ach Gott, da gingen die wildesten Gerüchte im Dorf um, bis hin zum Mord. Aber da ist sicher nichts dran. Die Sache ist ja auch lange her.“
„Okay, Vlado. Bis dann.“
*-*-*
Nachdenklich legte er auf und startete sein Notebook. Rick hatte Vorrang, vor allem und vor jedem. Es dauerte nicht lange, dann hatte er die Lage der beiden Silberminen auf einer Satellitenkarte ausgemacht. Er begann mit einer speziellen Software, den Weg vom Camp dorthin aufzuzeichnen und auf das GPS-Gerät zu überspielen. So müsste er sogar im Stockdunkeln bis zum Eingang der Minen finden.
Rasch legte er sich seine Ausrüstung zusammen. GPS-Gerät, Ersatzakkus, Handy, Messer, eine Flasche Mineralwasser, Verbandszeug. Neben einer starken Stabtaschenlampe nahm er eine kleine mit. Sie leuchtete nur relativ schwach mit vier LED-Lampen und war im Dunklen hell genug für einen Weg, aber sie blendete einen nicht.
Dann zog er sich wetterfest an und packte alle Utensilien in den kleinen Rucksack.
Auf dem Weg nach unten klopfte er an Steins Tür.
„Du willst in der Nacht nach ihm suchen? Und vor allem, wo? Nico, ich weiß, dass du dir Sorgen machst, wie wohl alle hier. Aber ich sehne keinen Sinn.“
Nico unterbrach ihn.
„Doch, Falk. Das bin ich Rick und somit auch dir schuldig. Ich habe nur eine Idee, wo er sein könnte, mehr nicht. Aber ich habe keine ruhige Minute, bis ich es weiß.“
Stein gab nach, er kannte Nico allzu gut. Er hätte ihn gar nicht aufhalten können.
„Pass auf dich auf.“
Nico gab Stein den Speicherstick.
„Da ist meine Route drauf, spiel sie einfach auf dein GPS. Dann weißt du, wie ich gelaufen bin. Ich werde den Weg nicht verlassen. Sollte etwas passieren, kannst du mich ohne Probleme finden.“
Stein lächelte, wenn auch verhalten. Nico hatte an alles gedacht, es bestand gar keinen Grund, ihn nicht gehen zu lassen.
„Ach, da ist noch etwas, Falk. Es gab hier einen Todesfall, mit einem der Heimbewohner. Wusstest du davon?“
„Ich habe so etwas gehört ja, aber es war wohl ein schrecklicher Unfall. Warum?“
„Ach, nichts. Ich hab heute davon erfahren, mehr nicht.“
Als Nico das Haus verließ, stand Jonas draußen vor der Tür.
„Hui, wohin in der Nacht?“
„Ich gehe Rick suchen.“
„Jetzt, im Dunkeln? Alleine?“
„Wie du siehst, ist dem wohl so.“
Jonas hielt Nico plötzlich am Ärmel fest.
„Alleine – du spinnst. Warte, ich komme mit.“
Nico wollte protestieren, doch im selben Moment war Jonas im Haus verschwunden. Er würde den Jungen genau so wenig aufhalten können, wie Falk es bei ihm gelungen wäre.
Auf die wenigen Minuten kam es nun auch nicht an, außerdem war ihm diese Begleitung nicht gerade unsympathisch. Schaden konnte es im Grunde nicht.
Er eilte zurück, hoch in Steins Zimmer.
„Jonas geht mit. Ich denke, zu zweit schadet nichts. Nur damit du Bescheid weißt.“
Falk nickte und winkte.
„Okay, aber pass mir auf den Jungen auf.“
„Selbstredend«, gab Nico zurück.
Er traf kurz darauf mit Jonas zusammen. Im Licht des Flurs war zu erkennen, dass der Junge nicht auf einen Spaziergang ausgerichtet war. Er schien an alles gedacht zu haben, worauf auch sein kleiner Rucksack hindeutete.
„Wollen wir?“
Nico schaltete vor dem Haus das GPS ein und wartete, bis es Satellitenempfang hatte. Dann rief er die Route auf und das Gerät begann mit seiner Arbeit.
Sie tauschten noch rasch ihre Handynummern, dann liefen sie los.
„Wir schalten die Taschenlampen nur ein, wenn ich es sage. Wir müssen Strom sparen. Für den Weg hab ich eine kleine, die reicht aus«, sagte Nico, während sie auf dem schmalen Weg rechts des Hauses den Wald betraten.“
Und wir bleiben zusammen, okay? Bist du eigentlich fit? Ich meine, es geht hier auch mal ein Stück weit steil bergauf.“
„Ich wüsste nicht, dass ich umfallen könnte, aber wir werden sehen. Wie weit ist es eigentlich?“
„Etwa drei Kilometer. Wenn wir das Tempo beibehalten können, sind wir in etwa vierzig bis fünfzig Minuten dort.“
„Kein Problem, das gehe ich auf einem Bein«, lachte Jonas.
Es war sehr kühl an diesem späten Abend, aber nicht kalt, gerade richtig für so eine Unternehmung. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit und weite Teile des ersten Weges konnten sie auf ihre Lampen verzichten. Nico wusste von den Karten, dass sie keine gefährlichen Stellen passieren würden.
Die steilen Abhänge lagen auf der anderen Seite des Berges, auf ihrer Seite fiel der Berg wesentlich sanfter ab. Erst kurz vor dem Ziel könnte es etwas knifflig werden. Sie hielten ein gleichmäßiges Tempo ein und immer wieder blickte Nico auf das Display des GPS.
Wenn er so etwas nur schon früher gehabt hätte. Immer wenn sie an eine Abbiegung kamen, piepste das Gerät und gab die neue Richtung vor. Nico war erstaunt, wie genau das GPS arbeitete. Erstaunt war er auch darüber, dass Jonas offenbar keinerlei Furcht zeigte.
Sie liefen nun schon eine Weile durch dichten Tannenwald und Nico musste die kleine Lampe benutzen, um überhaupt etwas zu sehen. Nach einer Weile hielt er an.
„Warum gehst du nicht weiter?“
Jonas sprach angenehm leise in dieser Umgebung, Nico gefiel das.
„Lass uns mal einen Moment stehen bleiben und nur lauschen. Manchmal ist das Gehör im Dunkeln sehr viel besser als die Augen.“
Nun hörten sie nur noch ihr atmen. Es ging kein Wind, kein Regen. Nichts, was die Stille unterbrechen könnte. Nico erkannte seinen Begleiter nur als schemenhaften Schatten neben sich und der rührte sich nicht. Nico kannte keine Angst in einem dunklen Wald, aber trotzdem war es angenehm, nun doch jemanden bei sich zu haben.
Über Jonas selbst nachzudenken, dazu war kaum der richtige Zeitpunkt. Für Sekunden blendeten sich zwar seine Zeilen aus dem Tagebuch in seinem Kopf, aber all das passte nicht hierher.
Kein Kauz, keine Eule, nichts war zu hören. Nico kratzte sich leise fluchend an der Hand, etwas hatte ihn wohl gestochen. In dem Moment zupfte ihn Jonas am Ärmel.
„Hast du das gehört?“
Nico lauschte angestrengt.
„Was?“
„Pscht.“
Sie standen da wie Steinsäulen, rührten sich nicht und wagten kaum zu atmen. Doch dann hörte es Nico auch. Es kam links von ihnen, oben aus dem Hochwald. Nico hatte es wohl gerade überhört, doch jetzt war das Heulen deutlich genug:
Der Hund, den er schon einmal gehört hatte. Unheimlich hörte es sich an, fast unwirklich.
„Was ist das?“, fragte Jonas flüsternd.
„Ich habe es schon einmal gehört.“
„Ja und was heißt das?“
„Jonas, es ist möglich, dass das ein Wolf ist. Aber eigentlich ist es eher eine Vermutung.“
„Ein Wolf? Is ja ein Ding.“
Jonas lauschte noch angestrengter.
„Das glaubt mir mal kein Mensch.“
Nico freute diese Reaktion. Keine Panik, keine Angst. Er hatte sich wohl genau den Richtigen für diese Tour ausgesucht.
Sie lauschten noch eine Weile, dann trieb Nico zum Weitermarsch.
„Komm, ich denke, den hören wir noch öfter. Lass uns gehen.“
Von nun an aber war der Weg ein anderer. Natürlich wussten beide, dass für sie keinerlei Gefahr bestand, aber allein das Wissen, dass sich vielleicht ein Wolf in diesen Wäldern aufhielt, veränderte die Stimmung.
Sie redeten nicht mehr miteinander, lauschten nur noch angestrengter in die Nacht. Etwa alle zehn Minuten blieb Nico stehen, auch, weil der Weg allmählich steiler anzusteigen begann. Je höher sie kamen, umso deutlicher konnten sie jetzt das Heulen vernehmen, wenn auch immer seltener.
„Wie weit ist der denn weg, Nico?“
„Keine Ahnung, das kann man im Wald überhaupt nicht abschätzen. Die Echos täuschen, die Bäume dämpfen zusätzlich. Dann kommt es darauf an, ob Wind geht, woher und wie stark. Vielleicht sind es drei- oder vierhundert Meter. Zumal es täuscht, wenn man tiefer ist als die Geräuschquelle.“
„Du kennst dich in der Natur gut aus, wie?“
„Ich würde sagen, es reicht mir aus für solche Touren.“
Das GPS zeigte noch zweihundert Meter bis zum Ziel.
„So Jonas, jetzt heißt es aufpassen. Hier kann es sehr steinig werden. Mach deine Lampe an, es ist zu gefährlich. Und lass sie brennen, sonst siehst du nichts mehr.“
Tatsächlich tauchten erste größere Felsbrocken auf, die sie umgehen mussten, von einem Weg konnte keine Rede mehr sein. Aber Nico brauchte nur ein paar Augenblicke um sicher zu sein, dass Jonas sehr umsichtig und geschickt mit den Hindernissen zurechtkam.
Es ging nun rasch bergab, aber nicht so gefährlich, wie Nico befürchtet hatte. Schneller als gedacht kamen sie dann am Fuß des Berges an und in dem Moment, wo das GPS piepste, um das Ziel anzuzeigen, fiel der Leuchtkegel von Nicos Taschenlampe auf einen großen, fast mächtigen Holzverschlag. Sie standen vor der Silbermine.
„Wir sind da«, sagte Nico und legte seinen Rucksack ab.
Jonas tat es ihm nach. Ohne weitere Worte begannen sie, die Umgebung abzuleuchten. Nico trat an den Holzverschlag und suchte nach möglichen Eingängen, und seien sie noch so klein. Aber Vlado hatte recht – außer Mäusen und ähnlich kleinem Getier würde sich nichts einen Zugang zu dem Stollen verschaffen können.
Enttäuschung machte sich breit, je weiter Nico suchte. Er begann dann auch, nach Rick zu rufen. Dazwischen lauschte er angestrengt in die Nacht. Das Heulen war schon vor einer Weile verstummt und nun war es praktisch totenstill.
„Hier ist er wohl nicht«, hörte er Jonas irgendwann sagen.
„Ja, ich glaube, das war keine so gute Idee. Da ist zwar noch eine zweite Mine, aber ich denke, da sieht es nicht anders aus. Sie ist nicht weit von hier und wäre Rick dort, würde er mich hören und gäbe Antwort. Ich denke, wir sollten jetzt wieder zurück. Es hat wohl keinen Sinn.“
Niedergeschlagen drückte Nico die TrackBack-Taste auf seinem GPS-Gerät, somit konnten sie exakt den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Der Aufstieg war wesentlich beschwerlicher, und sie schnauften, als sie oben angekommen waren. Jonas blieb stehen.
„Lass uns ne kleine Pause machen, oder?“
Nico stimmte zu. Sie waren nicht in sonderlicher Eile, außerdem war der schwere Teil der Tour hier zu Ende. Sie setzen sich auf einen der Felsbrocken und holten ihre Wasserflaschen aus den Rucksäcken.
„Ich möchte bloß wissen, wo Rick ist. Ich kann es einfach nicht glauben.“
Jonas spielte mit seinen Fingern, er suchte wohl nach den richtigen Worten.
„Der taucht bestimmt wieder auf. Wäre das übrigens nicht ein eher trauriger Anlass – mir gefällt so etwas.“
„So? Was denn, Jonas?“
„Weißt du, ich habe in meinem Leben nicht oft die Chance gehabt, mal eine Weile ganz für mich alleine zu sein. Immer waren irgendetwas und irgendwer. Und glaub mir, ich hatte oft den Wunsch, mal zu verschwinden. Niemanden zu sehen und zu hören. Das hat sich aber nie ergeben. Leider.“
„Ich kann es dir nachfühlen.“
Nico blickte in den Himmel.
„Ich brauche das auch und zum großen Glück funktioniert es. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, heißt es so schön, aber ich denke, da ist jeder verschieden. Die einen können überhaupt nicht alleine sein, die anderen gehen kaputt wenn sie das nicht haben. Ab und zu wenigstens. Aber eigentlich bist du ja jetzt auch nicht alleine.“
Jonas seufzte.
„Nein, wohl nicht. Aber dich würde ich nicht zu jenen zählen, denen ich gern aus dem Weg gegangen wäre.“
„Du hast mir zwar etwas von Freunden erzählt, aber nicht, ob du einen guten Freund hattest. Also einen, mit dem man alles anstellen kann.“
„Nein, den gab es nicht. Es waren immer viele sogenannte Freunde. Wenn ich darüber nachdenke, dann hat mir ein guter Freund schon gefehlt. So einer wie du zum Beispiel.“
Nico spürte, wohin dieses Gespräch führen könnte. Es lag an ihm, weiter und tiefer zu gehen oder an dieser Stelle aufzuhören.
„Na ja, ob ich ein guter Freund sein würde, weiß ich nicht. Dazu gehören immer zwei. Du kennst mich ja nicht im Prinzip, so wenig wie ich dich. Von daher..“
„Klar, ich weiß was du meinst. Aber nein, du wärst schon der Richtige, dazu muss man dich sicher nicht jahrelang kennen.“
Jonas klang aufrichtig und ehrlich. Nico wunderte sich, dass er nicht schon beim eigentlichen Thema angekommen war. Hatte er ihn trotz Tagebuch falsch eingeschätzt? War er gar nicht der lüsterne junge Mann, der ihn bei nächster Gelegenheit ins Bett zerren würde?
„Komm, lass uns weitergehen.“
Auf den Meter genau führte sie das GPS durch das Gelände. Nico grübelte angestrengt, was man jetzt noch für Ricks Auffinden tun konnte. Den Gedanken, dem Hund könnte etwas Ernsthaftes passiert sein, ließ er nicht zu.
Es durfte einfach nicht sein. Plötzlich spürte er Jonas‘ Hand auf seiner Schulter und blieb stehen. Er drehte sich um, sagte aber nichts.
„Nico, es.. ich weiß jetzt nicht wie ich es sagen soll.“
War er jetzt da, der Zeitpunkt? Der Moment, auf den Nico nicht gewartet und den er auch nicht unbedingt erhofft hatte? Aber eines war auch sicher: Es war unvermeidlich. Es machte keinen Sinn, sich aus dieser Situation zu stehlen, egal was kommen sollte.
Jonas hatte in seinen Gefühlen eine gewisse Stellung bezogen, die konnte er weder wegreden noch sonst vertuschen. Es war nun mal so. Nico leuchtete die Umgebung ab und ein Stück weiter erschien ein umgestürzter Baum im Schein der Taschenlampe.
„Komm, lass uns da drüben hinsetzen. Wir sind ja nicht auf der Flucht.“